Das Auge des Phönix' von lady_j (Fernandez' und Alsters erster Fall) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Kapitel 1 Am Morgen fiel das Herbstlicht golden durch die dünnen Vorhänge in der Küche. Mit der ersten Tasse Kaffee des Tages in der Hand blickte Julia auf die Straße hinunter. Zehn Stockwerke tiefer bildete sich ein kleiner Stau, als die Ampel an der Kreuzung auf Rot sprang. Winzige Menschen hasteten über den Zebrastreifen, in Richtung der nächsten Metrostation. In der Ferne blitzte ein Stück Wasser im Hafen von Bakuten zwischen den Gebäuden hervor. Der Himmel wusste, Julia war kein Morgenmensch. Sie wollte den Sonnenaufgang zwischen den Gardinen ihres Schlafzimmers aufleuchten sehen, eingekuschelt in ihre Decken – nicht fertig angezogen und bereit für den Arbeitsweg. Am liebsten wäre es ihr, wenn sich neben den Decken auch ein warmer Körper an sie schmiegen würde. Diesen Wunsch immerhin hatte sie sich in der letzten Nacht erfüllen können. Was das Aufstehen allerdings nicht einfacher gemacht hatte. Julia riss sich von der Aussicht, wegen der sie diese Wohnung vor allem gewählt hatte, los, griff nach einem weiteren Becher Kaffee und trug diesen auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer. „Ming, Babe, du musst aufstehen”, sagte sie und strich sanft über die Bettdecke, unter der sich die Schulter und Hüfte ihrer Bettgefährtin abzeichnete. Der türkisblaue Haarschopf, der am oberen Ende herauslugte, bewegte sich, ein Seufzen erklang, dann setzte MingMing sich auf. Die Decke rutschte über ihre satte, braune Haut nach unten, und Julias Blick blieb einen köstlichen Moment lang an ihren Brüsten mit den dunklen Höfen hängen. „Ich muss los. Und soweit ich weiß, musst du zur Uni”, sagte sie. Die Worte lösten leichte Schuldgefühle bei ihr aus. MingMing war ein ganzes Stück jünger als sie. Sie hatten sich auf dem Campus kennengelernt, als Julia eine ihrer früheren Dozentinnen im Zusammenhang mit einem etwas komplizierten Fall besucht hatte. Es ging um die Anfechtbarkeit der Aussagekraft von DNA-Spuren vor Gericht, ein Thema, für das sie genauso lange gebrannt hatte, bis Mings Blicke von der anderen Seite der Cafeteria sie sprichwörtlich ausgezogen hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Julia seit einigen Monaten auf dem Trockenen gesessen. Ihr Job ließ sich leider nicht sehr gut mit einem reichen Datingleben vereinbaren. Es wurde nun dennoch Zeit, diese Affäre zu beenden. Ja, MingMing war klug und gut im Bett, aber etwas Längeres konnte Julia ihr nicht bieten. Und sie befürchtete, dass Ming irgendwann etwas Längeres wollen würde. „Trink aus und zieh dich an, ja?!”, sagte sie und hoffte, dabei nicht allzu drängend zu klingen. Sei es wegen Ming, sei es wegen ihrer eigenen Langsamkeit am Morgen – Julia war spät dran. Als Julia eine halbe Stunde später das Polizeipräsidium betrat, waren die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen schon da. Sie grüßte links und rechts, bevor sie aufatmend die Tür zu ihrem Büro aufstieß – nur, um sofort wie erstarrt stehenzubleiben. Ihr Büro, das sie sich schon seit Monaten mit niemandem mehr teilen musste, war nicht leer. Mitten im Raum stand eine Frau, die Arme verschränkt, die Stirn gerunzelt. Ihr Blick hob sich, als Julia hereinstürmte. Sie betrachteten sich, und Julia wurde bewusst, wie unterschiedlich sie waren. Die Frau vor ihr war klein, hatte eine beinahe mädchenhafte Figur und kurzes, rosa gefärbtes Haar. Sie trug ein dunkles Jackett über einem weißen Shirt, dazu schwarze, enge Jeans und Boots. In ihrer Nase steckte ein kleines Piercing. Julia hingegen war hochgewachsen und sich nicht zu schade, trotzdem Heels zu tragen. Da sie am Morgen in Eile gewesen war, hatte sie ihr langes, unbändiges Haar halb zu einem Knäuel zusammengebunden und war in Jeans und einen Strickpullover geschlüpft. Für Mascara und Lippenstift war noch gerade so Zeit gewesen, auch wenn die Hälfte von letzterem am Plastikdeckel ihres Kaffeebechers klebte, den sie sich auf dem Weg geholt hatte. „Julia Fernandez?”, fragte ihr Gegenüber, als sie sich auch nach mehreren Sekunden nicht gerührt hatte. „Ich bin Mathilda Alster.” Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Richtig, die neue Kollegin”, fiel Julia ein. Beinahe hätte sie „die neue Mariam” gesagt. Sie schüttelte die dargebotene Hand. „Schön, dass Sie hier sind! Woher kommen Sie nochmal, aus Tokio?” „Genau”, antwortete Mathilda knapp. Keine Frau großer Worte, aha. Julia stellte ihre Umhängetasche auf ihrem Schreibtisch ab. „Was treibt Sie raus aus der großen Stadt? Sicher keine Langeweile!”, versuchte sie es noch mal. „Nein, eher der Wunsch danach.” Mathilda lächelte müde. „Tokio ist… speziell. Ich bin in einer Kleinstadt wie Bakuten besser aufgehoben.” Das klang recht bescheiden im Vergleich zu dem, was in den Akten stand. Julia hatte sie vor ein paar Wochen lesen können und rief sich nun das Wichtigste ins Gedächtnis. Mathilda Alster hatte ausgezeichnete Empfehlungsschreiben von den höchsten Stellen bekommen. Sie war vollkommen überqualifiziert für das, womit sie in Bakuten so zu tun hatten. Julia nahm an, dass Matildas Motivation, sich hierher versetzen zu lassen, nicht unbedingt ihrer Karriere geschuldet war. Doch es war viel zu früh, um zu viel Neugierde zu zeigen, auch, weil Mathilda nicht den Eindruck machte, sofort alles über ihr Leben preisgeben zu wollen. Wenn Julia auf eine Person wie Mariam gehofft hatte, die quasi keine Geheimnisse hatte und sie nach drei Tagen fragte, ob sie nach der Arbeit etwas mit ihr trinken gehen wollte, dann wurde sie jetzt enttäuscht. Doch was nicht war, konnte ja noch werden. „Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns duzen. Wir werden ja sehr eng zusammenarbeiten”, bot sie an. Mathilda nickte. „Das ist in Ordnung, denke ich. Danke, Julia.” „Schön! Möchtest du dich erstmal einrichten, oder soll ich dir eine kleine Führung geben? Du bist wahrscheinlich noch nicht mit unserem geliebten Kaffeeautomaten vertraut, oder?” In diesem Moment ging erneut die Bürotür auf und ein Polizeibeamter steckte den Kopf herein. „Morgen, die Damen. Die Kollegen von der Streife haben gerade angerufen und fragen nach Verstärkung.” „Tja, in Bakuten wird es anscheinend doch nicht langweilig”, kommentierte Julia mit Seitenblick auf Mathilda. „Worum geht es denn?” „Gemeldet wurde wohl ein Einbruch. Ratet mal, wo.” Der junge Mann wackelte mit den Augenbrauen. „Oben im Villenviertel. Bei Hiwatari.” „Bei den Bonzen? Da wollte ich schon immer mal Mäuschen spielen. Wir sehen uns das an.” „Ist das Hiwatari wie in Hiwatari Enterprises?”, fragte Mathilda, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen gelassen hatte. Julia ließ den Motor aufheulen und lenkte den Dienstwagen aus der Tiefgarage. „Jepp”, antwortete sie, nachdem sie die Schranke passiert hatten und sich in den Verkehr einreihten. „Die haben ihren Hauptsitz hier und betreiben die Schiffswerft unten am Hafen. Bestimmt ein Viertel der Stadt ist dort beschäftigt. Du hättest mal sehen sollen, was hier los war, als der alte Soichiro gestorben ist! Gefühlt hat ganz Bakuten getrauert.” Mathilda brummte. „Soichiro Hiwatari war also das Oberhaupt?” „Von der Familie und vom Unternehmen, ja. Er ist aber schon seit einigen Jahren tot. Es gab auch einen kleinen Skandal um seinen Sohn, der hat sich wohl komplett aus dem Unternehmen verabschiedet. Deswegen hat Soichiros Enkel den Laden übernommen. Kai Hiwatari. Zu dem fahren wir jetzt.” „Was ist das für einer?” Julia hob die Schultern. „Keine Ahnung. Im Gegensatz zu Soichiro hat er sich kaum einmal in der Öffentlichkeit gezeigt. Es ist so gut wie nichts über ihn bekannt, höchstens, dass er in seinem eigenen Haus oben am Berghang wohnt, wo die ganzen Villen stehen, während er das Familienanwesen verrotten lässt. Anscheinend haben er und sein Großvater sich nicht besonders gut verstanden.” „Interessant”, murmelte Mathilda und drehte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu blicken. Anscheinend war das Gespräch für sie beendet. Zugegeben, Julia war nicht unbedingt gut darin, zu schweigen. Wenn sie nachdachte, half es ihr, ihre Gedanken laut auszusprechen, um Zusammenhänge zu erkennen. Mariam hatte das nicht gestört. Zwar redete Mariam in einem ebenso kühlen Tonfall wie Mathilda, doch dafür redete sie ohne Unterlass. Julia hatte sich gut mit ihr verstanden. Ob es mit Mathilda genauso laufen würde, konnte sie in diesem Moment nicht sagen. Sie lenkte das Auto den Hügel hinauf, zu dessen Füßen Bakuten lag. Die Spitze des Hügels war zu steil und felsig, um auf ihm zu bauen, doch auf halber Höhe gab es eine kleine Ansammlung von Villen, die über die Stadt hinweg zum Meer blickten. Vor einer dieser Villen stand eine Streife, neben der Julia parkte. Auf der schmalen Straße war kein Mensch zu sehen, doch die schwere Eisentür in der hohen Mauer, die sich um das Grundstück zog, stand einen Spalt offen. Sobald Mathilda sie weiter aufstieß, kam ihnen einer ihrer Kollegen entgegen, dem sie sich kurz vorstellte. „Was ist passiert?”, fragte sie dann. „Wir haben hier eine junge Frau”, sagte der Kollege. „Hiromi Tachibana. Sie kam heute Morgen her und hat festgestellt, dass die Türen offenstanden. Drinnen wurden ein paar Möbel umgestoßen. Ob etwas fehlt, kann sie noch nicht sagen. Miss Tachibana hat versucht, Mr. Hiwatari zu erreichen, doch bisher geht er nicht ans Telefon…” „Wo ist Miss Tachibana jetzt?”, unterbrach Mathilda. „Im Wohnzimmer. Kommen Sie…” Er winkte sie mit sich und führte sie in das Haus hinein. Die Villa war modern und großflächig verglast. Der hintere Teil des Hauses schmiegte sich an die felsige Seite des Hügels. Der Garten bestand aus einer winzigen Fläche englischen Rasens, doch das erste Stockwerk des Hauses schien sich zu einer Terrasse zu öffnen, die jetzt, am Vormittag, halb im Schatten lag. Die Fenster waren einseitig verspiegelt, sodass man nicht erkennen konnte, was sich hinter ihnen befand. Drinnen war es zunächst dunkel. Die hohe Mauer blockierte jedes Licht, und die Lampen im Eingangsbereich waren recht stumpf. Eine Treppe führte nach oben in den ersten Stock, der sich über der Mauer befand. Sonne durchflutete den Raum. Die Einrichtung war schlicht und elegant, überall Weiß und Silbergrau und helles Holz. Tatsächlich befand sich hier eine Terrasse, von der aus man einen atemberaubenden Blick hatte: fast 180° unverstelltes Panorama. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Pool bis zur gläsernen Balustrade. Auf der Sofalandschaft, die mitten im Raum stand, saß eine Frau, auf die Julia nun zuging. „Miss Tachibana?”, fragte sie. „Mein Name ist Julia Fernandez, das hier ist meine Kollegin Mathilda Alster. Wollen Sie uns sagen, was passiert ist? Sind Sie eine Bekannte von Mr. Hiwatari?” Hiromi Tachibana blickte aus großen, braunen Augen zu ihnen auf. Ihre Haltung war verkrampft, als müsse sie sich arg zusammenreißen, auf ihrem Platz zu bleiben. Julia setzte sich neben sie, doch Mathilda begann, sich im Raum umzusehen. Es herrschte Unordnung: Bücher waren aus einem Regal gerissen worden, die Sofakissen lagen auf dem Boden und ein Beistelltisch mit einer Blumenvase war umgerissen worden, deren Scherben nun überall verstreut lagen. „Ich bin Kais Freundin”, sagte Hiromi nun und Julia wandte sich wieder ihr zu. „Wir waren für heute Morgen verabredet, aber er ist … nicht hier.” „Eins nach dem anderen, bitte. Erzählen Sie uns, was Sie machen wollten.” „Wir wollten gemeinsam frühstücken, bevor er ins Büro muss”, sagte Hiromi. „Ich habe einen freien Tag. Gestern wurde es spät – ich arbeite in der Bakuten Bank – deswegen bin ich zu mir nach Hause gefahren und erst heute Morgen hierhergekommen.” „Das heißt, sie leben nicht zusammen?” „Nein.” Hiromi lächelte kurz. „Es ist nicht so, als hätte er mich nicht gefragt. Hier ist ja wirklich genug Platz für zwei. Aber ich wollte meine Wohnung behalten, um unabhängiger zu sein.” „Verstehe. Sie standen also heute Morgen vor der Tür und…?” Hiromi nickte und schluckte hörbar. „Die Tür war offen. Das war seltsam. Ich dachte, vielleicht war Kai joggen und hat sie einfach nicht wieder richtig geschlossen. Aber dann kam ich ins Haus und…” Sie machte eine vage Geste, die den Raum umschloss. „Hier war alles durcheinander. Und Kai war nicht da. Ich habe versucht, ihn anzurufen, aber niemand hat abgenommen. Im Büro ist er auch nicht, da habe ich auch schon gefragt, und… und Boris ist nicht da, ich weiß nicht-” Aus den Augenwinkeln heraus sah Julia, wie Mathilda zu ihnen herumfuhr. „Wer ist Boris?”, fragte sie scharf. „Was ist hier los?!” Ein Rumpeln erklang, und alle Augen richteten sich auf die Tür. Dort stand ein Mann, der sich mit gehetztem Blick umsah. Er hatte kurzgeschorenes, helles Haar, sein muskulöser Körper steckte in einem dunklen Trainingsanzug. Von seinem Ohr baumelte ein silberner Anhänger. Ihr Polizeikollege, der mit etwas verdatterter Miene hinter ihm stand, wirkte winzig neben ihm. „Boris, Gott sei Dank!”, rief Hiromi aus. „Ist Kai bei dir?” „Nein! Ist er nicht hier? Sein Auto steht in der Garage.” „Entschuldigung, wer bitte sind Sie?”, schaltete Mathilda sich ein. Der riesige Typ, Boris, sah sie an, als würde er sie erst jetzt bemerken. Das nahm Julia ihm nicht ab. Sie hatte beobachtet, wie Boris’ Blick gleich, als er angekommen war, einmal durch den Raum wanderte. Er hatte jedes Detail, jeden Fetzen herumliegenden Papiers, sofort registriert. „Boris Kuznetsov”, stellte er sich nun vor, ohne Anstalten zu machen, einer von ihnen die Hand zu schütteln. „Ich bin Kai Hiwataris Bodyguard.” „Warum warst du nicht hier?”, rief Hiromi anklagend. Boris hob beide Hände. „Kai hat mir frei gegeben”, erklärte er. „Ich bin gestern Abend mit ihm hierhergefahren und dann in die Kneipe gegangen. Heute Morgen ruft Ivanov mich an, weil Kai nicht ins Büro gekommen ist.” Julia erhob sich, um die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zu lenken. Noch war sie ganz ruhig. Ja, es gab hier ein paar Ungereimtheiten, aber meistens ließen sich solche Situationen wie diese schnell und rational lösen. Anscheinend hatte seit gestern Abend niemand von Kai Hiwatari gehört. Im Haus herrschte zwar Chaos, aber man konnte noch nicht sagen, ob Hiwatari dieses nicht selbst verursacht hatte. „Denken Sie bitte noch einmal nach”, sagte Julia. „Könnte Mr. Hiwatari einfach einen Termin vergessen und in Eile gewesen sein? Vielleicht gab es einen Notfall in der Familie?” „Lady”, unterbrach Boris sie. „Ich wäre nicht hier, wenn ich mir keine Sorgen machen würde. Kais Auto steht in der Garage. Das Sicherheitssystem und sein Handy sind ausgeschaltet.” „Kai würde nicht einfach so gehen, und er vergisst auch keine Termine”, ergänzte Hiromi. „Sie kennen ihn nicht. Er würde so etwas niemals tun.” Julia spürte, wie Mathilda sich ihr näherte. Sie wechselten einen Blick, aber sie konnte nicht sagen, was in Mathildas Kopf vorging. Es gab viele Möglichkeiten, was hier passiert sein konnte. Und auch wenn Hiwataris Freundin das Gegenteil behauptete, es wäre nicht das erste Mal, dass jemand urplötzlich beschloss, sein bisheriges Leben hinter sich lassen zu wollen. Oder andere Geheimnisse hatte. Kleine Geheimnisse, ja, die eher peinlich oder unangenehm als illegal waren. In Julias Laufbahn war es eher vorgekommen, dass „verschwundene” Menschen einfach nur bei ihren Affären waren. Das war schmerzhaft für die ahnungslosen Partner, aber kein Verbrechen. „Wollen Sie eine Vermisstenanzeige stellen?”, fragte sie trotzdem, denn das war das normale Procedere. „Sie müssen aber wissen, dass wir in diesem Falle Ermittlungen einleiten…” „Natürlich! Deswegen habe ich Sie ja angerufen!”, sagte Hiromi. „Gibt es jemanden, der Hiwatari Böses wollen würde?”, fragte Mathilda. Sie zog nun ein Tablet aus ihrer Umhängetasche und begann, Fotos von den durcheinanderliegenden Gegenständen zu machen. Boris hob die Schultern. „Kai Hiwatari ist der CEO von Hiwatari Enterprises und einer der reichsten Männer Japans. Wenn sie mich fragen, ist das Grund genug. Deswegen hat er mich ja eingestellt.” „Wenn Sie eine Vermisstenanzeige stellen”, sagte Mathilda unbeeindruckt. „Dann müssen wir das komplette Haus durchsuchen. Sie werden beide befragt. Und natürlich muss Hiwatari Enterprises davon unterrichtet werden. Gibt es dort jemanden, mit dem wir uns unterhalten können?” „Ivanov, vermutlich”, murmelte Hiromi, verstummte dann aber. Als sie keine Anstalten machte, weiter auszuholen, blickte Julia von ihr zurück zu Boris. Dieser nickte und tastete nach seinem Handy. „Yuriy Ivanov”, erklärte er. „Kais Stellvertreter. Wenn jemand weiß, ob bei Hiwatari Enterprises gerade etwas schiefläuft, dann er”, fügte er hinzu und reichte Julia das Telefon, damit sie sich Ivanovs Nummer notieren konnte. Mathilda bat die beiden, sie durch das Haus zu führen und zu versuchen, festzustellen, ob etwas fehlte. Julia folgte ihnen. Eine weitere Treppe führte zum zweiten Stock, in dem ein Bade- und Schlafzimmer lagen. Auf dem Flur hing das Gemälde einer Frau. Hiromi betrat das Schlafzimmer ohne zu zögern. Das Bett war ordentlich gemacht, als hätte es in der vergangenen Nacht niemand angerührt. Hiromi zog die Schubladen der Nachtschränke auf und schüttelte den Kopf. Dann enthüllte sie einen Safe, der hinter einem Bild (Landschaft. Nichtssagend.) in die Wand eingelassen war. Sie gab den Code ein, spähte kurz hinein und schloss ihn wieder. „Wer ist das?”, fragte Mathilda, als sie wieder in den Flur traten, und deutete auf das Gemälde. Die Frau hatte dunkles Haar, ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie trug ein schlichtes Kleid, doch auf ihrer Brust ruhte ein auffälliges Schmuckstück mit einem roten Stein. „Das ist Kais Großmutter”, sagte Hiromi. „Ich glaube, das Gemälde war ein Hochzeitsgeschenk an sie von Soichiro Hiwatari. Den Anhänger, den sie trägt, hat auch er anfertigen lassen. Von einem ziemlich bekannten Juwelier, glaube ich. Er heißt Das Auge des Phönix.” „Und wo ist dieser Anhänger jetzt?”, fragte Julia. „Kai hat ihn geerbt, genau wie das Bild”, antwortete Hiromi. „Er trägt ihn immer bei sich.” Sie stockte und sah Julia an. „Ist er vielleicht deswegen überfallen worden?” „Es ist eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen”, meinte sie. „Aber es ist noch zu früh, um Vermutungen anzustellen. Lassen Sie uns weitergehen.” Im Bad befanden sich Zahnbürsten, Rasierapparat und Kosmetika an ihren Plätzen. Sie gingen wieder nach unten, und jetzt sah Hiromi sich aufmerksam um, während sie durch das Wohnzimmer lief. „Ich glaube, hier fehlt etwas”, sagte sie und deutete auf eine Vitrine. „Kai hatte ein paar antike Porzellangefäße. Und hier stand auch mal ein Schmuckkästchen. Darin war der Goldschmuck seiner Mutter und, ich glaube, auch ein paar Edelsteine.” „Das stimmt”, sagte Boris. „Ich glaube, Kai hat irgendwo eine Liste mit all diesen Dingen. Erbstücke, Antiquitäten, Kunst und so”, ergänzte Hiromi. „Wenn Sie wollen, gleiche ich das ab. Ich habe, ehrlich gesagt, keinen guten Überblick darüber.” „Das kann auch die Spurensicherung machen”, sagte Mathilda. „Geben Sie uns bitte einfach die Liste.” Sie stellte noch ein paar Fragen, und Julia beobachtete sowohl Hiromi als auch Boris ganz genau, während diese antworteten. Sie versuchte, die Beziehung zwischen diesen Menschen zu verstehen. Hiromi schien ehrlich besorgt um ihren Partner zu sein. Sie wirkte aufgebracht und fahrig, aber auch müde. Boris hingegen strahlte eine Ruhe aus, die seltsam fehl am Platz wirkte und im starken Kontrast zu der Art und Weise stand, wie er vorhin in das Haus gestürmt war. Aber das konnte auch an seinem Beruf liegen. Julia nahm sich vor, ihn als erstes zu überprüfen, sollte Hiwatari nicht von alleine wieder auftauchen. Ein verschwundener Millionär, dachte sie. Die Woche versprach, interessant zu werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)