Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 51: ------------ Tai Überall ist orange, wie bei einem Sonnenuntergang. Es ist warm und einnehmend. “Tai?” Ich höre, wie meine Mutter meinen Namen ruft. Ich spüre eine warme Hand, die meine ergreift, aber ich kann sie nicht ergreifen. “Tai?” Ich würde so gerne antworten, aber warum können diese Worte meinen Mund nicht verlassen? Da ist wieder diese schöne Frau, in einem langen weißen Kleid. Sie lächelt mich an. Sie ist so schön. Sie hat lange hellbraune Haare und Honiggoldene Augen. Die hat sie wirklich. Sie deutet mit ihrem Finger an, ihr zu folgen. Das macht sie ständig, aber obwohl ich sicher größer und schneller bin, wie sie, so kann ich sie einfach nie fangen. Jedesmal lacht sie, wenn sie mir ausweicht, aber diesmal ist es anders. Diesmal kann ich sie fangen. Ich halte sie fest. “Ich habe dich”, sage ich lachend zu ihr. Sie sagt nichts, sie sieht mich einfach nur an, nickt und dann verschwindet sie. Einfach so. “Nein warte.” Ich will ihr hinterher und öffne meine Augen. Die Frau bleibt verschwunden. Der Traum scheint zu Ende. “Tai?” Alle starren mich an. Wo bin ich? In einem Krankenhaus? Aber warum? Ich kann mich kaum bewegen, alles schmerzt. Ich habe geträumt, aber wie lange? “Oh mein Gott, Tai, du bist wach, du bist wirklich wach.” Meine Schwester. Kari. Ich freue mich, sie zu sehen. Sie umarmt mich vorsichtig und weint. Wegen mir? Warum ist sie denn so außer sich? “Oh, mein Junge, du bist endlich zurück?” Zurück? Wo war ich denn? Meine Mutter. Sie lächelt mich herzlich an und kämpft ebenfalls mit ihren Tränen. Ihre Stimme würde ich immer wieder erkennen. Sie hat mir vorgelesen, in meinen Träumen. Ich weiß nicht was, aber ich weiß, dass sie mir vorgelesen hat. Auch sie umarmt mich. Ein Arzt betritt das Zimmer und fängt an, mich zu untersuchen. “Hallo, Mr. Yagami. Mein Name ist Dr. Yamamoto und ich bin Neurologe. Ich würde gerne ein paar Untersuchungen machen, um ihre Reflexe zu testen.” Er leuchtet mir in die Augen, das Licht ist echt grell. Ich kneife die Augen zusammen und drehe meinen Kopf weg. “Eine sehr gute Pupillenreaktion. Wie geht es ihnen, Herr Yagami?” Ich sehe, soweit es mir möglich ist, an mir herab. Eine Halskrause, ein Bein in Gips, da hängt ein verdammter Schlauch aus der Mitte meines Körper heraus. Schon klar, wo er dran hängt, denn der Beutel mit der hellgelben Flüssigkeit ist Beweis genug. Mein Schädel, ich habe Kopfschmerzen. “Geht so”, murmle ich und ich erschrecke mich über meine eigene Stimme. Das Sprechen fällt mir schwer. Alles ist rau und brüchig. Alles fühlt sich schwammig an. “Können Sie dem Licht der Lampe folgen?” Ich gebe mir Mühe, der Anweisung des Arztes zu folgen und folge mit großer Anstrengung das kleine Licht aus der Lampe. “Hervorragend.” Hervorragend? Dass ich nicht lache. Ich bin ein Krüppel. Ich kann gar nichts. Nichts. “Können Sie sich an ihren Unfall erinnern?” Ich hatte einen Unfall? Ich sehe, wie mich alle erwartungsvoll anschauen. Nach dem Motto: Sag jetzt bloß nichts falsches. Natürlich erinnerst du dich, aber nein, ich weiß nicht, warum ich hier bin und was eigentlich mit mir passiert ist. Ich schüttle langsam den Kopf, aber ernsthaft, das verursacht höllische Kopfschmerzen, also lasse ich das lieber schnell bleiben. “Sie hatten am Set einen Unfall. Einen Arbeitsunfall”, erklärt der Arzt mir. Ich. Hatte. Einen. Arbeitsunfall? Das ist unmöglich. Absolut ausgeschlossen. Ich schüttel meinen Kopf, weil das Sprechen mir so schwer fällt. “Es war aber so, also ein Seil ist gerissen und du bist aus einer Höhe von fast sieben Metern auf den Boden geknallt”, erklärt meine Mutter mir ausführlicher. Ich wiederhole mich zwar, aber das kann nicht sein. Im Leben nicht. Es reißt doch niemals einfach ein Seil an einem Filmset. Jedoch weiß ich gerade nicht mal mehr, an welchem Filmset ich zuletzt war. Verdammt, wieso kann ich mich nicht erinnern? “Kann nicht sein”, sage ich krächzend. “Sie müssen sich nicht direkt an alles erinnern. Vieles kommt auch nach und nach. Können Sie sich einmal aufsetzen?” Meint der Arzt das ernst? Mein Bein ist in einem Gips und ich habe ne verdammte Halskrause. Also nein, ich kann mich nicht aufsetzen und das ist richtig beschissen. “Wo ist … wo ist Dr. Joe Kido?” Keine Ahnung, wer dieser Arzt ist, aber ich vertraue ihm nicht und ich will, dass Joe mich untersucht. “Er ist gerade außer Haus. Wir könnten Professor Kido rufen?” “Oh ja, eine gute Idee”, sagt meine Mutter gleich, aber warum halte ich das für keine gute Idee? Warum sagt mir eine innere Stimme, dass Haruiko besser nicht zu mir kommen sollte? “Nein”, sage ich jedoch nur. “Ich möchte gerne auf Joe warten.” Er macht das schon und kann mir sicher auch genauer erklären, was hier eigentlich los ist. “Oh man, ich muss erstmal alle anrufen. Mimi, wird ausrasten.” Kari ist aufgeregt. Ich erkenne, dass ein Ring an ihrem Finger funkelt. Ein Verlobungsring? Wie lange lag ich im Koma? Und wen will meine Schwester da anrufen? “Wie lange? Wie lange lag ich im Koma?” “Sieben Tage”, antwortet der Arzt. “Am Anfang war ihr Zustand auch sehr kritisch. Sie mussten zweimal eine Blutspende erhalten und mussten einmal wieder belebt werden.” “Du hast so eine seltene Blutgruppe, Tai. Zum Glück hatte Mimi die passende Blutgruppe und konnte zweimal spenden. Es gab hier keine Vorräte mehr”, führt meine Mutter weiter fort. Schon wieder dieser Name. Wer? Ich kneife meine Augen zusammen und merke, wie schwer mir alles fällt. Selbst das Atmen. “Du solltest etwas trinken.” Meine Mutter schüttet mir ein Glas Wasser ein und will es mir reichen, aber irgendwie kann ich meine Hand nicht danach ausstrecken. Warum kann ich das nicht? Meine Arme scheinen nicht gebrochen zu sein und ich weiß, wie man zugreift, aber ich kann diese einfache Handlung nicht ausführen. Was geschieht nur mit mir? “Das könnte noch ein wenig zu schwer, für den Patienten sein. Können Sie aus ihren Fingern eine Faust bilden?” Eine Faust? Ich schaue auf meine rechte Hand hinunter. Normalerweise habe ich sehr viel Kraft in dieser Hand, aber jetzt fühlt sie sich gerade nicht wie meine Hand an. Ich konzentriere mich darauf. Ich beginne zu schwitzen. Wie kann diese einfache Handlung mir nur so viel Kraft abverlangen? Ich bin doch so ein sportlicher Mensch. Ich schaffe es, meine Finger einzudrehen und meine Fingernägel berühren die Handinnenfläche ganz leicht, aber mehr geht nicht. “Das ist sehr gut für den Anfang. Die Physiotherapie wird ihnen damit helfen.” Der Arzt holt eine Pinzette aus Holz und hebt einen dicken Wattestäbchen an, diesen steckt er mir in den Rachen und ich beginne zu würgen. Echt, was soll der Mist? Ich will Joe. “Sehr gut, Herr Yagami.” “Er wird doch wieder ganz gesund, oder?” Meine Mutter sieht den Arzt erwartungsvoll an. “Also der Pupillenreflex, der Okulozephale Reflex, sowie der Würgereflex sind alle gut ausgefallen. Das ist sehr wichtig für den Behandlungserfolg.” Meine Mutter klatscht freudig in die Hände. “Hast du das gehört? Das ist ja super.” Meine Mutter umarmt mich und ich lächle. Die Umarmung erwidern kann ich gerade nicht. Ich fühle mich wie Wackelpudding. “Der Patient sollte sich jetzt etwas ausruhen und ich schicke nachher Joe zu Ihnen.” Ich lasse meine Hand wieder locker. Ich bin müde. So müde. Ich weiß gar nicht genau, was meine Familie da sagt, da schlafe ich auch schon wieder ein. “Tai, oh mein Gott, Tai.” Jemand ruft mich. Ich kneife meine Augen zusammen und blinzle leicht. Ich öffne langsam meine Augen. Meine Mutter ist noch da, Kari auch, Joe, endlich ein vernünftiger Arzt und eine junge Frau. Keine Ahnung, wer sie ist. Habe ich sie schon mal irgendwo gesehen? “Tai, Tai, du bist wach.” Sie kommt auf mich zu und schmeißt sich allen ernstes auf mich drauf. Ist die irre? “Aua” sage ich jedoch nur. “Oh, entschuldige, habe ich dir weh getan?” Natürlich. Ist habe eine Halskrause, ein Hirn-Schädel-Trauma und ein gebrochenes Bein und wenn sich dann jemand auf mich drauf schmeißt, tut es weh. Höllisch weh sogar. “Ich bin einfach nur so froh, dass du wach bist.” Sie fängt an zu weinen. Richtig hysterisch, warum weint sie denn so? Ist sie eine Krankenschwester? Aber sie sieht irgendwie nicht so aus. Oh Gott, sie sieht aus, als wenn sie mich küssen wollen würde. Ich drehe meinen Kopf weg. “Was ist los?” Sie sieht mich irritiert an. “Ich muss dir so viel erzählen. Also erst mal Sally hat Davis geküsst und …” “Stop!” Die junge Frau verstummt, was irgendwie so wirkt, als wäre es gegen ihr Naturell und sieht mich mit großen Augen an. “Wer bist du?” Ihre Augen weiten sich panisch. “Tai, lass das bitte.” Was soll ich lassen? “Tai, kannst du mir sagen, welches Datum wir haben?” Joe stellt sich neben mich. Ich überlege. Wie lange lag ich im Koma? Hat man mir diese Frage bereits beantwortet? Was ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann? “Ähm, ich weiß es nicht.” “Wir haben den 28. August.” Sollte mir das Datum irgendwas sagen? Ich hatte vor fünf Tagen Geburtstag, aber in meiner Erinnerung lag mein Geburtstag noch in der Ferne. “Oh, okay.” “Erkennst du Mimi?” Mimi? Wieder dieser Name. Kari, hatte diese Mimi angerufen, nachdem ich aufgewacht bin und sie hat Blut gespendet, aber warum hat sie das getan? Ich bekomme wieder Kopfschmerzen. Das ist mir alles zu viel. Ich weiß nicht, wer das ist, aber ich traue mich nicht, das zu sagen. Ich habe das Gefühl, dass es diese Frau sehr verletzen würde und ich will sie nicht verletzen, aber warum? “Glaub nicht”, antworte ich daher. Ich sehe wieder zu der unbekannten Schönheit. Irgendwas bricht gerade in ihr. Sie taumelt ein paar Schritte zurück und formt ein stummes “oh.” “Ich denke, Tai leidet an einer Posttraumatischen Amnesie.” Die unbekannte Schöne geht langsam Richtung Türe, sie fängt an zu weinen, öffnet diese und tritt hinaus. Warum geht sie wieder? Hab ich was falsches gesagt? “Das würde auch erklären, warum er aktuell noch kein Glas festhalten kann oder sich an bestimmte Personen nicht erinnern kann. Mimi ist erst seit einigen Monaten in Japan. Uns kennt er fast schon sein ganzes Leben.” Kari nickt Verstehend. Ich verstehe hingegen gar nichts. “Und bleibt dieser Zustand?” Joe sieht von meiner Schwester zu mir. “Schwer zu sagen. Es kann sein, dass der Zustand ein paar Stunden, Tage oder Wochen anhält. Manche erinnern sich nie. Es kommt ein bisschen darauf an, was zu dem Unfall geführt hat und ob es etwas gibt, was das Unterbewusstsein versucht zu verdrängen. Keine Sorge Tai, meistens kommt das wieder. Wichtig ist, dass du dich jetzt ausruhst und nicht zu viel Stress ausgesetzt bist.” Mimi. Oh nein, Tai leidet unter einer Amnesie. Er kann sich nicht an mich erinnern. Jetzt bin ich endlich frei und Tai wird mit all diesen Informationen überhaupt nichts anfangen können, weil er nicht weiß, wer ich bin. Ich beginne zu weinen. Ich beginne zu zittern. Joe kommt zu mir. Er verlässt das Krankenzimmer und schließt die Türe hinter sich. “Mimi, das mit Tais Posttraumatischen Amnesie …” “Ist richtig scheiße. Das musst dich doch richtig freuen. Ich meine erst betrügen wir dich und jetzt, jetzt weiß Tai nicht mehr wer ich bin.” “Also erstmal freue ich mich nicht darüber. Ich freue mich darüber, dass er aufgewacht ist und das solltest du auch.” “Er erinnert sich nicht an mich. Weißt du eigentlich wie das ist?” Wahrscheinlich bin ich der undankbarste Mensch der Welt, denn natürlich sollte ich mich freuen, dass Tai endlich aus dem Koma erwacht ist, aber wenn er keine Erinnerung an mich hat, seine Liebe zu mir vergessen hat, dann war einfach alles umsonst. Das ist so unfair. “Ich würde ihm ja gerne mein Tagebuch geben, aber jemand hat es verbrannt. Wer war das gleich nochmal? Ach ja, du.” Ich ramme meinen Finger unsanft gegen Joes Brust. Ich weiß das er nichts für Tais Situation kann, aber an irgendwem muss ich jetzt meinen Frust auslassen. “Mimi, das war …” Auf einmal wird es hektisch. Schwestern laufen durch die Flure und mehrere Polizisten treten gerade aus dem Fahrstuhl heraus, während andere durch das Treppenhaus gehen. Vor Joe bleibt ein Polizist stehen. “Wo ist Dr. Haruiko Kido? Es liegt ein Haftbefehl vor.” “Ähm, da hinten ist sein Büro.” Joe deutet auf ein Büro welches am anderen Ende dieses Flurs liegt. Wir sehen den Polizisten nach und sie stürmen das Büro das Chefarztes. “Was zum …” hören wir nur sagen, doch im nächsten Moment taucht Haruiko in Handschellen im Flur auf. Ein Polizist hält ihn fest und drängt ihn dazu, weiterzugehen. “Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?”, bellt Haruiko. Er geht an uns vorbei, doch vorher bleibt er vor uns stehen. Er verengt seine Augen zu zwei schmalen Spitzen. “Du miese kleine Göre. Hatte ich dir nicht Hausverbot erteilt?” “Ich habe es selbst aufgehoben.” Ich recke meine Schultern hoch. Er jagt mir keine Angst mehr ein. Denn endlich, endlich wird er verhaftet. Er verdient nichts anderes. Was für eine Genugtuung. Karma hat dir sowas von in die Fresse geschlagen. “Joe, du kümmerst dich um alles. Ich werde herausfinden, wie hoch die Kaution ist und dann werde ich rauskommen.” Natürlich muss er erstmal angeklagt werden, ehe es einen Prozess geben wird, aber vielleicht bei der Schwere der Vorwürfe, wird er nicht aus der Untersuchungshaft entlassen. Ich meine, er ist schwer kriminell. “Wirst du deinem Vater helfen?” Joe sieht mich nicht wirklich an. Vielleicht geht es mich ja auch nichts mehr an. “Ich werde meine Mutter darüber informieren. Soll sie entscheiden, ob sie ihm helfen will oder nicht.” Ich sehe aus dem Fenster des Flurs, welches zu den Aufzügen führt. Die Presse steht vor den Eingängen des Hauses und natürlich schießt das Blitzlichtgewitter los. Was für eine Sensation. Kari stellt sich neben mich und schaut sich ebenfalls das Spektakel an. “Okay, erzählt mir endlich einer, was hier eigentlich los ist?” Ich sehe sie an und während Joe wieder geht und bereits sein Handy am Ohr hat, erzähle ich Kari endlich die ganze Geschichte. Tai Ein neuer Tag. Die Nacht war eine Katastrophe. Die Ärzte haben beschlossen, die Schmerzmitteldosis weiter zu senken und ich merke abermals wie sehr alles schmerzt. Besonders mein Kopf dröhnt. Na gut, nicht verwunderlich nachdem ich ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten habe. Was mich jedoch mehr beschäftigt ist die Tatsache, dass ich mich an bestimmte Dinge nicht erinnern kann. Ich habe sogar Probleme damit, mich an meinen Pin von meinem Handy zu erinnern. Alltägliche Dinge fallen mir unendlich schwer oder ich kann sie erst gar nicht richtig ausführen. Ich brauche für alles Hilfe und ich hasse dieses Gefühl der Abhängigkeit. Meine Mutter konnte ich überzeugen, diese Nacht endlich wieder daheim zu schlafen und später wollten meine Eltern wieder kommen. Und dann ist da noch diese Frau. Mimi. Ich denke die ganze Zeit an sie und keiner konnte mir so Recht erklären, zu welcher Beziehung ich zu ihr stehe. Ich muss zugeben, dass ich sie außerordentlich hübsch finde. Ihre Augen faszinieren mich, aber wenn ich versuche, mich zu erinnern, ist da nichts. Nur so ein Gefühl. Ich denke, das ist auch schon etwas, aber ich möchte mich so gerne erinnern. Ich habe Durst, aber ich kann den Deckel vom Flaschenhals nicht abdrehen. Ist das nicht komplett lächerlich? Ich kann nicht mal die blöde Flasche packen und zu mir holen, also betätige ich diesen Notfallknopf, damit es eine Schwester machen kann. Wie jämmerlich. “Mr. Yagami, so schön, dass sie wach sind. Wie war ihre Nacht?” “Ich habe Schmerzen und ich würde gerne etwas trinken.” “Selbstverständlich.” Die Schwester dreht die Flasche auf, schüttet mir ein Glas Wasser ein und reicht es mir mit einem Strohhalm. “Es wird gleich Frühstück geben. Ich werde ihnen dann dabei helfen.” “Nicht nötig.” “Aber …” “Ich sagte, nicht nötig.” Ich weiß selbst, dass das falscher Stolz ist und nein, keine Ahnung wie ich alleine frühstücken soll, aber ich werde mich auf gar keinen Fall füttern lassen. Irgendwie wird das schon gehen. Die Schwester verabschiedet sich und ich sehe mich um. Hier stehen viele Blumen und Karten. Viele meiner Freunde haben mir Geburtstags- und Genesungswünsche ausrichten lassen. Ich freue mich darüber. Ich will nach einer Karte greifen. Ich versuche mich langsam aufzusetzen und es fällt mir schwer, aber ich bilde mir ein, dass es schon besser klappt, als gestern. Mit der linken Hand strecke ich mich nach einer Karte aus, als mir ein Armband auffällt, welches mein Handgelenk umschließt. Ich sehe es mir an. Wann habe ich das bekommen und von wem? Schon vor dem Unfall oder danach? “Guten Morgen, Tai.” Joe betritt das Zimmer und holt mich somit aus meinen Gedanken. Ich freue mich, ihn zu sehen. Er studiert das Krankenblatt und sieht mich dann wieder an. Nicht so wie sonst allerdings. Kommt es mir nur so vor oder wirkt er mir gegenüber irgendwie distanziert? “Sorry, dass ich dir im Moment mit deinen Terminen und der PR nicht helfen kann.” Muss sicher schwer sein, sich plötzlich um alles zu kümmern.” Denn das ist wirklich eine Menge. “Du erinnerst dich noch immer nicht?” Nein. Verdammt. Ich schüttel frustriert den Kopf. “Verstehe.” “Wann erinnere ich mich wieder?” “Ich kann dir das nicht pauschal beantworten. Heute werden wir ein paar Tests machen und auch die Physio wird zu dir kommen. Es ist wichtig, dass wir dich wieder mobilisieren. Wie kommst du mit den Schmerzen zurecht?” “Ist okay”, lüge ich. Ich will einfach nur wieder funktionieren und zwar so wie vorher. “Sei nicht so streng mit dir und nimm die Hilfe an, Tai. Ich kenne dich und du beweist niemanden was, wenn du versuchst hier alles alleine zu machen.” Ich rolle mit den Augen, das kann ich immerhin noch. Yeah. Mimi Tai erinnert sich nicht. Tzz. Mir egal. Er wird sich wieder an mich erinnern. So schnell wird er mich nicht los. Auf dem Weg ins Krankenhaus telefoniere ich mit Kaori. Ich hatte gestern keine Zeit mehr gehabt, nachzufragen, wie es ihr inzwischen geht. Sie und Misaki wissen gerade nicht so wirklich, wie sie miteinander umgehen sollen. Beide sind sehr vorsichtig, wollen nichts falsches sagen. Kaori ist verletzt und Misaki fühlt sich wahrscheinlich verraten. Soll ich als Vermittlerin fungieren oder ihnen Zeit geben? Es sind doch noch so viele Fragen unklar, aber Kaori weiß, dass sie mich immer anrufen kann, wenn was ist und bald wird Nanami auch alles erfahren und ich bin sicher, spätestens dann wird es wieder heikel werden, denn sie verdient die Wahrheit auch, was genau damals passiert ist. Ich stehe vor Tais Krankenzimmer. Scheinbar ist gerade niemand bei ihm, ich klopfe an und betrete sein Zimmer. “Hi, darf ich?” Sein Einverständnis sollte ich mir schon noch holen. Er nickt und ich bin erleichtert, dass er mich nicht wegstößt. Muss komisch sein, sich nicht erinnern zu können. “Wie geht es dir?” “Geht so.” Ich sehe das sein Frühstück unberührt auf seinem Tablett steht. Ich habe von Kari erfahren, dass er nicht selbstständig trinken konnte. Wahrscheinlich beeinträchtigt ihn noch mehr motorische Fähigkeiten. Ich gehe zu seinem Tablett rüber und beginne ein Sandwichbrot zu schmieren. Ich weiß, dass Tai gerne herzhaft isst, also belege ich eine Hälfte mit Salami und die andere mit Rührei. “Der grüne Tee ist kalt, ich werde dir gleich neuen holen.” “Brauchst du nicht. Du musst mir auch kein Essen anreichen. Ich habe keinen Hunger.” Ich muss schmunzeln, denn ich weiß das Tai immer Hunger hat. Nachdem ich ihn einfach ignoriert habe, schiebe ich den Wagen so um, dass er genau vor seinem Oberkörper steht. “Geht es so?” Ich sehe ihn an und er kneift seine Augen zusammen. Keine Ahnung, ob er auch Probleme damit hat, nach dem Sandwich zu greifen. Er würde es nicht zugeben, so viel ist klar. Ich nehme das Sandwich in die Hand und halte es direkt vor seinem Mund. Tai kneift die Lippen zusammen. “Mach Aaahh.” “Du solltest gehen.” “Nein, sollte ich nicht.” Und schwupps habe ich das Sandwich in seinen Mund gesteckt. “Und lecker oder? Also kauen musst du schon. Soll ich es dir vormachen? Es geht so …” Ich zeige ihm tatsächlich, wie man kaut und schlucke dann herunter. “Erst kauen, dann schlucken. Du kannst doch schlucken, oder? Also ich schlucke ständig … “ Oh Gott, was fasel ich da nur? Tai verkneift sich ein Schmunzeln, während ich rot anlaufe. Oh Gott, ich kann doch nicht mit Tais übers Schlucken reden. “Also Essen, jetzt, wobei … lassen wir das.” Tai wird wieder ernst, aber das ist mir egal. Er würde niemals zugeben, dass er Hilfe braucht. “Weißt du Tai, wenn ich an deiner Stelle wäre, würdest du nicht von meiner Seite weichen. Ich weiß, dass du dich gerade nicht an mich erinnern kannst und nur dass du es weißt, dass ist scheiße, denn eigentlich magst du mich …” Hoffe ich. Eigentlich glaube ich sogar, dass er sehr viel mehr für mich empfindet. Ich hatte mir so fest vorgenommen, ihm zu sagen, was ich fühle, wenn er wach wird, aber wie soll ich ihm jetzt sagen, dass ich ihn liebe, wenn er nicht mal mehr weiß, wer ich bin? “Ich weiß, dass du nichts dafür kannst …” Nein, denn das ist alles nur meine Schuld, aber das kann ich ihm jetzt auch nicht erzählen. Seit wann kann ich mit Tai nicht mehr über alles reden? In seine Augen zu blicken und nicht diesen, warmen, liebevollen Blick zu bekommen, wie sonst ist schrecklich. Ich vermisse ihn immer noch, weil Tai zwar da und wach ist und doch ist er noch so weit weg. Zumindest weit weg von mir. Vielleicht erinnert er sich wieder. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bleibt unsere Geschichte ein Traum, weil er zu schön ist, um wahr zu sein. “Ich will dich wirklich nicht nerven oder so. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Hilfe anzunehmen. Vor allem von mir, du weißt ja nicht mal, wer ich bin, aber ich möchte gerne für dich da sein.” Ich halte immer noch das Sandwich vor seinem verschlossenen Mund und frage mich, was ich hier eigentlich tue. Ich lasse das Sandwich sinken und setze mich auf einen Stuhl. Er denkt wahrscheinlich, ich bin komplett übergeschnappt und ich kann es verstehen. Ich wünschte, ich könnte irgendwie zu ihm durchdringen, auf andere Art und Weise. Er trägt noch das Armband, welches ich ihm geschenkt habe. Ich freue mich darüber und lächle es an. “Du hast das von mir bekommen.” Ich deute auf sein Armband und er folgt meinem Blick. “Das ist ein Schutzstein. Der grüne Jaspis schützt vor äußeren Einflüssen, verleiht Mut und lindert den Schmerz. Na ja, ich hoffe, er hat ein bisschen geholfen, bei deiner Genesung beizutragen.” Tai schaut auf den Schutzstein, umrandet mit seinem Daumen den Jaspis, lässt das Armband aber zum Glück an. Vielleicht bedeutet es ihm ja doch was. Das wäre schön. “Du hast eine tolle Familie und sehr liebevolle Eltern. Ich habe sie erst hier kennengelernt.” Ich fülle das Wasserglas wieder auf und lasse frischen und warmen grünen Tee kommen. “Also möchtest du jetzt doch was richtiges Essen oder weiter durch einen Schlauch gefüttert werden? Das wäre nämlich deine Alternative.” Tai folgt mit seinem Blick einem Beutel, wo eine Flüssigkeit dran befestigt ist. “Also ich würde mal behaupten, dass Essen schmeckt besser. Auch für den Geschmack im Mund. Ich meine sonst ist doch alles so schrecklich fahd…” “Du redest echt viel …” Ähm, ja, vor lauter Nervosität. Ich nicke jedoch nur. “Du hingegen nicht so.” “Man kommt ja auch nicht wirklich zu Wort.” Sucht er Streit mit mir? Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie viel wir uns am Anfang gestritten haben, muss ich lächeln. Er hat echt alles dafür getan, dass ich ihn hasse und dann hat sich alles zwischen uns verändert. “Mittags soll es eine Suppe geben. Ich kann aber auch Davis fragen, ob er dir eine zubereitet und dir vorbeibringen. Kannst du schlürfen? Ich konnte vorher nicht schlürfen, also schon, aber ich habe es nicht gemacht. Du hast es mir beigebracht, zu schlürfen, eine Suppe, meine ich. Ich habe sie vorher mit dem Löffel gegessen, weil na ja, ich …” Oh man, ich sollte echt meinen Mund halten. Tai sein Blick ist einfach nicht zu deuten, ist er amüsiert oder genervt von mir? Oh man, so wird er sich wohl eher nicht in mich verlieben. Ich kratze mir am Hinterkopf. Wieso stellt er denn keine Fragen? Will er gar nichts über mich wissen? “Okay. Willst du, dass ich gehe?” Tai sieht mich einfach nur an. Er sagt nichts. Er nickt aber auch nicht oder schüttelt den Kopf. Er sieht mich einfach nur an, als würde er versuchen, mich zu verstehen oder mich zu erkennen, aber scheinbar gelingt es ihm nicht. Wie schade. “Ich besorge dir eine Suppe von Davis. Der wirst du nicht widerstehen können. Isst du auch etwas anderes gerne dort?” Tai sagt nichts. Oh man, was ist denn sein Problem? “Als wir zusammen im Fußballcamp waren, haben wir am letzten Abend Stockbrot und Marshmallows zusammen gemacht. Das war schön. Möchtest du vielleicht etwas süßes?” “Du … du warst mit im Fußballcamp?” Ich nicke ihm zu. “Du hattest mich eingeladen und da habe ich Davis kennengelernt. Wir waren zusammen … wandern…” Ich werde ein wenig rot bei der Erinnerung, weil das Wandern eigentlich nur Mittel zum Zweck war. “Du siehst nicht aus, als hättest du Ahnung von Fußball.” Wow, das erste was er sagt und gleich eine Klatsche. “Ich kann ganz gut mit Kindern und es war wirklich eine schöne Zeit.” Er nickt. Wow, wenn wir weiter in diesem Tempo voranschreiten, wird er mich nächsten Monat vielleicht anlächeln. “Ich … ähm … also würdest du mal dein Handy öffnen? Wir haben Fotos zusammen gemacht? Vielleicht hilft es dir, dich zu erinnern?” Keine Reaktion. Oh man, er ist komplett genervt von mir. Ich lasse meine Schultern sinken und meide den Blickkontakt zu Tai. Irgendwie ertrage ich das gerade nicht. Für mich ist das hier gerade die schlimmste Bestrafung. “Das haben wir nicht verdient. Du und ich, meine ich … Wir haben so viel zusammen durchgestanden und jetzt, jetzt hältst du mich für die größte Nervensäge der Welt. Es tut mir so leid, Tai.” Ich traue mich wieder, zu ihm zu sehen, aber er bleibt stumm. Die Zimmertüre öffnet sich und Tais Physiotherapeutin kommt zu ihm. Das ist dann wohl mein Stichwort. Ich erhebe mich. “Ich lass euch dann mal alleine. Tai?” Tai sieht mich an. Irgendwie undefinierbar. Mein Gott, hat dieser Mann ein Pokerface. “Ich würde gerne später wiederkommen, wenn ich darf? Mit Davis Suppe und danke, dass ich bleiben durfte.” Ich verbeuge mich vor ihm, was irgendwie suspekt ist und warte seine Reaktion ab. Er nickt. Okay, also scheinbar habe ich nicht alles falsch gemacht. Vielleicht will er einfach nur Davis seine Suppe, kein Plan. Ich verlasse Tais Krankenzimmer. Schwer atme ich aus und lege meinen Kopf gegen Tais Zimmertüre. Ich weiß, die Götter da oben haben mir schon viele Wünsche erfüllt und vielleicht ist es gemein, noch einen weiteren zu äußern, aber bitte, bitte, lasst Tai sich an mich erinnern. Danach werde ich nie wieder einen Wunsch äußern. Nur diesen einen noch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)