Melting Ice Cubes in the Heat of the Club von Creanima ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Moskau schläft nie, sagte man. Spätestens, wenn man selbst einmal nachts durch die Metropole wanderte, wusste man, warum. Das rege Treiben in den Straßen ließ sich nicht durch die nächtliche Dunkelheit eindämmen. Man spürte den bassigen Puls der Nachtclubs schon unter dem Asphalt. Hatte man es durch die akribischen Taschenkontrollen am Einlass geschafft, führte eine tunnelartige Treppe aus schlichtem Beton in modern anmutende Katakomben. Farbige Lichtstrahlen bewegten sich rhythmisch durch die neblige Luft und waren neben schlichten Neonstäben an den Decken und Wänden die einzige Beleuchtung hier unten. Der Geruch von verschütteten Drinks, Schweiß und Parfum hing in der Luft. In einer endlosen Abfolge von Standbildern leuchteten die Tanzenden, passend zum Rhythmus der Musik, im stroboskopischen Licht auf. Die Songs flossen so perfekt ineinander, dass die Extase der Masse nicht abreißen wollte. Kai hatte sich an der Getränkebar manifestiert. Mit dem Rücken an den Tresen gelehnt, ließ er den Blick ziellos durch den Raum wandern und wippte fast unmerklich zum Bass. Nach mehr war ihm gerade nicht zumute. Einer der Barkeeper warf ihm verstohlen Blicke zu, während er kleine Kunststücke mit Flaschen und Gläsern vorführte, doch das beeindruckte Kai kaum. Die letzten Tage waren kräftezehrend gewesen, und dass er jetzt schon müde war, überraschte ihn nicht. Der Alkohol zeigte langsam seine Wirkung und trug sein Übriges dazu bei. Er leerte seinen Drink und ließ den Tresen hinter sich. In der tanzenden Masse machte er nur unbekannte Gesichter aus. Waren die anderen überhaupt noch hier? Auf den Toiletten durchdrang die Musik nur dumpf donnernd die schwarz gefliesten Wände. Die karge Neonbeleuchtung wurde hier einfach absorbiert. Kai genoss diese Pause für seine Sinne. Er schloss die Augen und vernahm ein lautes Klingeln in den Ohren. Von dem Tinnitus wird er die nächsten Tage noch was haben. Während er sich die Hände wusch, schob sich jemand ohne Abstand zwischen ihm und ein paar anderen Leuten vorbei. Er verfolgte die Person im Spiegel. Es war Yuriy. Hatte sein Teamchef ihn nicht bemerkt? Seit er ihn eingeladen hatte, sich für die baldige Beyblade Weltmeisterschaft dem russischen Team anzuschließen, war zwischen ihnen eigentlich ein fast schon freundschaftliches Verhältnis entstanden. Sie hatten viel geschrieben vor seiner Ankunft. Im Schreiben war Kai wesentlich besser als im Reden. Kontakt zu halten, war eine andere Schwierigkeit, doch sein russischer Kollege machte da eine Ausnahme. Schließlich kannten sie sich bereits seit ihrer Kindheit. Die gemeinsame Vergangenheit in der Abtei schattete noch immer über ihnen und hatte, wenn auch sonst kaum etwas Gutes, zumindest ein Gefühl der Verbundenheit hinterlassen. Unbewusst verengten sich seine Augenbrauen. Diese Freundschaft existierte einfach nicht mehr, seit Yuriy ihn vor knapp einer Woche vom Flughafen abgeholt hatte. Ihre Begrüßung, wenn man das so nennen konnte, war unbeholfen, als wüssten sie beide nicht, was man in diesem Moment sagte oder tat. Das war okay. Er nahm eingeübte Floskeln sowieso nicht für voll. Es war die Art, wie Yuriy ihn in seiner Rolle als Teamchef behandelte, mit der er nicht umgehen konnte. Boris, und Sergej mochten den Befehlston und die Strenge in seiner Stimme vielleicht gewohnt sein, für Kai jedoch war es ein rotes Tuch. Hinzu kam, das er sich nicht scheute, die Trainingstechniken seiner russischen Mitstreiter in Frage zu stellen. Sie hatten ihn offensichtlich nicht ins Team geholt um Kompromisse zu machen. Dass Kai in der Konsequenz lieber im Alleingang trainierte, stieß bei den anderen auf Unmut. Umso überraschter war er, dass sie ihn fragten, ob er mitkommen wollte. Er hätte vermutlich abgelehnt, doch das Versprechen des besten Clubs der Stadt hatte ihn neugierig gemacht. Er atmete einmal tief ein und wieder aus. Zum 8. mal an diesem Abend beschloss er, den Alltagsstress für eine Weile zu vergessen. "Yura. Serya. Und für Hiwatari gerne auch zum Mitschreiben: Heute. Nacht. Wird. Gefeiert. Keine fiesen Blicke. Keine blöden Kommentare. Keine schlechte Laune. Nur Spaß! Spaaaß. Kapiert?!" Kai erinnerte sich an Boris' Versuch einer Motivationsrede, als sie sich vom ausgemachtem Treffpunkt aus gemeinsam auf dem Weg machten. Sein vorlauter Teamkollege hatte unentwegt die Stimmung lockern wollen, als würde die Flasche Hochprozentiger, die sie untereinander weiterreichten, nicht ausreichen. Für die drei Russen reichte es. Sie hatten einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis Kai sich überreden ließ, mitzutrinken. Hier im Club war er allerdings froh, sich etwas geschmackvoller betrinken zu können. Dass die Gruppe sich so schnell verstreuen würde, hatte er zwar nicht erwartet, aber er konnte sich genauso gut allein amüsieren. Wenn er nur nicht so müde wäre. Er warf noch einen prüfenden Blick ins Spiegelbild, richtete eine verirrte Haarsträhne. Jemand hatte die Tür aufgezogen, und er nutzte die Gelegenheit um hindurchzuschlüpfen. Der Lärm schlug ihm entgegen und ließ ihn kurz innehalten. Ein verlockender Gedanke, sich doch einfach nur noch ins Bett fallen zu lassen, überkam ihn. Er könnte jetzt gehen und niemanden würde es interessieren. Ihm fiel jedoch wieder ein, dass er den Barkeeper für einige Drinks im Vorraus bezahlt hatte, also kämpfte er sich durch die wabernde Menge zurück zur Bar. "Was darf's sein?" fragte der Mann hinter dem Tresen, dem seine Rückkehr nicht entgangen war. Er lehnte sich vor, um Kai etwas näher zu kommen, und grinste verschmitzt. Die Überlegung kam Kai sehr mühselig vor, also bestellte er den letzten Drink noch einmal. Kurze Zeit später schob sich ein weiterer Long Island Iced Tea in sein Blickfeld. An dem schlanken Glas bildeten sich durch die Kälte des Eises sofort Wassertropfen. Im Rand steckte eine frische Zitronenscheibe. Ein zarter Zweig Minze vervollständigte das Werk des Barkeepers. Kai nickte dankend, suchte aber keinen Blickkontakt. Auch wenn er kein Interesse an dem Mann hatte, fühlte es sich gut an, begehrt zu werden. Abwesend suchten seine Finger nach dem Glas. "Ganz schön warm hier!" Minuten oder Stunden später holte eine bekannte Stimme Kai ins hier und jetzt zurück. Es war Yuriy, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und jetzt ungeniert neben ihm am Tresen lehnte. Scheinbar hatte er bis eben ausgiebig getanzt, denn er wirkte außer Atem. Auf seinen Schläfen reflektierte Schweiß das abwechselnd blaue und rote Licht, das rhythmisch zur Musik pulsierte. Kai sagte nichts. Seine unterirdischen Smalltalk-Fähigkeiten waren doch inzwischen wirklich für niemanden mehr ein Geheimnis. "Wir sollten reden. Komm mit!" befahl Yuriy und verschwand in der Menge, ohne eine Reaktion abzuwarten. Da war er wieder, dieser Befehlston. Selbst hier könnte Yuriy es nicht lassen. Kai spürte, wie es plötzlich in ihm brodelte. Konnte das nicht bis morgen warten? Was wollte er, ihn zurechtweisen? Oder gar wieder aus dem Team werfen? Er stieß genervt die Luft aus, griff nach seinem halb leer getrunkenen Glas und bahnte sich einen Weg hinaus. Auf der Straße war es angenehm kühl und still. Es muss zwischendurch geregnet haben, denn der Boden reflektierte glitzernd das Straßenlicht. Kai sah sich möglichst beiläufig um, doch von Yuriy war keine Spur. Er hatte ihn verarscht. Bestimmt ist die Idee auf Boris Mist gewachsen und sie hockten gerade hinter irgend einer Hausecke, wo sie sich das Lachen verkniffen. Er schob die Hände in die Taschen. Zeit zu gehen, den Kinderkram musste er sich nicht geben. "Ich weiß nicht, wo die anderen sind. Vielleicht weitergezogen." Kai drehte sich nicht herum, als er Yuriys Stimme hinter sich hörte. Langsam schritt der Größere um ihn herum, und trat in Kais Sichtfeld. Seine Gesichtszüge wirkten weicher als sonst. "Was trinkst du da? Ist das gut?" Ohne Kai Zeit für eine Antwort zu geben, schnappte Yuriy sich das Longdrink-Glas aus seiner Hand und kippte sich einen großen Schluck in den Mund. Er verzog das Gesicht. "Nur noch Wasser!" Kai prustete belustigt. Das Eis seines Cocktails war inzwischen geschmolzen. Doch fast noch amüsanter war, wie er sprach. Zweifelsohne hatte auch er einige Drinks intus. "Ich erlöse dich mal davon." Yuriy setzte noch einmal an, um das Glas in einem Zug zu leeren. Dann hielt er die Zitronenscheibe hoch. "Willst du?" Kai schüttelte den Kopf und beobachtete, wie er das Fruchtfleisch aus der Schale knabberte. "Wäre doch schade drum." Yuriy hatte sich eine Zigarette angezündet und blickte die Straße rauf und runter, vermutlich hielt er Ausschau nach seinen Freunden. Abwesend spielten seine Finger in der zweiten Hand mit dem kleinen Zweig Minze, der zuvor in dem Cocktail steckte. Kai hielt es nicht mehr aus. "Ich sollte mitkommen, also was ist?" fragte er etwas zu scharf. "Ohh Kai!" "WAS?!" "DU…" Yuriy senkte seine Stimme "...musst dich mal entspannen. Nicht alles so verdammt ernst nehmen, verstehst du? Boris würde jetzt sagen, den Stock aus dem Arsch ziehen!" sprudelte es aus Yuriy heraus, als hätte er nur auf eine Aufforderung gewartet. Während er sprach, bewegte er sich auf Kai zu, bis ihr Größenunterschied ihm etwas zu deutlich wurde. "Sagt der Richtige." konterte er trocken. "Findest du etwa, ich bin unentspannt?!" fragte Yuriy übertrieben empört. "Ist das jetzt dein Ernst?" entgegnete Kai und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen, bis er eine Hauswand hinter sich spürte. Yuriy seufzte. Er stützte sich neben ihm mit der Schulter daran ab. Kai roch den Rauch der glimmenden Zigarette in seiner Hand. Langsam lehnte Yuriy den Kopf gegen das Gestein. "Na gut. Vielleicht müssen wir uns beide entspannen. Meinst du, wir kriegen das hin?" Kai neigte den Kopf um den anderen anzusehen. War das ein Versuch der Versöhnung? Er hielt Yuriys fragendem Blick nur kurz Stand und wandte sich dann grimmig ab. "Hm.." Ohne zu fragen klaute er sich die Kippe, die verlockend zwischen Yuriys Fingern steckte und zog daran. Es war eine billige, derbe Sorte. Er konnte den Reflex zu husten nicht unterdrücken. Peinlich. Yuriy grinste. Klar fand er das lustig. Kurz hatte Kai überlegt, ihm Rauch ins Gesicht zu pusten, tat es aber nicht. Er wollte den Moment nicht kaputt machen. Yuriy wartete geduldig, bis er ihm den Rest der Zigarette überließ. Er hatte sich das Ende des Minzzweiges in den Mund gesteckt und kaute darauf herum. "Genug frische Luft. Wir feiern jetzt!" Kai war überrumpelt. "Ich wollte eigentlich-" - "Ach, komm schon!" unterbrach Yuriy ihn, legte die Hand auf seine Schulter und schob ihn in Richtung Clubeingang, bis er sich in Bewegung setzte. Eilig zog Yuriy noch ein paar Mal an dem Zigarettenstummel, bis nur noch der Filter übrig war. "Ich will noch so einen Was-auch-immer und dann feiern wir beide!" Die Luft im Club war verbraucht und stickig und die Musik schien noch lauter zu sein als zuvor. Kai hatte das Gefühl, wirklich genug zu haben, doch Yuriy rempelte unbeirrt durch die Menge zur Bar. Er folgte ihm durch die Schneise der tanzenden Menge. "Zwei mal!" rief Yuriy dem Barkeeper zu und warf den Kopf erwartungsvoll zu ihm herum. Kai nickte dem Mann hinter dem Tresen bestätigend zu. Dieser musterte Yuriy mit gehobenen Augenbrauen, gefolgt von einem enttäuschten Lächeln, das Kai galt. Seine Hoffnung, heute noch bei ihm zu landen, war wohl gänzlich zunichte gemacht. Yuriy entging diese Reaktion nicht. "Der Typ steht auf dich!" Er hatte sich auf den Tresen gestützt und legte amüsiert das Gesicht in eine Handfläche. "Kein Wunder." Kai sah ihn perplex an. Über die Jahre hatte sich sein Gesicht verändert. Sein Blick wollte verweilen, die kantigen Züge betrachten, die Nase, das Lächeln. Er löste sich, um irgendwo nach Nichts zu suchen. "Baggerst du mich gerade an?" fragte er möglichst unbeeindruckt. Yuriy sah ihn unverändert an und zuckte mit den Schultern. Er war dankbar für die diffuse Beleuchtung um sie herum. Das Blut, das sich hinter seinen Wangen sammelte, wäre sonst mit Sicherheit sichtbar gewesen. Der Barkeeper servierte die Cocktails, und Yuriy kramte in seiner Hosentasche, um ein paar schlecht gefaltete Geldscheine hervorzuholen. Der Angestellte deutete zu Kai hinüber. "Ich glaube die gehen auf deinen Freund." Nach kurzer Irritation stopfte er sich das Geld wieder in die Hose. "Wie spendabel von meinem Freund!" Freund. Das Wort hallte in Kais Kopf wieder. Enthusiastisch drückte Yuriy ihm einen der Drinks in die Hand und hakte sich in seinen Arm ein. Bevor der die Situation einordnen konnte, fand er Yuriys Mund auf seinem wieder. Der Kuss war so flüchtig wie der Duft von Rauch und Minze, den er mit sich brachte. Er rief "Auf Bruderschaft!" und trank. Kai wusste nicht wohin er schauen sollte. "Du musst trinken!" Eine unbehagliche Pause war die Folge. Yuriy hatte sich, soweit möglich, bequem auf den Tresen gestützt. Er studierte die Wandregale mit dekorativen Flaschen hochprozentigen Alkohols, während er seine Finger abwesend über den Rand seines Glases kreisen ließ. In Kais Kopf herrschte Chaos. Er versuchte die letzten Minuten einzuordnen. Die zweideutigen Sprüche, der Kuss. Es war absurd. Er hätte im Leben nicht geglaubt, einmal von Yuriy geküsst zu werden. Und warum dachte er überhaupt soviel darüber nach? Es war ein alberner Trinkbrauch, ganz abgesehen davon, dass Yuriy die Reihenfolge vertauscht hatte, und… ach, egal. Den Oberkörper dehnend drehte er sich in seine Richtung, um dann zu bemerken, dass die blauen Augen auf ihn gerichtet waren. Hatte er ihn beobachtet? "Das nennst du also Feiern." kommentierte er, um die laute Stille zwischen ihnen zu brechen. "Hmm" machte Yuriy, "Wenn du wüsstest." Er grinste verlegen. Von seiner Euphorie war nicht mehr viel übrig. Er spielte mit seinem Glas, schwenkte es rhythmisch, um den Inhalt in Bewegung zu versetzen. Na klar, sicher musste er nach dem intensiven Training der letzten Tage auch erschöpft sein. "Hast du gesehen?" fragte er und schob das Getränk in Kais Richtung, der sich automatisch etwas vorlehnte. Er wusste nicht, was gemeint war und blickte fragend auf. "Die Eiswürfel, die sind herzförmig!" Kai lächelte schief und rollte mit den Augen. Plötzlich richtete Yuriy sich auf und blickte ihn mit großen Augen an. Scheinbar mochte er den Song, der sich gerade im fließenden Übergang aufbaute. Er deutete fragend in Richtung Tanzfläche. Kai presste die Lippen aufeinander und schüttelte langsam den Kopf. In einer übertriebenen Geste hob Yuriy die Hände und winkte ab. Bereits rhythmisch die Schultern bewegend, löste er sich vom Tresen und mischte sich unter die Leute. Seine Bewegungen waren stillos und moderat, aber irgendwie auch elegant. Kais Blick klebte an ihm, und jetzt war ihm egal, dass Yuriy das auch bemerkte. Der kehrte torkelnd zurück, um nicht ganz erfolgreich etwas zu trinken. Das Getränk lief ihm über das Kinn den Hals hinunter. Kai musste lachen. Ohne Zweifel war sein Teamchef komplett betrunken. Der Song zerfloss in den Nächsten, und sein gegenüber hob die Augenbrauen, erwartungsvoll grinsend. Ok, der Titel war geil und er war angetrunken genug. Er überwand sich endlich, es Yuriy gleich zu tun. Das Adrenalin der ersten Bewegungen verflüchtigte sich bald, und sie wurden intensiver. Er tanzte nicht gern, und konnte dem Getaumel nicht viel abgewinnen. Doch darum ging es jetzt nicht. Er genoss den ausgelassenen Moment mit seinem Teamkollegen, der unter seiner kühlen Maske möglicherweise doch ganz okay sein konnte. Yuriy verlor für einen Wimpernschlag das Gleichgewicht und strauchelte nach vorne. Er fing ihn reflexartig ab, und schob ihn zurück in eine geradere Haltung. Die Hände auf seinen Schultern verharrend, hob er die Augenbrauen und lächelte. "Ich denke du hast genug!" Yuriy kopierte das Lächeln. Er bewegte sich rhythmisch weiter, während sein Blick Kais Gesicht fixierte. Wie in Trance verlagerte er sein Gewicht nach vorne, machte sich kleiner, bis sie nur noch wenige Zentimeter trennten. Aus dieser Nähe bemerkte Kai die Sommersprossen auf Yuriys Wangen, auf denen die wechselnden Lichtfarben tanzten. Da war der Duft nach Rauch und Minze. Er kam noch näher, und ihre Lippen trafen sich, kurz und unbeholfen. Er sah Yuriy an. Yuriy. Kai hatte noch nie erlebt, dass etwas sich zur gleichen Zeit so richtig und falsch anfühlte. Er wollte etwas sagen, ohne zu wissen was, als Yuriy zu einem zweiten Kuss ansetzte, der länger andauern sollte. Seine Lippen waren weich und kalt. Er ließ es geschehen, hielt dagegen und wusste ganz genau, warum er auf Männer stand. Es gefiel ihm, dass Yuriy fordernd mehr Druck ausübte und ihn immer weiter nach hinten drängte. Sie bewegten sich wie eine Einheit durch das Menschenmeer. Kühle Finger strichen über die Haut seines Arms. Die andere Hand wanderte über seine Taille, berührte ihn nur leicht, fast vorsichtig. Eine kribbelnde Taubheit floss durch seinen Körper. Jemand drängte sie auseinander. Kai brauchte einen Moment, um wieder klar zu kommen. Kurz dachte er, Boris und Sergej überfielen sie freundschaftlich. Doch die Gesichter, die er im diffusen Licht ausmachte, waren fremd. Kannte Yuriy diese Typen? Er diskutierte gegen den Lärm an, bäumte sich auf und machte ein wirklich angepisstes Gesicht. Die Antwort waren Gelächter und vulgäre Gesten, und die Tatsache, dass sie eingekreist wurden. Oh Shit. Yuriy versuchte ihnen Platz zu verschaffen, während Kai diesen Ort und all die Menschen verfluchte. Ein unnötig brutaler Schlag traf Yuriy im Gesicht. Die Wucht riss ihn von den Füßen, er stürzte zu Boden. Kai schob ein paar rücksichtslose Tänzer beiseite und beugte sich kniend über ihn. Sein Körper lag regungslos und schwer da. Mit geschlossenen Augen und spannungslosen Zügen sah er aus, als würde er schlafen. Aus seiner Nase lief Blut. "Hey.." er rüttelte an ihm, erst vorsichtig, dann kräftiger. "Hey! Mach keinen Scheiß!" Erleichterung durchfuhr ihn, als Yuriy mit zitternden Lidern zu Bewusstsein kam. Sein Blick wanderte desorientiert durch den Raum, bevor er an Kais Augen hängen blieb. Seine Zunge fuhr über die Oberlippe, er schien das Blut zu bemerken, und dann den Schmerz. Er wischte sich rabiat mit der Handfläche durchs Gesicht, als wolle er die Benommenheit beseitigen. Der alkoholische Rausch wirkte verflogen, denn sein Ausdruck war jetzt kalt und fokussiert. Sein Körper schien zum Bersten angespannt. Kai richtete sich auf und konfrontierte die Gruppe, um in abwertend grinsende Visagen zu sehen. "Was ist das Problem, huh?" fragte er, obwohl er längst wusste, dass sie nichts weiter als homophobe Idioten waren. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er wurde von Yuriy beiseite geschoben, sanft aber bestimmt. Der aggressive Ausdruck in seinem Gesicht beunruhigte Kai. Ein brutales Gerangel entbrannte. Er war sich nicht sicher, ob es an den Lichtverhältnissen lag, aber seine Augen schienen gelb aufzuleuchten, während er immer wieder auf die Gegner einschlug. Sein Körper bewegte sich anders, beinahe animalisch. Was zur Hölle… Ein heißes Beben durchfuhr seinen Körper. Suzaku. Jetzt?! Ihre Energie floss durch seine Organe wie dickflussige Lava und eine plötzliche Übelkeit wollte ihn überwältigen. Er zwang sich dazu, langsam ein und auszuatmen, versuchte sie zu beruhigen. Der betäubende Alkohol erschwerte es ihm, sich darauf zu konzentrieren sie zu bändigen. Dann verstand er. Sie reagierte nur auf eine andere Macht im Raum. Wolborg musste förmlich in Yuriy toben. Hatte er die Kontrolle verloren? Die laute Musik verschluckte Kais Seufzen. Am liebsten hätte er einfach seine Arme um Yuriy geschlungen, um wieder seine Nähe zu spüren, und ihn so lange festgehalten, bis alles wieder gut war. Aber so funktionierte die Welt nicht. In einem günstigen Moment packte er Yuriy, um ihn aus dem menschlichen Knäuel zu zerren. Sein Körper war unnatürlich kalt. In einer weniger brenzlichen Situation wäre Kai fasziniert gewesen. So wie Suzakus Feuer auf ihn wirkte, war Yuriy offensichtlich Wolborgs eisiger Kälte ausgesetzt. Einen Augenblick später tauchten zwei grimmige Securities auf und stellten die Gruppe zur Rede. Umständlich schleppte er Yuriy die Treppe hinauf aus dem Club. Russische Flüche zischend, wand der sich in seinem Griff. Er hätte sich befreit, wusste Kai, wenn er es gewollt hätte. Sie ernteten einige erschrockene Blicke und Kommentare von glotzenden Passanten, bis es auf der Straße endlich menschenleer wurde. In der kalten Nachtluft beruhigte Yuriy sich langsam. Kai musste ihn stützen, denn er hatte Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Ihm lief so viel Blut aus der Nase, dass er sich immer wieder durchs Gesicht wischte und sich dabei komplett besudelte. Zwischendurch fasste er sich immer wieder an die Schläfen, als würde sein Kopf schmerzen. Dann wollten seine Beine nicht mehr weiter. Natürlich begann es zu tröpfeln, und leiser Regen setzte ein. Kai schleppte ihn noch ein kleines Stück zu einer überdachten Bushaltestelle. Zwangsläufig machten sie eine Pause "Scheiße." zischte Kai. "Was sollte das denn?" "Ach verdammt…" Yuriy schien die Frage zu ignorieren. Er saß zusammengekauert da, die Ellenbogen schwer auf die Knie gestützt. Den Kopf ließ er nach vorne herunterhängen. Tropfen für Tropfen wuchs die kleine Blutlache auf den Pflastersteinen zwischen seinen Schuhen. "Mein Glas war noch halb voll…" näselte er und schniefte dann laut. Kai seufzte entkräftet. "Ist doch nur noch Wasser." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)