Herzschmerzhelden von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Gleiches Recht für alle ---------------------------------- Meine Finger schließen sich fest um den harten Knüppel neben meinem Oberschenkel, mein Unterleib zuckt und meine Mundwinkel wandern wie von unsichtbaren Schnüren gezogen ein ganz gehöriges Stück nach oben. Ein leichtes Vibrieren hat meinen ganzen Körper erfasst, der es anscheinend kaum erwarten kann, endlich loszulegen. Es ist wie ein Ritt auf einem elektrischen Bullen, nur noch geiler, weil ich allein die Zügel in der Hand halte. Gleich. Gleich. Gleich ist es soweit.   „Na schön, Fabian. Und jetzt noch einmal mit Gefühl.“   Die Anweisung ist deutlich und ich weiß, ich sollte lieber Folge leisten, wenn ich das hier nicht verkacken will. Aber die Vorlage ist einfach zu steil, um sie nicht zu kontern. „Ich mag's aber lieber hart und dreckig“, verkünde ich mit einem breiten Grinsen. Im nächsten Moment trete ich das Gaspedal durch, lasse die Kupplung kommen und löse mit einem Ruck die Handbremse. Der Motor des Wagens jault auf, die Karre macht ein, zwei hoppelnde Sätze nach vorne und kommt dann mit einem nicht sehr gesund klingenden Geräusch zum Stehen. Herr Mehner neben mir schnauft laut und deutlich. Ich glaube, er wäre jetzt gerne ganz woanders. „Wirklich?“, fragt mein Fahrlehrer in resigniertem Tonfall und sieht mich über den Rand seine Brille hinweg strafend an. Ich grinse noch ein bisschen breiter und schüttele mir den Pony aus dem Gesicht. „Was denn?“, frage ich scheinheilig zurück. „Ich hab doch alles genauso gemacht, wie Sie es mir gesagt haben. Nur halt ein bisschen schneller.“ Herr Mehner seufzt und ich warte darauf, dass er sich die Brille abnimmt und sich den Nasenrücken massiert. Das macht er oft; besonders, wenn er mit mir eine Fahrstunde hat. „Schneller ist nicht immer unbedingt besser“, tut er in unbeirrbar ruhigem Tonfall kund und behält die Brille ganz entgegen meiner Erwartung tatsächlich auf. Wahrscheinlich bin ich nicht der erste Dummdödel, der Anfahren am Berg einfach nicht kapieren will. Immerhin steht Herr Mehner schon kurz vor der Pensionierung und hat mit Sicherheit bereits etliche Pappenheimer durch die Prüfung geschleust. Auf mich hätte er vielleicht trotzdem lieber verzichtet. Da er jedoch die einzige Fahrschule am Ort hat, war auch meine Auswahl nicht besonders groß. Das Schicksal hat uns sozusagen zusammengeführt und nun hocken wir hier in diesem schon leicht altersschwachen Golf und warten darauf, dass das Leben oder vielmehr mein 18. Geburtstag und ein geneigter Fahrprüfer uns wieder trennen. Bisher liegt das allerdings noch in weiter Ferne. Zumindest, wenn Anfahren am Berg Teil der Prüfung werden sollte.   „Du musst weniger Gas geben und dann die Kupplung leicht kommen lassen“, erklärt er noch einmal. „Erst, wenn du das Gefühl hast, dass der Wagen nur noch durch die Handbremse am Losfahren gehindert wird, löst du diese schrittweise und gibst dabei weiter Gas. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Eben genau richtig.“   „Genau richtig“, wiederhole ich ernst und habe es ebenso wenig kapiert wie bei den ersten Malen. Ich verstehe sowieso nicht, warum ich überhaupt noch das Fahren mit Schaltgetriebe lernen muss. Immerhin geht der Trend zum Automatik und wenn ich mir mal ein Auto zulege, werde ich bestimmt nicht so einen komischen Kupplungskrüppel nehmen. Allerdings liegt dieses Ereignis wohl in noch weiterer Ferne als ein Führerschein. Für Letzteres blecht meine Mutter wenigstens. Vermutlich, weil sie mein Gejammer über die Gottverlassenheit unseres neuen Heimatortes und die allgemeine Ungerechtigkeit des Seins nicht mehr aushalten konnte. Ich kann wirklich sehr überzeugend sein, wenn ich will, und sie kriegt ja so leicht ein schlechtes Gewissen. Dabei müsste sie das nicht haben. Immerhin war es mein Vater, der sich vor zwei Jahren aus dem Staub gemacht hat und wegen dem wir aus unserem großzügigen Einfamilienhaus am Rande einer pulsierenden Großstadt in eine kleine Stadtwohnung mitten im Nirgendwo ziehen mussten. Neue Schule, neue Freunde, neues alles. Vielen Dank nochmal, Dad. You really fucked it up.   „Vielleicht versuchen wir es lieber nochmal mit dem Rückwärts-Seitwärts-Einparken“, droht Herr Mehner jetzt und hat dabei gleich meine zweite Schwachstelle im Visier. Es ist mir wirklich unbegreiflich, warum ich versuchen sollte, ein Auto in eine dafür viel zu kleine und noch dazu umständlich zu befahrende Parklücke zu zwängen, wenn doch an meinem zukünftigen Wohnort an jeder zweiten Ecke Parkhäuser zu finden sind. Denn eins ist mal sicher, sobald ich im Sommer die Schule abgeschlossen habe, bin ich hier weg. Wo genau ich studieren werde, weiß ich noch nicht. Oder was. Aber es wird in jedem Fall sehr sehr weit weg von diesem Paartausend-Seelen-Kaff stattfinden. Irgendwo, wo richtig Action ist. München, Stuttgart, Hamburg, Köln oder vielleicht sogar Berlin. Immerhin bin ich da geboren worden, bevor meine lieben Erzeuger dachten, dass es ne echt steile Idee wäre, irgendwo in die mitteldeutsche Hoch-und-Tief-Landschaft zu ziehen, wo alle Orte irgendein -ingen sind oder an einem Fluss liegen, den man dann gleich noch in den Namen quetschen muss, weil sonst Verwechslungsgefahr besteht oder was weiß ich.   „Aber natürlich, Herr Mehner“, flöte ich dessen ungeachtet und starte den abgewürgten Wagen neu. Immerhin weiß ich, worin die Alternative hierzu bestände, und die ist, auch wenn man es kaum glauben mag, noch furchterregender.     Um 17 Minuten vor neun schlittere ich mit quietschenden Sohlen in den Flur vor den Physikräumen. Drinnen ist bereits das Gemurmel der Klassen zu hören, die sich darauf vorbereiten, diesen Teil unserer geheiligten Bildungsstätte zu verlassen. Ich jedoch bin gerade erst gekommen, obwohl ich eigentlich bereits seit einer knappen Dreiviertelstunde meinen Kopf mit unsinnigen Formeln und naturwissenschaftlichen Fakten füllen lassen sollte. Da Physik aber nicht nur öde sondern auch noch mein absolutes Hassfach ist, bot es sich an, meine Fahrstunde unter dem Vorwand, erst zur zweiten zu haben, auf diese frühe Stunde zu legen. Herr Mehner ist diesbezüglich natürlich ahnungslos. Die einzige Schwierigkeit besteht jetzt darin, noch so rechtzeitig zu erscheinen, dass die erste Stunde nicht als Fehlstunde gewertet wird. Das wiederum würde eine schriftliche Erklärung meiner geehrten Mutter erfordern, die von dem Umstand, dass ich geschwänzt habe, natürlich möglichst nichts erfahren sollte. Zumindest nicht, bevor ich am Ende des Schuljahres mein Abschlusszeugnis in Händen halte. Denn, mal ehrlich: Wenn da „bestanden“ drunter steht, interessiert sich doch keiner mehr für gefühlte 213 Fehlstunden.   Pünktlich 5 Minuten vor Gongschlag erreiche ich also meinen Klassenraum und halte mich gar nicht erst mit Klopfen auf. Herr Schubert, mein Physiklehrer, würde es möglicherweise noch überhören und das würde mich wertvolle Sekunden kosten.   „Entschuldigung, hab verschlafen“, murmelte ich in einem möglichst tief geknickt klingenden Ton und husche mit gesenktem Kopf an meinen Platz in der letzten Reihe, damit Herr Schubert nicht noch mein verräterisches Grinsen entdeckt und mich als den unstrebsamen Strolch enttarnt, der ich nun einmal bin. „Das ist jetzt schon das vierte Mal diesen Monat“, schnarrt es jedoch prompt von vorne und ich haspele irgendwas vor mich hin, das mit vier zugedrückten Hühneraugen vielleicht als „Alpträume“ durchgeht. Die ich natürlich nicht hatte, aber die Mitleidsnummer zieht eigentlich immer. Nur nicht bei Herrn Schubert. „Wenn das noch einmal vorkommt, werde ich Ihre Mutter darüber informieren müssen, Herr Vogel.“   „Wie Sie meinen, Herr Schubert. Ich lasse Ihnen eine Visitenkarte ihrer Anwaltskanzlei da“, kontere ich und höre mich damit nicht ganz zufällig so an, als würde das etwas bedeuten. Dabei ist meine Mutter Fachanwältin für Miet- und Eigentumsrecht. Die könnte mir höchstens helfen, wenn Herr Schubert mich aus meiner Wohnung rausschmeißen würde.   Herr Schubert guckt immer noch wie ein essigsaurer Bratapfel, wendet sich dann aber der Tafel zu, um irgendeinen physikalischen Schwachsinn zu Ende zu zeichnen, bei dem ich ihm gestört habe. Das wiederum ist für mich die Gelegenheit, mich meinem Banknachbarn zuzuwenden. „Und? Was hab ich verpasst?“, flüstere ich Pascal zu, der doch tatsächlich fleißig mitschreibt, der Streber. „Masse-Leuchtkraft-Beziehung und die Entstehung schwerer Sterne“, wispert er zurück und ich muss bei der Vorstellung, wie ein Stern sich eine Sahnetorte zusammen mit einem Zwei-Liter-Becher Coke reindrückt, ehrlich grinsen. Dass ich das nicht verstehen muss, weiß ich, denn Pascal wird sich spätestens vor der nächsten Prüfung wie immer die Mühe machen, mich löffelweise mit den benötigten Grundkenntnissen zu füttern, sodass ich mit einer passablen Vier aus der Klausur hervorgehen werde. Immerhin ist er der Grund, warum ich überhaupt hier sitze, obwohl ich von Tuten und Blasen keine Ahnung habe. Also von Letzterem vielleicht schon, aber leider mangelt es diesbezüglich momentan an Praxisstunden. „Ich hab dir alles mitgeschrieben“, erklärt er mir auch gleich bereitwillig und ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln. Auf Pascal ist eben Verlass, egal in welcher Lebenslage. Mit den halblangen, dunklen Haaren und dem leicht südländisch angehauchten Teint sieht er obendrein auch noch ziemlich knackig aus. Leider ist er vollkommen hetero und noch dazu mein bester Freund, sodass eine Liaison mit ihm ungefähr so wäre, als würde ich mit meinem Zwillingsbruder ausgehen. Den ich nicht habe. Also gleich zwei Punkte, die dagegen sprechen.   „Bist ein Schatz“, hauche ich ihm trotzdem zu und weiß, dass er mir nicht übelnimmt, wenn mein Luxuskörper sich seinem dabei ein bisschen zu sehr nähert. Ich hab nämlich von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich auf Kerle stehe, und Pascal war im Gegensatz zu einigen anderen echt cool damit, sodass wenigstens diese Sache nicht zwischen uns steht. Im Gegensatz zu … „Lenk ihn nicht immer ab.“   Michelle. „Fiele mir nicht im Traum ein, Honeybunny. Dann müsste ich euch dreien ja Konkurrenz machen“, feuere ich dem blonden Bückstück meine Lieblingsfreundes sofort entgegen. Wobei gegen die Haarfarbe an sich nichts zu sagen ist. Nicht umsonst leiere ich meiner Mutter jeden Monat einen Fuffi aus den Rippen, um meine Ansätze nachzubleichen. Aber dieses Weib ist einfach …   „Wieso drei?“, fragte sie jetzt und glotzt mich mir ihren blauen Kuhaugen strunzdämlich an.   „Na du, Mickey und Donald“, erkläre ich ernsthaft und deute dabei auf ihre Monstertitten, die sich gegen den Stoff eines viel zu engen Oberteils quetschen. Mal ehrlich, ich steh ja nicht auf die Dinger, aber das muss doch wehtun, wenn das da so rausquillt. „Entschuldige mal …!“, fängt sie noch an sich aufzuplustern, als ein dreistimmiges Signal die Stunde beendet, auch wenn einige Lehrer immer noch hartnäckig behaupten, dass das ihre Aufgabe wäre. „Ja, ich entschuldige dein furchtbares Outfit“, informiere ich sie hoheitsvoll, bevor ich mein nicht ausgepacktes Zeug wieder einräume und dem Ausgang entgegenstrebe. Ich komme jedoch nicht weit, als sich ein Fuß der Marke Kinderkanu zwischen meine in engen Röhrenjeans steckenden Beine streckt und mich prompt zu Fall bringt. Also fast wenigstens, wenn ich mich nicht im letzten Moment höchst sportlich, aber nur leidlich elegant an der Stuhllehne meines Vordermannes festgekrallt hätte. „Oh seht mal. ’S Vegale macht Flugstunden.“   Boah, echt jetzt? Der schon wieder? Na warte.   Ich grinse Simeon an, der mich verschreckt durch die Gläser seiner Hornbrille aus anschaut, und drehe mich dann immer noch süffisant lächelnd zu der Scheiße labernden Hohlbirne um, die meiner Meinung nach nur hier sitzt, weil sie nicht weiß, wie man Kurse abwählt. „Bruno!“, rufe ich begeistert. „Du hier und nicht in Hollywood? Dabei casten die doch gerade 'Dumbo 2' , hab ich gehört. Wäre das nicht deine Chance?“   Der Blick meines Gegenübers bohrt sich in meinen und die von mir so eloquent angespielten Ohren werden tatsächlich ein bisschen rot. Es ist jetzt nicht so, dass Bruno wirklich Segelohren hat. An ihm ist einfach nur alles furchtbar groß und das schließt eben auch die Anhängsel an seinem Quadratschädel mit ein. Seitdem er sich die Haare an den Seiten hat nahezu kahl rasieren lassen, fallen die halt noch mehr auf als vorher. Meine Wahl wäre es nicht gewesen, aber da mir Bruno ungefähr so sympathisch ist wie abgeschnittene Fußnägel, kann ich dieses Tatsache natürlich nutzen, um ihm ein auszuwischen. Leider hängt an dem Schädel mit den großen Ohren auch noch ein ziemlich breiter Körper mit ziemlich großen Fäusten dran. Diese ballt er jetzt und würde mir wohl nur zu gerne eine reinhauen. „Pass bloß auf, du kleine …“   Bevor er weitersprechen kann, lehne ich mich schnell vor und flüstere:   „Überleg dir gut, was du jetzt sagst. Den Verweis bekommst nämlich du, während mich deine Kommentare zu meiner Sexualität tatsächlich nur sehr peripher tangieren.“   Nachdem ich meinem Bombe gedroppt habe, bringe ich mich trotzdem lieber außer Reichweite von Brunos baggerschaufelartigen Verprügelobjekten. Er blinzelt immer noch dämlich und versucht vermutlich, die Fremdwörter, die ich ihm um die Ohren – haha – gehauen habe, zu verarbeiten. Bevor er jedoch damit Erfolg hat, lasse ich mich mit zwei hoch erhobenen Mittelfingern von der Masse in Richtung Ausgang tragen und grinse mir eins. Auf dem Gang sehe ich jedoch zu, dass ich das Weite suche, denn wenn Bruno endlich verstanden haben sollte, was ich eigentlich zu ihm gesagt habe, und ihm dann auch noch wieder einfallen sollte, was ich vorher gesagt habe, wäre es vielleicht ganz gut, sich nicht in seiner Nähe oder der seiner Freunde zu befinden. Denn die hat der gute Bruno leider, auch wenn ich immer noch die starke Vermutung habe, dass die fünf Hanseln sich ein Gehirn teilen und es jeder von ihnen nur an einem Tag in der Woche bekommt. In der verbliebenen Zeit wird es vermutlich leihweise als Anschauungsobjekt für die Entwicklung vom Affen zum Neandertaler im Urgeschichtlichen Museum ausgestellt und zwar nicht als Endstufe.   Ich langweile mich durch die nächste Stunden und warte darauf, dass endlich wieder Pause ist. Nicht, dass es wirklich eine Abwechslung wäre, aber immerhin muss ich dann nicht so tun, als würde mich irgendwas von dem, was ein ahnungsloser Greis mit zu viel Kreidestaub in der Lunge vor sich hinmurmelt, interessieren. Ich bekomme eine leidliche Vier in Latein wieder und eine erfreuliche Drei Minus in Englisch. Meine Lehrerin findet meine Theorien interessant, aber meinen Wortschatz unterirdisch. Na ja, gut, was erwartet sie auch? In den meisten Filmen, die ich mir zum Vergnügen reinziehe, spielen die Dialoge eine eher untergeordnete Rolle. Da geht es mehr um Körpersprache und das Geräusch, mit dem nackte Haust auf nackte Haut prallt. Während ich darüber nachdenke und schon wieder leicht horny werde, klingelt es bereits zur Mittagspause. Das bedeutet ein Wiedersehen mit meinem Lieblingsfreund und mit Michelle. Würg.   „Na, noch nicht gestorben?“, begrüße ich sie.   „Nein, die Bosheit und die Schadenfreude über dein dummes Gesicht hält mich immer noch am Leben“, gibt sie zurück und grinst mich ziemlich breit und frech an. Na gut, Punkt für sie. Den lasse ich mal durchgehen, weil ich weiß, dass Pascal es nicht leiden kann, wenn ich seine Freundin allzu sehr trieze. Außerdem hab ich den leisen Verdacht, dass an ihrer Aussage was Wahres dran ist. Deswegen – und nur deswegen – spare ich mir auch die Bemerkung, dass das Speisenangebot der Mensa ja heute mal wieder Michelles Klamottenauswahl an Geschmacklosigkeit übertrifft, und stupse Pascal nur freundlich an. „Was sagst du? Mittagessen bei Kotzkelle?“   Ja, es ist wahr. Nicht einmal die großen Fast-Food-Ketten haben unser beschauliches Städtchen auf dem Radar, sodass wir uns mit der Billigvariante zufriedengeben müssen. Aber immerhin haben die eine einigermaßen Auswahl und neuerdings diese frittierten spanischen Teigstangen mit Schokosoße. Ich steh auf die Teile und vielleicht gebe ich Michelle sogar welche ab, damit sie ihre Krallen mal ein bisschen zurückfährt. Ich habe nämlich heute noch was vor.   „Sag mal …“, beginne ich daher scheinheilig, während Michelle sich nichtsahnend an meinen übrig gebliebenen Churros gütlich tut. Wenn ich nett wäre, würde ich ihr sagen, dass sie Schokosoße im Mundwinkel hat, aber jetzt gilt es gerade erst mal zu verhindern, dass Pascal sich später darum kümmern kann, diesen hingebungsvoll abzulecken.   „Hast du Bock, Kunst zu schwänzen und stattdessen mit zu mir zu kommen? Hab gehört, der Nude Patch für Elden Ring lässt sich endlich installieren, ohne die gesamte Hardware zu crashen.“   Als Nächstes sehe ich genau zwei Dinge, die ich exakt so erwartet habe. Erstens das interessierte Glitzern, das in Pascals Augen aufleuchtet, als ich ihm diesen höchst göttlichen Vorschlag unterbreite. Als nächstes folgt der Blick in Richtung der Churro-Vernichtungsmaschine, die zum Glück vollkommen damit beschäftigt ist, sich zu viele Kalorien einzuverleiben. Das Erste ist gut, das zweite ganz, ganz schlecht. „Sie wird es schon nicht mitkriegen“, versichere ich ihm. Dat Michelle-Mäuseken hat nämlich Musik gewählt und wird sich daher in einem völlig anderen Teil unseres nicht eben riesigen Schulgebäudes aufhalten, während wir unsere Fronarbeit im Kunstcontainer ableisten dürfen. Oder dürften, wenn ich Pascal nicht dazu überredet bekomme, diese vollkommene Verschwendung von Lebenszeit ausfallen zu lassen und was wirklich Sinnvolles zu tun.   „Ich helf dir auch, Frau Müller-Hoppenstedt rumzukriegen. Wirst sehen, wenn du ihr dein Werk mit einer tiefsinnig klingenden Begründung unter die Nase hältst, frisst sie dir wie ein zartes Lämmchen aus der Hand.“   Das scheint den Ausschlag zu geben. Immerhin bin in diesem Fall ich schuld an der Kurswahl meines Freundes. Nicht, dass wir große Leuchten in Kunstgeschichte wären oder ähnliches, aber ich kenne kein Fach, in dem man sich so gut durchmogeln kann. Du rotzt halt irgendwas zusammen und wenn du es verkaufen kannst, hast du gewonnen. Kein Problem, denn wenn ich was kann, dann schwafeln. „Na schön“, murrt Pascal und tut der Form halber so, als wäre er tatsächlich abgeneigt, der näselnden Stimme unseres Kunstmonsters zu entkommen. „Aber nur ne Stunde. Ich hab nachher noch Training.“   Ja klar. Training. Ich verkneife mir ein humorloses Husten. Der will doch nur mit Michelle rumfummeln. Oder auch mehr. Seit sie es endlich getan haben, warten die beiden doch nur darauf, dass ihre Eltern nicht zu Hause sind, um sich zusammen durch die Laken zu wälzen. Kann ich ihm ja nicht verdenken. Für ein Mädchen ist Michelle schon ganz ansehnlich. Nicht so ne dürre Bohnenstange und auch kein Modepüppchen. Und wenn ihr Hund in den Bach fallen würde, würde sie vermutlich ohne zu zögern hinterherspringen. Man kann sich also auf sie verlassen und doof ist sie auch nicht. Das Ding ist halt nur: Sie ist Pascals Freundin und damit meine bedeutendste Konkurrenz in Bezug auf seine Freizeitgestaltung. Und da ich außer mit Pascal abhängen und Latino-Filmchen bei Youporn durchsuchten keine großen Hobbys habe und mein Verbrauch an saugfähigem Material ohnehin schon den eines durchschnittlichen 17-jährigen übersteigt, bin ich mir sicher, dass die Regenwälder im Amazonas es mir danken werden, wenn ich verhindere, dass die beiden allzu viel Zeit miteinander verbringen. Oder wenigstens noch mehr Zeit als ohnehin schon. Immerhin knutschen die beiden nicht mehr miteinander, wenn ich dabei bin, seit ich angefangen habe, selbst bei der kleinsten Lippenberührung so zu tun, als müsste ich mich gleich in die nächste Blumenrabatte übergeben. Michelle hat daraufhin konstatiert, dass ich ja nur eifersüchtig wäre. Was wohl stimmt, aber es wäre mir lieber, wenn sie es nicht so nennen würde.     „Ich bin nicht eifersüchtig“, erkläre ich Pascal deshalb auch zum wiederholten Male, als wir endlich bei mir zu Hause hocken und ganz entgegen unseres Vorsatzes FIFA zocken. Irgendwie scheint es ihn abgeschreckt zu haben, dass der Patch auch die Männer nackt macht. Und ganz vielleicht waren davon ein paar viele zu sehen, als ich das Spiel gestartet habe.   „Ich bin lediglich …“   „Neidisch“, ergänzt er, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. „Du musst mir das nicht immer wieder erklären. Ich hab’s begriffen.“   Während er ohne mein Zutun ein Tor schießt, ringen in meiner Brust Unzufriedenheit und Erleichterung miteinander um den ersten Platz. Einerseits finde ich es ja gut, dass er weiß, dass ich nichts von ihm will. Will ich wirklich nicht. Ich sagte ja bereits, dass ich mir zwar vorstellen könnte, mit jemandem, der so aussieht wie er, rumzumachen, aber die Vorstellung, tatsächlich was mit Pascal anzufangen ist in etwa so attraktiv wie die, einem Elch die Zunge in den Hals zu stecken. Von anderen Dingen mal ganz abgesehen. Und dass Michelle außer Konkurrenz bei mir läuft, versteht sich ja von selbst. Aber irgendwie vermisse ich ein bisschen Mitleid und Verständnis für meine Situation. „Ich will auch ficken“, sage ich deswegen, um mein Problem ausreichend deutlich zu machen. Pascal verzieht ein bisschen angeekelt das Gesicht.   „Musst du das so sagen?“, nörgelt er und verschießt einen Ball.   „Latte!“, gröle ich lauthals und fühle mich wie 12, weil ich das lustig finde. Ich hab echt Druck und müsste dringend mal wieder was zwischen die Beine haben. Was anderes als meine eigene Hand, versteht sich. Eine Auswahl an einigermaßen verfügbarem Material, wie sie an meinem vorherigen Wohnort vorhanden war, kann man hier jedoch mit dem Mikroskop suchen und würde trotzdem nichts finden. Ich bin mir zwar sicher, nicht der einzige Schwule in ganz Kaffingen zu sein, aber bisher hat sich noch keiner bei mir vorgestellt. Entweder sind die also alle alt oder schüchtern oder beides. Und so gerne ich mir ja was übers Netz oder eine App suchen würde, hab ich halt irgendwie immer noch diesen dämlichen Minderjährigkeitsstatus. Und du weißt halt auch nie, ob dich nicht am Ende statt des heißen Fuckboys vom Profilfoto ein 55-jähriger Massenmörder mit gewetztem Messer erwartet. Soll ja alles schon vorgekommen sein und ehrlich gesagt würde ich auf diese Erfahrung gerne verzichten. Dann leg ich doch lieber selbst Hand an.   „Man müsste mich halt ein bisschen besser promoten“, philosophiere ich nichtsdestotrotz vor mich hin.   Pascal prustet in seine Cola.   „Wie meinst du das denn? Willst du dir ne Werbefläche mieten? Nen Headhunter engagieren?“   Ich strecke ihm die Zunge raus und kaue auf meiner Unterlippe rum. Das mache ich manchmal, wenn ich nachdenke. Sieht ziemlich sexy aus, wenn man mich fragt. Auf ein Foto davon hab ich ne Menge Likes bekommen. Leider nicht von einem interessanten Typen.   „Nein, aber ich müsste halt meine Vorzüge mal so richtig zur Geltung bringen.“   Pascal runzelt die Augenbrauen. Seine sind nicht so eindrucksvoll buschig wie meine, aber er wirkt dadurch ziemlich intellektuell. „Bald ist Freibadsaison“, schlägt er vor. „Da könntest du ja mal ein paar Runden drehen. Vielleicht beißt einer an.“   „Pff“, mache ich. Das habe ich letztes Jahr schon versucht und am Ende hatten wir Michelle am Hals. Weil ihre beste Freundin Bianca was von mir wollte und sie zur Unterstützung mitgenommen hat. Ganz prima. Nicht.   „Ich hab da eher an den Sportlerball in zwei Wochen gedacht. Du weißt doch. Diese Veranstaltung wo alle, die irgendwie mit einem Ball umgehen können oder schnaufend Runden um den Sportplatz drehen, sich in feine Garderobe zwängen und das Tanzbein schwingen, während die Sponsoren und Freiwilligen sich selbst beweihräuchern und abgestandenen Sekt aus dreckigen Gläsern schlürfen.“   Pascals dunkle Brauen heben sich jetzt und er sieht mich an, als hätte ich mich gerade in ein Kalb mit zwei Köpfen verwandelt. „Du willst da nach einem Date suchen.“   Ich hebe unschuldig-unentschieden beide Schultern in einem nicht vorhandenen Takt. „Warum nicht? Ich bin mir sicher, dass da ne Menge knackiges Frischfleisch rumläuft und der eine oder andere wäre ja vielleicht nicht abgeneigt, mal ein bisschen auf Tuchfühlung zu gehen.“   Pascal lacht kurz ungläubig auf, bevor er wieder ernst wird.   „Dir ist schon klar, dass das eine dämliche Idee ist.“ „Auch nicht dämlicher als hier zu sitzen und zu warten, dass mir die Eier platzen. Ich will ja nicht die große Liebe finden. Nur jemanden zum Ficken.“   Pascal verkneift sich zum Glück ein Augenrollen und stürzt sich stattdessen auf den einzigen Schwachpunkt in meinem Plan. „Du weißt aber schon, dass der Ball nur für Mitglieder ist, oder?“   Ich grinse und bin versucht ihn darauf hinzuweisen, dass ich durchaus „mit Glied“ bin, aber das wäre vermutlich gerade nicht hilfreich. „Ja schoooon“, meine ich gedehnt, rutsche vom Bett zu ihm auf den Boden, strecke den Kopf vor und blinzele ihn liebreizend an. „Aber soweit ich weiß, dürfen Sportler auch eine Begleitperson mitbringen, und rein zufällig kenne ich da jemanden, der für den Abend noch keine Verabredung hat.“   Pascal hasst mich. Er hasst mich in diesem Augenblick, aber zufälligerweise muss die liebe Michelle an dem Wochenende, an dem der Ball ist, tatsächlich zu irgendeiner runzligen Verwandten fahren, die ihren runden Geburtstag nahe der 100 feiert und den nächsten vielleicht nicht überleben wird. Ganz wichtig also, dass sie da auftaucht, und deswegen hatte Pascal eigentlich beschlossen, dass Tanzvergnügen ausfallen zu lassen und stattdessen mit mir ins Kino zu gehen. Eigentlich.   „Och büüüüüüütttteeee“, säusele ich und klimpere gleich noch ein paar Mal mit meinen dunklen und überaus dichten Wimpern. Wenn ich jetzt noch dazu in der Lage wäre, meine braunen Rehaugen auf Kommando mit Tränen zu füllen, wäre Pascal mir bestimmt hoffnungslos verfallen.   „Du bist unmöglich“ grollt er und rückt ein Stück von mir ab. Ich rücke hinterher und blinzele weiter. „Man, Scheiße, Fabian! Hör auf, mich anzuschwulen.“   Ich grinse. „Sorry, kann ich nicht. Nicht, bevor du Ja sagst.“   Ich sehe, dass er zögert. Vermutlich weiß er, dass er das Ganze spätestens in dem Moment bereuen wird, in dem ich bei ihm auftauche, um ihn abzuholen. Er ahnt nur noch nicht, wie sehr.   „Na schön“, grummelt er schließlich und richtet sein angespanntes Gesicht wieder auf die elektronischen Fußballer. „Aber ich will nicht dabei zusehen müssen, wie du dich mit einem von denen abschlabberst. Ist das klar?“   Ich grinse nun von einem Ohr bis zum anderen. „Klar wie Kloßbrühe!“, gelobe ich gehorsam. „Gleiches Recht für alle.“ Kapitel 2: Ein guter Junge -------------------------- Die Tür ist kaum hinter Pascal ins Schloss gefallen, als ich mich bereits mit meinem Smartphone aufs Bett werfe und verschiedene Apps öffne. Natürlich schaue ich erst mal, ob ich irgendwelche interessanten Nachrichten habe – nein – oder Likes auf meine Instastory – ja, aber nur von unwichtigen Leuten – und natürlich ob es irgendwelche Bilder von Typen gibt, die ich liken könnte. Nach kurzer Suche werde ich fündig und bei zweien traue ich mich sogar, ein Herz dazulassen. Das Foto von dem einen ist aber auch wirklich scharf. Er liegt am Strand und das, was sich da gegen den Stoff seiner mehr als knappen, roten Badehose abzeichnet, ist wirklich nicht von schlechten Eltern. Groß, dick, hart. Zumindest werde ich das, während ich dieses Wunderwerk eines geschickt gewählten Bildwinkels anstarre. Denn, falls es noch keinem aufgefallen ist, ich steh auf Schwänze. Klar kann man mich auch mit dem restlichen Körper begeistern. Flacher Bauch, nicht zu aufgepumpt und vor allem gepflegte Haare. Ein charmantes Grinsen oder tolle Augen bringen mich ebenfalls zum Lächeln. Aber wenn wir von nackten Tatsachen sprechen, fängt am ehesten eine gut sichtbare Ausbuchtung in der Hose meine Aufmerksamkeit ein. Da lasse ich alle Piercings, Tattoos und Brustmuskeln links liegen und will am liebsten direkt mal hingreifen. Geht mir weg mit shirtless Tops und zeigt mir, was ihr in der Hose habt. Der Rest ist lediglich ein Bonus.   Ich betrachte also weiter den nahezu nackten Halbgott, während ich meine Hand in meine eigene Hose gleiten lasse. Das, was ich dort finde, zuckt freudig erregt, als ich es endlich mit der so dringend benötigten Aufmerksamkeit bedenke. Fuck, das letzte Mal ist schon wieder viel zu lange her. Gefühlt mindestens drei Tage, auch wenn das nicht so ganz stimmt, weil ich mir heute Morgen beim Duschen schon einen runtergeholt habe. Wie eigentlich jeden Tag. Aber dieser Schwanz …   Während ich weiter durch seine Galerie scrolle und hoffe, noch ein paar eindeutige Bilder zu finden, stelle ich mir gleichzeitig vor, wie es wäre, wenn ich jetzt nicht allein wäre. Wenn ich einen Typen hier hätte, der mir die Hose runterziehen und mich hier und jetzt nehmen würde. Auf dem Bett, auf dem Fußboden, scheißegal. Ich würde ihm sogar einen blasen. Hauptsache, er fickt mich.   Ganz kurz überlege ich, ob ich es mir noch ein bisschen gemütlicher machen soll. Gleitgel hab ich da, Kondome ebenfalls. Ich könnte mir was suchen, dass sich als Schwanzersatz hernehmen lässt, und dann …   Nein, keine Zeit. Und ich will jetzt auch nicht aufhören. Kopfkino muss reichen.   Ich schmeiße also mein Handy beiseite und nestele ein Taschentuch aus der Packung auf meinem Nachttisch. Mit verhaltenem Stöhnen und immer schneller werdenden Bewegungen bringe ich mich selbst weiter und weiter einem steilen Höhepunkt entgegen. Als ich schließlich komme, bäume ich mich in Gedanken ein letztes Mal der imaginären Länge entgegen, die gerade noch tief und hart in mir gesteckt hat. Danach breche ich auf dem Bett zusammen und kann mich erst einmal nicht mehr rühren. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust und in meiner Hand ist es warm und feucht. Ich weiß, dass ich noch was zum Wischen brauche, bevor die ganze Soße aufs Bett läuft, aber uff. War das gut!     Kurz darauf entsorge ich das feuchte Papier ganz unten im Hausmüll, wasche mir die Hände und öffne im Vorbeigehen die Kühlschranktür. Der Inhalt ist ungefähr so interessant wie eine Biographie von Bartholdi. Ganz kurz bleibt mein Blick an einer Packung Buttermilch hängen und ich fantasiere einige Momente lang darüber, ein Bild von mir zu machen, auf dem ein deutlich sichtbarer, weißer Rand meinen Mund umgibt. Vielleicht so halbnackt auf dem Bett, das Glas noch in der Hand, damit man auch weiß, worum es geht, und es gleichzeitig so zweideutig aussieht, dass man trotzdem erkennt, auf was ich anspiele. Die Vorstellung ist so genial, dass ich fast nach dem Becher greife, mich dann aber doch noch zurückhalte. Das Ganze würde jetzt zu lange dauern. Immerhin habe ich noch einen ziemlich lange Liste vor mir, während der Zeiger der Uhr unaufhaltsam dem Feierabend meiner Mutter entgegenwandert. Bis dahin muss ich Tatsachen geschaffen haben, wenn ich mir meinen Plan nicht versauen will. Also keine Fotosession. Ich bin eh schon spät dran. Mit einem Schnaufen lasse ich also die Buttermilch Buttermilch sein und trolle mich zurück in mein Zimmer. Gerade jetzt erscheint mir alles andere attraktiver, als mich irgendwie anzustrengen. Zumal in Bezug auf Schule. Ich schnappe mir daher erneut mein Handy und bitte Pascal darum, mir die Lösungen für Mathe zu schicken, damit wenigstens ein Punkt ohne größere Umstände abgehakt ist. Der Gute liest die Nachricht sofort, antwortet aber nicht, weswegen ich annehme, dass er tatsächlich bei Michelle ist. Bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt darüber streiten, dass er während des Dates ans Handy gegangen ist und noch dazu in Erwägung zieht, mal wieder meine Faulheit zu unterstützen, muss ich grinsen.   Weil ich den Messenger gerade offen habe, gucke ich mir auch gleich das neue Profilbild von Jamie an. Arm in Arm steht er mit seinem neuen Freund am Rand des Schlossparks und grinst in die Kamera. Die beiden haben riesige Sonnenbrillen auf und sehen so cool und frei und lässig aus, dass es mir für einen kleinen Augenblick ein komisches Gefühl im Magen macht. Natürlich vermisse ich ihn nicht. Immerhin ist die Chance, dass wir nach all der Zeit tatsächlich noch zusammen wären, quasi gleich Null. Aber einfach die Möglichkeit, dass da jemand ist, den man … anrufen kann, wenn man horny ist, oder dem man Celebrity-Nudes teilen kann, ohne dass derjenige gleich einen Herzinfarkt kriegt, wäre halt schon irgendwie cool. So wie mit Rico, dem ersten, mit dem ich was hatte, und mit dem ich mich eigentlich nur zum Ficken getroffen habe. Wir waren da beide nicht zimperlich und sind gleich beim ersten Mal aufs Ganze gegangen. Am Ende hat er Schluss gemacht, weil es ihm mit mir zu langweilig wurde. Wir hatten zu dem Zeitpunkt aber auch schon so gut wie alles durch, was sich 14-jährige halt so abschauen können.   Nach Rico hing ich ne ganze Weile mit einer Emoclique rum, wo spätestens nach dem zweiten Joint jeder mit jedem rumgemacht hat. Ständig wurde da geknutscht, gekuschelt oder manchmal sogar gevögelt. Ich kann nicht mal ausschließen, dass ich nicht zwischendurch die Zunge von nem Mädchen im Mund hatte. War mir in meinem Zustand dann aber auch egal und mit den schwarz gefärbten Haaren sahen wir eh alle gleich aus. Dann jedoch kam Jamie und mit ihm war es das erste Mal was Ernsteres. Denke ich jedenfalls. Immerhin haben wir neben Sex auch noch andere Sachen gemacht. Wir sind ins Kino gegangen, zusammen auf Konzerten gewesen und sogar übers Wochenende weggefahren. In der Zeit hab ich mich dann auch mehr oder weniger überall geoutet. Nachdem dann aber klar wurde, dass meine Eltern sich trennen und ich irgendwo nach Hintertupfingen ziehen würde, haben Jamie und ich uns in gegenseitigem Einverständnis freigegeben. Es war das Beste so und ich bereue nicht, dass ich diesen Schritt gegangen bin, auch wenn mir das einen Kontakt eingebracht hat, den ich nicht wirklich löschen kann, weil wir uns ja nicht im Streit getrennt haben, aber auch nicht antexten, wenn ich Bock darauf habe, weil das auch wieder creepy wäre. Daher bleibt mir nur, ab und an sein Foto anzustarren und festzustellen, dass sein Leben ungefähr tausend mal besser ist als meins. Was ein Scheiß-Lucker!   Ich schnaufe noch einmal und bringe es über mich, alle Ablenkungen zu schließen und die Shopping-App zu öffnen. Ich brauche für den Ball dringend was Neues zum Anziehen, denn seien wir mal ehrlich: Im Konfirmationsanzug kann ich da wohl schlecht auftauchen. Mal abgesehen davon, dass mir die Hose inzwischen ein ganzes Stück zu kurz ist, wäre das ja wohl echt oberpeinlich. Ich bin immerhin keine 14 mehr und das Teil definitiv nicht mehr up-to-date. Zuvor wende ich mich jedoch dem Herzstück meines unglaublich genialen Plans zu.   Ich scrolle durch die Angebote und werde schnell fündig. Einen Klick später befindet sich das Teil im Einkaufswagen und ich will schon einen neuen Suchbegriff eingeben, als mir in der „Kunden kauften auch“-Anzeige etwas ins Auge sticht, das ich ebenfalls unbedingt brauche. Noch zweimal geklickt und auch dieses Item wird am Ende des Monats die Kreditkarte meiner Mum belasten.   „Und jetzt kommt der schwierige Teil“, murmelte ich und gebe „Anzug stylisch“ in die Suchmaske ein. Das erste Ergebnis ist ein quietschbunter Anzug mit einem Muster aus Mario, Luigi, Toad und King Cooper. Na Mahlzeit! Das kann doch nicht deren Ernst sein. Und dann der Text erst. 'Mit diesem Anzug zeigst du allen das Party Animal in dir.'   Ich klicke die bunte Scheußlichkeit ganz schnell wieder weg und lasse den Rest an mir vorüberziehen. Hässlich, hässlich, hässlich, zu teuer, hässlich. Mhm, eine LED-Leuchtkrawatte? Nein, hässlich. Obwohl mir die bestimmt einige Blicke einbringen würde, aber da kann ich mir ja gleich eine Propellermütze aufsetzen. Und auch Flamingos auf babyblauem Untergrund, das grellgelbe Ananas-Muster und das gestreifte Teil, in dem ich aussehen würde wie Gomez von der Addams Family, fallen auf jeden Fall flach. Meine Güte, was ist denn nur mit dem Suchverlauf los? Haben die ne Macke?   Mein Blick bleibt schließlich an einem himmelblau melierten Sakko hängen, das endlich mal auf positive Weise aus dem Einheitsbrei heraussticht. Ein dezentes Karomuster lässt das Ding noch mehr leuchten und würde meine leicht gebräunte Haut sicherlich gut zur Geltung bringen. Ich betrachte die Produktbilder und finde, dass der Typ, der das Ding zusammen mit einer dunklen Jeans und einem eng anliegendem, weißen Shirt kombiniert trägt, einfach nur geil und lässig aussieht. Selbst wenn der nur Ost-Serbokratisch spräche und dumm wie Bohnenstroh wäre, würde ich mich sofort für den ausziehen. Quasi genau das, was ich suche.   In Gedanken gehe ich meinen Kleiderschrank durch und finde eine passende, schwarze Jeans irgendwo ganz hinten in einem Fach. Die hatte ich mal für eine Beerdigung gekauft und danach nicht nochmal angehabt, weil sie mir zu trist war. Aber als Ersatz für eine Anzughose ist sie perfekt.   Ich packe also das Jackett zu den anderen Sachen in den Warenkorb und schicke meine Bestellung ab. Im gleichen Moment höre ich den Schlüssel in der Haustür. Ein panischer Blick zur Uhr bestätigt mir, dass es schon zehn nach sieben ist und ich anscheinend seit über zwei Stunden hier rumliege und nichts tue. Also fast nichts, aber ich fürchte, dass Internet-Shopping in den Augen meiner Mutter nicht als ausreichende Beschäftigung durchgehen wird.   So schnell es geht, schmeiße ich das Phone weg und schaffe es immerhin, noch im Flur aufzutauchen, bevor meine werte Erzeugerin zur Tür hereinkommt. Sie ist schwer beladen mit zwei prallvollen Einkaufstüten, also springe ich hinzu und nehme sie ihr ab. „Lass mich das machen“, flöte ich dabei und weiß in dem Moment, indem ihre Augen schmaler werden, dass ich es wohl ein wenig übertrieben habe. „Was hast du angestellt?“, will sie wissen, noch bevor sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hat. „Wieso?“, frage ich gedehnt zurück und schleppe meine Beute in die Küche. Misstrauisch folgt mir meine Mutter auf dem Fuße und sieht sich um. „Weil ich dich normalerweise mit eisernen Widerhaken und glühenden Stangen dazu bringen muss, mir zu helfen.“   Sich immer noch in alle Richtungen versichernd, dass ich nicht etwa irgendwo ein Lagerfeuer angezündet oder gar den Fernseher geschrottet habe, streift sie die Pumps von den Füßen. Ich wette, sie sehnt sich danach, den engen Bleistiftrock endlich mit einer Jogginghose und die rote Bluse mit einem bequemen Shirt zu vertauschen. Obwohl die Kluft heute einen Tick schicker ist als sonst, was vermutlich heißt, dass sie bei Gericht war. Kein guter Tag, um ihr mit meinen Bitten zu kommen, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen.   „Gar nicht wahr“, protestiere ich trotzdem der Form halber, was sie zum Schnauben bringt. Es ist kein gutes Schnauben. „Oh doch! Manchmal stellst du dich sogar schlafend, wenn ich dich rufe, um den Müll runterzutragen.“ Okay, vielleicht doch wahr. An dem Tag war ich aber auch echt müde.   „Ich brauchte was zum Anziehen“, gebe ich daher schnell zu und versuche, möglichst beiläufig zu klingen. Nicht, dass ich vorhatte, sie diesbezüglich anzulügen. Könnte ich ja auch gar nicht. Immerhin bekommt sie die Bestellung ja noch einmal per Email zugeschickt. Ich müsste mich also auch noch in ihren Account einloggen, die entsprechende Mail löschen, die Bestellung im Verlauf verbergen, sämtlich weiteren Mails über eventuelle Lieferschwierigkeiten abfangen, das Paket persönlich entgegennehmen und zu guter Letzt auch noch den Inhalt vor ihr versteckt halten. Und dann würde sie die Abbuchung letzten Endes doch auf ihrem Konto entdecken, was die ganze Aktion komplett ad absurdum führen würde. Ich weiß das; ich habe es ausprobiert. Zu meinem Glück kann man gebrauchte Videospiele nicht zurückgeben.   Meine Mutter seufzt. So ein abgrundtiefes Seufzen, das exklusiv für mich reserviert ist. Wenigstens habe ich sie das sonst noch nie benutzen hören. „Was ist es denn diesmal?“, will sie fast schon gottergeben wissen und fängt an, den Inhalt der Tüten auf die Schränke zu verteilen. Sogar ihr Hinterkopf sieht dabei genervt aus. Manchmal ist es bestimmt nicht einfach, meine Mutter zu sein. Aber hey, ich hab mir das auch nicht ausgesucht! Dass sie und Dad zu blöd waren, um ein Kondom zu benutzen, ist ja nun wirklich nicht meine Schuld. Im Gegenteil. Der eigentlich Leidtragende dabei bin ja wohl immer noch ich. Schließlich haben die beiden dadurch dafür gesorgt, dass ich meine eigentliche Bestimmung im Universum nicht antreten konnte. Kronprinz von Schweden werden zum Beispiel.   Obwohl meine Mutter also mit daran schuld ist, dass ich mein Leben in der Tristesse von Hinter-den-Sieben-Bergen verbringen muss, öffne ich den Geschirrspüler und angele mir den Besteckkorb heraus. Wobei ich das natürlich nicht müsste. Schließlich haben Prinzen Personal. Aber manchmal kann ich eben auch nett sein.   „Nur was zum Anziehen“, informiere ich meine werte Erzeugerin hoheitsvoll und schmeiße Messer, Gabeln und Löffel in die Schublade, dass es spritzt. Eigentlich müsste ich die wohl noch nachtrocken, aber scheiß drauf. Dann kriegen die Dinger eben Wasserflecken. Ist ja nicht so, dass nächste Woche meine königliche Familie hier einreiten würde.   „Ich geh mit Pascal zum Sportlerball.“   Für einen Moment wird das Geraschel und Türenklappen hinter mir stockend und ich warte fast darauf, schon wieder ein erstauntes 'Ach' zu hören. Die Sache mit dem „auch Schwule können gleichgeschlechtliche Freunde haben, ohne denen zwangsläufig an die Wäsche gehen zu wollen“ ist immer noch kein wirklich allgemein anerkanntes gesellschaftliches Konzept. „Das ist ja schön“, fängt sie sich jedoch schnell wieder und schiebt dann trotzdem noch hinterher: „Wollte er denn nicht mit seiner Freundin gehen?“   Ich rolle mit den Augen über die nur schlecht versteckte Nachfrage, ob es da was gibt, was sie wissen sollte. Gibt es nicht. Gab es noch nie. Pascal war von Anfang an in meiner Friendzone. Oder ich in seiner. Wie man es nimmt.   „Die hat keine Zeit“, gebe ich lapidar bekannt, stelle den Besteckkorb wieder zurück und schließe die Klappe. Den Rest wird meine Mutter dann schon wegräumen, wenn sie das Geschirr vom Abendessen unterbringen will. Faul wie Bohnenstroh lehne ich mich anschließend an den Küchentresen und sehe zu, wie sie zwei Becher Buttermilch in den Kühlschrank räumt. Was soll das denn? Ist das ne neue Diät?   „Außerdem hast du doch immer gesagt, ich soll mal mehr auf die Leute hier zugehen“, ergänze ich halb vorwurfsvoll. „Da ist so ein Ball doch eine tolle Veranstaltung, um sich ein bisschen mehr zu integrieren.“   Zack, Treffer, versenkt. Jetzt kann sie nichts mehr dagegen sagen und sämtliche Einkäufe sind als passables Mittel zur gesellschaftlichen Eingliederung abgesegnet. Dabei sollte sie doch wissen, dass ich kein Typ bin, der lange allein bleibt. Ich finde schon Freunde, wenn ich will. Ich will nur nicht. Nicht hier.   Meine Mutter lacht. „Schimpfst du nicht dauernd, dass du diese ganze Klüngelei und Vereinsmeierei hasst wie die Pest?“   „Ich hab gesagt, dass sie mir auf die Eier geht“, korrigiere ich sie. „Das ist was anderes. Außerdem kann es ja nicht besser werden, wenn man den ganzen alten Säcken einfach das Feld überlässt. Die geilen sich dann an jungen Dingern in kurzen Röcken auf und niemand sagt was dagegen. Das muss endlich aufhören.“   Insgeheim klopfe ich mir selbst auf die Schulter, weil ich mich ja nun wirklich wie ein Musterbeispiel an Zivilcourage und Sittsamkeit anhöre. Leider kennt mich meine Mutter besser.   „Und das wirst ausgerechnet du sein?“, fragt sie mit gehobenen Augenbrauen.   Ich zucke mit den Achseln. „Na jaaa“, meine ich ausweichend. „Vielleicht?“   Sie schüttelt leicht den Kopf und ich sehe genau, dass sie mir kein Wort glaubt. Würde ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.   „Auf jeden Fall hat Pascal keine Begleitung und alleine kann er da unmöglich hingehen“, biege ich die Wahrheit ein ganz kleines bisschen zurecht. Natürlich kann er da nicht alleine hingehen, aber ohne mich würde er da ja auch nicht hingehen. Das gleicht sich dann doch irgendwie aus. „Und ich kann das Jackett auch gleich noch zum Abiball anziehen. Die Investition lohnt sich also“, packe ich ganz am Schluss noch mein ultimatives Argument aus. Dagegen ist ja nun wirklich nichts mehr zu sagen.   „Ein Jackett?“, fragt meine Mutter ungläubig nach. „Ich hatte mit etwas extravaganterem gerechnet. Einer leuchtenden Krawatte zum Beispiel oder einem Hularöckchen.“   Mir gefällt nicht, wie nahe sie damit der Wahrheit kommt, aber ich setze eiskalt mein Pokerface auf. Mütter müssen ja nicht alles wissen.   „Ich will doch Pascal nicht blamieren“, entgegne ich und schaffe es sogar, dabei ein wenig entrüstet zu klingen.   „Seit wann?“ „Seit … immer?“   Noch einmal lacht sie und ich werde so langsam echt sauer. So ein Riesenarschloch bin ich ja nun auch wieder nicht. Maximal ein bisschen zynisch. Und selbstgerecht. Und eitel. Aber sonst …   „Was gibt’s eigentlich zu Essen?“, wechsele ich abrupt das Thema. Mein Magen deutet im gleichen Moment an, dass er durchaus etwas zu spachteln vertragen könnte. „Spinat mit Ei“, ist die enttäuschende Antwort. Na prima. Ausgerechnet.   „Möchtest du Spiegel- oder Rührei?“, fragt meine Mutter, während sie Pfannen und Töpfe aus dem Eckschrank kramt und in einen davon ein Glas geschälte Kartoffeln leert. Mal ehrlich, die Dinger sind grässlich, aber Kartoffeln schälen ist noch schlimmer und darauf warten, dass sie endlich gar werden, die reinste Folter. Kein Wunder, dass es sonst immer Nudeln gibt.   „Rühr“, gebe ich zurück, denn dieses glibberige Zeug oben auf dem Spiegelei ist mit Abstand das Ekligste, was ich mir vorstellen kann. Nichts gegen gewisse Schleimigkeiten an den Händen, aber in meinem Mund will ich so etwas unter Garantie nicht haben. Igitt!   „Okay, in fünf Minuten gibt’s Essen. Deck doch schon mal den Tisch.“   Für einen Augenblick überlege ich, ob ich Hausaufgaben vortäuschen sollte, aber das wäre nun wirklich eine zu dreiste Lüge. Und zu durchschaubar. Also öffne ich noch einmal den Geschirrspüler und angele einen Teller heraus. Den anderen nehme ich aus dem Schrank. Mein Muttertier soll nicht glauben, dass ich auf einmal dem Fleiß verfallen bin, nur weil ich mich lächerlichen gesellschaftlichen Zwängen hingebe. Zumal ich das ja gar nicht vorhabe, das weiß sie nur noch nicht.   Um weitere Fronarbeit zu verhindern, setze ich mich kurzerhand an den Küchentisch und wische hochkonzentriert auf meinem Handy herum. Pascal hat immer noch keine Ergebnisse geschickt. Noch während ich überlege, ob ich ihn nochmal anschreibe, kommt meine Mutter mit zwei Töpfen an den Tisch.   „Und die Untersetzer?“, fragt sie und ich gucke sie nur an, als wüsste ich nicht, wovon sie redet. Einen auffordernden Blick und die Drohung, dass sie das Essen auch gerne wegschmeißen kann, erhebe ich mich ächzend und stöhnend noch einmal, um die zwei leicht angesengten Korkplatten aus der Schublade zu holen und auf den Tisch zu legen. „Danke schön“, gurrt meine Mutter und stellt die heißen Töpfe darauf. Während sie losgeht, und die Pfanne mit den Eiern holt, schaufele ich mir schon mal was von dem Grünzeug auf den Teller. Meine Mutter ergänzt das ganze Gemüse mit einem Berg Rührei, der für drei Leute reichen würde. „Die Eier mussten weg“, erklärt sie ungefragt. Ich inspiziere ihren Teller, auf dem gerade mal ein mickriges Ei liegt. Ah ja. Also doch Diät. „Wie du meinst“, meine ich ungerührt und beginne wortlos zu essen. Wahrscheinlich sollte ich sie jetzt fragen, wie ihr Tag war, aber wenn ich Pech habe, gibt es nur absolut langweiligen Kram zu hören. Also formuliere ich meine Frage präziser. „Was gibt es Neues von Herrn Häberle?“   Herr Häberle ist ungefähr so alt wie Methusalem und so streitsüchtig wie Miss Piggy auf Crack. Der alte Miesepeter verklagt gerne alles und jeden und hat sich aus einem unerfindlichen Grund ausgerechnet meine Mutter rausgepickt, um ihn dabei zu vertreten. Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem ich Fahrstunden bei Herrn Mehner nehme. Mangelnde Auswahl. Oder weil sie im Gegensatz zu allen anderen tatsächlich bereit war, seiner Klage wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Supermarktbesitzer, der ihm zwei Tage abgelaufenen Magerquark verkauft hat, mit einem anwaltlichen Schreiben Ausdruck zu verleihen. Als Nächstes kam er an, weil er sich an einer Parkbank einen Splitter zugezogen hatte. Vor Gericht wollte er erwirken, dass die Stadt die Bänke in Zukunft regelmäßig auf Schäden überprüft und zudem ein Schmerzensgeld herausschlagen. Den Wirt des China-Restaurants wollte er wegen Diskriminierung drankriegen, weil dieser sich weigerte, ihm Bratkartoffeln zu servieren, seine Nachbarin sollte ihm eine beträchtliche Summe bezahlen, weil er über ihre Katze gestolpert war, und sogar die Deutsche Bahn hatte er mal versucht zu verklagen, weil sie ihm nicht die Kosten erstatten wollte, die entstanden waren, als er sich weigerte, den ausgewiesenen Schienenersatzverkehr zu benutzen und stattdessen mit dem Taxi gefahren war. Man sieht also, Herr Häberle hat ein rühriges Wesen und meine Mutter immer wieder interessante Dinge zu erzählen, von Honorar mal ganz abgesehen.   Allerdings nicht heute. Heute werden ihre Lippen schmal, als ich sie auf ihren Lieblingsklienten anspreche.   „Herr Häberle ist im Krankenhaus“, sagt sie und pikt ein Stück Ei auf, als wäre es persönlich daran schuld. Ich versuche einen Scherz. „Was ist passiert? Möchte er sich mal wieder einen psychischen Knacks attestieren lassen, weil ihn die Polizei wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten hat, obwohl er doch so dringend aufs Klo musste?“   Manchmal fährt Herr Häberle nämlich auch noch mit dem Auto, was meiner Meinung nach absolut fahrlässig ist, aber auf mich hört ja keiner. Dass dabei noch keiner umgekommen ist, ist ein Wunder.   „Nein“, gibt meine Mutter einsilbig zurück. So langsam gefällt mir das Ganze nicht mehr. Wenn sie sonst von Herrn Häberle erzählt, ist es eher so, als würde sie die neueste Episode einer Real Life Soap nacherzählen. Aber heute …   „Er ist gestürzt. Im Bad. Und hat danach zwei Tage hilflos am Boden gelegen, bis die Nachbarin schließlich die Polizei gerufen hat, weil es ihr komisch vorkam, dass die ganze Nacht das Licht brannte. Die Beamten haben die Tür aufgebrochen und ihn gefunden. Als ich im Krankenhaus angerufen habe, war er gerade im OP. Oberschenkelhalsbruch. In seinem Alter kein unerhebliches Risiko. Sie konnten mir natürlich keine nähere Auskunft geben, aber es hörte sich nicht besonders gut an.“   Ich schlucke, weil das jetzt wirklich nicht mehr witzig ist. Auch meiner Mutter scheint das Schicksal des alten Kauzes recht nahezugehen. „Ach, der wird schon wieder“, versuche ich sie zu beruhigen. „Wirst sehen, in zwei Tagen scheucht er bereits die Schwestern durch die Gegend und will die Ärzte wegen Kunstfehlern verklagen. Der gibt so schnell nicht auf.“   Meine Mutter lächelt daraufhin, aber ich sehe, dass sie es mehr glauben will, als dass sie es wirklich tut. Und wenn ich ehrlich bin, finde ich den Gedanken an eine Zukunft ohne „Geschichten von Herrn H.“ auch reichlich merkwürdig. Über was sollen wir uns denn dann unterhalten? Meine Noten etwa? Mein nicht vorhandenes Liebesleben? Oder gar ihres?   „Ich muss noch Hausaufgaben machen“, verabschiede ich mich daher aus der Situation, ohne meinen Spinat aufgegessen zu haben. Dabei macht der doch angeblich groß und stark. Obwohl ich glaube, dass da bei mir wohl Hopfen und Malz verloren ist. Größer werde ich in diesem Leben nicht mehr und stark … ach na ja. Ich seh gut aus, das muss reichen. Weil Pascal immer noch nicht geantwortet hat, ziehe ich doch tatsächlich mein Matheheft aus dem Rucksack und schlage es sogar auf. Im Grunde ist das Ganze nur noch Wiederholung. Stochastik. Das war beim ersten Mal schon nicht mein Ding.   Während ich noch versuche zu berechnen, wie wahrscheinlich es wohl ist, dass ich vor Langeweile über diesem Thema einschlafe und mir bei einem Sturz vom Stuhl ebenfalls was breche, gibt mein Handy einen vielversprechenden Ton von sich. Eine Nachricht von Pascal mit mehreren Anhängen. „Guter Junge“, murmele ich und mache mich daran, seine Lösungen in mein Heft zu übertragen. Auf Pascal ist eben Verlass.   Kapitel 3: Keine große Sache ---------------------------- Scheiße.   Ich starre den Spiegel an und von dort starrt mir etwas zurück, das definitiv gar nicht geht. So überhaupt gar nicht. Am liebsten würde ich meine Zähne hineinschlagen und es zerfetzen wie so ein kleiner, durchgeknallter Terrier. Da mir das aber auch nicht helfen würde, mache ich lieber eine Bestandsaufnahme. Also …   Farbe: Check. Das Blau ist wunderbar leuchtend und ich seh aus wie ein swagger Beach Boy auf Urlaub, der sich dazu herabgelassen hat, die Schnecken oder vielmehr Schneckeriche – wie nennt man das noch, wenn die Viecher sich nicht entscheiden können, ob sie Männlein oder Weiblein sind? – vor Ort abzuchecken. Lässig, cool, abgefahren.   Material: Check! Es ist zwar kein hochwertiger Leinenanzug, nur ungefähr so knitterig, aber das wird meine Mutter mit dem Bügeleisen schon hinkriegen. Es kratzt nicht, es riecht nicht und fühlt sich einigermaßen angenehm an. Und es sieht nicht billig aus, was bei dem Preis schon fast verwunderlich ist.   Schnitt: Tja, da liegt dann der Hund begraben. Es ist jetzt nicht so, dass es wirklich zu groß wäre. Es sitzt … lässig. Lässiger, als es laut Produktbild sollte, was aber auch damit zusammenhängen könnte, dass die Models halt einen breiteren Brustkorb haben als ich. Natürlich hätte ich mir die Mühe machen können und mich ausmessen, aber hey, was soll schon schiefgehen, wenn man M bestellt. M geht immer, oder nicht? Tja, in dem Fall hätte ich mich vielleicht eher auf S einlassen sollen, denn irgendwie …   „Ach fuck!“   Ich hebe die Arme und lasse sie wieder fallen, denn man sieht von meinen Händen immer noch nicht mehr als meine Fingerspitzen. Außerdem hat das Ding Schulterpolster, die auf meinen Schultern nicht an den richtigen Stellen sitzen. Ich seh aus, als hätte ich das Teil einem Typen geklaut, der einen ganzen Kopf größer ist als ich. Und morgen ist der Ball. Double Fuck!     Ich hätte wissen müssen, dass das Ganze unter keinem guten Stern steht. Das fing schon damit an, als es hieß, dass das Teil Montag geliefert werden würde. Die anderen zwei Sachen aus meiner Bestellung waren bereits am Wochenende angekommen; ich hatte sie anprobiert und für gut befunden worden. Nur das blöde Jackett wollte einfach nicht auftauchen. Also klebte ich den ganzen Tag am Bildschirm meines Handys und aktualisierte alle paar Minuten den Sendungsverlauf, statt Mathe zu machen oder was wir sonst so hatten, und wartete darauf, dass da endlich ein „zugestellt“ am Ende dieses Lieferwegs erschien. Aber Pustekuchen. Am Abend verkündete die dämliche Webseite nur was von „Es tut uns leid, dass sich Ihre Sendung verspätet“. Das hätte ich auch einfacher haben können.   Am Dienstag wollte unsere liebe Postfrau dann angeblich einen Zustellungsversuch machen und angeblich wurde dabei kein einziger Hausbewohner angetroffen. Kein. Einziger. Was überhaupt nicht sein kann, da die alte Uffinger von gegenüber das Haus quasi nur noch zum Einkaufen und zur Kirche verlässt. Kirche ist dienstags nicht und einkaufen war sie schon Montag. Ich hab sie im Treppenhaus schnaufen hören, während ich auf mein Paket gewartet habe. Wenn sie also nicht den Gebissreiniger vergessen hat und ganz dringend neue Corega Tabs holen musste und deswegen ausgerechnet in der halben Stunde, in der die Post üblicherweise kommt, die zwei Stockwerke im Schweinsgalopp runtergeprescht und um die nächste Ecke verschwunden ist, war die zu Hause! Und die Posttante weiß das, die blöde Kuh!   Ich hatte somit also immer noch kein Paket, dafür aber eine formschöne gelb-weiß-rot gestaltete Benachrichtigungs-Karte, mit der ich dann am nächsten Nachmittag vor der Tür unseres schönen Postamtes stand. Rein kam ich nicht, weil diese offizielle Kundenverarschungsstelle nämlich am Mittwoch nur vormittags geöffnet hat, wie man auf der Rückseite der Karte hätte lesen können, wenn man denn sorgfältiger hingeschaut hätte. Ein Fakt, der mir am Donnerstag höchst süffisant durch die Ziege am Postamtsschalter mitgeteilt wurde, die im gleichen Atemzug obendrein auch noch verkündete, dass ich außerdem eine Unterschrift meiner Mutter bräuchte, weil die Sendung an sie adressiert wäre und ich sie daher nicht ohne ihre Erlaubnis in Empfang nehmen dürfte. Ja, leckt mich doch alle!   Somit ist heute dann schon Freitag und ich habe nun endlich ein Jackett, das nicht passt. Und bis morgen habe ich auch keine Möglichkeit, daran irgendetwas zu ändern. Es bleibt also nur das hier oder der Konfirmationsanzug. Ich möchte schreien und außerdem ein Eis.   Mitten in meine wehleidige Selbstbemitleidungsarie, zweiter Akt, platzt dann auch noch meine Frau Mama hinein, die natürlich nicht checkt, dass hier gerade der dritte Weltuntergang in the making ist. Mindestens. „Oh Schätzchen, du siehst ja hinreißend aus. Wie ein richtiger, kleiner Herzensbrecher.“   Ich rolle innerlich mit den Augen, weil das Einzige, was im Spiegel gut aussieht, nun wirklich nicht das blöde Sakko ist, und zetere los. „Hinreißend? Du meinst wohl oberpeinlich. So kann ich unmöglich aus dem Haus. Siehst du denn nicht, dass das viel zu groß ist?“   Sie legt den Schlüssel weg und zieht sich in alle Seelenruhe die Schuhe aus, bevor sie zu mir kommt und das Fiasko in Augenschein nimmt. „Ach“ meint sie und zupft und streicht an meinen Schultern und meinem verknitterten Rücken rum. „Ein bisschen vielleicht, aber du kannst das tragen.“   Ich fletsche die Zähne, wirbele herum und halte ihr knurrend meine Arme entgegen. „Ich kann das tragen?“, fauche ich. „Niemand kann das tragen. Niemand, der sich nicht total lächerlich machen will. Die Ärmel sind viel zu lang.“   Sie besieht sich das Desaster. „Na dann krempelst du die eben hoch“, meint sie immer noch lächelnd und scheint das Problem selbst jetzt nicht erfassen zu können. „Hochkrempeln?“, echoe ich und klinge dabei wie Spongebob kurz vor der Schnappatmung. „Wie alt bin ich? Fünf?“   „Benehmen tust du dich wie drei. Einhalb“, fügt sie auf meinen giftigen Blick hin hinzu. Bevor ich noch etwas dagegen tun kann, hat sie doch tatsächlich damit begonnen, meine Ärmel hochzukrempeln. Ich will ihr den Stoff entziehen und ihr sagen, dass sie sich ihre saublöden Ideen sonstwohin stecken soll, als sie schon zurücktritt und ihr Werk begutachtet. „Siehst du? Das ist doch gar nicht so schlecht.“   Ich mache einen auf Monobraue, gucke aber trotzdem gehorsam in den Spiegel. Was mir da entgegenglotzt, sieht immer noch lächerlich aus. Allerdings auf der einen Seite nicht mehr ganz so lächerlich. Ein bisschen cool vielleicht sogar irgendwie. „Hier, lass mich den anderen auch noch …“   Mein Muttertier macht sich auch noch am zweiten Ärmel zu schaffen und im nächsten Moment habe ich zwei nahezu gleichlange Ärmel. Okay, das üben wir dann nochmal.   „Und? Wie findest du es?“   Ich krause die Nase und überlege. Also eigentlich sehe ich aus, als würde ich gleich meinen Arm in ein halbes Schwein stecken. Oder eine Knarre ziehen. Ein bisschen wulstig ist die Krempelei obendrein, aber wenn man die Alternative bedenkt …   Ich drehe mich noch ein paar Mal vor dem Spiegel hin und her und auch, wenn ich den 80ern sonst nicht so sehr viel abgewinnen kann und es durchaus begrüße, das Schweißbänder und Aerobicanzüge nur ein sehr, sehr kurzes Revival hatten, muss ich zugeben, dass diese eigentlich unentschuldbare Modesünde an mir gar nicht mal so verkehrt aussieht. Ich wirke wie ein Macher. Unwillkürlich straffe ich meine Schultern und lächle. Ein ganz kleines bisschen. „Kann man so lassen.“   Mehr bekommt meine Mutter nicht. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich nicht sowieso vollkommen verzweifelt wäre und das hier ja erst der Anfang ist. Meine Eintrittskarte. Die muss allen Umständen zum Trotz ein bisschen was hermachen und außerdem …   „Ich könnte dir noch ein Armband leihen.“   Ich schieße mit den Augen eine nonverbale Todesdrohung in Richtung meiner Mutter. Armband, okay. Aber doch keines von ihren. Wie peinlich ist das denn?   „Ich bin nochmal weg“, erkläre ich, ohne weiter zu erläutern, wo ich hingehe. Und natürlich auch ohne zu erwähnen, dass ich dabei noch einen Fuffi aus ihrem Portemonnaie nehme. Was im Grunde genommen stehlen ist, aber für die Diskussion, ob sie mir jetzt noch was leiht, hab ich keine Zeit. Die Läden in Wo-sich-Fuchs-und-Hase-gute-Nacht-sagen schließen pünktlich und ich will morgen ausschlafen. Schließlich habe ich eine lange Nacht vor mir und sie kriegt es auch ganz bestimmt zurück.       „Hot!“   Ich drehe mich noch einmal um mich selbst, damit Pascal das Kunstwerk in seiner Gesamtheit bewundern kann. Denn ja, ich sehe heiß aus. Und ich bin heilfroh, dass mein bester Freund mir das sagen kann, ohne dabei Erstickungsanfälle zu kriegen. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert!   „Und du siehst aus, als würdest du zu deiner eigenen Beerdigung gehen“, urteile ich, nachdem ich ihn im Gegenzug begutachtet habe. Schwarzer Anzug. Komplett mit Krawatte. Er grinst. „Könnte hinkommen. Immerhin bin ich mit dir unterwegs.“   Touché! Ich presse mir die Hand an die Brust und tue so, als hätte sein Kommentar mich tief getroffen. Dabei klackert mein neues Armband. Es war erstaunlich günstig und hat neben marmorgrauen Perlen auch noch einige Silberteile auf einer rustikalen, schwarzen Schnur zu bieten. Am Ende des Verschlusses baumeln zwei silberne Kugeln und erzeugen den erwähnten Effekt. Es erschien mir cool und lässig, als ich es gekauft habe, aber als Pascals Blick darauf fällt, entwickle ich den spontanen Drang, es mir vom Arm zu ziehen. „Ich dachte, du stehst nicht auf Schmuck.“   „Tu ich auch nicht“, versichere ich und beschließe, das Ding später unauffällig loszuwerden. Ich werde einfach behaupten, ich hätte es verloren oder es sei kaputtgegangen. Ist ja bei so einem billigen Teil nicht unwahrscheinlich. Ich hätte gleich wissen müssen, dass es ne dumme Idee war, es zu kaufen. Aber es passte zu dem kleinen Rucksack, den ich mir ebenfalls geleistet habe. Schließlich kann ich meinen Kram nicht in meinem Schulranzen mit zum Ball nehmen. Eigentlich ist es auch gar kein Rucksack. Mehr so ne Art Sling, also nur mit einem Riemen, den man quer über den Körper legt. Definitiv stylisch und sehr viel cooler als mein abgeranztes Teil zu Hause.   „’Nabend Mister und Misses S!“, rufe ich ins Wohnzimmer, wo Pascals Eltern vor dem Fernseher hocken. Also eigentlich hocken sie nicht. Sie sitzen höchst paarhaft aneinander gelehnt auf der edlen Couch und gucken besinnlich auf die riesige Mattscheibe, die an einer sandfarbenen Echtsteinwand hängt. Ich schwöre, auf dem Bildschirm sähe selbst „Endgame“ aus wie ein französisches Schwarz-Weiß-Drama. Und das ist nur eine der Ecken, an denen man sieht, dass Pascals Eltern nicht gerade am Hungertuch nagen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, das Pascals Vater das Haus höchstselbst entworfen hat. Macht man ja mal eben als erfolgreicher Architekt, wenn man nach sieben Jahren aus den Staaten wiederkommt. Man verkauft das alte Haus, das man wechselweise an seine Ami-Freunde vermietet hatte, an den nächstbesten Idioten, der sich nicht darum schert, das der Garten völlig verwildert und der Kellerschacht mit Grillkohle und Styroporabfällen zugemüllt ist, und kauft sich ein endgeiles Grundstück am Hang, um ein noch viel endgeileres Haus darauf zu setzen und dort dann zu residieren, als wäre man nie weg gewesen. Ich bin ja so was von neidisch.   „Hallo Fabian! Na? Bereit für den großen Ball?“   Pascal Vater erhebt sich und kommt tatsächlich zu uns in den Flur. Er ist übrigens das Zweite, auf das ich in diesem Haus total neidisch bin. Normalerweise stehe ich ja nicht so auf ältere Männer, aber er würde definitiv unter den ersten Drei meiner DILF-Liste kommen. Groß, sportlich, Drei-Tage-Bart und obendrein so eine „Ich weiß genau, was du brauchst“-Ausstrahlung gepaart mit einem dunklen Bariton, der mir die Haare bis zu den Fußnägeln hinunter zu Berge stehen lässt. Pascals Mum wirkt dagegen fast ein wenig unscheinbar. Eine aschblonde Mittvierzigerin mit einer Vorliebe für übergroße, graue Cardigans. Komischerweise steht ihr das und sie umgibt immer so ein Hauch von „Künstlerin“, obwohl sie eigentlich in irgendeiner langweiligen Behörde arbeitet.   „Oh, ihr zwei seht hinreißend aus. Mach doch mal ein Foto, Schatz.“   Schatz macht und Schatz zückt das neueste I-Phone, das vermutlich noch nicht mal auf dem deutschen Markt verfügbar ist. Auch da haben Pascals Eltern eindeutig Connections in die richtige Richtung. Was sie allerdings dazu bewogen hat, die große weite Welt mit Hintertupfingen zu tauschen, erschließt sich mir nicht, und ich glaube, auch Pascal wäre glücklicher gewesen, wenn sie einfach drüben geblieben wären. Mitten in der Pubertät in diesem kleinen Nest aufzuschlagen, wenn alle Cliquen schon gebildet sind, ist halt auch nicht gerade der Höhepunkt eines jugendlichen Teenagerlebens. Vermutlich haben sie ihm deswegen das größte Zimmer im Haus gegeben. Geld heilt bekanntlich alle Wunden.   „Dad, bitte“, nölt Pascal in dem Moment auch schon pflichtschuldig und ich kann ihm nur zustimmen. Fotos von Eltern sind immer lame und im schlimmsten Fall so peinlich, dass man die nicht mal seiner halbblinden Großmutter zeigen kann, die dann die Brille auf der Nase zurechtrückt und ohrenbetäubend krächzt „Bist du das, Karl-Heinz?“ „Keine Fotos“, wehre ich daher ebenfalls ab und strecke wie ein V.I.P. die Hand in Richtung der Kamera. Wobei es mich nicht wundern würde, wenn das Ding einen Filter hat, mit dem man auch das entfernen kann.   Pascals Vater lächelt sein unglaubliches Sexy-Dad-Lächeln. „Okay, okay, wie ihr meint. Dann macht keinen Unsinn und seid vor Mitternacht wieder zu Hause. „Warum? Weil wir uns sonst in Kürbisse verwandeln?“, frotzele ich und ernte noch ein weiteres Lachen. Oh man, wenn das nicht Pascals Vater wäre …   „Du sabberst“, kommentiert mein Freund mein grenzdebiles Grinsen und zieht mich nach draußen, bevor ich noch Schlimmeres anrichten kann. Ein weiterer, höchst unsanfter Rippenstoß zeigt mir, dass Pascal bemerkt hat, dass ich seinen Alten abgecheckt habe. Er kann das nicht leiden und ich verstehe, warum. Man stelle sich vor, er würde meiner Mutter hinterher hecheln. Widerlich! „Sorry“, murmele ich und hoffe, dass es das damit war. Ich will nicht, dass er sauer auf mich ist. Beste Freunde wachsen schließlich nicht auf Bäumen.   „Du brauchst echt nen Freund“, kommentiert er das nur und ich spare mir, ihn zu korrigieren, dass es mir lediglich an Sex fehlt. Den ganzen anderen Schmus brauch ich nicht. Nur mal wieder ein bisschen Bettgymnastik, dann bin ich auch weniger nervig. Ich schwör!         Weil’s so schön ist und weil sonst auch keinerlei Alternativen zur Verfügung stehen, findet unsere angestrebte Abendveranstaltung natürlich im Saal des „Ochsen“ statt, dem Hotel-Schrägstrich-Restaurant des Ortes. Irgendwer hat Tische und Stühle bis zum Gehtnichtmehr hineingeräumt, die holzgetäfelten Wände mit Vereinstrikots betackert und die Tischdekoration dazu passend in blau-weiß hingebiedert. Am Ende der längs-breit-quer gestreiften Tanzfläche gibt es dann noch die obligatorische Bühne, über der wiederum unheilvoll eine große Videoleinwand schwebt. Meine Vorahnung, dass uns darauf zu späterer Stunde ein Diavortrag mit schlechter Musikuntermalung erwartet, wird nur noch von der Erkenntnis übertroffen, dass „DJ Johnny“ heute Abend auflegt. Der Typ sieht aus wie eine Original-Kopie von Thomas Gottschalk in jungen Jahren und kündigt den nächsten Hit mit einem so flachen Kalauer an, das ich ihn schon wieder vergessen habe, als „I’ve been looking for Freedom“ dann endlich aus den Lautsprechern schallt. Ich hätte doch zu Hause bleiben sollen.   „Bitte sag mir, dass es hier Alkohol gibt“, zischele ich Pascal ins Ohr, der genauso verlassen wie ich inmitten der Menge aus Tischen, Stühlen und Gästen steht.   „Ja, gibt es. Aber nur Bier“, gibt er zur Auskunft. Ich stöhne pflichtschuldig und überlege, ob ich meinen Freigetränk-Gutschein, den ich zusammen mit dem Eintrittsbändsel erhalten habe, nun lieber in Apfelschorle oder eine Cola investiere, als zwei aufgebrezelte Schönheiten mit prickelnd schaumigen Sektgläsern in Richtung ihres Tisches vorbeistöckeln. Im nächsten Moment eilt ein Herr mit zwei beschirmten Gläsern nebst Obstbeilage an uns vorbei. Vorwurfsvoll sehe ich Pascal an. „Nur Bier, was?“, frage ich mit gezückten Augenbrauen. Er winkt lässig ab. „Vergiss es, wir bekommen keine Cocktails. Erst ab 18.“   Er weist auf ein entsprechendes Schild über der improvisierten Bar und ich fühle mich in meiner Ehre gepackt. Immerhin bin ich fast volljährig und werde bestimmt nicht diese bittere Weizenbrühe süffeln. Dann schon lieber Sekt, wenn es denn sein muss. Aber auch wenn ich mich jetzt natürlich halbwegs zivilisiert besaufen könnte, hat die Ansage mit der Altersbegrenzung meinen Ehrgeiz geweckt.   „Na dann pass mal auf“, erkläre ich mit Kampfeslust im Blick, streife meine bereits hochgekrempelten Ärmel noch ein Stück nach oben und sage der Cocktailtante den Kampf an.   Einige Minuten später bin ich dann mit einem Virgin Colada und einem Safer Sex on the Beach wieder zurück. Mein Charme ist an der Tresenperle abgetropft wie Wasser an einer Speckschwarte.   Wir prosten uns gegenseitig absolut alkoholfrei zu und ich bin ziemlich dankbar dafür, dass Pascal nicht darauf besteht, dass wir uns an einen der Tische setzen, denn wenn ich ehrlich bin, zieht es mich weder zu den Handballtussis, noch zu den Tennis-Fatzkes, selbst wenn Pascal einer von denen ist. Und natürlich sind die Tische der Fußball-Mannschaften völlig ausgeschlossen. Allein der Gedanke … Brr! „Komm schon, die Zeremonie fängt an“, sagt Pascal und dirigiert mich in eine ruhigere Ecke, von der aus wir den ach so pompösen Einmarsch der F-Jugend oder so beobachten können. Lauter kleine Steppkes mit ihren Mamis, die alle einen Fußball in ihren schwitzigen Händen tragen und zum Takt von „Conquest in paradise“ vor sich hin stolpern. Unter monotonem Geschwafel des Sportvereinsvorsitzenden oder wer immer der Specht im grauen Anzug auch ist, präsentieren die Gören dann das Gewehr … äh, den Ball und führen uns vor, wie sie mehr oder weniger im Takt der Musik mit ihren Sportgeräten hin und her werfen, dribbeln und am Ende ganz stolz posieren können. Was das Ganze mit Fußball zu tun hat, weiß ich zwar nicht, bin aber nichtsdestotrotz mehr als froh, als es endlich vorbei ist. Nicht vorbei ist allerdings die Parade an emsigen Vereinsmitgliedern, die ihr mehr oder weniger vorhandenes Können vorführen wollen und mir schwant, dass wir vielleicht doch erst hätten kommen sollen, wenn der gemütliche Teil anfängt. Einlass ab 20 Uhr. So ein Käse. „Ich brauch noch mehr Sex“, murmele ich und wage mich an einen zweiten Versuch, der netten Dame hinter dem Tresen etwas Hochprozentiges aus den Rippen zu leiern. Anders ertrage ich die Vorstellung der Kunstturnerinnen einfach nicht, die sich gerade auf der Freifläche die spindeldürren Körper verbiegen. Nicht, dass das nicht nett anzusehen wäre, aber spätestens in drei Jahren haben die Mädchen doch Rückenprobleme und/oder eine Essproblematik. Das kann ich unmöglich unterstützen.   Ich schiebe mich also durch die Menge zu dem verheißungsvollen Stand, werde auf dem Weg noch mein Glas auf irgendeinem mit Bettlaken auf schick getrimmten Stehtisch los und fläze mich gemütlich gegen die Bar.   „Einen Sex on the Beach, bitte“, ordere ich und tue dann so, als wenn meine Aufmerksamkeit einzig und allein der Show gilt. Leider habe ich die Rechnung ohne das phänomenale Personengedächtnis der Ausschankbeauftragten gemacht. „Das macht dann vier Euro“, sagt sie und stellt mir ein buntes Glas hin. „Oh, hab ich Rabatt gekriegt?“, frage ich schelmisch grinsend zurück und weise auf das Preisschild, auf dem klar steht, dass Cocktails 5,50 das Stück kommen. Die Lady lächelt breit.   „Das sind aber nur die für die großen Jungs. Und solange du mir keinen Ausweis vorlegen kannst, auf dem steht, dass du 18 bist, kriegst du hier nur Sachen ohne Schuss.“   Grollend und ein bisschen desillusioniert schiebe ich ihr einen Geldschein rüber und warte auf das Wechselgeld. Ich hätte mir meinen eigenen Schnaps mitbringen sollen. Die haben ja nicht mal die Taschen kontrolliert, als wir reingekommen sind. Vermutlich, weil die ganzen Spießer hier sich nicht mal vorstellen können, dass jemand versuchen könnte, sich nicht an die Regeln zu halten. Hohlköpfe, alle miteinander.   Immer noch ziemlich angesäuert nehme ich mein Getränk und will mich gerade wieder durch das Gedränge zurück zu Pascal schlängeln, als plötzlich eine Wand vor mir auftaucht und ich ungebremst dagegenrenne. Was folgt, ist die astreine Demonstration dessen, was mein Physiklehrer das Trägheitsgesetz nennt. Diese Bezeichnung bezieht sich jedoch nicht, wie man anhand des Namens vielleicht annehmen könnte, auf die exorbitante Geschwindigkeit, mit der sich ein durchschnittlicher Neuntklässler zur Tafel bewegt, wenn er die Antwort nicht weiß, sondern beschreibt vielmehr die Tatsache, dass ein Gegenstand, der sich in Bewegung befindet, auch in Bewegung bleibt, wenn keine äußere Kraft auf ihn einwirkt, die daran etwas ändert. Soll heißen, wenn ein Glas mit einem Cocktail darin sich in eine Richtung bewegt und das Glas plötzlich stoppt, weil die Hand, die es umklammert, durch einen fremden Körper zum Anhalten gezwungen wird, muss das für den im Glas befindlichen Cocktail noch lange nicht gelten. Der bleibt weiter auf seinem angestammten Kurs, bis er irgendwann auf ein Hindernis trifft, das die Bewegung der Flüssigkeit aufgrund seiner höheren molekularen Dichte entweder ablenkt oder sogar beendet. In manchen Fällen ist dieses Hindernis ein weißes Hemd.   „Ja, Herrschaftszeiten! Kannst du nicht aufpassen?“   Ich blinzele und weiß durch jahrelangen Drill, dass ich mich jetzt eigentlich entschuldigen sollte. Gesellschaftliche Zwänge und so, man kennt das ja. Aber nachdem ich gesehen habe, wem das Hemd gehört, auf das ich meinen Drink geschüttet habe, komme ich einfach nicht umhin, etwas völlig Anderes zu formulieren als eine höfliche Abbitte. Es ist wie ein Zwang. Ich vermute ja, dass ich wie ein Pawlowscher Hund auf gewisse Reize reagiere, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum ich anfange zu grinsen wie ein bedepperter Maikäfer und mein vollgekleckertes Gegenüber frage:   „Wieso denn aufpassen? Der war doch safe.“   Die Irritation in Brunos Gesicht ist köstlich. Natürlich hat er keine Ahnung, worauf ich anspiele, aber das muss er auch nicht. Hauptsache ich weiß, dass ich ihn gerade dumm gemacht habe. Bevor seine zwei Gehirnzellen jedoch wieder zueinanderfinden und ihnen obendrein auch noch einfällt, dass sie eigentlich Grund haben, sauer auf mich zu sein, tätschele ich meiner dumm dreinschauenden Nemesis kurzerhand den Arm und verabschiede mich mit einem fröhlichen und fast gar nicht zweideutigen „War nett dich zu treffen, Brunolein. Man sieht sich.“ zwischen den Leuten. Kaum, dass ich außer Sichtweite bin, beginne ich zu rennen. Oder ich versuche es wenigstens, indem ich mich unter Einsatz von viel zu viel Ellenbogen energisch durch die Zuschauer schubse, bis ich wieder in meiner sicheren Ecke ankomme. Prustend halte ich inne, in meiner Hand das nur mehr halbvolle Cocktailglas. „Was hast du angestellt?“, will Pascal natürlich sofort wissen und sieht sich nach möglichen Verfolgern um. „Nichts!“, entgegne ich mit gespielter Unschuldsmiene, bevor ich einschränkend hinzufüge: „Wobei ich ganz vielleicht eventuell den größeren Teil meines Cocktail über Spaichis Garderobe gekippt habe. Er sieht jetzt ein bisschen aus, als hätte er sich vollgekotzt.“   Pascal reißt die Augen auf.   „Ist nicht dein Ernst!“ „Ich fürchte schon.“   Während Pascal mich noch so entsetzt ansieht, als hätte ich gerade meine Großmutter abgemurkst, wird Whighfields Endlosschleife von „Saturday Night“ von einem Tusch unterbrochen. Der Specht hechtet auf die Bühne und kündigt mit vor Begeisterung schier überquellender Stimme die lang erwartete Ehrung der Sportler des Jahres an. Kurz darauf trappst eine Reihe von Gestalten auf die Bühne, unter denen ich doch glatt den eben noch so unrühmlich erwähnten Bruno erspähe. Dessen Vorderfront ziert immer noch ein riesiger, orangeroter Fleck, den selbst sein sorgfältig geschlossenes Jackett nicht zu kaschieren vermag. Da hilft es auch nichts, dass Bruno versucht, sich hinter der mehr als zierlichen Hupfdohle aus der Gymnastiksparte zu verstecken. Man sieht trotzdem alles. Und jetzt macht der Sport-Vorsitzende auch noch ein großes Gewese und röhrt ins Mikrofon:   „Und der Preis für seine herausragenden Leistungen im Bereich Schwerathletik geht aaaaaan … Bruno Spaich. Ihren Applaus bitte für Bruno Spaich!“   Mit bedröppeltem Gesicht tritt Bruno nach vorne und nimmt den Blumenstrauß entgegen, den der Specht ihm unter die Nase hält. Leider ist die Floristik nicht groß genug, um das Cocktail-Malheur zu bedecken, zumal er jetzt auch noch die Hand des Spechts schütteln muss, der ihm dabei fast den Arm abreißt und ihn schonungslos in Richtung Publikum dreht. Während Bruno also wie ein waidwundes Reh in die ungefähr eintausend gezückten Handykameras blickt und dabei aussieht, als würde er gleich losheulen, wird mir klar, dass ich offenbar gerade seinen großen Auftritt versaut habe. Aber so richtig mit Schmackes und Anlauf.   Ein bisschen peinlich berührt grinse ich Pascal an.   „Upsi?“   Pascal rollt erst mit den Augen, muss dann aber lachen und gemeinsam beschließen wir, dass der Abend von jetzt an nur noch besser werden kann. Viel, viel besser.     In der kleinen Kabine ist es saukalt und riecht obendrein nach abgestandenen Wasser und billigem Klostein. Der „Ochse“ könnte wirklich mal ein paar neue Sanitäranlagen gebrauchen. Und bessere Lufterfrischer. Während draußen die Spülung rauscht und der letzte Insasse die Örtlichkeit verlässt, konzentriere ich mich hier drinnen darauf, alle meine Kleidungsstücke in den winzigen Rucksack zu quetschen, der mit dieser Aufgabe definitiv überfordert ist. Mein Jackett habe ich zum Glück bei Pascal am Tisch gelassen, wo er sich schließlich doch dazu bequemt hat, ein Pläuschchen mit seinen Tenniskumpels zu starten. Und ich bin derweil aufs Klo geschlichen, um mich umzuziehen.     So ganz sicher bin ich mir ja nicht, ob ich das durchziehen will. Die Chance, dass ich mich total lächerlich mache, ist leider ziemlich hoch. Andererseits habe ich im Laufe des Abends schon den einen oder anderen schicken Hintern entdeckt, mit dem ich gerne mal auf Tuchfühlung gehen würde. Und zwei Gläser Sekt auf zugegebenermaßen recht nüchternen Magen später bin ich nun endlich auch soweit, meinen Plan in die Tat umzusetzen.   Ich verstaue meine Habseligkeiten auf dem Fensterbrett über den Kabinen in der Hoffnung, dass sich dort keiner daran vergreift, und checke noch ein letztes Mal mein Outfit. Ja, sitzt alles an Ort und Stelle. Dann mal los.     Die Leute starren. Natürlich starren sie. Ganz kurz überlege ich, ob ich die Armschienen hätte weglassen sollen, aber hey, erstens verdecken sie das peinliche Armband und zweitens waren sie Teil des Sets. Warum sollte ich sie also nicht anlegen? Zumal sie wunderbar zu dem silbernen Gürtel passen, der sich eng und sexy um meine Taille schmiegt. Dass der Stoff der weißen Toga dabei noch ein Stückchen höher rutscht als ohnehin schon, ist sogar vielleicht ein ganz kleines bisschen Absicht. „Was zum … was soll das denn?“   Selbst Pascal ist geschockt, als ich wieder bei ihm auftauche. Bis dahin habe ich schon eine ganze Runde um den Saal gedreht und bin mir des Getuschels um meine Erscheinung durchaus bewusst.   „Ich bin ein Olympionike“, kläre ich ihn auf und tue dabei ganz selbstbewusst. „Ein Teilnehmer der olympischen Spiele. Das ist doch eine Sportveranstaltung, oder nicht?“   Mein Freund starrt mich immer noch an, als hätte ich nicht mehr alle Latten im Schrank. Dabei kann er nun wirklich nicht meckern. Die bis zu den Knien geschnürten Ledersandalen geben dem ganzen noch den letzten Touch. War mein Outfit vorher schon „heiß“, nähere ich mich jetzt definitiv dem Vulkan-Level. Der Boden ist Lava. Nur bücken darf ich mich nicht, wenn ich nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangt werden will. Aber das Problem haben einige der hier anwesenden Damen schließlich ebenfalls, also was soll’s?   „Du bist ja völlig durchgeknallt“, meint Pascal schließlich kopfschüttelnd, bevor er anfängt zu grinsen. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du jetzt tanzen willst?“   „Aber so was von.“   Das ist auch wieder eines der Dinge, die ich an Pascal absolut liebe. Er tanzt. Dass irgendwelche Vollpfosten meinen, es wäre unmännlich oder gar „schwul“, sich gerne zur Musik zu bewegen, ist ihm vollkommen schnuppe. „Die haben doch alle keine Ahnung“, sagt er dann immer und versucht sich an den nächsten coolen Moves. Die ich, zugegebenermaßen, nicht drauf habe. Aber ich hab ne Toga an. Ne ziemlich kurze Toga sogar. Und nichts darunter. Bazinga!     „Und du meinst, das bringt was?“, brüllt mir Pascal eine halbe Stunde später auf der Tanzfläche entgegen, weil DJ Vokuhila „Gangnam Style“ so laut aufgedreht hat, dass selbst die Fensterscheiben der Metzgerei drei Straßen weiter noch ins Schwanken geraten.   „Na klar!“, schreie ich gegen den Partylärm zurück. „Schon mal was von Gaydar gehört? Wenn es hier irgendwo einen interessierten Schwanz gibt, wird er mich finden und dann werden wir FICKÖÖÖÖN! YEAH!“ Weil es so schön ist und die Vorstellung mir gerade echt gute Laune macht und der Musikmacher auch noch irgendwas von „Wollt ihr feiern?“ in die Menge schmeißt, reiße ich die Arme hoch und wedele damit herum wie ein wild gewordener Hubschrauber. Das Leben ist schön, ich bin jung und sehe geil aus. Was soll schon passieren?   Das Nächste, was ich wahrnehme, ist Pascal, der die Augen aufreißt und mir irgendeine Warnung zurufen will, doch da werde ich bereits von einem zufällig vorbeifahrenden Güterzug getroffen. Der Fußboden und die nylonbestrumpften Beine der uns umgebenden Damen rasen auf mich zu und ich küsse höchst schwungvoll und obendrein ziemlich schmerzhaft das Parkett, auf dem ich noch ein Stück weiter schlittere und dann stöhnend mit der Nase im Dreck liegenbleibe. Unartikulierte Entsetzensrufe werden laut, man weicht vor mir zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser, bildet einen Kreis aus Schaulustigen und dann erfolgt unausweichlich und fast schon vorhersehbar der spitze Schrei: „Aber der hat ja gar nichts an!“   Ja, meine Güte, wo sind wir denn hier? Bei „Des Kaisers neue Kleider“? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Schnucki, aber auf unschuldiges Kindelein kannst du in deinem Alter dann leider auch nicht mehr machen. Trotzdem entspricht die Feststellung der fistelstimmigen Schnalze irgendwie der Wahrheit, denn in dem ganzen Tohuwabohu ist meine wundervolle Toga wohl ein ganzes Stückchen nach oben gerutscht und hat dabei enthüllt, was eigentlich nur ausgewählten Gästen vorgeführt werden sollte. Also einem von ihnen oder maximal zweien, aber ganz gewiss nicht allen. Und schon gar nicht gleichzeitig!   „Was zum …“ „Bruno!“ „Polizei!“   Irgendwas in meinem Kopf sagt mir, dass es jetzt eine verdammt gute Idee wäre, sich totzustellen. Was für Opossums funktioniert, kann für mich ja eigentlich nicht schlecht sein. Andererseits ist da dieser wirklich lästige Luftzug an meinem Gesäß und die Tatsache, dass hier gerade mehr im Freien baumelt, als ursprünglich geplant. Also raffe ich mich zusammen und gleichzeitig meine Glieder vom Boden auf. Eine der Sandalenschnallen hat ihren Geist aufgegeben und die Lederriemen hängen nur noch lose um meinen Knöchel. Auch die Tunika ist reichlich derangiert und eine der Armschienen fehlt. Ich entdecke sie unter dem Absatz eines Stöckelschuhs und würde sie vielleicht aufheben, wenn da nicht die gut 100 Kilogramm wütende Muskelmasse wären, die mich mit blutunterlaufenen Augen anstarren, als würden sie mir am liebsten gleich noch eine verpassen. Da sollte man Vorsicht walten lassen.   „Was ist denn hier los?“   Der Specht aka Vereinsleitermann kommt durch die Menge gedrängelt. Man lässt ihn durch, wenn auch nur widerwillig.   „Der da hat angefangen“, wird er sofort ins Bild gesetzt, als er uns endlich erreicht und sich mit einem hemdsärmeligen Bruno nebst Cocktailfleck konfrontiert sieht.   „Und der da ist nackert.“   Also das ist ja nun wirklich übertrieben. Ich bin maximal etwas unterbekleidet und davon kann man inzwischen fast nichts mehr erkennen. Leider interessiert das den Specht nicht die Bohne. „Mitkommen“, faucht er und packt gleich darauf mich am Genick und Bruno am Arm. Dass mir dabei allerdings mehr so die Rolle einer dekorativen, aber vollkommen nutzlosen Damenhandtasche zukommt, merke ich deutlich, als der Specht anfängt, Bruno vollzuzischen, während er mich einfach ignoriert. „Also wirklich, Herr Spaich, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Was sollen denn die Sponsoren denken, wenn Sie sich hier so aufführen? Ist Ihnen klar, was das bedeutet?“   Nicht auf eine Antwort wartend schleift uns der Sportler-Vorstand höchst eigenhändig zur Tür und darüber hinaus.   „Ich erwarte, dass Sie über Ihr Verhalten nachdenken“, informiert er uns, bevor er sich auf dem Absatz umdreht und schnurstracks wieder nach drinnen verschwindet. Langsam schwingt die doppelte Glastür hinter ihm zu und von da an hört man nur noch gedämpft, wie Oasis die Massen auffordert, nicht im Zorn zurückzublicken. Na, die haben leicht reden. Denen hat ja auch nicht gerade ein hohlbirniger Idiot die Tour vermasselt. Und zu allem Überfluss liegen auch noch meine ganzen Sachen drinnen. Handy, Hausschlüssel, Hose. Was für eine Scheiße!   „Kackdreckmist!“, fluche ich und lasse meinen Unmut an einem Stein aus, der bis dahin ganz unschuldig am Rand eines Blumenbeets gelegen hat. Leider ist das dumme Ding ebenso hart wie hartnäckig und ich stoße mir volle Kanne die große Zehe. Wie fucking passend.   „Konntest du dir nicht wen anders suchen, um mit ihm Streit anzufangen?“, fahre ich daher die milde Nachtluft an. Es ist wirklich erstaunlich, dass es hier draußen so viel wärmer ist als auf dem Ochsen-Klo. Muss an der Bauweise liegen.   „Was ist eigentlich dein Problem?“   Während ich das frage, drehe ich mich zu Bruno um. Der steht immer noch wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Schein der einzelnen Laterne vor dem Tore und stiert mich voll.   „Warum hast du keine Unterhose an?“   Im ersten Moment glaube ich, mich verhört zu haben. Wir sind gerade hochkant aus einer Veranstaltung geworfen worden, weil er die dusselige Idee hatte, sich mitten auf der Tanzfläche mit mir rollen zu wollen, und das ist das Einzige, was ihm dazu einfällt. Geht’s noch?   „Weil ich angeln wollte“, gifte ich ihn im ätzendsten Tonfall, den ich draufhabe, an. „Im Adamskostüm beißen die Fische besonders gut.“   Bruno blinzelt ein paar Mal.   „Ach echt?“   Ich kann es nicht fassen. Der ist wirklich zu blöd.   „Nein, natürlich nicht!“, schreie ich jetzt schon fast. „Meine Fresse, wie dämlich bist du eigentlich?“   Am liebsten würde ich ihn ja stehen lassen, aber das würde dem in mir brodelnden Zorn nicht annähernd genügend Tribut zollen. Also mache ich einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er doch glatt ein Stück zurückweicht.   „Ich hab nichts drunter, weil ich heute Abend jemand aufreißen wollte, du Dämlack!“, fauche ich ihm mitten ins Gesicht. „Einen geilen Typen mit einem dicken Dödel, du verstehst? Und dann wollte ich mich von ihm nach Strich und Faden durchvögeln lassen, weil ich nämlich echt Notstand habe und in dieser verfickten Stadt ja sonst kein Arsch dazu zu bewegen ist, sich endlich mal an mich ranzumachen. Und all das wird jetzt nicht stattfinden, nur weil du irgendein beschissenes Problem mit mir hast!“   Bruno schluckt. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel rauf und runter bewegt, schon allein deswegen, weil sich der ungefähr in meiner Augenhöhe befindet. Dann öffnet Bruno den Mund. „Du hast mein Hemd dreckig gemacht.“   Ganz ehrlich, am liebsten würde ich ihm gerade eine reinhauen. „NA UND?“, schreie ich jetzt wirklich und bin kurz davor, ihm an die Gurgel zu gehen. „Dann bring es halt in die Reinigung. Meine Güte! Ich werde deinetwegen mindestens ein weiteres halbes Jahr keinen Sex haben. Ist dir eigentlich klar, was das heißt?“   Bruno schluckt noch einmal. Irgendwelche Muskeln an seinem Körper zucken, aber ich habe keine Angst vor ihm. Ich bin einfach nur stinksauer.   „Ich könnte es machen.“   Der Satz verlässt seine Lippen, segelt von dort aus gegen mein Trommelfell und dann weiter durch mein Innenohr, wo er in irgendwelche Nervenimpulse umgewandelt und schließlich an mein Gehirn weitergeleitet wird. Leider weiß man dort oben mit den enthaltenen Infos nichts anzufangen. Also geht vom Gehirn der straighte Befehl raus, die Stirn zu krausen und die einzig mögliche Antwort zu formulieren. „Hä?“   Mister Quadratschädel schaut mich immer noch an und hat dabei merklich Mühe, seine Blickrichtung unter Kontrolle zu halten. Die will ihm dauernd nach unten abhauen. Dorthin, wo meine Tunika endet. „Ich könnte es machen“, wiederholt er daher auch nur stur. Als ich nicht reagiere, fügt er hinzu: „Das mit dem Sex. Ich könnte das für dich machen.“   Okay, okay, Erde an Bodenstation. Houston, wir haben hier ein ganz gewaltiges Problem. Anscheinend hat es eine Fehlschaltung in der Kommandozentrale gegeben, sodass wir hier gerade russische Fernsehsender empfangen oder sonst etwas in der Art. Ansonsten müsste ich nämlich annehmen, dass Bruno mir gerade angeboten hat, meine Durststrecke zu beenden, und das nicht, indem er mich auf ein Bier einlädt. „Was?“, mache ich deswegen und kann es immer noch nicht glauben. Denkt der echt, ich würde mich darauf einlassen?   „Das mit dem Se…“   „Ich hab dich verstanden“, unterbreche ich ihn schnell. Nicht, dass er den Blödsinn nochmal wiederholt. „Aber warum solltest du das tun? Und, was noch viel wichtiger ist, warum sollte ich das tun?“   Bruno atmet. Ich sehe es, weil sich sein riesiger Brustkorb hebt und senkt und dann … greift er plötzlich nach seinem Hosenbund, öffnet den Knopf und den Reißverschluss und zieht den Stoff nach unten.   „Heilige Scheiße!“   Das, was mich da anlächelt ist … wunderschön. Und riesig. Geradezu gigantisch. Dabei ist er nicht mal hart. Aber sooo groooß. Wowediwow!   Ich will ihn anfassen. Der Gedanke ist ganz plötzlich da und ihm folgen noch eine ganze Menge andere Dinge, die ich gerne mit diesem prächtigsten aller Schwänze auf Gottes schöner Erde tun würde. Leider entschwindet er viel zu schnell wieder meinem Blick, als Bruno ihn erneut hinter karierter Baumwolle verschwinden lässt, seine Hose schließt und mich fragend ansieht. „Und?“   Während ich immer noch damit kämpfe, den preiszucchiniförmigen Abdruck, der sich in meine Netzhäute gebrannt hat, zu verarbeiten, meldet ein kleines Stimmchen von ganz hinten in meinem Bewusstsein, dass das Ganze mit ziemlicher Sicherheit einen Haken hat. Und dass wir vielleicht eine entsprechende Frage stellen sollten, bevor wir uns auf den Rücken legen und winselnd darum betteln, bei der Aktion unten liegen zu dürfen. „Und was springt für dich dabei heraus?“, frage ich leicht krächzend, denn irgendwie ist mein Mund gerade unheimlich trocken geworden. „Du wäscht mein Hemd.“   Sein Hemd waschen. Ja klar. Wer bin ich? Die Putzfrau?   Aber der Schwanz, säuselt meine Libido. Der riesige, gottgleiche, unheimlich gut gebaute Schwanz. Den willst du dir doch nicht entgehen lassen. Na komm schon. Es ist nur ein Hemd. Sei kein Frosch und sag Ja.   „Okay.“   Ich weiß nicht, welcher Dämon da gerade die Kontrolle über mein Mundwerk übernommen hat, aber offensichtlich hält er es für eine wunderbare Idee, mich von Bruno ficken zu lassen. Halleluja!   „Wann und wo?“, kriege ich noch raus, obwohl ich ganz am Rande meines Bewusstseins mitbekomme, dass sich die Tür hinter uns wieder geöffnet hat und jemand meinen Namen ruft. Es ist Pascal. Er ist mich suchen gekommen, der Gute.   Bruno überlegt und ich würde ihn am liebsten anfeuern, um Himmelswillen schneller zu reden. Mein bester Freund und Stimme der Vernunft wird gleich hier sein und es mir ausreden wollen. Ganz sicher.   „Wir haben eine Hütte im Wald“, sagt Bruno so langsam, dass ich am liebsten seinen Mund aufreißen und die restlichen Worte eigenhändig herausziehen würde. Ich fürchte nur, der Schreiberling in seinem Gehirn käme dabei nicht hinterher und ich würde nur leere Papierstreifen ernten.   „Oben am Weg Richtung Schwalbtal. Sie ist …“   „Ja ja“, unterbreche ich ihn ungeduldig. „Wann?“   „16 Uhr?“   Ich sehe, dass er noch mehr sagen will, aber da ist schon mein bester Freund heran und fällt über mich her wie ein besorgter Hurrikan. „Mensch Fabi, geht es dir gut? Ich dachte, du bist verletzt? Was hat er gewollt?“ Die letzte Frage bezieht sich auf Bruno, der im Halbdunkel am Rand des Laternenscheins auf meine Antwort wartet. Ich fühle, seinen Blick auf mir. „Ach nichts“, meine ich leicht abgelenkt und nicke unmerklich, woraufhin Bruno sich umdreht und geht. Ich sehe, wie seine massige Gestalt in die Nacht gleitet und zu einem Schatten wird, nur um im Schein der nächsten Laterne kurz aufzutauchen und dann wieder zu verschwinden. Mit ein bisschen Gewalt zwinge ich mich, meine Augen auf Pascal zu richten und die Mundwinkel ein wenig zu heben. „Er hat sich nur entschuldigt. War keine große Sache.“   Kapitel 4: Deal ist Deal ------------------------ Mit offenen Augen liege ich da und starre die Decke an. Die Zeiger des Weckers neben dem Bett sagen mir, dass es noch nicht mal halb zehn ist, also quasi mitten in der Nacht. Trotzdem kann ich nicht mehr einschlafen. Schattenhafte Fetzen merkwürdiger Träume und eine ein bisschen zu volle Blase hindern mich daran. Natürlich könnte ich jetzt einfach aufstehen und was Sinnvolles tun. Meiner Mutter helfen zum Beispiel, die schon seit einiger Zeit in der Wohnung herumrödelt und vermutlich aufräumt und putzt und so. Das macht sie sonntags immer. Das Problem ist nur, dass sie dann bestimmt fragt, wie es gestern war, und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Die unverfänglichste Version wäre vermutlich „war okay“, was so ziemlich alles oder nichts heißen kann. Oder auch „ich will nicht darüber reden“, was in dem Fall wohl die passendste Interpretation wäre. Denn, scheiße nein, ich will ganz bestimmt nicht mit meiner Mutter über die Geschehnisse des vergangenen Abends reden. Nicht darüber, dass ich mich mitten auf der Straße in meine Jeans zwängen musste. Nicht darüber, dass ich mich vorher vor der versammelten Mannschaft unfreiwillig entblößt habe. Und ganz bestimmt nicht über das, was dazwischen passiert ist. Mit Bruno.   Mit einem Schnaufen wälze ich mich auf die andere Seite und begrabe den Kopf unter meinem Kissen. Bruno. Ausgerechnet Bruno! Und ich hab auch noch ja gesagt!! Aber es war einfach zu verlockend. Ich meine, wann bekommt man schon mal die Live-Version eines Dick pics zu sehen? Noch dazu eines so großartigen. Denn egal, was man über Bruno sagen kann, sein Schwanz ist einfach grandios. Und er würde sich mit Sicherheit gut in mir anfühlen. So richtig gut.   Noch einmal rufe ich mir dieses pralle Prachtstück in Erinnerung und male mir aus, wie es wohl wäre, von ihm gefickt zu werden. Groß würde er sein. Heiß. Geil. Eine regelrechte Erfüllung. Bis zum Rand. Ich merke, wie ich ein bisschen spitz werde und die Versuchung, den Kopf auszuschalten und einfach zu machen, ist groß. Aber es ist halt … es ist immer noch Bruno, auf den ich mir da einen runterholen würde. Bruno, mit dem ich quasi schon Streit habe, seit ich das erste Mal auf ihn und seine Gang gestoßen bin. Gleich am ersten Schultag. Ich hatte die ersten zwei Stunden erfolgreich hinter mich gebracht, mich mit Pascal angefreundet und war mit dem zusammen gerade auf dem Weg zum Schulhof, als sie plötzlich dastanden wie ein Rudel Hyänen, das nur auf mich gewartet hatte. Paul, Jakob, Gregor und Gustav. Und natürlich Bruno, das ungekrönte Oberhaupt der Truppe.   „Hey Neuer!“   War ja klar. Warum sich auch die Mühe machen, mich mit meinem Namen anzureden, wenn man eine alternative ausgrenzende Bezeichnung benutzen konnte. So was stand bestimmt gleich auf Seite 3 des Bully One-O-One nach Überschrift und Impressum. Als nächste Lektion dann das Lächerlichmachen.   „Wo hast du denn den Fetzen her?“   Das mit dem Fetzen bezog sich offenbar auf meine Jacke, die tatsächlich ein paar modische Verzierungen mehr hatte als der Durchschnitt der hinterwäldlerischen Schulhofgarderobe. Im Grunde war es aber auch egal, denn es handelte sich dabei ohnehin nur um einen Vorwand, um Streit anzufangen. Abzuchecken, wie ich so drauf war, und dabei das eigene Gruppengefühl zu stärken. Deren Problem war nur, dass ich derlei Mechanismen schon bei diversen Workshops durchgekaut hatte und nicht im Mindesten geneigt war, den Schwanz einzuziehen, nur damit sie sich besser fühlten.   „Das ist ein Designerstück“, gab ich daher lässig zurück und spannte meine Mundwinkel von einer Ecke meines Gesichts zur anderen. „Ein Ausdruck meiner schillernden Persönlichkeit. Kleider machen schließlich Leute. Wenn ich mir dich allerdings so ansehe, würde ich sagen, dass du eher kleinkariert bist.“   Selbstverständlich kann so eine Taktik auch ganz schnell nach hinten losgehen und ich würde niemandem raten, in einer ähnlichen Situation auf Konfrontationskurs zu gehen. Das kann nämlich auch ganz schnell ins Auge gehen. Aber wenn sie erst mal denken, dass sie es mit dir machen können, ist der Weg zurück ungleich länger. Also hatte ich beschlossen, gleich klarzustellen, dass ich nicht nur einstecken, sondern auch austeilen würde. Normalerweise hätte ich mir dafür zwar nicht den Kleinsten der Gruppe herausgesucht, um nicht wie ein Feigling dazustehen, aber da Jakob nunmal angefangen hatte, musste ich mich mit ihm begnügen. Er wiederum schäumte in seinem rot-weiß-karierten Hemd, das aussah, als hätte man ihm geradewegs vom Oktoberfest hergebeamt. Es fehlten wirklich nur noch der Seppelhut und die Lederhose. „Pass auf, was du sagst“, fauchte er und ballte die Fäuste. Ich heuchelte Entsetzen. „Sonst was? Gehst du dich dann bei deiner Mami beschweren?“   Gut, der Satz war vielleicht auch nicht unbedingt dazu angetan, die Lage zu entschärfen. Allerdings rechnete ich mir gute Chancen aus, mit dem Typen fertig zu werden. Was ich nicht in meine Überlegungen miteinbezogen hatte, war Bruno, der sich auf meinen dummen Spruch hin wie eine überlebensgroße Wand vor mir aufbaute. „Solche wie dich mögen wir hier nicht“, knurrte er und bevor ich mich versah, hatte er mich mit seinen Pranken bereits so kräftig vor die Brust gestoßen, dass ich rückwärts gegen die Flurwand flog.   „Was? Leute, deren IQ über dem einer Stubenfliege liegt?“, stichelte ich trotzdem weiter, obwohl mir klar war, auf was das hinauslief. Eine Prügelei gleich am ersten Tag war sicherlich nichts, was sich gut in meiner Schulakte machte. Aber vor diesem schweinsäugigen Riesenbaby zu kneifen, kam nicht in Frage. „Leute, was soll denn das? Hört auf mit dem Scheiß.“   Pascal, der Retter in der Not, hatte sich zum Friedensstifter erhoben und sich kurzerhand zwischen mich und den schnaufenden Bullen geschoben. Als dann auch noch eine Lehrerin den Gang entlang rief, dass wir doch bitte alle nach draußen gehen sollten, verzogen Bruno und seine Bande sich unter allerlei gezischten Drohungen und ich kam mit einem sprichwörtlichen blauen Auge davon. Allerdings war es für ein entspanntes Verhältnis entschieden zu spät. Der Fehdehandschuh war geworfen worden und ich hatte dem größten Gorilla von allen ans Bein gepinkelt. Das merkte er sich und selbst, wenn unsere Auseinandersetzungen meist harmloser Natur blieben, waren seit diesem Tag noch nie besonders freundliche Worte zwischen mir und Spaichi geflossen. Bis zum gestrigen Abend, an dem er mir angeboten hatte, mich zu ficken. Warum auch immer.   „Gah!“   Ich beschließe, mir nicht länger den Kopf über das Warum und Wieso von Brunos Angebot zu zerbrechen. Davon bekommt man bestimmt Falten und Haarausfall und beides kann ich nun wirklich nicht brauchen. Ich erhebe mich also, begrüße mein Muttertier mit einem gemurmelten „Guten Morgen“ und verziehe mich nach einem kurzen Abstecher ins Bad mit meinem Frühstück vor den Fernseher, bevor es Zeit wird, mich fertigzumachen.   Ich dusche ausgiebigst und überprüfe dabei, ob alle am Vortag rasierten Stellen noch sextauglich sind, bevor ich mich mit einem lapidaren „ich geh zu Pascal“ aus dem Staub mache. Letzteres kennt meine Mutter schon und fragt eigentlich nie nach. Unter dem Deckmäntelchen einer Verabredung mit meinem besten Freund könnte ich vermutlich sogar einen Satanskult gründen, und sie würde es nicht merken. Doch statt mich in rauchverhangenen Kellern mit einer Mischung aus Asche und Hühnerblut zu beschmieren und auf Pfähle gesteckte Ziegenköpfe anzubeten, mache ich mich lediglich auf den Weg in den Wald.     Es dauert eine Weile, bis ich das Städtchen hinter mir gelassen habe und einen Augenblick lang bereue ich es, nicht mein Fahrrad genommen zu haben. Allerdings geht es, kaum dass ich die bebauten Gebiete hinter mir gelassen habe, so steil bergauf, dass Radfahren förmlich einer Tortur gleichgekommen wäre. Und meine Kondition brauche ich ja heute noch. Vielleicht um vor Bruno davonzurennen. Also wandere ich den zunächst noch gut ausgebauten Waldweg entlang, an dem sogar ein Bächlein entlangfließt. Höchst malerisch.   An einer Wegkreuzung angekommen, drehe ich mich noch einmal um. Von hier oben kann man die ganze Stadt überblicken. Lauter kleine, rot-weiße Häuschen mit mehr oder weniger Grün dazwischen. Es sieht aus, als hätte jemand die Bauteile einer Modelleisenbahnkulisse in die Landschaft geschüttet und dann vergessen, sie richtig zu verteilen. Man sieht die Schule, das Rathaus und das spitze Dach des Kirchturms. All das liegt weit unter mir und ich frage mich, warum ich eigentlich nicht öfter hier hoch komme.   Ach ja, weil es weit ist, stelle ich fest, nachdem ich noch bestimmt 20 Minuten durch die Gegend gelatscht bin, bevor mir endlich ein verdächtig aussehender Schatten zwischen den Bäumen das Ziel meiner Reise ankündigt. Diese verdammte Hütte hätte aber auch wirklich mal ein bisschen näher am Ortskern sein können. Dämlicher Fußweg, dämlicher.   Als ich näher komme, werde ich langsamer. Zum einen, weil ich doch ein wenig ins Schwitzen geraten bin und nicht total abgekämpft bei Bruno ankommen will, auch wenn es bereits zehn nach vier ist und ich somit zu spät bin. Zum anderen ist mir gerade eingefallen, dass wir hier doch recht weit weg sind von allem und mich im Fall der Fälle wohl niemand schreien hören würde. Was natürlich gut ist, wenn diese Schreie von was anderem als Schmerzen ausgelöst werden. Andererseits könnte das hier auch eine Falle sein. Bruno und seine Kumpane haben mich schon einmal beim Sportfest in einem Geräteschuppen eingesperrt und mich erst am Schluss des Ganzen wieder herausgelassen. Was sie nicht wussten, war, dass ich auf die ganze Veranstaltung eh keinen Bock und somit eine prima Ausrede hatte, warum ich dem Ganzen fernbleiben konnte, ohne eine Sechs zu riskieren. Über die dummen Gesichter könnte ich mich heut noch beömmeln. Allerdings ist es hier draußen wohl relativ unwahrscheinlich, dass plötzlich Herr Meißner mit dem Schlüssel für meine Befreiung vor der Tür steht. Zumal wenn die Hütte wirklich Brunos Eltern gehört. Das riecht doch geradezu nach einer Falle.   Aber jetzt kann ich nicht mehr umkehren. Selbst wenn er tatsächlich auf die Idee kommen sollte, mich hier oben gefangenzuhalten … An dieser Stelle breche ich den Gedankengang ab, und zeige mir selbst einen Vogel. Immerhin sprechen wir hier von Bruno. Bruno, der am Abend zuvor nicht einmal auf die Idee gekommen ist, mich vor die Tür zu lotsen, um mir eine reinzuhauen, sondern das gleich und sofort vor hunderten von Zeugen durchziehen musste. Wie sollte so jemand eine Entführung planen? Noch dazu aus dem Stehgreif. Lächerlich!   Mit frischem Mut und mittlerweile wieder trockenem Nacken mache ich mich nun endgültig auf den Weg zur Hütte. Das Ding ist nicht besonders groß und die Geweihe vor der Tür weisen daraufhin, dass wir es hier wohl mit einer klassischen Jagdhütte zu tun haben. Drinnen erwarten mich vermutlich rustikale Stühle, ein Kachelofen und jede Menge tote Tiere, deren Überreste zur Zurschaustellung des Jagdgeschicks ihres Besitzers an die Wand genagelt wurden. Vielleicht sogar ein Bärenfell auf dem Fußboden, wobei mir bei das bei allem Mitleid für den Bären eventuell sogar gefallen würde. Ich meine, wer wollte nicht schon mal auf einem Bärenfell und so. Bevor ich allerdings dazu komme, meine Theorie zu überprüfen, öffnet sich die Tür der Hütte und Bruno tritt heraus. Als er mich sieht, bleibt er wie angewurzelt stehen. In der Hand hält er eine Tüte und sein Gesichtsausdruck sagt mir, dass ihn mein Anblick ziemlich überrascht.   „Hey!“, rufe ich und hebe das Kinn in seine Richtung. „Willst du schon gehen?“ Es dauert etwas, bevor er mir antworten kann. Vorher muss er noch die Türklinke loslassen, auf die Veranda treten und sich zu seiner vollen Größe aufrichten. Ein bisschen wie der Bär, von dessen Fell ich gerade noch geschwärmt habe, nur dass Bruno weniger bedrohlich wirkt. Allerdings nur ein bisschen. „Ich dachte, du kommst nicht.“   Ach soooo! Daran liegt es also. Er hat aus irgendwelchen mir unerfindlichen Gründen damit gerechnet, dass ich pünktlich sein würde. Dabei sollten ihm doch die letzten zwei Jahre gezeigt haben, dass ich so gut wie nie pünktlich bin. Ich erscheine grundsätzlich erst auf den letzten Drücker und manchmal sogar erst danach, während Bruno immer einer der Ersten ist, der die Schule betritt. Ganz eventuell ist das sogar mit einer der Gründe, warum ich immer so spät komme. Je weniger Zeit ich in seiner Gegenwart und der seiner Spinnertruppe verbringen muss, desto besser. Heute hat er die Spinner allerdings zu Hause gelassen. Er ist allein.   „Hab mich im Wald verlaufen“, behaupte ich und grinse, während ich den Kopf schieflege.   Bruno nickt daraufhin.   „Ja, das passiert manchmal.“   Einen Moment lang hält er noch Blickkontakt, bevor er mit einem Mal anfängt, den Waldboden nach irgendwas Interessantem abzusuchen. Vermutlich Ameisen oder Hirschkäfer oder so.   „Möchtest du reinkommen?“   Die Frage klingt ein bisschen, als würde er hoffen, dass ich Nein sage. Was ich natürlich nicht tue. Jetzt erst recht nicht.   „Klar.“   Ich marschiere auf ihn zu und an ihm vorbei, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Es fühlt sich seltsam richtig an und so langsam beginne ich, wieder Oberwasser zu bekommen. Das hier könnte am Ende direkt spaßig werden, selbst wenn mein Spaß nur daraus bestehen sollte, Bruno ein bisschen an der Nase herumzuführen. Ist schließlich nicht die schlechteste Beschäftigung an einem Sonntagnachmittag.   Drinnen in der Hütte sieht alles genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Wände und Möbel sind aus hellem Holz gefertigt; es gibt einen Tisch mit Eckbank und Stühlen, einen grün gekachelten Ofen und einen zweiten Raum, in der wohl eine Art Küche eingerichtet ist. Aus viel mehr als einem Schrank und einem winzigen Waschbecken besteht diese allerdings nicht. Auf der Spüle vegetiert ein uralter Wasserkocher vor sich hin und daneben steht noch ein Eimer mit Putzlumpen. Damit ist meine Erkundung abgeschlossen und ich drehe mich wieder zu Bruno um, der inmitten des großen Wohnraums steht und mit seiner breiten Gestalt die Tür verdeckt.   „Und?“, fragt er und erinnert mich dabei an den Webervogel aus diesem uralten Tierfilm, der sein Weibchen zum fertigen Nest ruft und dann mit aufgeregt flatternden Flügeln darauf wartet, ob ihr sein Bauwerk gefällt oder nicht. Nur dass Bruno nicht flattert. Oder hin und herhopst. Oder sich sonst irgendwie bewegt. Er steht einfach nur da.   „Nett“, antworte ich pflichtschuldig und nehme anschließend die Tüte in seiner Hand in Augenschein. Ich selbst habe einen Rucksack mitgebracht, aber Bruno steht da mit seinem Plastiksackerl. Entsprechend neugierig bin ich, was da wohl drin ist. Als ich ihn danach frage, reicht er es mir. „Das ist mein Hemd.“   Vollkommen überrumpelt nehme ich die Tüte an mich und gucke hinein. Tatsächlich. Darin befindet sich Brunos Hemd vom Vorabend. Das mit dem Fleck. „Du hast gesagt, du wirst es waschen.“   Ja, gut, das hatte ich gesagt. Aber irgendwie hatte ich nicht angenommen, dass Bruno wirklich darauf bestehen würde. Zumal seine Mutter mit Sicherheit im Besitz einer Waschmaschine ist und vermutlich vom Fleckentfernen tausendmal mehr versteht als ich. Oder meine Mutter. Die ist nämlich auch nicht gerade eine Haushaltsgröße.   „Ja, äh. Okay“, sage ich und plötzlich geht mir auf, dass ich eine Möglichkeit vollkommen außer acht gelassen habe. Nämlich die, dass Bruno sein Angebot tatsächlich so meinen könnte, wie er es gesagt hat. Also Sex gegen sauberes Hemd. Der Wahnsinn.   Na schön, wenn er es so haben will …   Ich lasse die Tüte sinken und schaue ihn an. „Sollen wir dann anfangen?“, frage ich und erwarte irgendwie immer noch, dass Bruno jetzt einen Rückzieher macht und mir erklärt, dass das natürlich alles nur ein dummer Scherz war und er nur austesten wollte, wie weit ich gehen würde. Aber er sagt es nicht. Er schließt lediglich die Tür hinter sich und dreht den Schlüssel im Schloss. Mein Herz macht einen lauten Satz.   „Du solltest auch die Vorhänge schließen.“   Bruno scheint den Einwurf kurz zu durchdenken, bevor er sich daran macht, den grünkarierten Stoff vor den Fenstern aus den Halterungen aus geklöppelter Spitze zu friemeln und vor die Scheibe zu ziehen. Merklich dunkler wird es dadurch nicht, aber immerhin kann jetzt niemand mehr hereinschauen. Eins zu Null für die Vorhänge.   „Gut“ lobe ich ihn, gehe zu der Bank und setze dort meinen Rucksack ab. Die Tüte landet auf dem Boden. Ohne mich nach Bruno umzusehen, öffne ich den Reißverschluss, greife hinein und ziehe Kondome und eine Tube Gleitgel heraus. Bei Ersterem kann ich nur hoffen, dass die große Größe ihm passt. Immerhin sprechen wir hier von der Preiszucchini. Einigermaßen sichtbar lege ich die Sachen auf den Tisch und drehe mich halb zu ihm um. „Hast du so was schon mal gemacht?“, frage ich ihn und sein Blick wandert ganz automatisch zum Tisch. Er schluckt und nickt erst, bevor er dann doch den Kopf schüttelt. Soll vermutlich heißen, dass er zwar schon mal Sex hatte, aber noch nie über den Hintereingang. Oder noch nie mit einem Kerl. Wir werden es rausfinden.   „Ist nicht weiter kompliziert. Du nimmst einfach eine Meeenge Gleitgel und bist am Anfang ein bisschen vorsichtig. Der Rest kommt dann ganz von allein.“   Er nickt wieder und ich komme mir ein bisschen vor wie der Sensei aus den Karate Kid Filmen. Wobei Bruno vermutlich kleinschrittigere Anweisungen braucht. Sehr viel kleinschrittigere. „Wie wäre es, wenn du dich erst mal ausziehst?“ Bruno schreckt aus seiner Betrachtung der Utensilien hoch und starrt mich für einen Moment an wie eine Erscheinung. Dann nickt er heftig. „Okay. Klar.“   Mit einem letzten Blick auf mich greift er nach der Kante seines T-Shirts und zieht es sich über den Kopf. Was darunter zum Vorschein kommt, ist massig aber nicht fett. Ne ganze Menge Muskeln, die sogar noch gewaltig Zuwachs bekommen, als er seine Hose auszieht. Meine Güte, der Junge hat Oberschenkel wie Baumstämme. Als er schließlich nur noch in Boxershorts dasteht, fällt ihm wohl plötzlich auf, dass ich mich noch kein Stück bewegt habe. Ich habe nur zugesehen, wie er sich entblättert hat.   „Was ist mit dir?“, fragt er ein wenig verwirrt. Kein Wunder, denn schließlich soll das hier keine One-Man-Show werden.   „Zuerst gibst du mir noch dein Handy.“   Brunos Stirn legt sich in Falten und zum ersten Mal sehe ich so etwas wie Misstrauen unter seinem kurzen Pony auftauchen.   „Warum?“   Ich schnaube belustigt.   „Weil ich keinen Bock darauf habe, dass du irgendwelche Fotos von mir machst und dann überall herumzeigst.“   Bruno scheint immer noch verwirrt. „Warum sollte ich das tun?“   Zuerst will ich ihn fragen, ob er mich verarschen will, aber dann fällt mir auf, dass er Recht hat. Stimmt, warum sollte er? Immerhin müsste er dann erklären, warum er Nacktbilder von mir in der Jagdhütte seiner Eltern schießt. Vorsicht ist trotzdem die Mutter der Porzellankiste und nachdem ich noch einmal mit Nachdruck betont habe, dass ich die ganze Sache abblasen werde, wenn er es mir nicht gibt, rückt er schließlich doch irgendwann sein Handy raus. Ich lasse es ihn entsperren und schalte es dann nach einem flüchtigen Blick auf das Display aus. War ohnehin nur ein langweiliger, computergenerierter Standard-Hintergrund. Vollkommen nichtssagend. „So, und jetzt werde ich mich ausziehen.“   Nach dieser Ankündigung drehe ich mich wieder um. Ich habe schließlich nicht vor, für ihn zu strippen, daher lege ich auch nur so schnell wie möglich alles ab, was ich am Leib trage. Shirt, Schuhe, Hosen, Socken. Ganz kurz überlege ich, ob ich die anbehalten sollte, aber da Bruno seine auch ausgezogen hat, will ich mal nicht so sein. Gibt Schlimmeres als ein bisschen dreckige Füße. Jetzt habe ich nur noch die engen Shorts am Leib, die mein Allerheiligstes verbergen. Mit einem entschlossenen Ruck ziehe ich die auch noch runter und lasse sie zu den anderen Sachen auf die Bank fallen. Jetzt bin ich nackt. So nackt, wie Gott mich schuf. Mit einem Schulterblick sehe ich nach, wie Bruno das findet. Seine Augen kleben an meinem Hintern. Ah ja. Daher weht der Wind also.   Ich grinse ein bisschen, reiße mich jedoch zusammen, als er zu mir hochschaut und unsere Blicke sich begegnen. Stattdessen versuche ich mich an einem süffisanten Lächeln. „Du hast noch zu viel an“, informiere ich ihn und er wird doch tatsächlich ein bisschen rot, bevor seine Hände sich entschlossen unter den Bund seiner Boxershorts schieben und sie nach unten befördern. Der Stoff sammelt sich irgendwo unbeachtet um seine Knöchel. Ich habe schließlich Wichtigeres zu betrachten als ein Stück Unterwäsche.   Grandios.   Da ist er, der Prachtpenis, der jetzt schon eher an einen Prachtständer erinnert. Offenbar findet Bruno den Anblick meines Körpers tatsächlich ziemlich anregend. Auch mich lässt das, was ich da sehe, nicht unbedingt kalt, und die Vorstellung, dass ich das riesige Ding gleich in mir spüren werde, jagt einen angenehmen Schauer meine Wirbelsäule hinab. Ich bin so was von reif und will endlich loslegen. Auch Bruno scheint nicht abgeneigt. Ich kann förmlich den inneren Dialog zwischen uns hören. Geil? Absolut. Loslegen? Ich warte nur auf dich.   „Hier. Damit wirst du dich ja wohl auskennen.“   Ich werfe ihm das Kondompäckchen mit der XXL-Aufschrift zu. Notwendig wäre es vermutlich nicht, aber ohne Badezimmer in Reichweite, ist es mir lieber, wenn wir es so unkompliziert wie möglich halten. Außerdem: Safety first und so. Schließlich weiß ich ja nicht, was Bruno alles so in seiner Freizeit treibt. Und mit wem.   Das Briefchen klatscht gegen seine Brust und er reagiert erst im letzten Augenblick, um zu verhindern, dass es auf den Boden fällt. Ein wenig ungeschickt presst er es an sich und ich muss irgendwie schon wieder grinsen.   „Na los. Anziehen. Oder brauchst du dabei Hilfe?“   Für einen Moment überlegt er offenbar, ob er nicht Ja sagen sollte. Ich sehe die Gedanken förmlich hinter seiner breiten Stirn vorbeigaloppieren. Und auch, wenn ich mich hier nicht zum Dienstmädchen machen werde, wäre ich in diesem speziellen Fall nicht mal abgeneigt, mit Hand anzulegen. So ein mächtiges Ding kriegt man schließlich nicht alle Tage zwischen die Finger. Aber Bruno entscheidet sich anders. „Nein, geht schon“, murmelt er und reißt die Kondompackung auf. Ich wende mich ab, weil ich das Gefummel nicht mitansehen will. Stattdessen greife ich nach der Tube und lasse geräuschvoll den Deckel aufknacken. Ich drücke ein wenig des Inhalts heraus und verreibe es zwischen den Fingern, um es anzuwärmen. Anschließend befördere ich es dorthin, wo es seinen Dienst tun soll. Zwischen meine Backen. Zu dem Zweck lehne ich mich ein bisschen vor und stütze mich auf dem Tisch ab. Es fühlt sich gut an und ich mache mich sogleich daran, den Schließmuskel zu massieren und zu dehnen. Das letzte Mal ist schließlich schon eine ganze Weile her und bei der Größe, die mich erwartet, bin ich lieber safe than sorry. Während ich so dabei bin, merke ich plötzlich, dass ich angestarrt werde. Ach ja. Bruno ist ja auch noch da. Und er hat von seinem Platz aus die absolut beste Sicht auf das, was ich hier gerade tue.   Ich schaue erneut über meine Schulter zurück und sehe, wie er mit halboffenem Mund meine Finger beobachtet, wie sie das tun, was er gerne tun würde. Mit seinem Schwanz. Ich bin mir sicher, dass es so ist, denn der steht inzwischen wie eine Eins. Als wir uns gegenseitig bei unseren Blicken erwischen, lächele ich und fahre mir langsam mit der Zunge über die Lippen. Danach drehe ich mich wieder um und greife wieder nach der Tube. Ich nehme eine neue Portion Gel und beuge mich dann vor, während ich die Beine noch weiter spreize. Ich weiß, dass Bruno alles, was ich tue, mit Argusaugen beobachtet. Und das es ihn anmacht. Unendlich anmacht.   „Na los. Oder traust du dich nicht?“   Ich liege inzwischen mit dem Oberkörper auf dem Tisch, während mein Hintern gut vorbereitet in die Höhe ragt. Es ist mehr als eine Einladung, trotzdem scheint Bruno noch zu zögern. Er wird doch jetzt nicht noch kneifen, oder?   „Klar trau ich mich“, versichert er mir jedoch und mit zwei Schritten steht er hinter mir. Ich reiche ihm die Tube. „Schön einschmieren“, weise ich ihn an und kann anhand der glitschenden Geräusche hinter mir hören, wie er gehorcht. Wie er sein enormes Teil einreibt und schön slick macht, damit es gleich ohne allzu große Probleme in mich eindringen kann. Oh, ich kann es kaum erwarten. Aber zuerst …   Mit einem gezielten Griff fasse ich mir selbst zwischen die Beine. Ich bin zwar jetzt schon geil, aber noch ein bisschen mehr kann nicht schaden. Je geiler, desto einfacher. „Na komm schon. Mach.“   Die erste Berührung, die ich fühle, ist eine Hand auf meinem Hintern. Er reibt da ein bisschen rum, auch in Richtung meiner Eier, aber das ist nicht das, was ich will. Ich will seinen Schwanz. In mir. „Steck ihn rein. Aber langsam!“, schiebe ich noch hinterher, als der Druck an meinem Eingang plötzlich zulegt und immer weiter anwächst. Das ist wirklich ne ganz schöne Hausnummer und ich muss echt an mich halten um loszulassen. Schön ruhig atmen und entspannen. Das ist nur der äußere Ring und wenn wir den erst hinter uns haben, wird es geil werden. So richtig geil. Es drückt und presst. Heiliges Kanonenrohr, der ist wirklich groß. Und er will einfach nicht reingehen.   „Soll ich …“ „Nein, mach weiter. Einfach weitermachen.“ Das fehlt mir jetzt gerade noch, dass Bruno jetzt einen Rückzieher macht. Also Augen zu und durch. Jippiie!   Es zeckt. Natürlich zeckt es, als er endlich die erste Hürde nimmt. Meine Fingernägel graben sich, so kurz sie sind, für einen Moment in die Tischplatte und ich kann ein angestrengtes Zischen nicht ganz vermeiden. Fuck! Es ist wirklich schon zu lange her. „Ist alles in Ordnung?“   „Ja“, schnappe ich und schließe die Augen. „Gib mir nur einen Moment.“   Bruno erstarrt förmlich hinter mir, bevor er wieder anfängt, meinen Hintern zu streicheln. Scheiße, der soll damit aufhören. Ich bin doch keine Katze. „Beweg dich. Langsam.“ Wieder macht Bruno, was ich sage, und ich konzentriere mich darauf, loszulassen. Das hier ist gut, das hier ist geil. Ich atme und entspanne mich. Ganz am Rande meiner Wahrnehmung höre ich, wie Bruno noch mehr Gleitgel aufträgt. Braver Junge. Er weiß ja doch, wie es geht.   Langsam, unendlich langsam, schiebt er sich tiefer. Ich spüre es und ich merke, wie sich meine Muskeln spannen … und ihn einlassen. Ja, los! Weiter, tiefer. Fuck, das ist es. Das ist es!   Ich gebe zur Bestätigung, dass er alles richtig macht, einen erregten Laut von mir und strecke mich ihm entgegen. Er gleitet dadurch noch tiefer und jetzt höre ich auch Bruno angestrengt atmen. Wie er es wohl findet, dass sein Schwanz in meinem Arsch steckt. Ist es gut? Eng? Geil? Würde er gerne fester stoßen? Schneller? Tiefer? Mich richtig geil ficken oder gefällt es ihm so langsam? „Gut?“, frage ich daher und werfe ihm einen Blick zu, während ich meinen Hintern ein bisschen bewege. Rauf und runter, vor und zurück. Verführerisch und quälend langsam. Er schaut mich an. Nickt. Auf seiner Stirn stehen Schweißtropfen. Er beißt sich auf die Lippen und atmet angestrengt durch die Nase. Er wird doch wohl nicht gleich kommen?   Scheiße, und ich hab kein zweites Kondom.   Außerdem hab ich keine Ahnung, wie er reagieren wird, wenn es vorbei ist. Wird er wegrennen? Sich selbst hassen? Die Sache als erledigt ansehen, wenn ich erst sein Hemd gewaschen habe?   Scheiß auf das Hemd. Scheiß auf alles. Ich will das hier genießen.   Ohne mich weiter um Bruno zu kümmern, wende ich mich wieder nach vorne. Meine Hand wandert erneut zwischen meine Beine und ich beginne, mich selbst zu wichsen. Erst langsam, dann schneller. Mit den Resten des Gleitmittels zwischen meinen Fingern, fühlt sich das richtig geil an. Und dann plötzlich …   „Uh … fuck!“   Für einen Moment scheint Bruno versucht zu sein, seine Bewegung abzubrechen, aber dann deutet er meinen Ausruf richtig und behält das Tempo und die Richtung bei. Denn das, was er da tut, fühlt sich absolut großartig an. Es ist, als wenn mein ganzer Unterkörper in Schwingungen geraten ist. Es drückt und zieht und schiebt und reibt. Absolut intensiv und verdammt geil. Ja. ja! Genau so! Fick mich!   Wäre ich grad nicht so spitz, wäre es mir vielleicht peinlich, wie laut ich stöhne und keuche, aber momentan sind mein Schamgefühl und sowieso alles andere, was sich nicht mit Sex beschäftigt, ausgeschaltet. Oh Gott, ich will nichts anderes, als diesen Schwanz in mir zu spüren.   Scheiße, ich komme.   Mit fliegenden Fingern verpasse ich mir selbst die letzten Striche. Ich merke, wie sich mein ganzer Körper zusammenzieht und noch die finalen Millimeter zum Gipfel schiebt, bevor sich mit einem Mal alles löst und es heiß und in großen Schüben aus mir herausschießt. Ich winsele, ich stöhne, ich hechele gegen die absolute Macht des Höhepunkts an, der über mich hinwegfegt. Wieder und immer wieder schiebe ich mich dabei dem harten Prügel entgegen, der zwischen meinen Backen steckt und auch noch das letzte Tröpfchen aus mir herausholt. Ich spüre, wie Bruno mich plötzlich fester packt und noch einen Zahn zulegt, bevor er keucht und stöhnt und ich ihn in mir zucken spüre. Er kommt. Er pumpt. Ich merke förmlich, wie sich sein Sperma in mich ergießt, auch wenn da noch etwas zwischen uns ist, das es aufhält. Dieses Gefühl hatte ich so noch nie und ich muss zugeben, dass es sich absolut geil anfühlt. Noch geiler ist allerdings das Gefühl des langsam abebbenden Orgasmus. Eine gewisse Schwere folgt ihm und ich gebe zu, ich würde jetzt am liebsten umfallen. Aber ich stehe ja hier über einen Holztisch gebeugt, dessen Maserung mittlerweile hübsche Muster in meinen Unterarmen hinterlassen hat. Aber scheiß drauf, das war es wert. Ich bin so was von gefickt worden.   Vorsichtig richte ich mich auf, um Bruno zu signalisieren, dass er sich langsam mal aus mir verziehen soll. Ansonsten hätten wir uns das Kondom nämlich auch sparen können. Außerdem ist mein Hintern der Meinung, dass es dann jetzt langsam mal reicht mit den Dehnübungen. Bruno ist ja, wie bereits festgestellt, nicht eben klein und könnte deswegen so langsam mal wieder den Platz räumen, den er so erfolgreich beansprucht hat. Scheiße, und wie erfolgreich.   „Das war gar nicht übel“, sage ich, während ich nach meinen Shorts greife und hineinsteige. Uh! Vorsichtig mit schnellen und/oder ausgreifenden Bewegungen. Sitzen wird die nächsten paar Stunden bestimmt auch etwas anstrengend. Außerdem fühlt sich mein Arsch immer noch an wie frisch gefettet. Ich hätte was zum Abwischen mitbringen sollen.   „Mhm“, macht Bruno nur und schaut mich dabei nicht an. Das Kondom hat er inzwischen abgenommen und irgendwo verstaut. Hoffentlich nicht in seiner Hosentasche. Das wäre ja nun wirklich eklig. „Von mir aus, können wir das mal wieder machen“, schiebe ich hinterher und grinse mir eins, als Bruno meinem Blick immer noch ausweicht. Ich kann jetzt natürlich nur raten, warum das so ist, aber ich vermute fast mal, dass es ihm besser gefallen hat, als er angenommen hatte. Wobei ich zugeben muss, dass ich von seiner Performance auch recht angetan bin. Mehr als ich gedacht hatte. „Kommst du mit?“   Okay, die Frage ist fies, und natürlich antwortet er darauf, wie ich gehofft hatte, mit einem Kopfschütteln.   „Ich muss hier noch aufräumen“, meint er und deutet dabei grob in Richtung des Flecks, den ich auf dem Boden hinterlassen habe. Ach ja, die Wichse. Eigentlich hätte ich die wohl selbst wegmachen müssen, aber hey, wenn Bruno schon anbietet, den Putzdienst zu übernehmen, sag ich natürlich nicht nein. „Na gut, dann bin ich mal weg“, meine ich und will gerade nach meinem Rucksack greifen, als er mir den Weg vertritt. Sein Gesicht sieht entschlossen aus. „Das Hemd“, meint er grollend und weist auf die Tüte, die einsam und verlassen halb unter die Bank gerutscht daliegt. „Du hast mein Hemd vergessen.“   Ach ja. Da war ja was.   Ich seufze und bücke mich – autsch, nicht gut – um das blöde Ding aufzuheben. Danach halte ich die Tüte hoch, damit Bruno sie auch deutlich sehen kann. „Siehst du, dein Hemd. Ich nehme es mit und werde es waschen. Zufrieden?“   Wieder nickt er und tritt jetzt, da ich das Corpus delicti an mich genommen habe, beiseite, um mich durchzulassen. Er öffnet mir sogar die Tür, weicht dann aber zurück, sodass ich ungehindert an ihm vorbeikomme. Einen ganz kleinen Augenblick bin ich in Versuchung, so etwas wie „Das bleibt aber unter uns“ zu sagen, als ich kurz stehenbleibe und ihm sein Handy in die Hand drücke, das wir wohl beide in der Hitze des Gefechts vergessen haben, mir aber gerade noch eingefallen ist, als ich nach meinem eignen schauen wollte, aber dann lasse ich es bleiben. Es auszusprechen, ist nicht notwendig, denn ich bin mir sicher, dass keiner von uns irgendwem hiervon erzählen wird. Das ist jetzt unser kleines Geheimnis und sobald ich das Hemd entfleckt habe, werden wir nie wieder ein Wort darüber verlieren. Deal ist Deal.   Kapitel 5: Wiedersehen macht Freude ----------------------------------- Als ich das Klassenzimmer betrete, weiß ich sofort, dass ich einen fatalen Fehler begangen habe. Denn wie es aussieht, sind es nicht eventuell von Bruno geschossene Bilder, um die ich mir hätte Sorgen machen müssen, sondern vielmehr die unzähligen gezückten Handys, die Samstagabend anwesend waren und offenbar meinen peinlichen Auftritt live und in Farbe mitverfolgt haben. Eines dieser Handys gehörte offenbar Gregor.   Eine Meute von Schaulustigen hat sich um ihn versammelt und glotzt auf den kleinen Bildschirm in seiner Hand. Aus dem Lautsprecher dringt unverkennbar Psys größter Hit, geräuschvoll untermalt von dem üblichen Kratzen und Schubbern, das entsteht, wenn jemand die Kamera beim Filmen nicht ruhig hält. Die Reaktionen der Umliegenden sind eindeutig. Sie lachen.   Fuck!   Für einen Moment bin ich geschockt. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich hab doch gesehen, wie sie alle Bruno abgelichtet haben, während der sich auf der kleinen Bühne einen abgestottert hat. Natürlich gibt es da auch Aufnahmen von mir und vermutlich wird es nicht lange dauern, bis auch der Rest der Schule von der Sache Wind bekommt. Am Ende werde ich noch zu einem Meme, das im Internet viral geht. In dem Moment wäre ich dann wirklich ein Star. Also zumindest bis mir der nächste Idiot den Rang abläuft, weil er sich einen Komodowaran an die Nase gehängt hat oder so was in der Art. Aber bis es soweit ist, habe ich gerade offenbar meine 15 Minuten zweifelhaften Ruhms, egal ob ich das will oder nicht. Also Augen zu und durch.   „Hey, Vogel! Hast du für deinen nächsten Auftritt als Stripper geübt, oder was?“ Den Hohn und Spott, der aus Jakobs Stimme tropft, könnte man vermutlich in Flaschen füllen und als Heizöl verkaufen. Oder als Rattengift. Es ist wirklich unglaublich, wie viel Bosheit in diesem halben Hemd steckt. Dumm nur für ihn, dass er mir gleich die passende Vorlage für einen Konter geliefert hat. Langsam hebe ich meine Mundwinkel.   „Na logisch. Dein Vater hat sich schon Karten bestellt.“ Gut, die Andeutung, dass Jakobs Vater als Mann der Kirche irgendwie Interesse an kleinen Jungs haben könnte, ist schon ziemlich geschmacklos. Was Besseres ist mir auf die Schnelle halt nicht eingefallen, vor allem weil der Typ auch derjenige war, der damals bei den protestierenden Eltern in der ersten Reihe stand, als bekannt wurde, dass ich nicht am Hetero-Ufer fische. Und dass ich mich trotz dieser von der Bibel als Sünde ausgewiesenen Tatsache zusammen mit den armen kleinen Waisenknaben in einer Umkleidekabine tummele. Zum Glück hat die Schulleitung sein Gesuch damals abgelehnt, obwohl so ne Kabine für mich alleine vielleicht wirklich nicht das Schlechteste gewesen wäre. Aber bauliche Mängel haben das verhindert und so muss sich Jakob eben immer noch im gleichen Raum mit meinem schwulen Schwanz umziehen. Ätsch!   „Sag das nochmal!“, fährt Jakob auch prompt auf und ballt die Fäuste. Er kommt jedoch nicht weit. Aus der Traube, die sich um Gregors Tisch gebildet hat, erhebt sich Brunos riesige Gestalt. Es sieht aus, als würde ein Bär eine Schar Lemminge abschütteln. Wortwörtlich. Sein finsterer Blick ist direkt auf mich gerichtet. „Halt die Klappe!“   Ey, ja was denn nun? Jakob will, dass ich mich mit ihm anlege, und Bruno will, dass ich die Klappe halte. Und jetzt? Können die sich vielleicht mal entscheiden, oder was?   Ein begeisterter Aufschrei rettet uns alle aus dieser Patt-Situation. „Ich hab noch eins gefunden. Kommt her!“ Sofort verlagert sich der Fokus von den echten Anschauungsobjekten auf das nächste Display. Wieder tönt „Gangnam Style“ nebst allerlei Störgeräuschen aus den Lautsprechern. Dieses Mal mit ersticktem Prusten und Gackern im Hintergrund. Da muss einer geahnt haben, was passieren würde. Ich kann mir so richtig vorstellen, wie irgendeiner von den Fußballfatzkes seinem Sitznachbarn den Ellenbogen in die Seite gerammt und mit einem sensationslüsternen „Guck mal, Spaichi ist voll drauf“ sein Handy aus der Tasche gezogen hat, um den Spaß nicht zu verpassen. Tja, Spaß hat er jetzt gehabt. Fragt sich nur, wie lange er anhält. „Hey, Bruno! Musstest du dir echt seine Eier angucken?“ „Wenn es wenigstens Möpse gewesen wären.“   Immer noch haben sich Brunos und mein Blick ineinander verhakt. Ich kann trotzdem hören, wie seine Fingerknöchel knacken, als er die Hände zur Faust ballt. „Mach endlich den Scheiß aus“, grollt Bruno, jedoch nicht in meine sondern in Sebastians Richtung. Er ist derjenige, der den neuesten Clip ausgegraben hat und jetzt in der Gegend herumzeigt. Basti denkt jedoch nicht daran und grinst breit.   „Wieso sollte ich?“, fragt er doof nach und hält sein Handy auch noch extra hoch, damit es auch alle sehen können.   „Weil ich dir die Nase breche, wenn du’s nicht tust“, knurrt Bruno. „Mir einmal das Hirn bleichen zu müssen, hat gereicht.“   Für einen Moment ist es still, dann fangen wieder alle an zu lachen. Und natürlich wollen jetzt auch alle das neue Video sehen. Es ist wie ein Unfall, dem sich niemand entziehen kann. Ich jedoch hab genug. Als würde mich das alles nichts angehen, gehe ich zu meinem Platz, lasse mich auf meinen Stuhl fallen und blende die höhnischen Kommentare einfach aus. Sollen sie sich doch daran aufgeilen, bis sie ohnmächtig werden.   Pascal erscheint in der Tür. Bestimmt hat er mal wieder bis zur letzten Minute mit Michelle rumgeknutscht. Mit gerunzelter Stirn kommt er zu mir und fragt mich, was los ist. Ich schiebe ihm wortlos mein Handy rüber. Die Nachrichten, dass mich jemand bei einem geposteten Video getaggt hat, stapeln sich. Doch noch bevor Pascal sich zum Rächer der Enterbten aufschwingen kann oder sonstwie reagieren, erscheint unsere Englischlehrerin und verbittet sich sämtliche elektronischen Geräte auf den Tischen. Widerwillig packen alle ein und setzen sich. Als sie anfängt, an die Tafel zu schreiben, verstummt auch nach und nach das Gekicher. Ich mache mir allerdings nicht die Mühe, mein Heft rauszuholen. Stattdessen starre ich Brunos rasierten Hinterkopf und würde nur zu gerne ein Loch hineinbohren und Säure reinkippen. Das Hirn bleichen? Ich glaub, ich hör nicht richtig. Als wenn ihm nicht gestern allein bei dem Anblick fast einer abgegangen wäre. So ein Arsch!     Die nächsten zwei Tage gibt es trotzdem kein anderes Gesprächsthema als meinen nackten Hintern. Brunos Gurkentruppe hat sich sogar dazu herabgelassen, „Alle meine Entchen“ umzudichten und es, wann immer ich irgendwo auftauche, zum Besten zu geben. Besonders das „Schwänzchen in die Höh’“ scheint es ihnen angetan zu haben. Bei der achten Wiederholung oder so, gönne ich ihnen ein müdes Lächeln. „Ihr seid ja sooo witzig“, presse ich mit gebleckter Oberlippe hervor. „Wollt ihr euch nicht langsam mal wen anders suchen, auf dessen Kosten ihr euch einen runterholen könnt?“   Als Antwort bekomme ich nur Gelächter. Bruno, der auf dem Boden sitzt und so tut, als würde ihn das alles nichts angehen, sieht nicht mal hoch. „Guck mal, jetzt heult er gleich“, ruft Gregor und zeigt mit dem Finger auf mich.   „Mir egal“, rotzt Jakob dazwischen. „Solange er sich nicht auszieht.“   Wieder prusten sie los, bis Gustav sich endlich erbarmt. „Hört mal Leute, lasst gut sein. Der Witz ist wirklich langsam ausgelutscht.“ „Von wem? Etwa vom Vogel?“   Brüllendes Gelächter und auch bei den anderen aus der Klasse sehe ich verschämtes Grinsen. Dabei war der Witz nun wirklich nicht komisch. So gar nicht komisch. In meinem Bauch brodelt es.   „Nicht …“, versucht Pascal mich noch zurückzuhalten, aber es ist schon zu spät. Mein Mundwerk hat bereits die Kontrolle übernommen, ohne vorher Rücksprache mit der Zentrale zu halten. „Wisst ihr was?“, ätze ich möglichst giftig. „Wenn ihr so scharf auf meinen Hintern seid, wieso fragt ihr dann nicht Bruno, ob er euch ein paar Abzüge macht. Ich bin mir sicher, er hat ein Bild davon zu Hause über seinem Bett hängen.“   Im nächsten Moment ist es totenstill. Also natürlich nicht wirklich, denn schließlich sind wir nicht die Einzigen, die hier noch ihre Zeit absitzen müssen. Aber das Gelächter der blöden Bande ist verstummt und es kommt mir fast so vor, als würde ich das Geräusch von Pistolenhähnen und Messerschneiden hören, die gespannt und gewetzt werden. „Was hast du gesagt?“   Bruno, der bis dahin auf dem Boden gesessen und so getan hat, als würde ihn das alles nichts angehen, hebt langsam den Kopf. Sein Blick fixiert mich so wie vor zwei Tagen schon. Darin liegt etwas, das ich nicht so recht zu deuten weiß. Ein unruhiges Flackern. Wie bei einem wilden Tier. „Hey Spaichi! Willst du das etwa auf dir sitzen lassen?“   Paul, der ein ähnlich schneller Denker ist wie Bruno, hat ihm seine Pranke auf die Schulter geschlagen. Aus dem Nichts heraus blafft Bruno ihn an. „Nimm deine Pfoten weg!“, knurrt er. „Oder bist du jetzt auch unter die Schwuchteln gegangen?“ Sofort zieht Paul seine Hand zurück. „Hey, kein Stress, Bro. Ich hab doch nur …“ „Ist mir egal, was du hast“, faucht Bruno. „Du sollst aufhören, mich anzutatschen. Klar?“   Ehe Paul sich versieht, steht Bruno geballter Faust vor ihm und ist so kurz davor zuzuschlagen, dass es selbst mich ein bisschen gruselt. Doch dann, wie durch ein Wunder, beherrscht der rasende Riese sich und lässt die Hand wieder sinken. Stattdessen nimmt er mich aufs Korn. „Und du hältst deine verdammte Fresse, klar? Ihr alle haltet die jetzt.“ Eigentlich hätte es beeindruckend wirken müssen, wie Bruno den gesamten Kurs anschnauzt, als wäre er der Donnergott höchstpersönlich. Aber das ist es nicht. Es ist einfach nur traurig. Und armselig. Wenigstens in meinen Augen.   „Armer Bruno.“ Ich weiß nicht, warum ich das sage. Ich weiß nur, dass ich im nächsten Moment rückwärts fliege und gegen Pascal taumele, der mich zum Glück auffängt. „Ich hab gesagt, du solltst die Fresse halten“, zischt Bruno und in der Wut, die mir aus seinen Augen entgegensprüht, sehe ich noch etwas anderes. Etwas, das sich nicht gut anfühlt. So gar nicht. Es wird allerdings im nächsten Moment wirksam von einem weiblichen Hinterkopf verdeckt. „Es reicht jetzt“, bellt Michelle energisch, wagt es aber trotzdem nicht, die Hand an Bruno zu legen und ihn wegzuschieben. „Wir sind doch hier nicht im Kindergarten. Krieg dich wieder ein. Gewalt ist nie eine Lösung.“ „Gewalt ist immer eine Lösung“, kommt ein unqualifizierter Kommentar von irgendwo aus der Menge und die merkwürdige Stimmung löst sich mit einem Mal in Wohlgefallen auf. Alle lachen, außer den paar Beteiligten, die sich rund um Bruno und mich versammelt haben. Der sieht zuerst noch so aus, als würde er Michelle einfach beiseite schieben, doch dann dreht er sich nur um und stapft zu seinem Platz zurück. Ich höre noch, wie Jakob auf ihn einredet, dass er „die Schwuchtel doch nicht damit durchkommen lassen könne“, aber eigentlich habe ich gerade ganz andere Probleme. Michelleförmige Probleme, denn die dreht sich mit einem geradezu mörderischen Gesichtsausdruck zu mir herum. „Und du bist auch nicht viel besser“, keift sie mich an. „Immerzu musst du sticheln. Kannst du nicht wirklich einfach mal die Klappe halten?“ Weil ich merke, wie die neugierigen Augen sich wieder auf uns richten, klappe ich vorsichtshalber mein Visier runter. Kein Grund, unhöflich zu werden. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, gebe ich so lapidar wie möglich zurück. Dass ich das hinkriege, während mein Herz gegen meine Rippen wummert, als wäre ich gerade eine Marathon gelaufen, ist eigentlich echt eine Kunst. Michelle ist leider so gar nicht beeindruckt, aber immerhin senkt sie ihre Stimme ein bisschen.   „Na davon, dass du Bruno ständig provozierst. Wann immer jemand mit dem Scheiß anfängt, hast du nichts Besseres zu tun, als ihn auch noch mit reinzuziehen.“   Ich schnaube ein wohl einstudiertes, abfälliges Schnauben. „Tja, warum wohl? Ist schließlich seine Schuld, dass die halbe Stadt mit dem Finger auf mich zeigt.“   Michelle schnaubt ebenfalls und es klingt fast noch beeindruckender als ich. „Das Ganze wäre aber nicht passiert, wenn du nicht auf diese vollkommene Schnapsidee mit dem Kostüm gekommen wärst. Noch dazu ohne Unterwäsche!“   Ich will sie gerade darauf hinweisen, dass ne ganze Menge Leute ohne Unterwäsche durch die Welt laufen, aber das Auftauchen unseres Lehrers verhindert, dass wir weiter auf dieses pikante Thema eingehen können. Voller Befriedigung sehe ich, wie die blöde Ziege in der ersten Reihe verschwindet, bevor ich mich neben Pascal fallen lasse. „Deine Freundin hat echt ein Rad ab.“   Normalerweise hätte ich jetzt mit Zustimmung oder wenigstens einem kleinen Lächeln von seiner Seite gerechnet. Leider gönnt mir Pascal nur einen kritischen Blick. „Was?“, flüstere ich, weil von vorne schon irgendwas über Weltwirtschaft über uns hinwegschwallt und droht, mich instant zu Tode zu langweilen. Ein strenges Räuspern aus der Gegend der Tafel lässt mich die Augen nach vorne richten, aber meine Aufmerksamkeit liegt immer noch bei Pascal. Zuerst tut er zwar noch so, als würde er irgendetwas mitschreiben, aber weil ich nicht aufhöre, ihn mit auffordernden Blicken zu traktieren, murmelt er irgendwann:   „Vielleicht solltest du den Idioten einfach nicht ganz so viel Angriffsfläche bieten. Dann würden sie vielleicht …“ „Du meinst, ich soll den Schwanz einziehen?“   Vor lauter Entrüstung bin ich wohl etwas lauter geworden, als eigentlich angesagt gewesen wäre. Sofort nimmt mich unser WiPo-Folterknecht aufs Korn. „Haben Sie etwas zum Thema beizutragen, Fabian?“   Ich mache ein möglichst unschuldiges Gesicht und schüttele den Kopf. „Dann seien Sie doch so nett und verlegen die Gespräche über Ihr Geschlechtsorgan in den Biologieunterricht. Dort sind sie besser aufgehoben.“   Ich nicke artig und ignoriere die Grinser um mich herum. Auf einen peinlichen Auftritt mehr oder weniger kommt es nun wirklich nicht an. Zumal Pascal die Konversation nahtlos wieder aufnimmt, sobald uns Herr Küppers den Rücken zudreht. „Ich hab nicht gesagt, dass du den Schwanz einziehen sollst. Nur vielleicht nicht ganz so weit raushängen.“   Pascals Mundwinkel zucken und ich verzeihe ihm den blöden Spruch. Es ist bei Weitem nicht das Schlimmste, was ich in den letzten Tagen zu hören bekommen habe. „Haha, sehr witzig“, grummele ich. „Das war ja auch so nicht geplant.“   „Was war denn geplant?“ Der fragende Blick, den er mir zuwirft, ist mir irgendwie unangenehm. Hinter dem nicht sehr gut versteckten Vorwurf, dass es vielleicht doch auch ein kleines bisschen meine Schuld sein könnte, dass ich mich so zum Horst gemacht habe, lauert noch etwas anderes. Etwas, das vorher nicht da war. Etwas, das Michelle dorthin gepflanzt hat.   Ich antworte nicht auf Pascals Frage. Stattdessen tue ich so, als würde ich dem Unterricht folgen, aber in Wahrheit schneide ich nichts mehr mit. Als es endlich klingelt, bin ich weg. Ich flüchte nach einer knappen Verabschiedung und laufe den ganzen Weg zurück durch die Innenstadt zu Fuß. Dabei bekomme ich entgegen aller Ratgeber, die behaupten, ein langer Spaziergang wäre gut fürs Gemüt, eine Stinkwut. Auf Bruno, auf Gregor, auf Pascal und erst recht auf Michelle. Besonders auf Michelle. Oder auf Bruno. Ich bin mir nicht sicher, wer von den beiden den ersten Platz belegt. Ganz kurz setzt sich auch mal Pascal an die Spitze. Wenn ihm das passiert wäre, würde ich ihn verteidigen bis aufs Blut. Und wenn seinem Michelle-Hasi-Mausi-Schatzi die Melonen aus der Verpackung gehüpft wären und jemand davon Fotos ins Internet gestellt hätte, wäre er garantiert nicht so gechillt. Dann würde er jedem, der es wagt die weiterzuverbreiten, höchstpersönlich den Krieg erklären. Aber mit mir kann man es ja machen. Ich bin ja nur der schwule, beste Freund.       Als ich zu Hause ankomme, ist mein Zorn immer noch nicht verraucht. Wie eine Herde wild gewordener Brontosaurier stampfe ich die Stufen des Treppenhauses nach oben. Unsere Nachbarn fallen vermutlich dadurch aus ihren Ohrenbackensesseln, aber das ist mir jetzt auch egal. Mit einem Knall werfe ich die Tür ins Schloss und erstarre im nächsten Moment, als mir aus der Küche ein „Fabian? Bist du das? Ist was passiert?“ entgegenschallt. Ist das etwa meine Mutter? Warum ist die denn schon hier?   „Ja,“ antworte ich und sehe, dass sie die Ärmel ihrer Bluse hochgekrempelt hat, als sie in den Flur kommt. Ihre Hände sind nass. Warum sind ihre Hände nass?   „Ich war gerade in der Gegend, da bin ich über Mittag kurz nach Hause gekommen und wollte schon mal das Abendessen vorbereiten. Ist alles in Ordnung?“   In Ordnung? Nein, eigentlich nicht. Eigentlich ist nichts in Ordnung. Nicht mehr, seit wir hierher gezogen sind. „Ja, alles bestens“, murre ich. „Hab mich nur mit Pascal gestritten. Renkt sich wieder ein.“   Ich sehe, dass sie gerne Näheres wüsste, aber anhand ihres Blickes, der ohne ihr Zutun zur Küchenuhr huscht, wird deutlich, dass ihr für ein bohrendes Verhör die Zeit fehlt. Sie muss wieder zurück in die Kanzlei. Trotzdem runzelt sie leicht die Stirn und sieht mich prüfend an.   „Das hat aber nichts mit letztem Samstag zu tun, oder? Ich habe gehört, dass es da … einen Zwischenfall gab.“ Na klar! Irgendein Schlaumeier musste natürlich meiner Mutter stecken, was für einen missratenen Sohn sie hat. Wie wundervoll! Dass sie „zufällig“ in der Gegend war, kaufe ich ihr jetzt nicht mehr ab. Sie hat nur nicht abwarten können, mich auszuquetschen. So durchschaubar! Aber da kan sie lange warten.   „Ach, das war doch nichts. Nur ein bisschen Stress mit einem Kerl aus der Schule. Er hat Streit gesucht, es wurde ein bisschen unschön und dann sind wir rausgeflogen. Das war alles.“   Ein grand-canyon-tiefes Seufzen antwortet mir. „Ach Fabian …“   Okay, der Tonfall heißt, dass sie sowieso schon alles wusste und es nur nochmal von mir hören wollte. Meine Version der Geschehnisse oder irgend so ein Anwaltskack. Ich hoffe nur, dass sie nicht noch davon Wind bekommt, dass das Ganze auf Social Media gelandet ist, sonst wird sie mir bestimmt auch noch ein Gespräch über Cybermobbing und das Recht am eigenen Bild ans Knie nageln und auf die Tour hab ich ja mal so gar keine Lust. Ich will einfach nur meine Ruhe haben. Vorzugsweise alleine.   „Ach Mama“, stöhne ich daher möglichst theatralisch zurück. „Ja, es war ne blöde Idee. Ja, ich hab was draus gelernt. Und nein, ich mache es nie wieder. Zufrieden?“   Meine Mutter verzieht das Gesicht.   „Du weißt doch genau …“ „Dass das hier ne beknackte Kleinstadt voller homophober Spießer ist? Ja, ist mir aufgefallen. Sonst noch was?“   Jetzt sieht meine Mutter gerade aus, als würde sie mir ganz gerne eine klatschen. Vorzugsweise mit einem Nudelholz. Dummerweise hat sie mir schon früh beigebracht, dass man das nicht macht. Tja, Pech gehabt, werte Erzeugerin. Gegen das Argument kommst du nunmal nicht an.   „Na schön“, meint sie schließlich seufzend und mit einem erneuten Blick auf die Uhr. „Aber falls du irgendwas auf dem Herzen hast …“   Wieder unterbreche ich sie, weil mir das wirklich langsam zu lange dauert.   „Ich habe dir nichts zu sagen, okay? Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut.“   Psychologen würden jetzt vermutlich anmerken, dass diese drei Sätze das Anzeichen dafür sind, dass es einem nicht gut geht. Als wenn die sich mit dem Scheiß auskennen würden.   „Wie du meinst“, gibt meine Mutter zurück. „Dann mach ich jetzt schnell noch den Auflauf fertig und wir reden heute Abend, ja?“   Ich gebe ein unbestimmtes Geräusch zurück, das sowohl „Ja“ oder „Nein“ oder auch „Ich geh mich derweil im Bad erhängen“ heißen könnte. Was davon es sein wird, sehen wir in ein paar Stunden. Ich hoffe auf „Nein“, weil sie bestimmt nach dem restlichen Tag zu müde sein wird, um sich noch mit mir abzuärgern. Sie hat gesagt, dass sie heute zu Herrn Häberle fährt. Es gibt wohl Schwierigkeiten mit der Abrechnung der OP. Der Mann macht sie mindestens so fertig wie ich.     Ohne mich noch weiter um ihre mütterlichen Befindlichkeiten zu kümmern, drehe ich mich um und verschwinde in meinem Zimmer. Einen Moment lang überlege ich, die Tür zuzuknallen, aber dann lasse ich es doch bleiben. Das wäre nun wirklich zu kindisch.   Mein Handy piept und ich greife ganz automatisch danach. Schon wieder hat mich irgendein Penner bei einem Video verlinkt. Und schon wieder ist es einer der drei Filme, die von mir im Netz kursieren. Nur, weil es eh nicht schlimmer werden kann, rufe ich den Beitrag auf und gucke ihn mir an. Die Hashtags dazu überlese ich lieber, schon allein weil #Gesichtsgrätsche noch einer der nettesten ist.   Auf der Aufnahme sieht man Bruno, wie er am Rand der Tanzfläche steht. Sein glasiger Blick ist auf mich und Pascal gerichtet, wie wir ausgelassen feiern. Dann, als hätte man einen Schalter umgelegt, setzt er sich in Bewegung. Direkt auf mich zu. Die Menge teilt sich vor ihm und dann rammt er mir die ausgestreckten Hände voll in den Rücken. Ich fliege hin und als nächstes ist die Aufnahme mit einem Pfirsich-Emoji verziert. Liegt vermutlich daran, dass die unzensierte Version immer wieder gelöscht wurde. Wenigstens etwas.   In ein paar Tagen haben sie das wieder vergessen.   Das sage ich mir zumindest immer wieder. Schon jetzt sind die Klickzahlen sinkend und es muss was Neues her. Neuer Content für neue User.   Die einzigen, die das nicht kapieren wollen, sind Bruno und seine Blödbacken.   „Dämliche Wichser“, grolle ich. Wenn ich ein Mädchen wäre, würden sie Bruno vermutlich auf die Schulter klopfen und ihn dazu beglückwünschen, dass er mich flachgelegt hat. Was er nicht hat. Nur um das mal festzuhalten. Es war ein fairer Handel. Wenigstens habe ich das gedacht, bevor diese ganze Scheiße angefangen hat.   Und das alles für einen Fick.   Unwillkürlich wandert mein Blick zu der Ecke neben dem Schreibtisch, in die ich Brunos Habseligkeiten gepfeffert habe, nachdem ich Sonntagabend von unserem Treffen zurück war. Das Hemd habe ich seitdem nicht angerührt. Es ist immer noch genauso dreckig und versifft wie am letzten Wochenende. Wahrscheinlich müffelt es inzwischen schon. Ich sollte es wirklich langsam mal in die Wäsche tun und ihm dann wieder mitbringen. Aber andererseits …   Mit zusammengekniffenen Augen rutsche ich vom Bett, tappe zu der Tüte und nehme sie genauer in Augenschein. Es ist eine weiße Plastiktüte mit schwarzem Blumenmuster. In dem Kranz aus stilisierten Blüten prangt der Name eines örtlichen Modehauses. Garantiert nichts, wo ich einkaufen würde, aber Bruno scheint dort Kunde gewesen zu sein. War bestimmt nicht billig, das Hemd.   Ich frage mich, was er wohl alles tun würde, um es wiederzubekommen.       Der nächste Morgen beginnt mal wieder mit einer Doppelstunde. Biologie ist angesagt und auch wenn ich das Fach vielleicht eine Winzigkeit interessanter finde als den Rest meines Stundenplans, kann ich es kaum abwarten, bis es endlich klingelt.   „Ich müsste da mal aufs Klo“, rufe ich gleich nach dem Gong, damit unser Biologieknilch nicht etwa auf die Idee kommt, durchzumachen. Er seufzt und winkt mich raus. Ich grinse mir eins, greife in meinen Rucksack und ziehe die besagte Tüte heraus. Um sicherzugehen, dass der Klotzkopf aus der letzten Reihe es auch mitkriegt, wedele ich ein bisschen umständlich damit herum, bevor ich sie halb zusammenfalte und mir unter den Arm klemme. Pascal guckt mich an, als wäre ich ein bisschen bekloppt. „Was soll das denn?“, will er wissen, aber ich ignoriere ihn und mache mich endlich auf den Weg in die Örtlichkeiten. So ne Fünf-Minuten-Pause dauert schließlich nicht ewig.   Im Klo ist es kalt und riecht nach abgestandenem Wasser und billigem Klostein. Entweder hat dieses Bad denselben Designer wie das im Ochsen oder dieses Odeur ist ebenso standardisiert wie die Cheeseburger von Mäkkes. Ohne mich jedoch weiter mit einem Geruchscheck aufzuhalten, verziehe ich mich in die hinterste Ecke dieses Ausbunds an deutscher Architektenkunst. Irgendwer hat nämlich gedacht, dass es doch ne tolle Idee wäre, ganz am Ende hinter den Kabinen noch ein Fenster einzubauen. Wegen Luft und Licht und was weiß ich. Dummerweise haben die Schüler diese Ecke regelmäßig dazu benutzt, um auf dem Klo unbemerkt zu rauchen, sodass der Hausmeister schon vor etlichen Jahren den Fenstergriff abgeschraubt hat. Jetzt sammeln sich hier hinten statt Kippen nur noch Spinnennetze und schweinische Kritzeleien, die von eben jenem Hausmeister jede Woche in mühevoller Kleinarbeit entfernt werden müssen. Ich glaube, wenn es nach ihm gegangen wäre, dürfte man hier wieder rauchen.   Mit einem tiefen Atemzug lasse ich mich gegen die Wand fallen und bereue es gleich darauf wieder. Jetzt hab ich die Nase voller Kloluft und muss obendrein noch auf ein seltsames Gemälde starren. Ein Strichmännchen mit einem Riesenpenis. Man könnte denken, dass Bruno dafür Modell gestanden hat. Daneben die tiefsinnige Frage „Warum?!“ Wobei sich die vermutlich nicht auf den Penis bezieht. Ist immerhin mit nem anderen Stift geschrieben.   Die Toilettentür klappt und ich höre Schritte näherkommen. Zielstrebig geht irgendjemand an den Urinalen vorbei in den hinteren Teil. In Gedanken bete ich darum, dass das jetzt nicht irgendwelche Siebtklässler sind, die mich gleich mit kugelrunden Augen anglotzen und wissen wollen, was ich hier zu suchen habe. Erklären würde ich ihnen das nämlich nur höchst ungern. Und dass jetzt hier jemand einen abseilt, kann ich auch nicht brauchen.   Krach! Mit einem dumpfen Knall schlägt eine der Kabinentüren gegen die Innenwand der laveden Holzkonstruktion. Ursprünglich waren da wohl mal so Plastikknöpfe angebracht, aber an denen hat inzwischen der Zahn der Zeit genagt, sodass davon nur noch rudimentäre Reste vorhanden sind. Zu wenig, um einen harten Aufprall und das damit verbundene laute Geräusch zu verhindern. Krach. Die nächste Kabine wird ebenso heftig aufgestoßen wie die erste. So langsam komme ich mir vor, wie in einem Horrorfilm, wo sich irgendwer im Keller versteckt hat und der irre Attentäter mit der Hockeymaske und dem Fleischermesser immer näherkommt. Krach! Dieses Mal ist das Geräusch so nahe, dass ich weiß, dass, wer auch immer hier so einen Aufstand macht, gleich vor mir stehen wird. Allerdings hat er es nicht eilig. Er denkt offenbar, dass er mich hier in die Ecke getrieben hat. Was ein blödsinniger Gedanke ist, da ich den Treffpunkt schließlich vorgeschlagen habe. Ich weiß also, wer da kommt. Dementsprechend richte ich mich auf und zische: „Geht’s vielleicht noch ein bisschen lauter?“   Bruno guckt mich an. Sein ganzes Gesicht ist zur Faust geballt und ich sehe ihm an, dass er nicht hier sein will. Mit was für einer Ausrede er sich wohl rausgeschlichen hat? Dass er auch gesagt hat, dass er aufs Klo will, glaube ich nicht. Das wäre zu auffällig gewesen. Allerdings ist das auch nicht mein Problem. Hauptsache er ist jetzt hier.   „Gib mir mein Hemd!“   Wow, ein ganzer Satz. Subjekt, Prädikat, Objekt oder so ähnlich. Keine Ahnung, ob das stimmt. Grammatik war noch nie so meine Stärke. Dafür blöde Sprüche. „Hast du da nicht noch was vergessen?“, flöte ich und grinse Bruno an. Seine Augenbrauen nähern sich einander bedrohlich. Allerdings schweigt er, was wiederum meinen Witz kaputtmacht. „Es heißt 'bitte'. 'Gibst du mir bitte mein Hemd?' wäre sogar noch höflicher. Nur um das mal festzuhalten.“   Brunos Brustkorb hebt und senkt sich und ich erwarte fast, dass er gleich anfängt, mit den Hufen zu scharren. Dampf, der aus seinen Nasenlöchern kommt, wäre auch nicht schlecht. Dann wäre es eindrucksvoller, wenn ich ihm gleich die Luft ablasse.   „Aber ich habe es nicht dabei.“   Zu sagen, dass Bruno ein dummes Gesicht macht, wäre in diesem Moment reichlich untertrieben. Er starrt erst mich an, dann die Tüte, dann wieder mich. Es reicht nicht mal, um eine Frage zu formulieren. Er sieht einfach nur aus, als würde er die Welt nicht verstehen. Während er so dasteht und nichts tut, öffnet sich die Eingangstür erneut. Helle Stimmen deuten darauf hin, dass irgendwelche Unterstufler die Pause nutzen, um ihre Sextanerblasen auszuwringen. Sie binden für einen Moment Brunos Aufmerksamkeit, bevor sie wieder zu mir zurückkehrt. Im Hintergrund schwatzen die Kinder miteinander.   „Was soll das heißen?“, fragt er so leise, dass man es vermutlich dort vorne nicht verstehen kann. Dass hier jemand ist, haben die beiden Kiddies jedoch anscheinend schon mitgekriegt. Wieder sieht sich Bruno nach ihnen um. Dieses Mal zieht er eine Grimasse. „Was glotzt ihr so? Verpisst euch!“   „Verpiss du dich doch“, kommt glatt zurück, aber dann machen die beiden doch, dass sie rauskommen. Als er sich wieder zu mir herumdreht, ist sein Stresspegel merklich gestiegen. Er bettelt geradezu darum, auf irgendetwas einzuschlagen. Vorzugsweise mich. Das gilt es zu verhindern.   „Es liegt bei mir zu Hause und wartet darauf, gewaschen zu werden“, werfe ich deshalb schnell in den Raum. Bruno runzelt die Stirn noch ein bisschen mehr. „Du hast dich noch nicht darum gekümmert?“   Nein, hab ich nicht, du Blitzmerker.   „Tja, ich weiß nicht. Diese Woche war sooo viel los. Da muss es mir wohl entfallen sein.“   Mein leicht piksiger Tonfall und mein Gesicht, das in etwa so aussehen dürfte, als hätte ich in eine Zitrone gebissen, geben Bruno schließlich die entscheidenden Hinweise. Sofort senkt er den Blick und sieht plötzlich gar nicht mehr gefährlich aus. Eher unglücklich.   „Ich …“, beginnt er und schweigt dann. Auf ein 'Es tut mir leid' kann ich da wohl lange warten. Aber das ist mir auch egal. Ist ja nicht so, dass ich darauf angewiesen wäre.   „Aber natürlich werde ich mich an unsere Verabredung halten“, teile ich ihm hoheitsvoll mit, „Wenn der Preis stimmt.“   Jetzt hebt Bruno wieder den Kopf. Die Verwirrung ist zurückgekehrt und er stiert mich wieder wortlos an. So langsam frage ich mich, ob der Kerl eigentlich noch mehr Gesichtsausdrücke hat als „dumm“ oder „wütend“. Oh, halt. Jetzt kommt, glaube ich, so etwas wie „nachdenklich“ dazu.   „Was willst du?“, blafft er und kann damit nicht einmal einen halb blinden Chihuahua täuschen. Ich hab den Bär an den Eiern gepackt und kann ihn jetzt ganz genüsslich daran durch die Manege führen.   „Willst du Geld?“   Okay, vergiss es, Fabian. Er ist doch blöd.   Gottergeben rolle ich mit den Augen. „Nein, du Schwachmat. Ich hab selbst genug Kohle.“   Hab ich nicht, aber das ist jetzt gerade auch egal.   „Ich dachte da eher an etwas, das nur du mir geben kannst.“   Das wird er ja wohl hoffentlich schnallen.   Wieder denkt er nach. Mitten in seine Grübelei hinein klingelt es zur nächsten Stunde. So langsam müssen wir in die Gänge kommen, wenn das hier noch was werden soll.   „Ich weiß nicht, ob ich …“, druckst er herum. „Ob ich das hinkriege.“   Jetzt bin ich es, der kariert aus der Wäsche schaut. Bruno ist zwar nicht der Hellste, aber schließlich heißt es nicht umsonst „dumm fickt gut“. Außerdem hat er die Aufgabe, mich zu befriedigen, doch beim letzten Mal auch ganz gut bewältigt. Okay, ein großer Teil seines Erfolgs lag sicherlich daran, dass ich einfach viel zu lange nicht hatte, aber so dumm hat er sich ja nun auch nicht angestellt. Das darf er gern wiederholen. Aufmunternd hebe ich die Mundwinkel. „Ach, ich bin mir sicher, du schaffst das. Notfalls helfe ich dir eben ein bisschen auf die Sprünge.“   Ich grinse anzüglich und lecke mir ein ganz kleines bisschen über die Lippen. Klar werde ich mich nicht zu seinem Flittchen machen lassen, aber es ist ja nicht so, dass es mir nicht gefallen würde, mich ein bisschen näher mit so einem Prachtstück, wie Bruno es hat, zu beschäftigen. Bruno allerdings scheint den Gedanken ziemlich horrormäßig zu finden.   „Nein, ich … nein!“, wehrt er heftig ab. Himmel, er tut ja so, als würde ihm sein Schwanz abfallen, wenn ich ihn anfasse. Oder in den Mund nehme. Na schön, meinetwegen. Soll er sich doch selbst darum kümmern. Hauptsache, ich hab meinen Spaß. Draußen auf dem Gang hört man Schritte. Jemand hat es offenbar eilig in den Unterricht zu kommen. Bruno zuckt regelrecht zusammen. Meine Güte, ist der heute schreckhaft.   „Okay, ich mach’s“, stößt er hervor. Ich werfe innerlich die Faust in die Luft. Na also, geht doch.   „Wieder am Sonntag um die gleiche Zeit? Ich bring auch das Hemd mit.“   Bruno starrt mich an. Für einen Moment überlege ich, ob ich jetzt das System vollkommen überlastet habe. Er sieht aus, als hätte ihm jemand einen Schlag mit einem Hammer verpasst. Einem sehr schweren Hammer. Dann, es fängt bei den Ohren an, sieht man, wie ihm das Blut ins Gesicht sschießt. Es ist allerdings kein Wutrot, das dabei entsteht. Mehr so ein Blassrosa mit leichtem Abdriften ins Purpur an den Enden.   „Du meinst …?“ Gott, ist der dämlich. Ich muss echt an mich halten, um nicht mit den Augen zu rollen.   „Ja natürlich meine ich. Also was ist jetzt? Haben wir einen Deal?“   Bruno atmet. Und nickt. Natürlich nickt er, was soll er auch sonst machen? Außer mich natürlich verprügeln, bis ich sein Eigentum wieder herausrücke. Aber diese Option scheint auf wunderbare Weise aus seinem Gehirn verschwunden zu sein. Ist vermutlich nicht genug Platz da oben. Bevor er seine Meinung noch ändern kann, presse ich entschlossen die Lippen aufeinander. „Dann also am Sonntag. 16 Uhr. Und sei pünktlich.“ Das ich nicht vorhabe, es zu sein, muss ich ihm ja nicht verraten. Strafe muss schließlich sein.   Ich gehe an ihm vorbei, verfolgt von seinem verblüfften Schweigen. Der Triumph ist gnadenlos und weil ich gerade in so guter Stimmung bin, drehe ich mich an der vorderen Tür noch einmal am. „Ach und Bruno?“ Er steht immer noch da, wo ich ihn zurückgelassen habe, und rührt sich nicht von der Stelle. „Bring Kondome mit. Ich hab keine mehr in deiner Größe.“   Damit verlasse ich das Bad und kann mir ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Das lief ja nun wirklich wie geschmiert. Jetzt gilt es nur noch, das Hemd zu waschen, und dann heißt es endlich: Wiedersehen macht Freude. Kapitel 6: Bevor jemand verletzt wird ------------------------------------- „Michelle hat sich für eine Uni entschieden.“ Ich habe die Augen geschlossen und döse auf dem Bauch liegend vor mich hin. Um uns herum singen Vögel, Kinder lachen und kreischen vergnügt und von Ferne hört man das Platschen und Planschen aus dem großen Schwimmbecken. Alles hätte also ganz wunderbar friedlich sein können – friedlich und michellefrei! – wenn Pascal nicht ausgerechnet mit diesem Thema angefangen hätte. Oder mit irgendeinem Thema. Ich war fast eingeschlafen!   „Mhm“, mache ich unbestimmt und kneife die Augen fest zu. Wenn er denkt, dass ich schlafe, lässt er mich vielleicht in Ruhe. Ich hab mir doch keinen Nachmittag ohne seine blöde Matratze erkauft, indem ich gestern Abend einen 8-Stunden-Hobbit-Marathon mit ihm durchgezogen habe, nur um mich jetzt mit ihm über sie zu unterhalten. Nein, echt nicht. Kein Interesse.   „Sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme.“ In meinem Kopf ertönt das Geräusch einer Nadel, die quer über eine Vinylplatte rutscht. Äh, wie? Bitte WAS? Sein Ernst?   Ich bemühe mich, mich nicht zu bewegen, obwohl ich mich fühle, als hätte er mir gerade einen Eimer Eiswasser über den Rücken geschüttet. Meine Finger graben sich in den Stoff meines Handtuchs. Um uns herum singen immer noch Vögel, die Kinder spielen im Park, aber in diesem Moment kommt es mir vor, als würde sich die Welt an mir vorbeidrehen. Kann das blöde Karussell mal jemand anhalten? Ich will aussteigen.   Red weiter. Red verdammt nochmal weiter. Sag, dass du ihr gesagt hast, dass das nicht geht. Weil du mit MIR abhängen wirst. Du hast es versprochen.   „Ich hab mir das Programm mal angeguckt und da wäre sogar für dich was dabei. Kommunikationsmanagement zum Beispiel. Das ist auch nicht zulassungsbeschränkt.“   „Aha“, mache ich jetzt, um überhaupt mal irgendwas zu sagen. Ist ja nicht so, dass ich wüsste, was das ist, dieses Kommunikations-Dingens. Oder dass mich das interessieren würde. Vermutlich nicht.   „Und was willst du machen?“, frage ich, in der Hoffnung, dass er so eine langweilige Idee hat, dass ich sie ihm ausreden kann. „Weiß nicht. Vielleicht das Gleiche. Es gibt auch einige interessante Sachen in Richtung Digitalisierung. Das klang eigentlich ganz cool.“   Immer noch warte ich darauf, dass er mir sagt, dass das nur ein Witz war. Dass wir natürlich nach Hamburg oder Berlin gehen werden und da irgendwas Abgedrehtes wie Japanologie oder so studieren und dann als Mangaka groß rauskommen. Oder dass seine Eltern mich adoptieren und wir den Rest unseres Lebens damit verbringen, ihr Vermögen auszugeben. Mit Pizza und Videospielen und Partys ohne Ende. Letzteres ist natürlich Blödsinn, but a man can dream.   „Und wo?“, frage ich, obwohl ich es eigentlich schon weiß. Michelle hat letztens kundgetan, dass sie unbedingt Agrarbiologie studieren will und da es sie vermutlich weder in den hohen Norden, noch ins tiefste Bayern oder gar nach Ostdeutschland zieht, bleibt da nicht mehr viel übrig. „Na, wo wohl?“   Ich wusste es. Ich wusste es und ich hab damals schon gesagt, dass ich ihr dort viel Spaß wünsche. Mich kriegen dort auf jeden Fall keine zehn Pferde mehr hin. Am Ende laufe ich noch Jamie über den Weg oder sonst irgendwelchen alten Flammen. Danke, aber nein danke. Fabian has left the building und hat nicht vor, den Elvis zu geben.   Langsam drehe ich mich zu ihm herum. Pascal sitzt auf einem bunten Handtuch neben mir. Er trägt lediglich dunkelblaue Schwimmshorts und aus seinen dunklen Haaren rinnen immer noch einzelne Wassertropfen über seine gebräunte Haut. Spätestens in zwei Wochen wird er wieder aussehen, als wäre er nicht von hier. Wirklich beneidenswert. Einzig die blaugrünen Augen, die mich gerade fragend ansehen, passen nicht so ganz ins Bild. „Und? Was meinst du?“, scheinen sie zu fragen. „Machst du es? Für mich? Bitte-Bitte?“   Ich frage mich, wer ihm ausgerechnet diesen Blick beigebracht hat, und weiß, dass ich demjenigen jeden Morgen die Zähne putze. Manchmal ist es wirklich ein Fluch, so begabt zu sein.   „Ich überleg’s mir mal“, sage ich und meine es nicht so. Ich will mir das nicht überlegen. Ich will nicht mit Pascal und Michelle zusammen studieren. Ich will ihn für mich haben. Ganz für mich alleine.   Also doch eifersüchtig?, säuselt eine süffisante Stimme in meinem Hinterkopf, aber ich zeige ihr den Mittelfinger und sage ihr, dass sie sich verpissen soll. Ich weiß doch, dass ich bei ihm keine Chance hätte, und will es auch gar nicht. Er ist mein Freund. Mein bester Freund. Nichts weiter. Ich hab nicht mal nen Ständer gekriegt, als er sich vorhin neben mir umgezogen hat. Da ist nichts und da war auch nichts. Niemals.   Und es wird auch nie was werden.   Die Scheißstimme hat immer noch nicht aufgegeben. Man, haben sich denn heute alle gegen mich verschworen?   „Ich geh pinkeln“, verkünde ich daher und erhebe mich. Pascal bleibt auf unserem Lager am Rand der Wiese zurück und sieht mir nach. Ich weiß, dass er es tut, denn ich fühle seinen Blick in meinem Rücken. Und ich weiß, dass er will, dass ich nachgebe. Aber ich will nicht. Ich will einfach nicht.     Im Toilettengebäude ist es kalt und dunkel und riecht nach Chlor und nassen Papierhandtüchern. Wenigstens das ist mal eine Abwechslung. Ich gehe rein, betrachte einige Augenblicke lang den nassen Kachelboden, drehe mich um und stolziere wieder raus. Das Ganze war eh nur eine Ausrede, um das blöde Studienthema zu beenden. Am liebsten wäre ich ja nochmal mit Pascal ins Wasser gegangen. Einfach nur quatschen, lachen und Scheiße bauen. So wie immer. Aber so wie immer gibt es anscheinend nicht mehr. Dafür hat Michelle gesorgt. Und das Leben. Blöde Kuh!   „Na sieh mal einer an. Der Vogel ist auch hier.“   Och nö, ernsthaft? Die auch noch? Wie die Orgelpfeifen stehen sie da, nebeneinander aufgereiht, starren mich an und feixen. Paul, Jakob, Gregor und Gustav. Und natürlich Bruno, der sie alle bis auf Paul um fast einen ganzen Kopf überragt. Er ist der Einzige, der nicht starrt. Im Gegenteil. Er guckt überall anders hin und findet anscheinend selbst die plattgelatschten Pommes zu seinen Füßen interessanter als mich.   „Ich denk, wir woll’n schwimmen gehen“, brummt er missgelaunt und sieht immer noch nicht her.   Die fünf haben ihre Sachen noch unter dem Arm und sind offenbar gerade erst gekommen. Es reizt mich zu fragen, ob sie denn auch alle ihre Schwimmflügel dabei haben, aber ich lasse es. Ich hab keinen Bock den Rest des Tages unter Wasser zu verbringen. „Na los, kommt schon. Suchen wir uns nen Platz.“   Damit dreht Bruno sich um und lässt mich und die anderen Knalltüten einfach stehen. Verwundert sehen wir ihm nach, bevor Gustav als Erster mit den Achseln zuckt und ihrem großen Anführer zur Liegewiese nachtrabt. Nach ihm trollen sich auch Paul und Gregor in seine Richtung, nur Jakob muss mir anscheinend noch einen mitgeben.   „Verpiss dich von hier, Schwuchtel! Das ist unser Bad.“   Ich schiebe meinen Mundwinkel ein Stück nach oben, um ihm zu zeigen, dass mich das nicht die Bohne interessiert. „Na, wenn du meinst. Ich würd jedoch an eurer Stelle aufpassen. Im Babybecken hat vorhin jemand ein Häufchen gemacht. Nicht, dass du dich aus Versehen reinsetzt.“   Ich sehe noch, dass Jakob das Gesicht zur Faust ballt und mir seine Empörung vor die Füße spucken will, aber da habe ich mich schon umgedreht und ihn ebenso wie Bruno einfach stehenlassen. Mit Sicherheit werde ich nämlich nicht den Schwanz einziehen, auch wenn ich mich jetzt entschließe, auf der anderen Seite des Beckens wieder zu unserem Platz zurückzugehen. Man muss es ja nicht darauf anlegen. Als ich wieder bei Pascal ankomme, erzähle ich ihm von der Begegnung mit der Affenbande.   „Und dann hab ich gesagt, er soll aufpassen, dass er nicht im Planschbecken ersäuft“, schließe ich meine Schilderung, die vielleicht ein kleines bisschen ausgeschmückter war, als es eigentlich abgelaufen ist. Pascal lacht zwar kurz, wird dann jedoch gleich wieder ernst. „Das werde ich jedenfalls nicht vermissen“, meint er mit einem Seufzen und langt in seinen Rucksack, um dort irgendwas zu suchen. Eine Weile lang seh ich ihm dabei zu, bevor ich es doch nicht mehr aushalte. „Was wirst du nicht vermissen?“ Pascal schnaubt und kramt.   „Das mit dir und Bruno. Ich mein, wie lange hat der Frieden jetzt gehalten? Zwei Tage?“   Ohne darauf zu antworten, wende ich den Kopf ab und schaue in die Richtung, wo die anderen jetzt liegen müssen. Sehen kann ich sie nicht, weil die Hecke dazwischen ist, aber irgendwo dort müssen sie sein. Wahrscheinlich trommeln sie sich gerade mit den Fäusten auf der Brust herum und geben Brunftschreie von sich. Bei Bruno könnte ich mir das ziemlich gut vorstellen.   Die Frage ist nur, wen oder was er damit anlocken will.   „Eigentlich hat er ja gar nichts gemacht“, höre ich mich zu meiner Verwunderung sagen. „Also dieses Mal.“ Dieses Mal war es nur Jakob, der rumgestänkert hat. Eigentlich ist es irgendwie immer Jakob, der anfängt. Na ja, fast immer. Bruno ist mehr so der Mann fürs Grobe. Fürs sehr Grobe. Wenn er nicht gerade Sex mit mir hat, versteht sich.   Dabei war er eigentlich ganz sanft.   Die Erkenntnis ist ein bisschen merkwürdig, wo ich hier so sitze mit Pascal mitten im Freibad, aber irgendwie stimmt es schon. Beim Sex war Bruno sogar ziemlich plüschig.   Ich hab Bock auf morgen.   Ob es ihm wohl auch so geht? Oder bereut er, dass er sich darauf eingelassen hat? Und warum beschäftigt mich das eigentlich? Solange er macht, was er soll, kann es mir doch egal sein. Und so schlecht scheint es ihm ja nun auch nicht gefallen zu haben. Immerhin ist er gekommen. Das ist doch schon mal was.   „Haallooo, Erde an Fabian. Bist du noch da?“   Ich drehe den Kopf und sehe, dass Pascal mich mit hoch erhobenen Augenbrauen anschaut. Anscheinend hat er mich was gefragt und ich hab es nicht mitbekommen. „Wie meinen?“   Pascal verdreht die Augen und schüttelt den Kopf.   „Ob wir nochmal ins Wasser gehen, hab ich gefragt.“   Wasser? Ach so, ja. Wasser. Wir sind ja im Freibad. „Klar.“ Ich springe auf. „Wer als Letzter drin ist, ist ne lahme Ente.“   Damit laufe ich los und höre Pascals Protestgeschrei hinter mir, aber das kümmert mich nicht. Hauptsache es geht alles glatt mit morgen.       „Fabiaaan? Kommst du mal?“   Mit einem Stöhnen lasse ich mein Handy sinken und schließe die Augen. Ehrlich, Mutter, welchen Teil von „Ich muss noch für Geschichte lernen“ hast du eigentlich nicht verstanden? Gut, momentan gönne ich mir gerade eine kleine Pause – die dritte, um ehrlich zu sein – aber das kann sie nicht wissen. Schließlich ist die Tür zu. „Ja-ha!“, rufe ich in abgrundtief genervtem Tonfall zurück. Immerhin tue ich gerade etwas für die Schule oder gebe wenigstens vor, es zu tun. Da muss ich die Fassade aufrecht erhalten.   Mit mürrisch verzogenem Gesicht schlurfe ich in die Küche. Dort finde ich meine Mutter vor der Waschmaschine vor, in ihren Händen ein ziemlich großes, ziemlich gelb geflecktes Etwas. Ach du Scheiße!   „Ist das deins?“, fragt sie und hält Brunos Hemd höher. Natürlich ist klar erkennbar, dass das nicht meins ist. Das Hemd ist mir mindestens zwei, wenn nicht drei Nummern zu groß. Insofern ist die Frage eigentlich überflüssig. Zumal ich da eine viel bessere habe. „Ja, aber warum ist es noch dreckig?“   An dieser Stelle sei festgestellt, dass es natürlich nicht höflich ist, was ich da mache. Aber die nächste Frage meiner Mutter sollte deutlich machen, von wem ich diese Art wohl habe. „Das ist dein Hemd? Aber warum ist es so groß? Das ist ja eine … 45?!“   Eine was? Okay, whatever. Brunos Größe halt. Viel wichtiger als die Zahl auf dem Etikett ist doch jetzt wohl, dass es immer noch einen Fleck hat. Einen großen Fleck!   „Du hast gesagt, du wäschst es“, meckere ich daher einfach los, ohne weiter auf ihre Bedenken bezüglich irgendwelcher Maße einzugehen. „Das habe ich“, gibt meine Mutter pikiert zurück. „Aber wie du siehst … „   Sie betrachtet die Bescherung noch einmal von allen Seiten.   „Was ist das überhaupt?“   Die Frage erscheint mir jetzt, im Licht des späten Sonntagvormittags, durchaus gerechtfertigt, denn momentan sieht es so aus, als hätte da ein Elefant draufgepinkelt. Da es hierzulande aber nur höchst selten freilaufende Elefanten gibt und ich mich bestimmt nicht unter einen drunterlegen würde, wenn der gerade sein Geschäft verrichten will …   „Das ist Fruchtsaft“, erkläre ich schnell. Nicht, dass sie noch auf komische Ideen kommt. No Kink-Shaming intended.   „Ach, und wie ist der da draufgekommen?“ Man, die will heute aber auch echt alles wissen.   „Das ist ein Kostüm von der Theater-AG und wir haben bei der Probe rumgealbert. Da ist es passiert.“   Geschichten ausdenken? Kann ich.   „Du spielst Theater?“   Oder auch nicht.   „Nein, äh … nicht ich. Aber Pascal. Das ist sein Kostüm. Ich hab nur angeboten, dass ich es wasche, weil …. weil ich den Saft verschüttet habe.“ Die besten Lügen sind eben immer noch halbe Wahrheiten. „Mhm“, macht meine Mutter endlich halbwegs zufrieden. Die kann aber auch echt neugierig sein. „Ich glaube nicht, dass ich das einfach so rauskriege. Wie alt ist denn der Fleck?“   Ich schürze die Lippen und tue, als müsste ich nachdenken. „Ne Woche? Oder zwei?“   Ziemlich genau.   Meine Mutter guckt mich an und seufzt.   „Ach Fabian. So was muss man doch vorbehandeln und das möglichst sofort. Kein Wunder, dass das nicht rausgegangen ist. Du hättest mir Bescheid geben müssen.“ So, wie sie das sagt, klingt es, als müsste ich das wissen. Wobei es sein könnte, dass sie schon mal was in die Richtung erwähnt hat. Ich hatte da mal eine Phase, in der ich weiße Jeans getragen habe …   „Ja, okay“, antworte ich ein bisschen lahm. „Und kriegst du es trotzdem raus?“   Ich lege sehr viel Hoffnung, noch mehr Reue und eine Riesenportion bitte-bitte in meine Stimme. Noch einmal seufzt meine Mutter. „Ich versuch’s“, verspricht sie. „Am besten weiche ich es gleich mit Essig ein und dann schauen wir mal. Ist aber möglich, dass ich es trotzdem nochmal waschen muss.“   Ich nicke und lächle und mache ganz einen auf braver Sohn. In meinem Hinterstübchen rattert es jedoch bereits. Irgendwie werde ich das Bruno beibringen müssen und ich fürchte, er wird nicht erfreut sein.     Das gute Wetter hat gehalten und trotz einiger Wolken, die gegen Mittag aufgezogen sind, ist es jetzt wieder warm und sonnig. So sonnig, dass ich mich dazu entschlossen habe, mich nur mit meinem froschgrünen Lieblings-Poloshirt bekleidet auf den Weg zu machen. Also natürlich hab ich noch ne Hose und Schuhe und so an. Ich bin ja nicht wahnsinnig und wer weiß, wer das dann wieder filmen würde.   Während ich so durch den Wald latsche, gehe ich die Möglichkeiten durch, wie Bruno wohl reagieren könnte.   Erstens: Er rastet vollkommen aus und haut mir mit Schmackes und Anlauf eins aufs Maul. Möglich wäre es, aber irgendwie glaube ich nicht so recht daran. Immerhin hätte er dafür schon jede Menge Gelegenheiten gehabt und abgesehen davon hat er sich in letzter Zeit erstaunlich zurückgehalten. Man könnte sogar fast sagen, dass er mir ausgewichen ist. Rein körperlich wenigstens.   Zweitens: Bruno ist sauer, dass ich mich nicht an die Verabredung gehalten habe, und bläst das Ganze entweder ab oder verschiebt unser Treffen auf einen späteren Zeitpunkt, zu dem ich tatsächlich liefern kann.   Oder Drittens: Wir vögeln trotzdem.   Mit hoch gezogenen Augenbrauen, den Blick auf den Weg gerichtet, überlege ich, wie wahrscheinlich wohl Möglichkeit drei ist. Darauf vorbereitet habe ich mich jedenfalls und natürlich hoffe ich, dass es so kommt. Ich hab Bock auf Sex und wenn er mit Bruno passiert, ist mir das auch recht. Er bringt schließlich eine ziemlich gute Ausstattung mit und ich hätte wirklich nichts dagegen, mich nochmal von ihm beglücken zu lassen. Es fühlt sich gut an und es schadet ja niemandem. Warum also nicht?   Na vielleicht, weil er keinen Bock hat.   Die nervige Stimme ist wieder zurück und anscheinend möchte sie mit mir über Bruno reden. Vielleicht über unsere Begegnung im Schwimmbad. Die zweite, die natürlich nicht ausgeblieben ist, weil wir uns immerhin in Hintertupfingen befinden und nicht in Sharm-el-Sheikh. Es war also klar, dass sich unsere Wege irgendwann kreuzen würden. Im Schatten des Sprungsturms standen wir plötzlich voreinander; beide nur in Badehose, ich trocken, er nass, weil er gerade erst aus dem Wasser geklettert war. Irgendwie hatte ich wohl erwartet, dass er in diesem Moment hingucken würde. Dass sein Blick langsam an meinem Körper entlanggleiten und ihm dabei die Spucke wegbleiben würde. Ein Aufglühen seines Blickes, ein trockenes Schlucken oder wenigstens einen Anflug von Röte auf seinen Wangen, bevor er mich ins nächste Gebüsch zieht und wir gleich dort und auf der Stelle übereinander herfallen. Stattdessen hat er mich einfach zur Seite gedrängt und ist, ohne mit der Wimper zu zucken, in Richtung Sprungturmtreppe davon gelatscht. Ich hab ihm nachgesehen und mich echt gefragt, ob ich gerade im falschen Film bin. Es war, als wären wir uns nie begegnet. Fast schon gruselig. Deswegen bin ich mir auch so überhaupt nicht sicher, ob er heute auftauchen wird.   Die Hütte kommt in Sichtweite und ich sehe schon von Weitem, dass die Tür offensteht. Er ist also gekommen. Entweder das oder sein Vater hat beschlossen, einen spontanen Jagdausflug zu machen. Was wenig wahrscheinlich ist, weil gerade Schonzeit ist. Ja~ha, ich weiß das, ich hab es gegoogelt. Insofern liegt es nahe, dass es tatsächlich Bruno ist, den ich im Inneren herumwerkeln höre, als ich näherkomme. Mit einem letzten tiefen Atemzug trete ich auf die kleine Veranda und klopfe an den Türrahmen. „Hallo?“, frage ich und mag nicht, wie unsicher ich dabei klinge. Es kann doch nur Bruno sein, verdammt nochmal. Kein Grund, sich in die Hose zu machen.   Schon wird die Tür aufgerissen und Bruno glotzt mich an. Für einen Moment sagt keiner von uns was und es ist, als hätte jemand die Zeit angehalten. Fehlt nur noch, dass ein undeutlicher Schatten um uns herumflitzt und Dinge im Raum um Millimeter verschiebt, damit wir nicht davon getroffen werden, wenn die Welt sich wieder normal weiterdreht. Zu meiner Schande ist es dann auch noch Bruno, der sich als Erster wieder fängt. „Du bist früh dran“, meint er und hat damit nicht mal unrecht. Also natürlich ist es schon nach vier, aber er scheint trotzdem noch nicht mit mir gerechnet zu haben. Ich eigentlich auch nicht, aber ich hab mir gedacht, wo ich das Hemd schon nicht mithabe …   „Ich hab dein Hemd nicht mit.“   Oh wow, Fabian. Sehr eloquent. Fantastische Wortwahl. Ein echtes Meisterstück! Und gleich mit der Tür ins Haus. Warum auch nicht? Immerhin hast du so eine bessere Chance wegzulaufen, falls er sich einen Pullover aus deinen Innereien stricken will.   „Es hängt noch auf der Leine, weil meine Mutter es erst heute gewaschen hat. Ich bring es dir morgen in die Schule mit.“   Wenn der Fleck bis dahin weg ist, füge ich in Gedanken hinzu. Immerhin muss ich noch hoffen, dass die Sonne den Rest erledigt, den das Waschpulver nicht geschafft hat. Sagen tue ich es nicht mehr, weil ich das Gefühl habe, dass Bruno.exe gerade kaputt gegangen ist. Jedenfalls regt sich in seinem Gesicht kein einziger Muskel und es wirkt ein bisschen, als hätte auch sein Gehirn die Tätigkeit eingestellt. Oh, halt, Moment. Er hat geblinzelt. „Du hast das Hemd nicht mit?“, fragte er noch einmal nach. Vermutlich will er sichergehen, dass er mich nicht einfach nur aus Versehen umbringt.   Ich versuche ein schiefes Grinsen. „Ja, tut mir leid. Meine Mum hat es nicht so mit dem Kochen und Waschen und so. Und Granatapfelsaft ist wohl ziemlich hartnäckig.“ Während ich noch grinse, scheint ein neuer Gedankengang in Brunos Kopf stattzufinden. Wenigstens huschen seine Augen ganz kurz in Richtung Hütteninneres, bevor sie sich wieder an mich heften. „Und jetzt?“   Fragte er das wirklich gerade mich? „Tja, weiß nicht“, gebe ich mit immer noch halb erhobenen Mundwinkeln zurück. „Wir könnten trotzdem ficken.“ Eventuell hilft es ja, wenn ich ihm alle anderen Täfelchen wegnehme und nur noch das übrig lasse, auf dem steht, was ich gerne hätte. Bruno scheint über die Möglichkeit nachzudenken.   Na komm schon, dazu muss man nicht Einstein sein. Sag einfach Ja und wir können Spaß haben.   „Okay.“   Na gut, besonders enthusiastisch war das jetzt nicht, aber ich kann damit arbeiten. „Lässt du mich dann auch rein?“ Während ich das frage, schiebe ich die Lippen ein ganz kleines bisschen nach vorne. Es ist kein richtiger Schmollmund, allenfalls ein wenig kokett. Trotzdem sieht Bruno es wohl, denn er wirkt mit einem Mal wieder nervös. Seine Hand schließt sich stärker um den Türgriff und sein Blick fällt nach unten, bevor er mit einem Ruck zur Seite tritt und den Weg freimacht. Ich schenke ihm ein kleines Lächeln und trete ein. Drinnen hat immer noch alles Holzfällercharme. Dieses Mal hat Bruno die Vorhänge allerdings schon zugezogen und auf der Bank liegen eine Sporttasche und eine Wolldecke bereit. Eine merkwürdige Zusammenstellung, wenn man die draußen herrschenden Temperaturen bedenkt.   „Wofür ist die?“, frage ich deshalb, während Bruno die Tür abschließt und danach ein Stück hinter mir stehenbleibt. „Na ja, ich … ich hab gedacht, das ist ein bisschen bequemer. Für dich.“   Ich muss nicht hinsehen um zu wissen, dass seine Ohren schon wieder glühen wie entzündete Himbeeren. Er zappelt, weiß anscheinend nicht wohin mit seinen Händen und schwankt zwischen Loslegen und Davonlaufen. Wenn es nicht Bruno wäre, von dem wir hier reden, würde ich das vielleicht sogar ganz süß finden. Er ist so besorgt um mich.   „Ah“, mache ich, um ihn aus seiner Lage zu befreien. Wir wollen ja nicht, dass er gleich vor lauter Nervosität Schwierigkeiten hat, einen hochzukriegen. „Ja. Na ja, weil … der Tisch ist ja kalt und so. Aber wir können sie auch auf den Boden oder … wohin du willst.“   Jetzt gucke ich ihn doch an. Einfach, weil ich weiß, dass ihn das vermutlich vollkommen aus der Fassung bringt. Und das macht mir Spaß, muss ich ja zugeben.   „Das ist nett von dir.“   Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihm zu sagen, dass ich keine Pussy bin, aber wo er mich jetzt so treuherzig ansieht, komme ich mir dabei ein bisschen vor, als würde ich einen dieser triefäugigen Lawinenhunde treten wollen. Die Viecher können ja schließlich nichts für ihr Aussehen. Und sie meinen es ja gut.   „Dann äh … wohin?“, stottert Bruno weiter und weicht meinem Blick schon wieder aus.   „Auf den Tisch. Danke.“   Ich sehe Bruno dabei zu, wie er sich die Decke schnappt und auf dem Tisch zurechtlegt. Eigentlich war das, was ich gesagt habe, nicht mal gelogen. Es ist wirklich nett von ihm, dass er sich darüber Gedanken gemacht hat, auch wenn ich bezweifle, dass das mit der Decke hinhauen wird. So wie ich es einschätze, wird die garantiert hin und her rutschen wie ein frisch lackierter Schweinebauch.   Aber vielleicht könnte das auch ganz reizvoll sein, denke ich, während ich mir ein paar nette Stellungen vorstelle, in denen man diese Tatsache nutzen könnte. Mhmmm, gar nicht übel. Wenn ich dann noch die Knie …   „Fertig“, verkündet Bruno in diesem Moment jedoch und guckt, als hätte er für zwei gedeckt. So mit Silberbesteck, Platztellern und einer roten Rose in einer hohen, weißen Porzellanvase. Fehlt nur noch der Kellner, der uns die Weinkarte präsentiert und zu einem Chardonnay rät. Ich lach mich kringelig.   „Schön“, entgegne ich mit einem Grinsen. „Können wir dann ficken?“   Bruno nickt. Und dreht sich um. Eigentlich würde ich ja zu gerne wissen, was ihm gerade so durch den Kopf geht. Vermutlich nicht viel. Meine Gedankengänge werden jedenfalls zunehmend eingleisiger, während ich neben ihn trete und meinen Rucksack ebenfalls auf die Bank befördere. Ein Reißverschlussöffnen und einen gezielten Griff später, habe ich die Tube mit dem Gleitgel in der Hand. Was zugegebenermaßen kein Kunststück ist. Immerhin ist außer ihr und meinem Handy nichts viel weiter darin. „Hast du die Kondome?“   Wieder nickt Bruno, greift in die Tasche und zieht ein neues Päckchen heraus. Es ist ne andere Marke als die, die ich hatte. Sehen irgendwie edler aus. Ich muss schon wieder grinsen. „In Unkosten gestürzt?“, frage ich und Bruno hebt tatsächlich kurz den Blick, bevor er den Kopf wieder senkt und ihn schüttelt. „Nein, die … die hatte ich noch.“   Uh, okay, er hat also wirklich schon. Oder er wollte wenigstens, denn die Packung ist, wie mir ein schneller Blick verrät, noch original verschlossen.   Tja, bleibt mehr für mich, denke ich, bevor ich Hand anlege, um mich aus meinen Klamotten zu befreien.   Auch Bruno zieht sich aus. Dieses Mal langsamer und deutlich gefasster als beim ersten Mal. Ab und an wirft er einen Seitenblick zu mir, als wolle er sehen, wie weit ich bin. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken und streife mir einfach weiter Stück für Stück meine Kleidung vom Leib, bis ich am Ende vollkommen nackt bin. Er hat noch seine Boxershorts an und ich verkneife mir, „Erster!“ zu rufen. „Das Beste kommt immer zum Schluss“, sage ich stattdessen und schenke der Region zwischen seinen Beinen noch einen laaaaangen Blick, bevor ich mir meine Tube schnappe und hinter ihm rum zum Tisch gehe. Blauer, flauschiger Stoff erwartet mich. Ist allerdings nur Polyester, wie mir ein schneller Griff verrät. Währenddessen packt Bruno die Preiszucchini aus. Ich spüre quasi den Hauch von nacktem, erregtem Fleisch hinter mir. Unwillkürlich lecke ich mir über die Lippen. Das wird so verdammt gut werden.   Als ich jedoch den Deckel des Gleitgels öffne, höre ich hinter mir ein Räuspern. „Soll ich dir helfen?“   Ich stoppe, die erste Portion schon auf meinen Fingern. Ein großer, durchsichtiger Batzen, der nur darauf wartet, auf und in mir verschmiert zu werden. Und jetzt will Bruno mir dabei helfen? Ich schnaube belustigt. „Kannst du das denn?“, frage ich und weiß, dass das ein bisschen fies ist. Es hat ihn vermutlich schon einiges an Überwindung gekostet, mich überhaupt zu fragen. „Nein, aber … ich könnte es lernen, oder? Du bringst es mir bei.“   Klar. Ich bring dir bei, wie man einen Bottom gescheit auf Sex vorbereitet. Der Gedanke ist so absurd, aber andererseits … warum eigentlich nicht? „Am einfachsten lernt man es, wenn man sich selbst mal ficken lässt“, werfe ich ihm mit Genuss an den Kopf und sehe aus den Augenwinkeln, wie er ein bisschen blass um die Nase wird. „Das, also … so habe ich das nicht gemeint.“   Ich grinse mir eins. „Okay, dann muss ich es dir wohl erklären. Obwohl du doch letztes Mal ziemlich genau hingesehen hast.“   Binnen Sekunden wechselt Brunos Gesichtsfarbe von Kalkleiste zu Tomatensoße. Sogar die Zucchini erhält einen kleinen Knick. Na, das wollen wir ja nun wirklich nicht riskieren. „Gib mir deine Hand“, fordere ich ihn auf. „Ich zeig dir, was du machen musst.“   Tatsächlich tritt Bruno noch einen Schritt näher. Er ist jetzt so nahe, dass ich ihn berühren könnte und für einen Moment bin ich versucht, ihm doch einfach praktisch vorzuführen, wie sich das mit dem Vorbereiten anfühlt. Aber dann entscheide ich mich dagegen. Nicht, dass die Zucchini noch mehr zusammenschrumpelt. „Das Wichtigste ist erst mal, dass deine Fingernägel möglichst kurz sind. Und sauber natürlich. Wenn der andere vorher geputzt hat, willst du ja nicht gleich wieder Dreck reinschleppen. Der Rest ist individuell. Nicht jedem gefällt alles. Du wirst ausprobieren müssen, was gut ist und was nicht.“   Bruno sieht aus, als hätte ich ihn gerade aufgefordert, eine Hexadezimal-Gleichung mit 13 Unbekannten zu lösen. Immerhin war meine Erklärung hinreichend unpräzise. „Und was magst du?“, fragte er mich dann auf einmal und wagt es tatsächlich, mich anzuschauen. Er sieht aus, als würde er es ernst meinen.   „Warum findest du das nicht raus?“, erwidere ich jedoch nur mit meinem Grinsen und drehe mich um. Klar könnten wir jetzt auch einfach nur Sex haben, aber wenn er drauf besteht, noch Vorspiel zu machen …   Immer noch feixend lehne ich mich über den Tisch und strecke Bruno meinen Hintern entgegen. Die Decke unter mir ist tatsächlich flauschig genug, um bequem zu sein. Unwillkürlich schließe ich meine Augen, und entspanne mich. Wenigstens so lange, bis Bruno mir das kalte Gel direkt auf den Eingang tropft. „Hey“, rufe ich, jedoch ohne die Augen zu öffnen. „Vorwärmen nächstes Mal.“ „Ja. Ist gut.“   Bruno schnauft. Er hat bereits begonnen, das glitschige Zeug zu verteilen. Vor und zurück gleiten seine Finger. Wenn er so weitermacht, tropft die ganze Soße gleich auf den Boden. Ich beschließe zu intervenieren.   „Konzentration, Herr Spaich. Da ist ein Loch, da wollen Sie rein.“ Bruno zuckt hinter mir zusammen, aber ich kann hören, wie er grinst. „Wird gemacht“, bestätigt er mein Kommando und fängt tatsächlich an, seinen Finger in meinen Schließmuskel zu bohren. Oh man, doch nicht so. „Mit Gefühl“, herrsche ich ihn an und erreiche damit immerhin, dass er den stümperhaften Versuch aufgibt. Man sollte echt denken, dass er sich noch nie mit einem Anus beschäftigt hat. Was vermutlich stimmt, wenn ich die Umstände bedenke. „Am besten, ich mache es selber.“ „Nein!“   Bruno klingt regelrecht verzweifelt. „Nein, bitte. Ich krieg das hin.“   Ich seufze und verdrehe innerlich die Augen. Eigentlich sollte ich mir wohl zu schade dafür sein, hier als sein Versuchsobjekt herzuhalten. Zumindest, wenn er sich dabei so dämlich anstellt. Aber andererseits bin ich ihm wohl noch ein bisschen was schuldig wegen des Hemdes. Also ergebe ich mich in mein Schicksal und beschließe, das Ganze zu genießen. Irgendwie.   Bruno zögert jetzt merklich hinter mir. Dann jedoch, als ich schon überlege, das Ganze abzubrechen, tritt er wieder näher an mich heran. Seine Hand landet auf meinem Hintern und fängt an, ihn leicht zu massieren. Erst die eine, dann die andere Backe. Das fühlt sich gar nicht mal schlecht an, auch wenn ich ihm zu gerne sagen würde, dass das eigentliche Ziel dazwischen liegt. Dementsprechend seufze ich leise, als seine Finger endlich in die Rille gleiten. Sie halten jedoch nicht am anvisierten Zielpunkt an, sondern fahren tiefer und tiefer, bis sie bei meinen Eiern ankommen. Dort greifen sie zu und zwar so kräftig, dass es sich tatsächlich gut anfühlt. Selbiges gilt für den Moment, als sich seine Finger um meinen Schwanz legen. Unwillkürlich spreize ich die Beine noch ein wenig weiter und strecke meinen Rücken durch. Oh ja, das ist gut. Ziemlich gut sogar.   „Mhmmm“, mache ich und merke kaum, dass sich seine zweite Hand jetzt tatsächlich an meinem Eingang zu schaffen macht. Er reibt und drückt und schiebt und wichst mich dabei so meisterhaft, dass ich glatt hier und jetzt kommen könnte. Es würde sicher nicht lange dauern. „Wenn du so weitermachst, wird das aber ein kurzes Vergnügen“, weise ich Bruno dementsprechend darauf hin, dass er seine Sache gerade etwas zu gut macht. Sofort lässt er mich los. Ich kann hören, wie er atmet. „Soll ich aufhören?“   Ich grinse, weil klar erkennbar ist, wie sehr ihn das Ganze angemacht hat. Wenn ich es verlangen würde, würde er vermutlich sogar Männchen machen. „Nein, du sollst endlich anfangen“, entgegne ich süffisant grinsend und strecke ihm meinen Hintern noch ein wenig mehr entgegen. „Steck ihn rein.“   Was folgt, ist das typische nervöse Gefummel, das er letztes Mal schon abgezogen hat. Kondompackungen können wirklich die Hölle sein. Vor allem mit glitschigen Fingern. Kurz darauf spüre ich das vertraute Gewicht und den Druck an meinem Eingang. „Na los, Bruno“, fordere ich noch einmal. „Steck ihn rein.“   Und er tut es. Und es ist geil, wie beim ersten Mal. Auch wenn meine Beine am Ende schon anfangen zu zittern und ich mir sicher bin, jeden Moment zusammenbrechen zu müssen, ist es doch unheimlich gut und ich komme. Gefühlt gleich mehrmals. Er hat mich vollkommen geschafft. Scheiße ja!     Langsam richte ich mich auf. Bruno steht mit dem Rücken zu mir und zieht gerade das Kondom ab. Wenn man ihn sich so ansieht, ist es fast schade, dass er wohl nur aktiv machen wird. Bei dem Hintern könnte ich mir glatt überlegen, ihn mal zu ficken. So ganz unverbindlich natürlich.   Bruno, der meinen Blick anscheinend bemerkt hat, hebt den Kopf. Ein kleines Lächeln erscheint an seinen Mundwinkeln, auch wenn er sich wohl nicht so recht traut. Dabei stände ihm eigentlich ein Siegergrinsen zu. Ja, Junge, du hast es geschafft. Eins mit Auszeichnung und Sternchen. Urkunde gibt es hinten links und bitte jeder nur ein Kreuz. Ich nicke ihm nochmal zu, greife nach meinem Rucksack und nestele die Packung Taschentücher heraus, an die ich dieses Mal gedacht habe. Noch bevor ich jedoch eins rausgezogen habe, steht Bruno plötzlich neben mir. „Willst du ein Handtuch?“   Ich gucke zu ihm hoch und entdecke einen Hauch von Unentschlossenheit mit einer guten Portion Nervosität. Woher kommt das denn jetzt? „Öhm … klar. Warum nicht?“, antworte ich, denn immerhin wäre das wirklich praktischer. Bruno nickt und holt ein Gästehandtuch aus seiner Sporttasche. Mit gesenktem Blick reicht er es mir. „Kannst dich austoben. Ich hab noch eins.“ Damit wendet er sich wieder ab und zieht tatsächlich noch ein zweites Tüchlein aus seiner Tasche. Himmel, was ist der? Zauberkünstler?   Ich bediene mich reichlich an Wasserhahn und Handtuch. Während ich anschließend jedoch noch überlege, ob ich das jetzt wohl auch waschen müsste – was soll das werden? Verfrachtet der langsam aber sicher seinen gesamten Hausstand in unsere Wohnung? – überrascht mich Bruno schon mit dem nächsten Angebot. „Auch was zu trinken?“, fragt er und hält mir eine Flasche hin. Drinnen ist laut Etikett irgendein isotonischer Hastenichtgesehen. Ganz Sportler, unser Bruno. „Klar, warum nicht?“, sage ich wieder und nehme die Flasche entgegen. Ich nehme einen Schluck und lasse mich dann, immer noch nackt, neben Bruno auf die Bank sinken. Er hat inzwischen schon wieder seine Shorts an, macht jedoch keine Anstalten, sich weiter anzuziehen. Stattdessen spielt er mit dem Flaschendeckel herum, als würde ihm irgendetwas auf der Seele brennen. Aber noch bevor ich beschlossen habe, ob mich das überhaupt interessiert, hat Bruno schon wieder das Wort ergriffen. „Ich hab nachgedacht“, eröffnet er mir und ich ziehe besorgt die Augenbrauen nach oben. Wenn er schon so anfängt …   „Wegen Donnerstag. Weil ich doch erst gedacht hab, dass du … Und vielleicht könnte ich ja wirklich … Nicht, dass du dann enttäuscht bist … Aber wenn du darauf bestehst, dann … “   Ääääh, Moment, halt mal, Stopp. Sätze beenden? Kontext? „Wovon redest du?“   Bruno schreckt von der Betrachtung des kleinen Plastikteils hoch und starrt mich an.   „Von Gregor“, sagt er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Wenn ich gewusst hätte dass er das gefilmt hat, hätte ich ihm gleich gesagt, dass er den Scheiß lassen soll.“   Also wenn ich ne Animefigur wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich gerade nervöses Augenzucken bekommen. Daran hat er gedacht, als ich ihm ein eindeutig zweideutiges Angebot gemacht habe? Und warum hab ich nicht daran gedacht?   Darauf verweigere ich die Aussage.   Die kleine hämische Stimme grinst sich eins und hält stattdessen ein Bild hoch, auf dem Brunos Schwanz abgebildet ist. Jaja, schon klar. Botschaft angekommen. Das löst aber nicht mein Problem, dass Bruno hier gerade einen auf reumütig macht. Als wenn das jetzt noch irgendwas ändern würde. Wenn er einen Arsch in der Hose hätte, hätte er gleich was dagegen unternommen.   Du weißt doch, dass er das nicht hat.   Ich unterdrücke ein Seufzen. Natürlich weiß ich, dass er das nicht hat. Sonst würde er wohl einfach dazu stehen, dass er auf Schwänze steht. Denn dass er das tut, darüber müssen wir uns wohl nicht unterhalten. Ich weiß es und er weiß es auch. Irgendwo tief in sich drin, weiß er es. Aber zugeben? No way. Lieber würde er mich öffentlich verprügeln als zuzugeben, dass er mich fickt. Und ich kann ihm das nicht mal wirklich verübeln. Doch, kann ich. Weil ich nämlich derjenige bin, der die ganze Scheiße abbekommt, nur weil er zu feige ist. Was meint der denn, wie es ist, immer der Buhmann zu sein? Das ist nämlich ziemlich zum Kotzen. „Tja, Shit happens“, sage ich deswegen nur und versuche so zu tun, als wenn mir das egal wäre. Neben mir rutscht Bruno auf der Bank herum. Mir ist klar, dass er gerne noch irgendwas sagen würde, aber ich hab keinen Bock mehr auf seine Entschuldigungen. Am Ende kommt er noch damit um die Ecke, dass er mich immer nur dumm angemacht hat, damit keiner merkt, dass er eigentlich auf mich steht, oder irgend so ein Scheiß. Danke, aber nein danke. Ich verzichte.   „Ich werd dann mal“, sage ich und erhebe mich. Meine Klamotten sind schnell zusammengesucht und noch schneller angezogen. Bevor ich jedoch verschwinden kann, schiebt Bruno sich in meinen Weg. Er sieht geknickt aus. „Es tut mir wirklich leid,“ sagt er noch einmal. „Ich mach’s wieder gut, ja?“   Sein Versprechen entlockt mir ein Schnauben. Wiedergutmachen? Wie denn? Will er mir Blümchen kaufen? Oder ne Entschuldigungskarte? „Ich sorge dafür, dass die anderen dich in Ruhe lassen.“ Wie er da so steht und mich anguckt wie ein großer, treudoofer Hütehund, merke ich, wie mein Widerstand anfängt zu bröckeln. Das kann nicht klappen. Das wird nicht klappen. Aber irgendwie … „Und wie willst du das anstellen?“ Die Frage wird ja wohl noch erlaubt sein. Immerhin wird er ihnen wohl kaum erzählen, dass wir neuerdings Fuckbuddies sind. Bruno senkt den Kopf.   „Ich werd einfach sagen, dass ich keinen Stress mehr will so kurz vor dem Abschluss. Oder dass mein Trainer mir Druck macht. Dass ich mir keinen Fehltritt mehr leisten kann, weil ich sonst rausfliege.“   Vorsichtig hebt er den Blick, als wolle er nachsehen, ob ich damit einverstanden bin. Und ich? Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Keinen Ärger mehr mit den Spacken zu haben, wäre wirklich cool. Aber die Begründung? Irgendwas in meinem Magen krampft sich zusammen. Ich will das nicht. Nicht so.   Reiß dich zusammen, Fabian. Nimm, was du kriegen kannst, und gib nichts wieder zurück.   „Okay“, mache ich deswegen und schiebe einen entschlossenen Ausdruck auf mein Gesicht. „Aber ich will das volle Programm. Kein Getuschel, keine Gerüchte und vor allem kein Geschubse und kein Rumgenerve mehr. Wenn ich auch nur eine Schwanzspitze von den Losern zu sehen bekomme, hat sich das Ganze erledigt. Hab ich mich da klar ausgedrückt?“   Bruno sieht aus, als hätte ich ihm in die Eier getreten. Gleichzeitig aber auch irgendwie … glücklich? Oh Himmel, er steht hoffentlich nicht auf so was? Das ist nämlich nicht meine Baustelle. Nein, wirklich nicht.   „Klar,“ stößt er hervor und irgendwie warte ich fast darauf, dass er anfängt mit dem Schwanz zu wedeln. Was zugegebenermaßen echt abgefuckt wäre. Allerdings scheint er noch nicht fertig zu sein. „Da wäre noch was.“   Er schluckt, bevor er weiterredet.   „Du sagst doch niemandem was hiervon, oder?“   Für einen Moment bin ich versucht zu antworten, dass ich das nicht versprechen kann. Ich sollte nämlich dringend mal einen Psychologen aufsuchen, wenn mir was an meinem Seelenheil liegt. Oder einen Priester. Oder wenigstens Pascal in die ganze Sache einweihen, denn meinen besten Freund dauernd darüber belügen zu müssen, was ich am Wochenende so treibe, ist garantiert nicht gut fürs Karma. Zumal er mich zu gut kennt, um mir auf Dauer abzunehmen, dass ich sonntagnachmittags für die Schule lerne. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis er was spitz kriegt. Außerdem wäre es durchaus gerecht, wenn Bruno mal am eigenen Leib erfahren würde, wie das ist, wenn alle mit dem Finger auf einen zeigen.   Aber andererseits …   Ich schüttele leicht den Kopf. Natürlich werd ich keinem was sagen. Manchmal kann ich zwar ein Arschloch sein, aber so ein Arschloch bin ich ja nun auch wieder nicht. Auch wenn ich es ihm wirklich gönnen würde. Nur mal für einen Tag. „Na gut, dann … bis morgen?“   Selbst Bruno scheint klar zu sein, dass das hier mit uns absolut schräg ist.   „Ja, bis morgen“, sage ich jedoch nur und beschließe insgeheim, dass es höchste Zeit ist, das hier ein für alle Mal zu beenden. Bevor jemand verletzt wird. Kapitel 7: Alles nur Zufall --------------------------- Ich bin am Arsch.   Fassungslos starre ich das schlappe Stück Stoff in meinen Fingern an und kann es einfach nicht glauben. Das ist doch nicht sauber?! Also klar, wenn ich sämtliche Zimmertüren schließe, mich mit Sonnenbrille vor den Flurspiegel stelle und dazu noch „La Paloma“ singe, dann könnte man mir Brunos Hemd vielleicht als anziehbar durchgehen lassen. Aber so? Bei normaler Beleuchtung? Never ever.   „Mama!“, brülle ich und erwäge doch tatsächlich, ins Wohnzimmer zu stürmen, um ihr dieses Desaster wutschnaubend unter die Nase zu halten. Sie hat gesagt, sie wäscht es. Und jetzt?   „Was denn?“, schreit sie zurück. Ja gut, ihr Schreibtisch liegt nur wenige Meter entfernt hinter der Wohnzimmertür und ich könnte auch hingehen, aber hier geht es ums Prinzip. Und aus Prinzip bewege ich mich keinen Millimeter. „Das Hemd! Es ist immer noch dreckig“, brülle ich zurück. Wahrscheinlich klopft gleich wieder irgendwer von unten gegen die Decke, aber das ist mir egal. Ich fordere Gerechtigkeit, ein sauberes Hemd und meinen eigenen Netflix-Account! „Dann steck es nochmal in die Waschmaschine.“   Ja, hallo? Geht’s noch? Die Wäsche ist ihr Aufgabengebiet und auch wenn sie mich irgendwann mal in die Funktionsweise der ungefähr eine Million Knöpfe eingewiesen hat, wissen wir doch beide, wie es ausgeht, wenn ich die Wäsche mache. Strategisch eingesetzte Inkompetenz kann Leben retten. Vor allem meines. „Kann ich nicht“, rufe ich daher zurück und sehe den resignierten Gesichtsausdruck meiner Mutter quasi schon vor mir. Und tatsächlich kommt sie kurz darauf in die Küche. Allerdings bleibt sie in der Tür stehen, was kein gutes Zeichen ist. „Dann hättest du eben besser aufpassen sollen“, wettert sie unvermittelt los. Blitze schießen dabei aus ihren Augen und ich überlege ernsthaft, ob schon wieder „solche Tage“ sind. Auch wenn ich das eigentlich gar nicht wissen will. Too much information und so. Und überhaupt: Meint sie jetzt das mit dem Kleckern oder die Bedienung des rotierenden Haushaltsgerätes? Für eine Anwältin kann sie sich überraschend unklar ausdrücken. Aufgrund ihres Gesichtsausdrucks nehme ich jedoch davon Abstand, sie auf diese Tatsache hinzuweisen. Ich meine, wenn ich schnell bin, kann ich zwar vielleicht noch in den Flur flüchten und die Tür hinter mir zuwerfen, aber so, wie sie gerade guckt, ist eine Szene wie in „Shining“ nicht unbedingt unwahrscheinlich. Ich kann nur hoffen, dass wir keine Axt im Haus haben.   „Es war nicht meine Schuld“, gebe ich ziemlich jaulig und reichlich defensiv zurück. Passt immerhin auf beides. Schließlich hätte sie wissen müssen, dass ich und eine Waschmaschine absolut inkompatibel sind. Und für die Sache mit dem Hemd kann ich ja nun wirklich nichts.   „Ja ja, es ist ja nie deine Schuld“, knurrt sie und seufzt im nächsten Augenblick. „Tut mir leid, aber ich habe gerade echt keine Zeit, mich darum zu kümmern. Herr Häberle soll in ein Pflegeheim verlegt werden und es gibt noch ungefähr tausend ungelöster Probleme diesbezüglich. Unter anderem, dass er sich weigert, in so einer – ich zitiere – Aufbewahrungsanstalt für Tattergreise untergebracht zu werden. Eine Pflege zu Hause lehnt er ebenfalls ab. Wenn es nach ihm ginge, würde er einfach wieder nach Hause humpeln und dort alleine vor sich hin krebsen. Eine rechtliche Betreuung steht zwar noch nicht im Raum, aber wenn er so weitermacht …“   Meine Mutter seufzt erneut und reibt sich mit der Hand über die Augen. Vermutlich brennen sie, weil sie auch gestern noch bis spät abends gearbeitet hat. Herr Häberle ist schließlich nicht ihr einziger Mandant und wenn er sie den ganzen Tag durch die Gegend scheucht, muss sie abends das Versäumte nachholen. So ein ganz kleines bisschen tut sie mir ja auch leid. Aber nur ein bisschen.   „Und was soll ich Pascal jetzt sagen?“, versuche ich daher noch einmal an ihr mütterliches Gewissen zu appellieren. Immerhin bin ich immer noch ihr Sohn und sie hat auch die Pflicht, mich zu unterstützen. „Kann er nicht einfach ein anderes Hemd nehmen?“   Okay, der Fairness halber muss ich zugeben, dass ich mir diese Frage auch schon gestellt habe. Warum braucht Bruno ausgerechnet dieses Hemd zurück? Und wäre es Pascal, dem das Ding tatsächlich gehören würde, hätte ich auch kein Problem damit, ihn genau das zu fragen. Aber so, wie die Dinge liegen, habe ich wohl irgendwie die Verpflichtung, mich um die Sache zu kümmern. „Ja. Nein“, druckse ich herum. Mir ist schon klar, warum meine Mutter der Meinung ist, dass das nicht so wichtig sein kann, also ändere ich meine Taktik.   „Ich hab halt echt ein schlechtes Gewissen deswegen und würde es gern aus der Welt schaffen.“   So, das sollte gesessen haben. Der reumütige Sohn zieht eigentlich immer. Leider nicht heute. Ich wette, es sind doch „solche Tage“.   „Dann wirst du wohl losgehen und Fleckentferner besorgen müssen“, erklärt mir meine werte Erzeugerin in einem „da lasse ich nicht mit mir reden“-Ton. Gar nicht gut. „Und was für welchen?“, frage ich mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Ich kann immerhin nochmal versuchen, mich dumm zu stellen. „Keine Ahnung“, gibt meine Mutter eiskalt zurück. „Für Obstflecken vermutlich. Aber wenn du es genau wissen willst, guck halt im Internet nach. Du hängst doch eh ständig am Handy. Also benutz es endlich mal für was Sinnvolles.   Damit rauscht sie wieder ab und lässt mich stehen. Na ganz toll. Und jetzt? Soll ich mich jetzt echt mit Wäsche waschen beschäftigen? Ihr Ernst?   Missmutig schlurfe ich wieder in mein Zimmer und verbringe dort geschlagene 15 Minuten damit, mein Handy zu ignorieren, bevor ich es mir doch schnappe und die Suchmaschine aufrufe. Schaden kann es ja nicht.   Ich scrolle durch allerlei Tipps, wie man Obstflecken entfernen kann. Essig, Zitronensaft … okay, das hatten wir schon. Milch und … hey warte mal. Da steht was von Buttermilch. Perfekt!   So leise wie möglich schleiche ich wieder in die Küche, öffne den Kühlschrank und hole die angebrochene Packung des weißen Goldes heraus. Um sicherzugehen nehme ich auch gleich noch eine zweite Packung. Nur für alle Fälle. Jetzt brauche ich nur noch ein Gefäß, in dem ich das Hemd einweichen kann. Leider ist der Tupperschrank nicht besonders kooperativ und schüttet mir seinen halben Inhalt vor die Füße, bevor ich es verhindern kann. Sofort schlägt der Wachhund Alarm. „Fabian? Was machst du denn da?“   „Nichts!“, rufe ich hastig zurück. „Ich brauch nur ne Schüssel.“   Zu meinem Glück fragt sie nicht, was ich wohl damit vorhabe. Immerhin neige ich nicht zum Kuchen backen und auch sonst ist mein Verhalten eigentlich ziemlich verdächtig. Aber sie ist wohl zu beschäftigt, um das zu bemerken.   Mit Schüssel, Buttermilch und Hemd bewaffnet rocke ich zurück in mein Zimmer und verteile alles auf dem Boden vor meinem Bett.   Gut. Also zuerst die Buttermilch.   Ich gieße die Flüssigkeit in die hellgelbe Plastikschüssel, in der meine Mutter früher tatsächlich immer mal Plätzchenteig gemacht hat. War allerdings ne rare Angelegenheit. Backen kann sie nämlich auch nicht.   So, und jetzt das Hemd.   Weil das Ding bekannterweise ziemlich groß ist, tauche ich lediglich die Vorderseite in die Buttermilch. Immerhin will ich nur den Fleck einweichen. Der Rest des Hemdes ist soweit ja sauber. Jetzt muss ich nur noch 24 Stunden warten und dann kann das Wunder passieren.       „Hey, wie lief’s?“   Michelle schmust sich an Pascal und obwohl ich das eigentlich verboten habe, küsst sie ihn sogar. Ekelhaft. „Ganz gut“, meint er leichthin und schlingt seinen Arm um ihre Taille. „Wenigstens besser als bei Fabian, möchte ich meine.“   Grummelnd zeige ich ihm den Mittelfinger. Ja gut, die Arbeit habe ich wohl ziemlich verkackt. Diese blöden Sterne und ihre Gewichtsprobleme können mir aber auch wirklich gestohlen bleiben. Außerdem brauche ich keine Physikklausur um zu beweisen, dass ich in dem Fach eine Null bin. Das hat schon die Buttermilchpfütze erledigt, die ich heute Morgen vor meinem Bett vorgefunden habe. Mein Physiklehrer würde mir wohl hohnlächelnd was von Kapillarkräften erzählen, die dazu geführt haben, dass sich das ganze beknackte Hemd mit Buttermilch vollgesogen und danach den Dreck an den Teppich weitergegeben hat. Am Ende habe ich den Morgen damit verbracht, unter der Aufsicht meiner höchst angepissten Mutter den Fußboden zu schrubben, statt mir nochmal meinen Physikstoff reinzuziehen. Dementsprechend mies ist natürlich die Klausur gelaufen. Und Pascal hat mich nicht mal abschreiben lassen, der Arsch.   „Was ist, Bruno? Kommst du?“   Die Deppenriege hat bereits an der Tür Aufstellung genommen und wartet nur noch auf ihren großen Anführer. Der jedoch lässt sich heute Zeit. Viel Zeit. Unglaublich viel Zeit. „Geht schon mal vor, ich komm gleich nach.“   Okay, wenn ich ein Löwe wäre und Bruno ein Gnukalb, wäre das jetzt wohl der Augenblick, in dem ich mir über die Lippen lecken und das Besteck auspacken würde. Dummerweise hab ich das Gefühl, dass ich hier das Gnu bin.   „Hey, Fabi! Kommst du?“   Selbe Szene, selbe Frage, andere Aufstellung. Am liebsten würde ich Ja sagen, mich an Pascals Arm klammern und mich von ihm nach draußen eskortieren lassen. Meinen Platz ganz oben auf der Speisekarte kann gern jemand anders haben. Aber Kneifen ist wohl nicht.   „Äh, ja, ich … komm gleich. Muss nur noch meinen Schuh zumachen.“   Während ich mir sicher bin, dass das die mit Abstand älteste und dümmste Ausrede der Welt ist, mag meinem Gehirn leider gerade nichts Besseres einfallen. Die Klausur hat mich echt geschlaucht. „Wir geh’n dann schon mal vor.“   Normalerweise hätte mich diese Ankündigung wohl aufgeregt, aber in diesem speziellen Fall danke ich dem Himmel für Michelle-Mäuschens vereinnahmende Art. Sie wird es wohl zu schätzen wissen, Pascal ein paar kostbare Augenblicke für sich zu haben. Mir ginge es jedenfalls so.   Kaum, dass die beiden weg sind, lasse ich jedoch meine Tarnung fallen und richte mich auf. Leider sind Bruno und ich noch nicht alleine im Raum. Es gibt eben immer welche, die trödeln. „Herr Vogel? Würden Sie wohl freundlicherweise den Tafeldienst übernehmen?“ Unnötig zu sagen, dass Herrn Schubert und mich sonst ein eher reserviertes Verhältnis verbindet. Heute jedoch könnte ich ihn glatt knutschen. „Na klar“, gebe ich lässig zurück und begebe mich nach vorne, um mit dem ekligsten Stück Tafelschwamm, das es auf dieser Erde gibt, die geistigen Ergüsse unseres Lehrers von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Eigentlich hat er wegen der Klausur auch gar nicht viel hingeschrieben, aber ich mache es mir zur Aufgabe, die vorsintflutliche Schiebevorrichtung bis in die kleinste Ecke gründlichst zu wischen und danach sogar noch mit dem total mit Kreidestaub getränkten Lappen wieder trockenzuwischen. Soll mir ja niemand nachsagen, ich wäre nicht gründlich.   Während ich noch am Polieren bin und mich frage, ob Putzstreifen wohl „Putzstreifen“ heißen, weil man an ihnen erkennen kann, wo geputzt wurde, höre ich Schritte hinter mir. Wäre das hier ein Western, würde jetzt wohl ein langgezogener Schatten auf dem Boden erscheinen, der sich bedrohlich über mich legt. Dummerweise verhindert der hohe Sonnenstand das. Ha, ich hab doch was in Physik gelernt!   „Bruno!“, rufe ich nichtsdestotrotz freudestrahlend, als ich mich umdrehe. „Du hier und nicht in …“   Okay, lassen wir das. Wir wissen ja beide, dass wir darüber nun schon lange hinaus sind. „Wo ist mein Hemd?“, fragte er auch geradeheraus. Tja, so ist er, unser Bruno. Immer gleich auf den Punkt.   „Äh ja, weißt du …“, beginne ich damit mich herauszureden. „Das war so. Ich hatte da diesen todsicheren Tipp mit der Buttermilch und was für Wunder die wirken soll bezüglich Obstflecken. Leider hat das Ganze nicht so wirklich funktioniert und …“   „Ich brauche es zurück.“   Na gut, kein Smalltalk also. Ist ja nicht so, das sich jetzt wirklich auf Kaffeekränzchen stehe. Außerdem muss ich zugeben, dass er die Affenbande wirklich gut im Griff hat. Die blöden Sprüche haben merklich nachgelassen und ich bin diese Woche noch nicht einmal angerempelt worden. Was nicht wirklich ein Kunststück ist, weil Bruno das ja immer selbst übernommen hat. Neuerdings hält er sich von mir allerdings ferner als fern, wenn er mir nicht gerade auf die Pelle rückt. So wie jetzt.   „Du kriegst es“, verspreche ich schnell und weiche ein Stück zurück. „Ich geh heute Fleckentferner kaufen und dann kannst du es spätestens nächste Woche …“   „Ich brauche es Freitag.“   Freitag schon? Das kommt jetzt unerwartet. Und warum ausgerechnet Freitag?   Als ich Bruno danach frage, fängt er automatisch an, meinem Blick auszuweichen. An der Sache ist also irgendwas nicht ganz koscher. „Am Samstag ist Pokalschießen vom Schützenverein“, murmelt er irgendwann. Leider ist diese Antwort weder interessant noch hilfreich.   „Du bist im Schützenverein?“, bohre ich deswegen weiter. Irgendwie kann ich mir das gerade nicht so recht vorstellen. Andererseits hat er mir ja inzwischen bewiesen, dass er mit seinen Pranken auch recht feinfühlig sein kann. Also von daher …   „Ich nicht“, sagt Bruno trotzdem nicht sehr zu meiner Verwunderung und betrachtet dabei intensiv seine Fußspitzen. „Aber mein Vater. Das Hemd gehört ihm.“   Aaaah jaaa. Das erklärt natürlich alles. Nicht. So langsam bekomme ich das Gefühl, das Bruno mir etwas verschweigt. An der Sache ist doch was faul. Das fühle ich in meiner linken großen Zehe.   „Und wieso braucht er das jetzt so unbedingt zurück? Hat er nur das eine, oder wie?“   Keine Ahnung, warum ich so blöde Fragen stelle. Vielleicht, weil es mich ein wenig gegen den Strich bürstet, dass Bruno mich anscheinend für blöd hält. So was kann ich gar nicht leiden.   Brunos Stirn runzelt sich. Er verzieht den Mund und atmet tief durch. Muss ja ein dolles Geheimnis sein. „Nein“, ringt er sich schließlich eine Antwort ab. „Aber er wird bemerken, dass es nicht da ist. Und ich will nicht, dass meine Mutter deswegen Ärger bekommt.“   Während er das sagt, färben sich seine Ohren schon wieder leicht rosa. Als Nächstes bekomme ich einen finsteren Blick. „Also, was ist nun? Kriege ich das Hemd jetzt, oder nicht?“   Ich gebe auf, hinter das Geheimnis der Spaichschen Familienhierarchie zu kommen und rekapituliere stattdessen meinen Zeitplan. Wenn ich das Fleckenzeug heute gleich nach der Schule kaufe, Brunos Hemd … äh, das Hemd seines Vaters über Nacht einweiche und dann noch wasche, so mir denn die Technikgötter des Waschmaschinen-Pantheons gewogen sind, ist es zwar mit Chance am Freitag sauber. Aber trocken? Das könnte eng werden. „Wie wäre Freitagnachmittag?“, schlage ich daher vor. „Wir könnten uns an der Hütte treffen.“ Dass ich dabei leichte Hintergedanken habe, muss ich ja wohl nicht extra erwähnen. Und ja, ich weiß, dass ich eigentlich gesagt habe, ich will das beenden, aber wenn ich schon so einen Aufwand betreibe und womöglich sogar noch das Bügeleisen auspacken muss …   Auch Bruno versteht offenbar, was ich meine. Die Durchblutung seiner Ohrmuscheln steigt. „Freitagnachmittag kann ich nicht. Da ist Training.“   Ach fuck. Hätte ja klappen können. „Aber danach hätte ich Zeit.“   Die Art und Weise, wie er das hervorstößt, weist darauf hin, dass ich seinen Gesichtsausdruck schon ganz richtig gedeutet hat. Er ist ebenso rollig wie ich. Allerdings gibt es da ein Problem. „Freitagabend ist schon reserviert.“ Immerhin kann ich ja schlecht mein Date mit Pascal sausen lassen, um mit Bruno zu vögeln. Oder könnte ich?   „Aber vielleicht …“ Die Idee, die mir gerade gekommen ist, ist ein bisschen haarsträubend. Und sie beinhaltet, dass ich Pascal sowohl anlüge wie auch manipuliere. Beides ist eigentlich nicht meine Art. Also nicht immer. Und schon gar nicht Pascal gegenüber. Aber wenn ich Bruno sein Hemd gebe, wird es danach wohl tatsächlich vorbei sein mit meiner sprudelnden Quelle analer Glückseligkeit. Da wird man ja wohl einmal eine Ausnahme machen dürfen. „Also schön, ich klär das. Ab wann kannst du?“ „19 Uhr. 18.30, wenn ich das Duschen weglasse.“   Ich rümpfe sichtbar die Nase.   „Ja nee, lass mal. Bitte mit Duschen. Könnte sein, dass sich das als nützlich erweist.“   Ich lasse offen, wie ich ich meine, aber ich sehe genau, das Bruno sich bemühen muss, seine Mundwinkel im Zaum zu halten. Wusste ich doch, dass er auch Spaß dran hat. Ansonsten hätte er ja vorschlagen können, dass ich ihm das Hemd einfach nach Hause bringe. Oder er es nach dem Training bei mir abholt. Hat er aber nicht und das spricht in meinen Augen Bände. „Na gut, dann am Freitag. Ich freu mich drauf.“   Bruno nickt und sieht mich kurz an. Da ist so ein Ausdruck in seinem Gesicht, der mich noch einmal sicherer macht, dass es sich lohnen wird, mich noch ein letztes Mal mit ihm zu treffen. Jetzt muss ich nur noch Pascal loswerden. Und den Fleck.       „Sagt mal …“. beginne ich meinen diabolischen Plan während der Mittagspause umzusetzen. „Wollen wir eigentlich am Wochenende was zusammen machen?“   Nicht, dass ich wirklich Bock habe, mit Michelle abzuhängen, aber für meinen Plan würde ich sogar das in Kauf nehmen. Und natürlich springt sie auch sofort darauf an. „Dass übernächste Woche Abiprüfungen sind, hast du aber schon mitgekriegt, oder?“   Natürlich, Schätzelein. Aber im Gegensatz zu dir mutiere ich deswegen nicht zur totalen Spaßbremse, indem ich meinen Freund mit der ständigen Erinnerung daran zu Tode nerve.   „Jaa, schon richtig. Aber ich hab überlegt, ob wir nicht vielleicht wenigstens Samstagabend mal ein bisschen relaxen können. Den ganzen Tag nur lernen, da ist doch dann auch irgendwann die Luft raus. Wir könnten ins Kino gehen … Und danach nach Hause. Ganz brav.“   Spätestens jetzt wäre ich, wenn ich mir diese Geschichte auftischen würde, misstrauisch geworden. Immerhin kenne ich mich ja. Michelle hingegen scheint doch tatsächlich an das Gute im Menschen zu glauben.   „Vielleicht hast du recht“, sagt sie nachdenklich und wirft Pascal einen Blick zu. „Dann sollten wir Samstag aber rechtzeitig anfangen. Ich könnte meine Eltern fragen, ob sie uns hinfahren.“   Oh herrlich, jetzt mutiert das Ganze auch noch zum Familienausflug. Fehlt nur noch, dass sie vorschlägt, dass wir in die Kindervorstellung gehen und anschließend ein Picknick machen.   Aber der Plan, ermahnt mich meine innere Stimme und ich schlucke sämtliche giftigen Kommentare und mein genervtes Augenrollen hinunter. Jetzt nur nicht nachlassen.   „Das ist ne super Idee“, pflichte ich Michelle zur Verwunderung aller Anwesenden inklusive meiner Wenigkeit zu. Strahlend wende ich mich an Pascal. „Und, was meinst du? Machen wir es so?“   Pascals Augen huschen zwischen mir und seiner Freundin hin und her. Ich bin mir sicher, dass er gerade das Gefühl hat, irgendwas Wichtiges verpasst zu haben. Als er dann jedoch den Mund öffnet, muss ich echt an mich halten, um nicht in eine Strike-Pose zu verfallen. „Und was ist mit unserem Filmabend?“, fragte er vorsichtig. Ich gebe mich lässig, obwohl ich zugeben muss, dass es mich schon rührt, wie besorgt er um mich ist. „Ach, vielleicht lassen wir den diese Woche einfach mal ausfallen. Ich meine, man macht ja nur einmal Abi, oder?“   „Einige von uns vielleicht nicht“, stichelt Michelle noch, aber ich ignoriere sie gekonnt. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen“ oder so ähnlich. Mit Schiller stand ich noch nie auf besonders gutem Fuß.   „Meinst du wirklich?“   Auch Pascal hat anscheinend beschlossen, Michelles Einwand zu ignorieren. Zu sagen, dass mich das ein bisschen freut, wäre untertrieben.   „Ja klar“, gebe ich gönnerhaft zurück. „Wenn das Schriftliche durch ist, können wir das doch nachholen.“   Ich sehe, dass Pascal immer noch ein schlechtes Gewissen hat. Offenbar so sehr, dass er doch glatt den Vorschlag macht, dass wir stattdessen den heutigen Nachmittag zusammen verbringen. Dummerweise passt das ja nun gar nicht in meine Pläne.   „Sorry, muss lernen“, seufze ich abgrundtief. „Und für meine Mutter noch was einkaufen. Die ist momentan total im Stress. Da helfe ich, wo ich kann.“   Letzteres ist ja nicht mal gelogen. Die hat immerhin wirklich sauviel zu tun. Allerdings wäre es wohl das erste Mal, dass ich deswegen meinen inneren Samariter ausgegraben hätte. Das weiß eigentlich auch Pascal, aber …   „Na gut, wenn du meinst. Aber wenn du willst, können wir Samstag auch zusammen lernen.“   Uuuh, schlechtes Gewissen. Ganz eindeutig. Wenn ich das doch nur ausnützen könnte …   „Nein nein. Ich werde doch Michelle nicht ihren Platz streitig machen. Außerdem will ich dich doch nicht auf mein Niveau runterziehen. Du brauchst die Punkte.“   Okay, so langsam muss ich aufpassen, dass ich nicht zu dick auftrage. Sonst wird er am Ende noch misstrauisch. „Find ich gut“, mischt Michelle sich jedoch schon wieder ein. „Du zeigst Verantwortungsgefühl.“ So, wie sie mich anlächelt, meint sie das anscheinend ernst. Wenn die wüsste.   „Na los, dann mal auf zu Kunst. Ich hab dir doch versprochen, ich polier deine Note auf. Also dann, bis später Michelle. By~hye!“   Ich schnappe mir Pascal und schleppe ihn unter den Blicken einer leicht dämlich dreinblickenden Freundin in Richtung Kunsträume. Tja, ich weiß eben, wie man einen Abgang macht, bitch!       „Na sieh mal an. Du hast das echt ernst gemeint.“   Ich schrecke zusammen und lasse doch fast das Fläschchen fallen, dessen Inhaltsstoffe ich gerade noch mit zusammengekniffenen Augen studiert habe. Nicht, dass mir das vor Michelle irgendwie peinlich sein müsste. Immerhin befinden wir uns nur im Waschmittelgang des örtlichen Drogeriemarktes. Dabei gibt es hier noch ganz andere Sachen zu kaufen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war mal versucht, einen zu klauen.   „Äh, was?“, stottere ich trotzdem höchst überrascht. Ich meine, so viele Fremdwörter, wie ich gerade gelesen habe, sind bestimmt ein paar Gehirnzellen daran gestorben. Aliena verba Enzephalitis oder so. Ich bin mir sicher, das gibt es. „Na, dass du für deine Mutter noch was einkaufen musst“, erklärt mir Michelle und deutet lächelnd auf die Flasche Fleckentferner in meiner Hand. „Oder ist die für dich?“   Öhm … na ja. Eigentlich schon. Aber das werde ich Michelle wohl kaum auf die Nase binden. Geht sie schließlich gar nichts an.   Bleib freundlich, zischt mir jedoch in diesem Moment mein Stimmenkumpel zu, sodass ich mich gerade noch dazu bringen kann, in ein leicht verlegenes und – nebenbei bemerkt, auch sehr sympathisches –Lachen auszubrechen. „Ach das. Ja, ich … sie hat mich losgeschickt, um Fleckentferner zu kaufen. Für einen Obstfleck. Auf ihrer Bluse.“   Okay, diese Stammelei kann mir Michelle eigentlich nicht abnehmen. Und noch eigentlicher weiß ich auch gar nicht, warum ich ihr das überhaupt erzähle. Vielleicht weil ich nicht wie ein Idiot dastehen will, weil ich hier wie der Nicht-Checker vom Dienst vor dem Regal herumlungere und kurz davor war, mein Handy rauszuholen, um zu googeln, was ich am besten kaufen soll. Hier gibt es echt hunderte von Mittelchen.   Michelle wirft ihre Haare zurück und dann einen Blick auf das Etikett. „Der ist schon nicht schlecht, aber wenn es was Farbiges ist, musst du aufpassen, wegen der Bleichwirkung. Das kann echt ins Auge gehen. Meine Mutter hat damit mal mein Lieblingskleid ruiniert. Aber bei weißen Sachen sollte das kein Problem sein. Wenn allerdings Seide drin ist, hast du verloren. Da hilft dann nur noch die Schere.“   Wieder lächelt sie mich an und mir schwirrt der Kopf. So eine lange Unterhaltung hatten wir wohl noch nie. Das ist irgendwie gruselig. Und verwirrend.   „Ja, äh, nee“, stottere ich. „Es ist ein weißes Hemd … Bluse. Eine weiße Hemdbluse.“   Kann mich mal bitte irgendjemand erschießen?   Michelle lässt nicht verbal durchblicken, ob ihr mein Versprecher aufgefallen ist. Lediglich das kurze Aufleuchten in ihrem Blick hinterlässt eine unangenehme Gänsehaut bei mir. So als hätte sie Röntgenaugen. Ich fühle mich nackt. „Na dann solltest du damit eigentlich Erfolg haben. Du musst nur aufpassen, dass der Fleck …“   Ich unterbreche sie, bevor das hier noch ausartet.   „Weißt du, das ist ja echt nett von dir, aber ich hab jetzt wirklich keine Zeit mehr. Trotzdem vielen Dank für den Tipp, ja? Ich muss dann mal los. Tschüüüüß!“ Mit diesen Worten drehe ich mich auf dem Absatz um und stürme in Richtung Ausgang. Beinahe hätte ich sogar vergessen zu bezahlen, doch als ich gerade aufatmend vor der Tür zusammenbrechen will, fällt mir auf, dass ich immer noch das Fläschchen in der Hand halte. Und keinen Kassenbon. Wie peinlich.   Mit eingezogenem Kopf schleiche ich wieder zurück, murmele eine Entschuldigung und möchte meinen Kauf natürlich sogleich bezahlen. Leider gibt es eine Schlange, an deren Ende ich mich anstellen muss, bevor die dürre und viel zu stark geschminkte Dame an der Kasse bereit ist, sich von mir den fälligen Betrag in die mit langen, orangefarbenen Glitzerkrallen versehenen Skelettfinger drücken zu lassen. Die Zeit verrinnt, während lauter Menschen mit viel zu viel Zeit viel zu viele Dinge kaufen. Und nach mir kommt natürlich niemand. Na ja, bis auf Michelle. Die sich direkt hinter mich stellt. Na toll!   Ich tue so, als hätte ich sie nicht bemerkt und studiere derweil das Angebot an Quengelware. Man, wie lange ist das schon her, das Überraschungseier cool waren? Und seit wann gibt es Tic Tac mit Erdbeergeschmack? Oder Multifrucht. Ist ja unglaublich. „Der Nächste bitte.“   Das Kassenmonster hat endlich Zeit für mich. Sie scannt mein Fläschchen und schnarrt dann „1,95“. Ich gebe ihr mein 2-Euro-Stück und will abhauen, aber ich habe meine Rechnung ohne Michelle gemacht. „Hey, dein Wechselgeld!“, ruft sie mir hinterher und hält mir treuherzig das Fünf-Cent-Stück entgegen, das ich hatte liegenlassen wollen. Grummelnd komme ich wieder zurück und nehme es ihr ab. „Danke“, würge ich hervor, weil man das ja wohl so macht. „Brauchen Sie den Bon?“, will jetzt auch noch die Kassiererin wissen. Die Rentner, die jetzt aus den Gängen gekrochen sind, wo ich sie nicht mehr brauchen kann, recken neugierig ihre faltigen Hälse.   Ich verneine und will endlich gehen, als Michelle mich doch glatt noch einmal aufhält.   „Bis morgen“, sagt sie lächelnd. „Und viel Glück mit dem Hemd“   Ich nicke und lächele und flüchte auf die Straße, bevor mir endlich auffällt, dass ich sie nicht verbessert habe. So eine verdammte Scheiße!   Wird schon nicht so schlimm sein, versuche ich mir einzureden und verdränge die Tatsache, dass Michelle irgendwie so merkwürdig wissend dreingeschaut hat. Das war bestimmt alles nur Zufall. Kapitel 8: Irgendwo da draußen ------------------------------ I did it! Auch wenn ich ein leichtes Déjà-vu-Erlebnis habe, als ich Brunos Hemd – das Hemd seines Vaters. Man, das kriege ich einfach nicht in meinen Kopf – aus der Waschmaschine ziehe, ist das Ergebnis dieses Mal doch ein ganz anderes. Es ist sauber, blütenrein sozusagen, und ich bin dafür verantwortlich. Es ist toll, es ist großartig und ich zücke instinktiv mein Handy, um ein Foto davon zu machen, doch noch bevor ich wirklich den Auslöser gedrückt habe, lasse ich meine Hand wieder sinken. Ich kann das Bild nicht hochladen. Ich kann es niemandem sagen. Ja, nicht einmal erzählen, wenn man von meiner Mutter absieht, die jetzt gerade in die Küche kommt. Mein Triumph bleibt ungesehen, ungehört, ungeteilt. „Was machst du denn für ein Gesicht?“, fragt die Störerin meiner Depri-Stimmung jetzt auch noch. Als wenn sie verstehen würde, wie es mir geht!   „Das Hemd ist sauber“, sage ich daher nur und erhebe mich, um mir einen Platz zu suchen, wo ich es aufhängen kann. Immerhin brauche ich es heute Abend in trockenem Zustand, aber der Typ im Radio hat irgendwas von Regenschauern geschwafelt. Nix mit Balkon und so. „Aber das ist doch gut“, meint meine Mutter im Vorbeigehen. „Dann kannst du es Pascal heute gleich mitbringen.“   „Mhm“, mache ich und überlege, ob ich mich wohl schämen müsste, weil ich sie schon wieder anlüge. Da es für sie ja nun allerdings wirklich keinen Unterschied macht, mit welchem Kerl ich den Abend verbringe, entscheide ich mich dagegen. Man muss sich das Leben ja nicht schwerer machen als unbedingt notwendig.   „Weißt du, wo ich das aufhängen kann?“   Meine Mutter steht vor dem Flurspiegel und trägt Lippenstift auf. Sie muss gleich zur Arbeit und für mich wird es eigentlich auch höchste Zeit.   „Nimm dir doch einen Bügel und häng es ins Bad. Den Rest kannst du auf den Wäscheständer tun.“   Den Rest? Ach so! Den Kram, den ich noch mit in die Maschine schmeißen sollte, damit es sich auch lohnt. Tja, da kann sie lange warten. Ich hab mein Soll für heute mehr als erfüllt. „Kann nicht. Muss zur Schule“, erkläre ich deswegen kategorisch, nachdem ich Brunos Hemd, also das Hemd seines … ach egal jetzt, auf den Bügel befördert und in mein Zimmer gehängt habe.   „Dann mach es, wenn du wiederkommst“, ruft sie mir noch nach, während ich längst auf dem Weg aus der Tür und die Treppen hinunter bin.   „Jaja“, rufe ich zurück, was so ungefähr alles heißen kann, aber sicher nicht, dass ich die Wäsche aufhängen werde.     Der Tag zieht sich. Nicht nur, dass die Stunden heute mal wieder besonders langweilig sind, auch in den Pausen ist irgendwie die Luft raus. Alle sind bereits in der großen Abi-Lethargie versunken, auch wenn Pascal sich echt Mühe gibt, das nicht raushängen zu lassen. „Welchen Film wollen wir eigentlich gucken?“, fragt er gut gelaunt und pflanzt sich neben mich auf eine der wenigen Bänke, die unser trister Schulhof so hergibt. „Weiß nicht, such du aus“, gebe ich zurück und starre wieder auf die gegenüberliegende Seite der Pflasterfläche. Bruno und seine Affenbande haben sich in der Nähe des Fahrradständers zusammengerottet und schwafeln dort irgendwelchen Blödsinn. Jetzt gerade hat Gustav das Wort. Der Lockenkopf erzählt irgendwas, worüber sich die anderen schier ausschütten wollen. Nur Brunos Lachen ist eher verhalten. Mehr so ein zartes Lächeln halb versteckt im Rest seines Gesichts. „Michelle möchte ja gerne die Glücksbärchis schauen.“   „Okay, wenn sie meint“, gebe ich geistesabwesend zurück. Ich wüsste wirklich gerne, worüber die reden. Ob sich Bruno wohl an unsere Vereinbarung hält?   Ein plötzlicher Rempler reißt mich aus meinen Betrachtungen.   „Sag mal, geht’s noch?“, fahre ich Pascal an. Der grinst jedoch nur. „Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du bist den ganzen Tag schon so komisch. Eigentlich schon die ganze Woche. Ist irgendwas passiert?“   Passiert? Ach was. Ich ficke mit Bruno und spiele für ihn die Putzfrau. Ansonsten ist alles in Ordnung.   Bevor mein Gehirn jedoch abwandern kann und sich fragen, ob Bruno wohl drauf stehen würde, mich nur mit einer weißen Spitzenschürze bekleidet über einer Waschmaschine durchzunehmen, ziehe ich meinen Kopf wieder out of the gutter und klaube mühsam ein schiefes Lächeln zusammen.   „Ich mach mir einfach nur ein bisschen Gedanken über die Zukunft. Ich mein, wenn ich klebenbleibe, können du und Michelle ja zusammen studieren. Ich besuch euch dann mal am Wochenende in eurer kleinen Ikeabude. Also wenn ich darf.“   Hundeaugen, Dackelblick, das volle Programm. Sofort schlägt Pascals Stirn tiefe Falten. „Ach, so ein Unsinn. Du hast doch heute immerhin 9 Punkte in Deutsch wiederbekommen. Und den Rest kriegst du auch irgendwie hin. Ich helf dir beim Lernen. Okay?“   Ich hab plötzlich einen Kloß im Hals und würde am liebsten Ja sagen. Aber das geht nicht. Außerdem ist das doch nur eine Geschichte, die ich meinem besten Freund auftische, um meine Fickbeziehung geheimzuhalten. Also reiß dich zusammen, Fabian. Es ist alles unter Kontrolle.   „Nah, lass mal. Ich krieg das schon hin. Ist doch noch ne Woche, bis die Prüfungen anfangen. Bis dahin werd ich den Kram schon kapieren.“   So recht überzeugt sieht Pascal nicht aus, aber er nickt. „Na schön. Aber wenn du Probleme hast, rufst du mich an, ja?“ „Klar. Versprochen.“   Ich grinse und er schlingt den Arm um mich, als wäre es das Normalste von der Welt. Was es auch sein sollte. Wenn nur nicht die Welt so abgrundtief bescheuert wäre.       „Sitzt du schon lange hier?“   Langsam hebe ich den Kopf von meinem Handyspiel und sehe nach oben, als hätte ich gerade erst gemerkt, dass Bruno neben mir steht. Dabei ist das natürlich Unfug, denn den letzten Teil der Strecke kann man ziemlich gut überblicken. Aber das kann ich ihm ja schlecht sagen. Nicht, dass er am Ende noch denkt, ich hätte auf ihn gewartet. „Nö“, biege ich daher die Wahrheit ein wenig zurecht. Und überhaupt ist es ja auch eine Frage des Betrachtungswinkels, ob man die gute halbe Stunde, die ich hier schon auf der steinharten, zugigen Veranda rumhänge, als „lang“ bezeichnet. Aber zu Hause war es wirklich nicht mehr auszuhalten. Dabei habe ich vor lauter Langeweile am Ende sogar doch noch die Wäsche aufgehängt, nachdem ich am Nachmittag bereits ein Bad genommen, mich rasiert, ein Dutzend sinnlose Serien angefangen und mir am Ende sogar eine Wiederholung von „Shopping Queen“ reingezogen habe. Hat meine Mutter jedoch nicht davon abgehalten, mir auf den Sack zu gehen, sodass ich irgendwann die Flucht ergriffen und mich schon mal auf den Weg gemacht habe. Konnte ja nicht ahnen, dass es anfängt zu regnen. „Wollen wir reingehen?“   Bruno, der ebenfalls einiges an Regen abbekommen hat, deutet auf die Tür hinter mir. Der Idiot hat sogar vergessen, seine Kapuze aufzusetzen. An seiner Augenbraue hängt ein durchsichtiger Tropfen.   „Klar.“   Ich erhebe mich und mache ihm Platz, damit er aufschließen kann. Im Gegensatz zu mir ist er heute wieder mit schwerem Gepäck gekommen. Eine ganze Sporttasche voll. Ist ja aber auch kein Wunder. Er kommt schließlich gerade von dort. „Wie war das Training?“, frage ich, als wir endlich drinnen stehen. Irgendwie kann ich mir das gar nicht so richtig vorstellen. Was er da wohl macht? Die ganze Zeit Gewichte stemmen? Kniebeugen? Liegestützen? Seilspringen? Wie bei Rocky? Ach nee, der war ja Boxer. „War okay. Ich bin ein bisschen angeschnauzt worden, weil ich mich nicht richtig konzentriert habe.“ Während er das sagt, blickt Bruno erst mich an und dann zu Boden. Dabei grinst er ein bisschen und ich erwische mich dabei, wie ich das niedlich finde. Niedlich! Bruno! HA!!   „Wie das wohl kommt?“, sage ich trotzdem und tue so, als müsste ich überlegen. Dabei kann ich mir schon denken, woran er gedacht hat. Als Bruno jedoch nicht auf meine Andeutung eingeht, hebe ich die Tüte in meiner Hand.   „Ich hab das Hemd mit.“   Jetzt endlich hebt Bruno den Kopf.   „Ach echt?“ „Jepp. War gar nicht so einfach, aber ich hab’s hingekriegt.“   Mit diesen Worten reiche ich Bruno die Tüte. Er sieht hinein und lächelt wieder ein bisschen. Ich beiße mir auf die Lippen. Am liebsten würde ich ihn ja fragen, ob sein Vater echt deswegen Stress gemacht hätte. Immerhin ist es nur ein Hemd, auch wenn ich mir ziemlich den Arsch aufgerissen habe, um es wieder sauber zu bekommen. Aber dass seine Mutter deswegen Ärger bekommen hätte, leuchtet mir nicht so ganz ein. Oder warum das Brunos Problem sein sollte. Immerhin sind seine Eltern erwachsen und sollten das unter sich klären können. Aber wenn ich ihn jetzt darauf anspreche, kann ich das mit dem Sex wohl vergessen. Und deswegen bin ich doch hier. Um mich von Bruno ficken zu lassen. Ein letztes Mal. „Und jetzt?“, frage ich, als er keinerlei Anstalten macht, die Tüte wegzulegen. „Tja, ich weiß nicht.“   Bruno schaut zu mir rüber und ich sehe genau, woran er denkt. Aus irgendeinem Grund scheint er sich jedoch nicht zu trauen. Was ziemlich albern ist, immerhin hatten wir schon Sex. Zweimal, wenn man genau ist. Und wir wollen es doch beide.   Aber das weiß er nicht, mischt sich der Besserwisser in meinem Kopf ungefragt ein. Und vielleicht hat er damit sogar recht. Vielleicht muss ich Bruno zeigen, was ich will.   „Ich könnte ja mal anfangen“, schlage ich daher vor und beginne, meine Jacke auszuziehen. Bruno sieht mir dabei zu und einen Moment lang frage ich mich, ob ich mich wohl geirrt habe. „Hast du was mit?“, frage ich deswegen deutlicher und nicke in Richtung seiner Sporttasche. Er folgt der Bewegung mit dem Kopf und ich sehe, wie seine Ohren anfangen, rot zu werden. „Ja, also … wenn ich ehrlich bin …“   Ja? Nein? Oh man, Bruno, jetzt lass dir doch nicht alles so aus der Nase ziehen. „Ja, hab ich.“   Na bitte. Bingo! „Dann würde ich vorschlagen, dass du dich auch ausziehst.“   Ich grinse, bevor ich hinzufüge: „Oder soll ich dir helfen?“   Bruno reagiert nicht. Er sieht mich nur an. Also lege ich meine Jacke über einen Stuhl und mache einen Schritt auf ihn zu. Und dann noch einen und noch einen, bis ich direkt vor ihm stehe.   „Und? Soll ich?“, frage ich noch einmal. Bruno schluckt. Und nickt leicht. Das Grinsen, das in meinen Mundwinkeln sitzt, wird ein wenig breiter. Langsam hebe ich die Hand und greife nach dem Reißverschluss seiner Trainingsjacke. Ich ziehe den Zipper herunter, bis er am unteren Ende auseinanderhakt. Bruno bewegt sich nicht. Noch einmal greife ich nach oben und streife ihm die leicht feuchte Jacke von den Schultern. Dieses Mal ist er ein bisschen unterstützend, aber nicht sehr. Er sieht mich die ganze Zeit nur an. So sehr, dass es allmählich komisch wird. Ich grinse und zupfe an seinem Shirt. „Bei dem hier musst du mir aber helfen. Ich bin nicht so groß wie du.“ „Ist mir aufgefallen.“   Brunos Stimme ist seltsam rau. Bevor ich mich jedoch darüber wundern kann, hat er bereits sein T-Shirt über den Kopf gezogen. Zum Vorschein kommt sein trainierter Oberkörper. Man, wenn man den so von Nahem sieht, möchte man ihn fast anfassen. Er sieht nicht so steinhart aus wie diese übertriebenen Bodybuilder mit ihren Sixpacks und bis ins Unendliche definierten Bi-, Tri- und was weiß ich was -ceps. Nur halt so, dass man mal hinlangen möchte. Einfach um rauszufinden, wie es sich anfühlt.   Während ich noch starre, deutet Bruno plötzlich mit dem Zeigefinger auf mich.   „Jetzt du“, sagt er und hat immer noch dieses atemlose Raunen drauf, das mir fast eine Gänsehaut macht. Aber nur fast!   „Klar“, gebe ich grinsend zurück und befreie mich ebenfalls von dem Stoff, der meine obere Körperhälfte bedeckt. Wenn ich uns beide so vergleiche, wirke ich echt schmal. Dabei bin ich eigentlich ganz normal gebaut. Vielleicht ein bisschen feingliedrig oder wie man das nennt. Ich hab lange Beine, lange Finger, lange Zehen. Jamie hat sogar mal gesagt, er fände meine Füße sexy. Vielleicht ist ja was dran.   „Und jetzt?“, will Bruno wissen. Ich grinse, weil mir da gerade eine Idee kommt. Eine, die ihm gefallen wird. Ganz bestimmt. „Jetzt ziehen wir dich weiter aus“, sage ich in verführerischem Ton und lange nach dem Bund seiner Jeans. Der Knopf springt ohne weiteren Widerstand auf und auch den Reißverschluss knacke ich mit links. Darunter, mein Preis. Aber noch gönne ich ihm keine Berührung. Noch lasse ich ihn – und mich – zappeln. Obwohl ich natürlich nicht verhindern kann, dass das Bündchen der Boxershorts seinen enormen Ständer ganz leicht streift, als ich sie herunterziehe. Auch Gummibänder sind schließlich nicht unendlich dehnbar.   „Und jetzt?“, fragt er wieder. Sein Mund steht leicht offen und ich denke fast, er weiß schon, was jetzt kommt. Oder wenigstens hofft er es. Trotzdem lasse ich ihn noch im Ungewissen.   „Jetzt setzt du dich.“   Während ich das sage, schiebe ich ihn ein Stück rückwärts, meine Hand an seinem Bauch. Er kann nur kleine Schritte machen, weil zu viel Stoff um seine Knie herumhängt, aber als er ihn rasch beseitigen will, stoppe ich ihn.   „Setz dich einfach. Lass mich das machen.“ Wow, sein Gesichtsausdruck. Das ist ein so eindeutiges Haben-Wollen, das es mir tief zwischen die Beine fährt. Er steht drauf. Er steht auf mich. Aber so was von.   Brunos Hintern landet auf der Bank und ich … ich knie mich vor ihn und beginne, ihm die Schuhe auszuziehen. Danach folgen Hose und Shorts. Die Socken lasse ich an. Wir wollen ja nicht, dass er kalte Füße kriegt. Und gegen weiße Tennissocken ist schließlich auch nichts zu sagen.   „Und jetzt?“, fragt er ein drittes Mal. Vor ein paar Wochen hätte ich ihn wohl mit einem süffisanten Grinsen darauf hingewiesen, dass seine Platte einen Sprung hat. Aber jetzt? Jetzt ist mir klar, dass ich ihn einfach nur sprachlos mache. Seine Augen sind so dunkel, dass man kaum noch ihre Farbe erkennen kann. Ich weiß trotzdem, wie sie aussehen. Es ist ein helles Grün mit einem ganz feinen, braunen Ring drumherum.   „Jetzt?“, wiederhole ich die Frage. „Tja, ich weiß nicht.“   Immer noch lächelnd lege ich meine Hände auf seine Knie. Dass vor mir ein riesiges Stück festes Fleisch aufragt, bringt mich dabei kein bisschen aus dem Konzept. Ich weiß, dass ich es gleich kriege.   „Schon mal nen Blowjob bekommen?“   Während ich das frage, hebe ich die linke Augenbraue leicht an. Bruno hingegen starrt mich einfach nur an. Er schluckt. Und nickt.   Okay, damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Mein Lächeln wankt jedoch nicht. „Und? War es gut?“   Bruno schluckt noch einmal. Er atmet durch den Mund. Eine Antwort bekomme ich nicht, aber ich kann mir schon vorstellen, dass er es genossen hat. Wenigstens wenn der- oder diejenige sich nicht total dumm angestellt hat. Was es ja geben soll.   „Bock auf noch einen?“   Dieses Mal fängt seine Unterlippe an zu zittern. Und sein Schwanz zuckt. Ich würde sagen, die Antwort ist Ja. Aber ich warte, während ich meine Hände ganz langsam auf seinen Oberschenkeln nach oben schiebe. Unter meinen Fingern Haare, Haut, Muskeln. Fest und massiv, doch das eigentliche Vergnügen wartet dazwischen. Gesagt hat Bruno allerdings immer noch nichts. „Und?“, hake ich deswegen nach. „Soll ich?“   Er nickt. Natürlich nickt er. Wer könnte da schon Nein sagen? Immerhin sind meine Lippen inzwischen nur noch wenige Zentimeter von seinem Schwanz entfernt. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein triumphierendes Grinsen. War doch klar, dass ich ihn rumkriege.   Und jetzt zu dir, mein Freund.   Ohne Umschweife greife ich zu.   Oh yeah, that’s the real thing. Die ultimative Latte. Scheiße, ist das Ding geil. Ich brauche fast zwei Hände, um ihn richtig zu umfassen. Trotzdem schmiegt er sich unfassbar gut gegen meine Handflächen. Und er sieht aus wie gemalt. Hell, glatt und nur ganz schwach geädert mit einer zartrosa Spitze. Samt und Kraft ineinander vereint. Wenn ich nicht aufpasse, fange ich gleich an zu sabbern. „Mhm, I like“, gebe ich von mir und schaue nach oben. Ich weiß, wie das jetzt für ihn aussehen muss. Einen geblasen zu bekommen, ist ja schon scharf, aber wenn derjenige dich dann auch noch ansieht, während er deinen, in diesem Fall echt riesigen, Schwanz im Mund hat … Der Wahnsinn!   „Bereit?“, frage ich noch einmal und oh ja, ich weiß, dass ich hier gerade eine ziemliche Show veranstalte. Im Grunde genommen ist ja nicht viel dabei. Trotzdem will ich, dass er das hier genießt. So richtig genießt. Einfach … weil halt.   „Ja“, flüstert er und ich sehe, wie sein Adamsapfel erneut auf und nieder hüpft. Ich wette, er wünscht sich etwas zu trinken. Aber noch viel mehr, dass ich endlich anfange. Also tue ich ihm den Gefallen. Ich teile meine Lippen und drücke sie an die Stelle, an der die Eichel endet. Meine Zunge schnellt heraus und fährt ein, zweimal schnell über die empfindliche Kante. Bruno scheint jedoch nicht so darauf zu stehen, also gebe ich ihm einmal eine volle Breitseite, bevor ich die Spitze in den Mund nehme und zu saugen beginne. Das scheint ihm mehr zu gefallen, wenigstens seinem beschleunigten Atem nach zu urteilen. Wieder schaue ich zu ihm auf und unsere Blicke treffen sich. Fast glaube ich in seinen Augen sehen zu können, wie sich mein Kopf auf und ab bewegt, die pralle Länge zwischen meinen Lippen. Fuck, bei dem Gedanken werde ich selber ganz rallig. Ich will unbedingt von ihm gefickt werden. Aber noch nicht. Noch ist er dran.   Ich entlasse ihn mit einem feuchten Plopp und grinse, während ich mich an seinem Schaft langsam nach unten vorarbeite. Bruno beobachtet mich dabei, wie ich schließlich seine Hoden erreiche und anfange, sie zu lecken. Dass er sie nicht rasiert hat, stört mich dabei nicht besonders. Es passt zu ihm und er riecht absolut sauber. Mit einem zufriedenen Brumme nehme ich eine der großen, weichen Kugeln in den Mund, während ich ihn mit der rechten Hand wichse. Bruno entkommt ein leichtes Keuchen. Anscheinend habe ich seinen Schwachpunkt gefunden. Er fährt voll drauf ab.   „Gut, mhm?“, frage ich grinsend, nachdem ich den Mund wieder freihabe. Eine Antwort brauche ich dieses Mal nicht. Brunos bebender Schwanz, an dem sich die erste, klare Flüssigkeit sammelt, und der schnelle Rhythmus, in dem sich sein Brustkorb hebt und senkt, sind mir Zeichen genug. Seine Hände klammern sich wie verzweifelt an die Bank, um nicht über mich herzufallen. Er kann sich wirklich kaum noch beherrschen.   Genüsslich und unendlich langsam verteile ich die Lusttropfen mit dem Daumen, bevor ich mich erneut niederbeuge und seinem zweiten Ei die gleiche Prozedur angedeihen lasse. Bruno stöhnt über mir verhalten und kommt mir unwillkürlich ein Stück entgegen. So sehr, dass ich es mir nicht nehmen lasse, meine Zunge noch ein wenig tiefer zu strecken. Eigentlich würde es mich ja reizen auszuprobieren, wie weit er mich gehen lässt. Ob er es genießen würde, wenn ich auch noch meine Finger dazu nähme und ihn richtig verwöhnte? Aber dazu ist das hier weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Schade eigentlich. Ich bin mir sicher, dass es ihm gefallen würde. Stattdessen richte ich mich wieder auf und nehme ihn ohne weitere Vorwarnung tief in den Mund. Tief und noch tiefer, so weit wie ich komme, ohne würgen zu müssen. Das ist zwar nicht bis zum Anschlag, aber immerhin so weit, dass mehr als die Hälfte verschwunden ist. Ich schlucke ein paarmal, während ich mit den Händen seine Hoden und seine Latte bearbeite. Noch etwas länger und er würde kommen. Ich höre und spüre es. Seine Beine beginnen zu zittern.   Ah, so haben wir aber nicht gewettet.   Ich werde langsamer und ziehe mich immer noch leckend und saugend von ihm zurück. In meiner Hose spannt es mittlerweile wie Sau und ich will endlich einen Schwanz in meinem Arsch. Mit einem kecken Grinsen erhebe ich mich daher und greife nach meinem Hosenbund. „Du erlaubst?“, frage ich und warte nicht, bis er es über sich bringt zu nicken. Mit verführerischer Langsamkeit befreie ich mich zuerst von meiner Jeans und dann von den engen Pants. Brunos Blick klebt an mir und gleichzeitig scheint er nicht zu wissen, wohin er zuerst gucken soll. Schließlich gewinnt mein Schwanz. Ich kann sehen, wie er sich über die Lippen leckt. Auch das wäre sicherlich interessant. Ob ich ihn fragen soll, ob er mal probieren will? Doch da schießen seine Augen schon wieder nach oben. Ich grinse mir eins und ziehe das Gleitgel aus meiner Jackentasche.   „Na dann mal los. Genug gefaulenzt“, treibe ich ihn an und will es mir auf meinem Tisch gemütlich machen, als Brunos Stimme mich zurückhält. „Fabian?“   Ich zucke ein wenig zusammen, weil er mich, glaube ich, noch nie so genannt hat. Wenigstens kann ich mich nicht daran erinnern. Ich war immer nur „der Vogel“ oder „die Schwuchtel“ oder was ihnen sonst so eingefallen ist. Mit meinem Vornamen hat er mich bisher noch nie angesprochen. „Ja?“, frage ich, denn zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage. Ein Blick über meine Schulter enthüllt mir Bruno, der immer noch auf der Bank sitzt. Seine Wangen sind gerötet und sein Schwanz hart und bereit. Wir könnten sofort loslegen. Meinetwegen auch ohne weiteres Vorspiel. Aber da ist Bruno, der mich bei meinem Namen genannt hat.   „Könnten wir vielleicht … mal was Neues ausprobieren?“   Das Rot auf seinen Wangen verdunkelt sich und seine Ohren leuchten schon wieder so sehr, dass es selbst in der hereinbrechenden Dämmerung ohne Probleme zu erkennen ist. Draußen rauscht immer noch der Regen vom Himmel. Wenn das so weitergeht, müssen wir noch ein Licht anmachen. So ne altmodische Öllampe oder etwas in der Art. Ich bin mir sicher, dass es so was hier gibt.   „Was schwebt dir denn vor?“ Nur nicht anmerken lassen, dass er mich aus dem Konzept gebracht hat. „Möchtest du mich auf dem Boden? Auf dem Rücken? Kniend? Liegend? Kopfüber?“   Das Letzte war natürlich nur ein Scherz. Ich bin schließlich nicht Batman. Aber Bruno scheint das auch gar nicht in Betracht zu ziehen. Zögernd öffnet er den Mund. „Würdest du … einfach herkommen?“   Mein Mundwinkel zuckt. „Du meinst, ich soll dich reiten?“   Wenn es ginge, würde Bruno wohl noch ein wenig tiefer rot anlaufen. So beschränkt er sich auf ein hastiges Nicken. Oh weh, ist ihm das etwa peinlich?   „Klar, können wir machen.“   So ein bisschen frage ich mich ja, ob er nicht inzwischen Abdrücke an seinem Hintern hat, aber sei’s drum. Sein Schwanz steht immer noch wie eine Eins und der Gedanke, mich gleich darauf herabzusenken wie ein schwuler Adler auf seinem Horst, hat definitiv was für sich.   Bruno hilft mir bei der Vorbereitung. Den wesentlichen Teil übernehme zwar ich, aber er macht sich durchaus nützlich und ich sehe in seinem Blick, dass er zwischendurch überlegt, ob er meinen Schwanz nicht doch mal in den Mund nehmen soll. Am Ende beschränkt er sich jedoch darauf, mich mit einer guten Portion Gleitgel an den Fingern zu wichsen, und hey, ich muss sagen, das hat er wirklich drauf. „So, jetzt wird es ernst“, verkünde ich jedoch kurz darauf, als ich mich genug gedehnt und mehr als bereit fühle. Bruno hat inzwischen schon das Kondom übergezogen und verteilt noch eine ordentliche Portion Gel, bevor ich mich über ihn schwinge.   Meine Latte liegt an seiner Brust und für einen winzigen Augenblick bin ich versucht, mich noch ein wenig an ihm zu reiben. Aber die Bank ist hart und das, was mich erwartet, noch viel härter. Also Scheiß auf Rubbeln und Räkeln. Jetzt wird gefickt.   Mit halb geschlossenen Augen lasse ich mich tiefer sinken, bis ich eine Berührung an meinem Eingang spüre.   Entspannen, sage ich mir selbst. Entspannen. Doch das ist in dieser Position gar nicht so einfach. Ich dränge mich noch ein wenig näher an Bruno und er hält mich, während ich ihn an die richtige Stelle führe.   „Fuck, ja“, entfährt es mir, als ich endlich die ersten paar Zentimeter drinnen habe. Gleich kommt noch das dicke Ende und dann kann es losgehen.   Bruno streichelt mich derweil. Seine Hand gleitet über meinen Rücken, meinen Hintern. Ich weiß, dass er mich am liebsten runterdrücken würde, aber er lässt mir Zeit. Viel Zeit. Unendlich viel Zeit.   „Ha!“   Mit einem triumphierenden Laut überwinde ich die schwierige Stelle und kann ihn endlich in mir fühlen. Oh ja, das ist gut. So gut.   Gefangen in dem Gefühl, ihn endlich in mir zu haben, fange ich an, meine Hüften zu bewegen. Stetige, abwärts gerichtete Bewegungen. Dabei lege ich wie selbstverständlich meine Hände um Brunos Hals – irgendwo muss ich mich ja festhalten – und treibe ihn langsam immer weiter und weiter in mich.   Als ich endlich unten ankomme und er vollkommen in mir steckt, öffne ich die Augen. Brunos Gesicht ist jetzt direkt vor mir, sein Mund ist halb geöffnet und seine Augen …   „Gut so?“, frage ich, um mich von diesem Anblick zu lösen. Es geht doch um den Schwanz in meinem Arsch. Nicht darum, wie er mich ansieht.   Bruno lächelt. „Fantastisch. Ich könnte die ganze Nacht so weitermachen.“   Ich beginne zu grinsen. „Na, das musst du mir aber erst mal beweisen.“   Immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen beginne ich, ihn zu reiten. Erst langsam, dann schneller. Auf und ab und auf und ab. Bruno folgt meinen Bewegungen. Seine Hände liegen auf meinen Backen, aber ich bin es, der ihn dirigiert. Der das Tempo vorgibt, die Richtung, den Rhythmus. Der ihn anleitet, mein Innerstes nach Strich und Faden zu verwöhnen und dabei immer wieder diesen geilen Punkt zu treffen. Oh ja. Genau so! Ja. Ja! JA!   Unbewusst erhöhe ich die Schlagzahl und habe plötzlich eine Hand an meinem Schwanz. Brunos Finger sind glitschig und sie wissen, was sie tun. Oh fuck, so geht das. Mach weiter. Mehr! MEHR!   Immer schneller werde ich, immer tiefer die Stöße. Brunos Finger graben sich in meine Haut. Er keucht. Stöhnt.   „Fabian. Warte! Ich …“   Oh, Scheiße! Wie es aussieht, bin ich nicht der Einzige, den das hier total anmacht. Ich merke, wie Bruno versucht, sich zurückzuhalten. Mich aus dem Takt zu bringen. Aber es ist schon zu spät, er ist schon zu weit. Mein Schwanz entgleitet ihm.   Ach scheiß drauf.   Ohne mich darum zu kümmern, halte ich das Tempo und lege sogar noch einen Zahn zu. Wenn es schon zu Ende geht, dann wenigstens richtig.   Na komm schon, Bruno. Zeig mir, was du drauf hast. Gib mir alles, Junge. Gib’s mir!   Und Bruno kommt. Irgendwo in dem harten Stakkato stockt sein Atem. Sein Schwanz beginnt zu zucken und im nächsten Moment fühle ich ihn in mir abspritzen. Heiß und weiß pumpt er Schub und Schub in mich, während ich ihn melke und reite und ficke und ah … fuck! Mit einem letzten, heftigen Ausatmen stößt er noch einmal zu. Tief in mich, so tief, dass ich seine Eier an meinem Hintern spüre. Oh man, war das gut. So dermaßen geil. Und er ist so fertig!   Schweißnass, keuchend, aber mit einem Lächeln auf den Lippen sieht er mich an. Meine Hände liegen immer noch in seinem Nacken. Ohne darüber nachzudenken löse ich eine von ihnen und streiche ihm die feuchten Haare aus der Stirn. Ich merke, dass er mich ziemlich rangenommen hat – oder ich ihn, je nachdem – aber das war es verdammt nochmal wert. Er lächelt immer noch und ich wiederhole die Bewegung, obwohl da gar nichts mehr ist. Nur seine Haut. Und sein Gesicht. Brunos Gesicht, das mit einem Mal so viel näher kommt. Viel näher als es darf. Viel näher, als es sollte. Er legt den Kopf schief, seine Lider beginnen sich zu schließen, er spitzt die Lippen und …   Ich weiche zurück.   Brunos Bewegung stoppt. Der warme Glanz, der gerade noch in seinen Augen war, weicht ehrlicher Verblüffung und dann grenzenloser Verwirrung, als ich mich eilig von ihm losmache, aufstehe und ein paar Schritte rückwärts in den Raum taumele. Mein Herz wummert dabei gegen meine Rippen und ich schreie.   „Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Was sollte das denn werden? Wolltest du mich etwa küssen?“   Alles in mir tost und braust und meine Haut ist Stacheldraht. Alles. Alles, nur das nicht. Das darf er nicht. Das kann er nicht.   Irgendetwas in Bruno bricht. Ich sehe es trotz der Dunkelheit und kann doch nichts dagegen tun. Ich kann nicht. Ich darf nicht.   „Nein.“   Das Wort ist eine einzige Lüge. Aber ich sage es nicht und auch Bruno wendet sich nur ab, das Kondom immer noch an seinem Schwanz. Ich sehe zu, wie er es abzieht. Sich anzieht. Sich förmlich in seine Klamotten prügelt, die Hände zu Fäusten geballt, die Bewegungen ruckartig, zornig, verzweifelt. Scheiße, was habe ich getan? „Bruno …“   Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es das erste Mal ist, dass ich ihn so nenne. Aber das stimmt nicht. Dementsprechend bleibt die Wirkung aus und als ich zu ihm treten und ihm die Hand auf den Arm legen will, kommt er mir zuvor. Mit einem Ruck bringt er sich aus meiner Reichweite. Inzwischen ist es so finster, dass ich mir nicht sicher bin, ob seine Augen wirklich glänzen oder ob ich mir das nur einbilde. Vermutlich ja. Ich meine, er würde doch nicht … „Bruno …“, versuche ich es noch einmal, aber er lässt mich nicht. Wie ein verletztes Tier zieht er sich noch weiter vorn mir zurück. Ich bin immer noch nackt, er angezogen. All das ist so unwirklich, dass ich am liebsten anfangen würde zu lachen. Der Laut bleibt mir im Halse stecken und ich bekomme ihn nicht heruntergeschluckt, so sehr ich es auch versuche.   „Bruno …“   Ein letzter Versuch, es ihm zu erklären. Ihm begreiflich zu machen, was hier gerade abgeht. Doch ich komme nicht dazu. Noch bevor ich die Worte, die nicht einmal in meinem Kopf einen Sinn ergeben, in eine einigermaßen erträgliche Reihenfolge gebracht habe, dreht er sich um, reißt die Tür auf und ist fort.   Ungläubig starre ich auf das helle Rechteck. Draußen rauscht der Regen herab und Donner rollt in der Ferne über die Gipfel. Ich schrecke zusammen, als es im nächsten Moment blitzt und fast gleichzeitig ohrenbetäubend kracht und donnert. Der Regen wird augenblicklich heftiger. Er drischt wie wild gegen das Hüttendach, der Wind reißt und zerrt an der Tür. Das Unwetter muss direkt über den Wald gezogen sein. Und Bruno ist irgendwo da draußen. Kapitel 9: Eine Frage der Perspektive ------------------------------------- Alles klar, es ist amtlich. Ich habe einen an der Klatsche. Warum wohl sonst hätte ich ganze zwei Stunden in dieser dämlichen Hütte zugebracht und darauf gewartet, dass Bruno endlich wiederkommt? Anfangs habe ich sogar noch die Tür offengelassen, weil ich wohl irgendwie angenommen hatte, dass ihn das anlocken würde oder so. Aber nachdem dadurch lediglich der Wind hereingepfiffen und der Regen die halbe Hütte unter Wasser gesetzt hat, habe ich sie doch lieber zugemacht. Danach war es hier drinnen dumpf und dunkel. Draußen stürmten die Elemente und ich habe mich ein ganz kleines bisschen verloren gefühlt. Was hat sich Bruno nur dabei gedacht, einfach so wegzulaufen? Noch dazu, ohne seinen Kram mitzunehmen. Sowohl seine Sporttasche wie auch die Tüte mit dem Hemd liegen noch neben mir auf der Bank wie bestellt und nicht abgeholt. Um mich abzulenken, habe ich gezockt und mir ein dämliches TikTok nach dem anderen reingezogen. Leider geht mein Akku langsam zur Neige. Außerdem ist mir kalt und ich weiß echt nicht, ob das hier noch Sinn macht. Wer weiß, vielleicht sitzt Bruno mittlerweile längst bei sich zu Hause im Trockenen, während ich hier rumhänge und auf ihn warte.   Und wie ist er reingekommen?   Natürlich. Die Lästerstimme in meinem Kopf muss auch wieder mitmischen. Aber es stimmt schon. Bruno hat mit der Tasche auch sein ganzes Zeug hier gelassen. Hausschlüssel, Handy und so weiter. Ich hab nachgesehen. Wenn ihm jetzt irgendwas passiert, kann er nicht mal Hilfe holen.   Vielleicht hätte ich ihn doch suchen gehen sollen.   Aber wo hätte ich damit anfangen sollen? Draußen ist es arschfinster und auch wenn der Regen inzwischen nachgelassen hat, wäre ich doch nach wenigen Schritten nass bis auf die Haut gewesen. Ohne Garantie, dass ich Bruno überhaupt finde. Also habe ich mich entschlossen, hier auf ihn zu warten. Lernt man doch schon als kleines Kind: Wenn man sich aus den Augen verliert, geht man zu dem Punkt zurück, wo man sich als Letztes gesehen hat. Nur dass das Bruno anscheinend niemand beigebracht hat. Hurra!   Ich geh jetzt einfach.   So ganz wohl ist mir nicht dabei, aber hier noch weiter herumzusitzen, hilft Bruno auch nicht. Und mir erst recht nicht. Wenn ich im Dunkeln ohne Akku durch die Gegend stolpere, bin ich am Ende der, den sie nach drei Tagen mit gebrochenem Genick im Wald finden. An meinem Körper Bissspuren von Bären, Wölfen und tollwütigen Eichhörnchen. Die Viecher sind nämlich echt nicht ohne. Die fressen sogar kleine Vögel!   Also gut, ich geh jetzt.   Nach dieser Ansage an mich selbst, trete ich mir in den Hintern und erhebe mich endlich. Für einen Moment bin ich versucht, Brunos Sachen mitzunehmen, aber dann lass ich es doch bleiben. Immerhin bin ich einen Teil davon gerade erst losgeworden. Warum sollte ich ihn jetzt wieder mit zurückschleppen?   Der Weg in die Stadt ist lang und beschwerlich. Ein paar Mal bleibe ich noch stehen, um mich umzuschauen, ob ich nicht doch irgendeine Spur von Bruno entdecke, aber nach ihm zu rufen, traue ich mich dann schon nicht mehr. Was, wenn mich irgendjemand hört? Außerdem ist er ja kein entlaufener Hund und selbst die kommen meistens irgendwann zurück. Es besteht also kein Grund zur Panik.   Als ich bei mir zu Hause ankomme, brennt Licht im Wohnzimmer. Oder sagen wir mal, der Fernseher läuft und wirft einen gruseligen, blauen Schimmer auf die Wände. So durchnässt und durchgefroren wie ich bin, möchte ich eigentlich nur noch ins Bett, aber anhand der Tatsache, dass die Tür zum Wohnzimmer offensteht und meine Mutter bestimmt gehört hat, dass ich gekommen bin, stecke ich wenigstens mal kurz den Kopf zur Tür rein. Was ich da zu sehen bekomme, hängt mein Weltbild gleich noch ein bisschen schiefer. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa, im Fernsehen läuft ein Psychothriller und auf dem Tisch stehen eine Flasche Rotwein und ein halbvolles Glas. Das ist ganz und gar untypisch. Meine werte Erzeugerin guckt sonst nämlich nie so was Gruseliges, weil sie immer sagt, dass ihr der Horror der realen Welt vollkommen ausreicht, und sie hasst Rotwein. Die Flasche steht lediglich im Schrank, weil sie bei einer größeren Pizzabestellung mitgeliefert wurde und meine Mutter sie irgendwann mal zum Kochen verwenden wollte. Das ist ungefähr anderthalb Jahre her. Seitdem setzt das Ding Staub an und wartet darauf, endlich zu Essig zu werden und im Müll zu landen. Wenn meine Mutter sie jetzt aufgemacht hat, muss etwas passiert sein.   „Hey, Mum!“, versuche ich trotzdem eine lässigen Anrede. Vielleicht merkt sie ja nicht, dass bei mir auch gerade einiges im Argen liegt. „Hey, Schätzchen!“, kommt es auch prompt zurück. „Du bist aber früh wieder da. War es schön bei Pascal?“   Okay, jetzt weiß ich, dass hier definitiv etwas nicht stimmt. Dieses sofortige Umschalten auf Germany’s next Super Mom ist doch nicht normal. Was versucht sie zu verstecken?   „Nicht Besonderes. Haben einen Film gesehen und Pizza gegessen. Und bei dir?“   Ja gut, wenn sie schlau ist, wird sie jetzt Lunte riechen, weil ich mich nie danach erkundige, was bei ihr so geht. Andererseits ist meine Arschlochkarte für heute Abend schon voll, da muss ich zusehen, dass ich ein bisschen für Ausgleich sorge. „Ach, nichts Besonderes. Die Küche sieht immer noch aus wie Sau. Hab das Licht ausgemacht, jetzt ist es besser.“   Ich grinse ein bisschen, weil ich weiß, dass meine Mutter den Spruch von einer Postkarte hat. Sie hat das Ding mal in einem Laden gesehen, ein Foto davon gemacht und es mit der Unterschrift „mein Lebensmotto“ in ihren Status gestellt. Leider funktioniert das Prinzip nicht, wenn ich versuche, es auf mein Zimmer anzuwenden. Ganz schön unfair, finde ich. „Und danach?“, bohre ich nichtsdestotrotz weiter. Irgendwas muss noch passiert sein, hence the Rotwein.   Meine Mutter gibt für einen Augenblick vor, der Handlung auf dem Bildschirm zu folgen, bevor sie seufzend die Scharade beendet und den Ton abdreht. „Danach bekam ich einen Anruf. Der Zustand von Herrn Häberle hat sich rapide verschlechtert. Wie es aussieht, werden wir ihn keinen Platz in einem Pflegeheim mehr suchen müssen. Er wird übermorgen in ein Hozpiz verlegt.“ Für einen Moment zucken meine Mundwinkel. Übersprungshandlung nennt man das wohl, wenn ich mich recht erinnere. Mein Gehirn versucht, mit dem gesammelten Stress klarzukommen, und lässt beruhigende Glückshormone produzieren, indem es ein Lächeln anordnet, wo keines hingehört. Von außen muss das ziemlich makaber aussehen und jeder vernünftige Mensch würde mich sicher mit strafendem Blick darauf hinweisen, dass Lachen gerade absolut nicht angesagt ist. Auch nicht, wenn man sich der Ironie bewusst wird, dass Herr Häberle das mit dem „Ich gehe nicht in ein Pflegeheim, lieber sterbe ich“ wohl tatsächlich durchziehen wird. Ach Scheiße! „Kann man da nichts mehr machen?“, frage ich vorsichtig. Die Bilder von Bruno, der mit eingeschlagenem Schädel irgendwo im Wald unter einem umgestürzten Baum liegt, verdränge ich dabei lieber.   „Tja, ich weiß es nicht. Vielleicht geschieht noch ein Wunder und er erholt sich, aber viel Hoffnung haben die Ärzte wohl nicht.“ „Ach Scheiße!“, sage ich jetzt doch, weil mir einfach nichts anderes einfällt. Ich meine, ich kenne den alten Knacker ja nicht mal. Trotzdem ist der Gedanke, dass da ein Mensch demnächst nicht mehr da ist, den es schon so lange gibt – viel länger als mich oder sogar meine Mutter – irgendwie beklemmend. Ich meine, ja, ich weiß, Kreis des Lebens und so weiter. Außerdem sterben ja auf der Welt tagtäglich Leute. Minütlich sogar. Aber die sind halt irgendwie weit weg. Herr Häberle nicht. Vielleicht bin ich aber auch nur wegen des Abends ein wenig matschig in der Birne. Die ganze Sache mit Bruno und … ach Mist, jetzt denke ich schon wieder an ihn.   „Na ja, dann … wollen wir mal hoffen, dass die im Himmel gute Anwälte haben. Wenn er da ankommt, wird er bestimmt erst mal jemanden verklagen wollen, weil der seine Wolke im Halteverbot geparkt hat.“ Der Scherz ist dumm und ziemlich platt, aber meine Mutter lacht und ich beginne auch endlich zu grinsen. Dopaminherstellung go.   „Ich geh dann mal ins Bett“, sage ich, bevor sich meine Mutter vom Sofa erheben kann. Jetzt, wo sie wegen ihres Problems nicht mehr Trübsal bläst, könnte sie auf die Idee kommen, sich mit meinem beschäftigen zu wollen, und darauf hab ich keinen Bock. Ich krieg das schon irgendwie geregelt. Krieg ich doch immer. „Ja, ich auch gleich“, sagt meine Mutter und seufzt. „Aber vielleicht räum ich vorher doch noch die Küche auf.“   „Ach, lass doch. Das machen wir morgen zusammen“, biete ich großzügig an und weiß, dass ich das spätestens morgen früh bereuen werde. Aber, wie gesagt: Meine Karmabilanz ist momentan nicht besonders, da muss man sehen wo man bleibt.   „Ich erinnere dich dran“, erwidert meine Mutter lachen und ich gebe ihr noch ein leicht gequältes Lächeln, bevor ich mich zurückziehe, um endlich aus den nassen Sachen rauszukommen. Gelungener Abend geht anders.       „Ihr könnt uns hier rauslassen.“ Der Satz kommt von Michelle und ich glaube, ich habe selten eine Aussage von ihr so sehr begrüßt wie diese. Oh ja, bitte lasst uns endlich aussteigen. Bitte! „Bist du sicher?“   Michelles Mutter schaut vom Beifahrersitz nach hinten zu ihrer Tochter, die sich zwischen mich und Pascal auf die Rückbank der Böhmeschen Familienkutsche gequetscht hat. Natürlich hat sie das. Ich meine, warum sollte mein Freund auch neben mir sitzen, damit ich mir nicht wie das fünfte Rad am Wagen vorkomme? Und ja, es ist mir bewusst, dass Michelle die Kleinste von uns ist. Es ist also durchaus logisch, dass sie den mittleren Platz bekommen hat. Trotzdem hat diese Tatsache dazu geführt, dass ich seit einer knappen Dreiviertelstunde kein Wort mehr gesagt habe. Was zugegebenermaßen einen ziemlichen Rekord darstellt und trotzdem niemanden interessiert. Immerhin sind wir ja mit Familie Mustermann unterwegs. Da ist man höflich, nett und zivilisiert. Bis zum Umfallen. „Ja, Mama. Wir sind schließlich keine 12 mehr.“   Michelles Vater lacht. Er ist ein gemütlicher, bäriger Typ mit dunklem Bart und Brille. Und ziemlich viel Bauch unter seinem Strickpullover. „Oh, wenn ich mich recht erinnere, wolltest du damals schon nicht mehr mit uns ins Kino gehen. Weil wir ja – ich zitiere – so peinlich sind.“   Michelle rollt mit den Augen. „Oh bitte, Papa. Damals war ich 14 und du wolltest ernsthaft mit mir in 'Hotel Transsilvanien' gehen. Der ist für Kinder!“ „Also ich fand den super.“ Allgemeines Gelächter erfüllt die Fahrgastzelle und ich möchte am liebsten kotzen. Wenn ich mir vorstelle, was ich so mit 14 getrieben habe … da war mit meinen Eltern ins Kino zu müssen, wirklich meine geringste Sorge.   Der Wagen hält an einer Ecke gegenüber des großen Entertainment-Palastes. An der gelben Fassade ein unübersehbarer Schriftzug, damit man auch wirklich weiß, was sich in dem großen Klotz von einem Gebäude verbirgt. Könnte ja sonst auch ein Parkhaus sein. Nebenan glimmen die Leuchtschrift eines Casinos und eines Bowlingcenters. Wenn wir mehr Zeit hätten, könnte man danach dort einkehren. Aber nein, wir sind ja verabredet. Mit Michelle-Mama und Michelle-Papa. Yeah! „Wir holen euch dann in drei Stunden wieder ab“, verspricht Michelles Mutter noch, bevor sie die Tür schließt und das Auto endlich von dannen rollt. Ich glaube, ich habe gerade laut aufgeatmet. „Kommt ihr beiden oder wollt ihr noch auf den nächsten Bus warten?“   Es ist zwar ein dummer Spruch, trotzdem setzen Pascal und ich uns in Bewegung und traben hinter Michelle her. Besonders viel haben wir heute noch nicht miteinander geredet. Wie auch, wenn Michelle wie ein fetter Froschkönig zwischen uns gesessen hat. Und die wiederum hat lang und breit über ihren Hund gelabert, der am Abend zuvor eine Ratte am Flussufer aufgestöbert hat und deswegen mit vier Stichen genäht werden musste. Der Arme. Aber er war ja soooo tapfer. Kotz-würg!     Im Kino stehen ungefähr eine Million Leute, die sich in unübersichtlichen Schlangen auf die geöffneten Schalter zuschieben. Überall sieht man Filmplakate und Pappaufsteller, die Luft riecht nach Nachos und Popcorn und auf einem guten Dutzend Monitore wechseln sich die Werbung für Knabberkram mit den Vorstellungszeiten ab. Und als wäre das alles zusammen mit Eis, M&Ms, Softdrinks und drei Sorten schreiend bunter Slushies nicht schon genug, um den Blutzucker in ungeahnte Höhen zu treiben, lungert auf dem Weg zu den Kinosälen außerdem auch noch eine Süßigkeitenbar herum. Ich sehe genau, dass Michelle mit den Gummischlümpfen liebäugelt. Das oder sie versucht die Kuh auf der Truhe mit der amerikanischen Eiscreme zu hypnotisieren. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. „Und was wollen wir nun gucken?“   Pascal ist jetzt ganz der Begeisterte und scannt die Filmplakate. Die Auswahl ist, wenn man die Trickfilme mal abzieht, begrenzt. Action, Action, Abenteuer, Action, Thriller, Horror. Und der dritte Teil von Magic Mike. Dessen andere Teile ich natürlich gesehen habe. Einfach weil … Channing Tatum. Hallooohooo?!? Mal davon abgesehen fand ich die Handlung ein bisschen lahm, aber man kann eben nicht alles haben. Außerdem soll dieser Teil noch besser sein, was das Optische angeht. Von daher hätte ich eigentlich schon Lust … „Wollen wir den gucken?“   Michelle hat sich unauffällig angepirscht und meinen leicht zu langen Blick anscheinend bemerkt. Sofort schalte ich in Defensiv-Modus. „Nö danke, kein Bedarf. Aber wie wäre es mit dem da?“   Ich zeige auf das Plakat mit der durchgedrehten Mörder-Androiden-Puppe. Wirklich Bock habe ich auf diesen lebensgroßen Chucky-Verschnitt zwar nicht, zumal die auf dem Plakat echt gruselig guckt und tanzt, während sie Leute abschlachtet, aber hey, was tut man nicht alles.   Michelle zieht die Nase kraus. Etwas, das Pascal unheimlich süß findet. Hat er mir am Anfang ihrer Beziehung ungefähr dreimal am Tag erzählt. Es ist einer der Gründe, warum ich das hasse. „Ich weiß nicht“, meint sie zögerlich. „Bist du dir sicher?“   Hilfesuchend wendet sie sich an Pascal. Ich kann sehen, wie mein Freund die Stirn runzelt. Wenn es nach ihm ginge, würden wir vermutlich einfach in einen der Blockbuster gehen. Bei Marvel oder Steven Spielberg kann man ja eigentlich nicht viel verkehrt machen. Trotzdem reizt es mich, ihn auf meine Seite zu ziehen. Nur weil ich weiß, dass Michelle den Horrofilm nicht sehen will.   Aber du doch auch nicht, wendet der Spielverderber in meinem Kopf ein. Außerdem weißt er mich dezent darauf hin, dass ich mir nur wegen meiner kindischen Eifersucht Channing Tatum (!) entgehen lasse. Nicht, dass ich den Film nicht später noch sehen könnte, aber …   Er sieht ein bisschen aus wie Bruno, findest du nicht?   Okay, das geht nun wirklich zu weit. Bruno ist längst nicht so definiert und weit, weit, weit weg von der charismatischen Ausstrahlung dieses Gottes in Jeans. Aber davon mal abgesehen …   „Na schön, lasst uns was anderes gucken. Mir ist heute auch nicht so danach.“   Pascal zögert sichtlich. Vermutlich überlegt er, ob das eine Falle ist und ich und/oder Michelle heimlich darauf warten, dass er für einen von uns Partei ergreift. Also entscheidet er sich für die dritte Variante und wählt den Abenteuerfilm aus. Na meinetwegen, soll mir recht sein. Blaue Menschen sind ja auch ganz nett. Wir erstehen also drei Karten für „Avatar 2“ und statten uns mit ordentlich Fressalien aus. Bei der Summe, die wir am Ende bezahlen sollen, wird mir etwas schwindelig. Als Pascal jedoch anbietet, dass er das übernimmt, stelle ich mein schlechtes Gewissen mit der Versicherung ruhig, dass ihm seine Eltern das Geld mit Leichtigkeit aus der Portokasse wiedergeben können. Außerdem lasse ich mich ja auch nicht dauernd von ihm einladen. Und ich biete ihm an, ihm wenigstens einen Teil der Kosten zu erstatten. Was er ablehnt. Schwein gehabt. „Ich geh nochmal auf’s Klo“, verabschiedet sich Michelle. Pascal und ich bleiben allein zurück, zwischen uns ein Eimer Popcorn und eine Riesenportion Nachos, die wir unmöglich aufessen können. Zum Glück ist der Film ja lang und es gibt Käsesoße. „Und?“, fragt Pascal plötzlich. „Alles okay bei dir?“ Der merkwürdige Blick, den er mir dabei schickt, kann eigentlich nur eines bedeuten. Michelle hat gepetzt. Blöde Schnepfe! „Ja sicher, alles bestens“, lüge ich trotzdem sofort. Dabei gibt es so einiges, was so überhaupt nicht „bestens“ ist. Zum Beispiel die Sache mit Bruno. Oder dass ich den ganzen Tag vollkommen erfolglos versucht habe, irgendwelchen Lernstoff in meinen Kopf zu prügeln, aber so absolut nichts hängengeblieben ist. Lag vielleicht auch daran, dass ich alle drei Minuten die Newsseite auf dem Handy aktualisiert habe, um zu sehen, ob man irgendwelche Leichen im Wald gefunden hat. Was natürlich totaler Quatsch war. Immerhin ist Bruno schon groß. Der weiß, was er tut. Hat Stochastik trotzdem nicht einfacher gemacht. Oder Kurvendiskussion. Oder Geschichtszahlen der Antike. Ha! „Und du hast keine Schwierigkeiten?“, bohrt Pascal unerwarteterweise nach. Seit wann ist der denn so hartnäckig? Normalerweise fände ich es ja wirklich sweet, dass er sich solche Sorgen um mich macht, aber jetzt gerade wäre ich wirklich glücklicher, wenn er sich einfach mit meinem „Es ist nichts“ zufriedengeben würde. Das funktioniert doch sonst auch immer.   Ist wahrscheinlich Michelles Schuld. Na warte, wenn ich die in die Finger kriege. Ich hätte doch auf dem Androidenfilm bestehen sollen. Dämliche Kuh.   „Nein, hab ich nicht“, gebe ich deswegen reichlich genervt zurück. Natürlich könnte ich jetzt was vom Stapel lassen vonwegen dass mein Abi total in den Sternen steht, er lieber mit Michelle zusammenziehen will als mit mir und dass ich mir außerdem am Morgen meinen linken großen Zeh angestoßen habe, aber andererseits wäre das nicht wirklich fair, oder? Ich meine, er ist ja schließlich auch nicht für mich verantwortlich. Und das mit Bruno … das muss ich irgendwie selbst hinkriegen. Ohne seine Hilfe. Pascal hebt die Mundwinkel. Es ist wieder dieses absolut hinreißende Lächeln, mit dem er die Herzen reihenweise zum Schmelzen bringen könnte, wenn er es darauf anlegen würde. Kein Wunder, dass Michelle ihn ständig abknutscht. Er ist wirklich Zucker! „Okay, wenn du das sagst. Aber falls du was auf dem Herzen hast, sagst du Bescheid, ja?“ „Na klar.“   Ich verstecke mich hinter einem Grinsen, schon allein deswegen, weil Michelle wieder im Anmarsch ist. Sie soll nicht denken, dass sie irgendwas Wichtiges verpasst hat. „Können wir dann?“, fragt sie auch gleich gut gelaunt und denkt wohl, dass ich den Blick, den sie Pascal zuwirft, nicht mitkriege. Dabei hab ich genau gesehen, wie sie leicht die Augenbrauen gehoben hat, so als wollte sie sagen: „Und? Hast du was rausgekriegt?“ Und natürlich habe ich auch gemerkt, wie er kurz und gaaanz unauffällig den Kopf geschüttelt hat. Und wie sie mich beide im nächsten Moment angelächelt haben. So vollkommen unschuldig wie zwei Sahneflöckchen auf einem Schoko-Eisbecher. Aber mich können sie nicht täuschen. Ich weiß genau, was sich unter ihrer blitzsauberen Scheinheiligkeit verbirgt.   Zwei Freunde, die sich echt Sorgen um dich machen.   Oh man, wer hat den denn gefragt? Na los, Gewissen aus und Spaß-Modus an. „Ich geh mit Pascal auf den Pärchen-Sitz“, witzele ich daher und grinse, als Michelle und Pascal lautstark zu protestieren beginnen. Was verständlich ist. Immerhin habe ich beim Kartenkauf darauf bestanden, dass sie das Ding nehmen, weil das gemütlicher ist. Und weil Pascal die Cola dann auf meine Seite stellt und ich nicht dauernd Michelles Bazillen an meinem Strohhalm habe. Die hat aus dem Grund nämlich einen eigenen Becher. Ätsch! „Ich kann auch in der Mitte sitzen?“, biete ich großzügig an und bekomme zur Strafe eine Portion Popcorn in den Nacken. Geschieht mir ganz recht. Und es lenkt mich, als ich mich dann doch auf den Einzelsitz gesetzt habe, davon ab, dass neben mir ein alter Knacker sitzt und auf seinem Handy herumtippt. Vermutlich sucht er die Übersetzungs-App für Gehörlose.   Um uns herum wird es dunkel, der Ton geht an und alle Welt quatscht noch. Eigentlich hasst Pascal das, aber dieses Mal tuschelt er selbst noch mit Michelle, während erst die Werbung und dann die Trailer über die Leinwand flimmern. Erst, als der Hauptfilm beginnt, hört er damit auf, und auch der Typ neben mir steckt endlich sein Telefon weg. Die Vorhänge weichen noch ein Stück zur Seite und ich weiß, dass das jetzt der Moment ist, an dem ich mein Gehirn aus und den Genuss anschalten sollte. Trotzdem komme ich nicht umhin, noch ein allerletztes Mal für die nächsten drei Stunden an Bruno zu denken. Denn eigentlich verdanke ich es nur ihm, dass ich jetzt hier sitze. Mit meinen Freunden – obwohl fraglich ist, wann Michelle offiziell in diesen Kreis aufgenommen worden ist. Und ein ganz kleiner Teil von mir fragt sich, wie es wohl wäre, jetzt hier nicht alleine zu sitzen. Natürlich nicht mit Bruno, denn den gibt es schließlich nur im Doppelpack mit seiner dämlichen Affenbande und mit denen will ich unter Garantie nicht ins Kino gehen. Aber wenn … also, falls doch … wie würde es sich anfühlen?   Vielleicht gar nicht so schlecht, meint die Stimme in meinem Kopf und nicht zum ersten Mal bekomme ich ein kleines bisschen Angst vor ihr.       „Fabian!“   Bremsen quietschen, das Auto macht einen Satz und kommt gerade noch vor einem Radfahrer zum Stehen. Der Fahrer, ein junger Mann mit Helm und Sportbrille, macht einige wütende Gesten in unsere Richtung, bevor er sich wieder in den Sattel schwingt und davon braust. Allerdings habe ich gerade ganz andere Probleme als knackige Radfahrerhintern in engen Sporthosen.   „Was war das denn?“, will Herr Mehner wissen und schaut mich vollkommen entgeistert an „Das war jetzt schon das dritte Mal heute.“ Was definitiv nicht stimmt. Das hier war das erste Fahrrad, das ich heute übersehen habe. Davor waren es eine rote Ampel und eine Fußgängerin an einem Zebrastreifen, die noch nicht mal losgegangen war. Da war also mitnichten Gefahr im Verzug. Die hat mich doch kommen sehen.   „Tut mir leid“, sage ich trotzdem und senke reumütig den Blick. Immerhin hätte ich gerade wirklich fast Mist gebaut. Wahrscheinlich gehöre ich heute tatsächlich nicht hinter ein Steuer, aber nächsten Monat ist mein Geburtstag und ich hab die Pflichtstunden noch nicht voll.   Herr Mehner schnauft. Ich kann sehen, dass es in seinem Kopf arbeitet. Seine Stirn sieht aus wie ein Kartoffelacker. Ein sehr unordentlicher Kartoffelacker.   „Na schön. Dann bieg da vorne links ab. Und pass jetzt gefälligst besser auf!“   Gehorsam setze ich den Blinker und kriege es fertig, mich tatsächlich für fünf Minuten auf den Verkehr zu konzentrieren. Allerdings nur, bis wir in eine weitere Seitenstraße einbiegen. „So, und da vorne neben der Lücke bitte halten und einparken.“   Ich fluche innerlich. Ausgerechnet heute muss er mich auf den Endgegner hetzen. Noch dazu in einem Gässchen, das so schmal ist, dass ich nicht nur hinten sondern auch vorne aufpassen muss, damit ich nicht irgendwo anecke. Ne dämlichere Stelle zum Üben hat er wohl nicht gefunden.   „Muss das sein?“, maule ich deswegen auch sofort los, aber die Tour zieht heute bei Herrn Mehner nicht. „Ja, das muss sein. Oder glaubst du, dass wir das hier zum Spaß machen?“   Ich schüttele pflichtschuldig den Kopf. Natürlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Obwohl ich wünschte, es wäre so. Ein bisschen Spaß könnte ich in meinem Leben wirklich gerade brauchen.   Bruno ist Montag nicht zur Schule gekommen. Auf Nachfrage hieß es, dass er krank wäre. Unser Lehrer hat nicht weiter nachgefragt, aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Ob das wohl wirklich stimmt? Oder hat er sich das nur ausgedacht, um mir aus dem Weg zu gehen? Ab nächster Woche werden wir quasi nur noch zu den Klausuren anwesend sein; ansonsten haben wir unterrichtsfrei. Das hier ist also unsere letzte, reguläre Schulwoche. Und der Spacko kommt einfach nicht. „Wenn du noch ein bisschen länger wartest, kommt vielleicht doch noch jemand vorbei, der hier durchmöchte. Nur für den Fall, dass dir das passende Publikum fehlt.“   Auweia. Herr Mehner wird sarkastisch. Das heißt, es ist allerhöchste Eisenbahn. Sarah Binder hat mal den Fehler gemacht, das zu ignorieren. Es war grauenhaft.   „Ich mach ja schon“, grummele ich daher und lege den Rückwärtsgang ein. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege.   „Blinker“, mahnt Herr Mehner ruhig und ich könnte mich in den Hintern treten, dass ich nicht daran gedacht habe. Also schalte ich den Blinker ein, sehe nach hinten, gebe langsam Gas und schaffe es doch tatsächlich, den hinteren Teil des Autos in die Parklücke zu verfrachten. Der vordere hängt immer noch auf der Straße und ich brauche ungefähr 38.576 Züge, um endlich halbwegs gerade am Fahrbandrand zu stehen. Dabei ragt der Fahrschulwagen seitlich gute zehn Zentimeter über die anderen Fahrzeuge der Reihe hinaus. Ich sage mal so: Schön ist anders. Und auch Herr Mehner scheint nicht eben begeistert. „Bei der Prüfung wärst du jetzt durchgefallen“, stellt er fest und sieht mich strafend an. Ich presse die Lippen aufeinander und sage lieber gar nichts. Weil er ja recht hat. „Hast du Ärger in der Schule?“   Die Frage bringt mich so aus dem Konzept, dass ich den Kopf hebe und Herrn Mehner direkt anschaue. Er sieht jetzt nicht mehr wütend oder ungehalten aus. Eher besorgt. „Ihr habt doch bald Prüfungen, oder nicht?“   Ich nicke und richte den Blick aus dem Fenster.   „Ja. Nächste Woche geht es los.“   Ich weiß natürlich, dass es so ist. Trotzdem fühlt es sich seltsam irreal an. Danach ist die Schule zu Ende. Ein ganzer Lebensabschnitt. Und ich hab immer noch keinen Plan, was ich danach machen will. Oder wie ich das mit Bruno kläre. Himmel, jetzt schleicht der sich schon wieder in meine Gedanken. Ich will ihn da nicht haben. Los! Kusch!! Hau ab!!!   „Zu Hause?“   Ich brauche einen Moment um zu verstehen, was Herr Mehner meint. Als es dann 'Klick' gemacht hat, schüttele ich wieder den Kopf. Meine Mutter hat den Schock mit dem Hozpiz inzwischen verdaut und kümmert sich wieder um ihre Arbeit. Ganz wie gewohnt. Immerhin ist Herr Häberle nicht ihr einziger Klient. Die Familie mit den 25% Mieterhöhung und der Räumungsklage will auch bedient werden. „Nein, alles bestens“, wiederhole ich den Satz, den ich in den letzten Tagen geradezu inflationär oft von mir gegeben habe. Natürlich ist alles in Ordnung. Warum sollte das auch nicht so sein? Nur weil ich mir ein paar zu viele Gedanken über Bruno mache? Ist ja schließlich nicht so, als wenn ich ihm irgendwas versprochen hätte. Kann doch keiner ahnen, dass der auf einmal so eine gefühlsduselige Nummer abzieht. Das war nicht abgemacht und das will ich ihm nur nochmal sagen. Das ist alles.   „Na gut. Dann bring uns mal wieder zum Marktplatz. Eigentlich wollte ich mit dir ja von hier aus noch in die Brunnengasse, um meinen nächsten Schüler abzuholen, aber der ist diese Woche krank.“   Krank? Irgendwas kribbelt da in meinem Nacken, als Herr Mehner das sagt. Er wird doch nicht …   „Wen hätten wir denn abholen sollen?“, frage ich und versuche, dabei nicht allzu interessiert zu klingen.   „Sein Name ist Bruno. Bruno Spaich. Ihr müsstet euch aus der Schule kennen.“   In meinem Mund wird alles trocken und ich habe das Bedürfnis, mich spontan zu übergeben und danach in lautes Jubelgeschrei auszubrechen. Bruno. Ausgerechnet Bruno! „Ach, das trifft sich ja gut“, behaupte ich und lüge dabei wie gedruckt. Eine meiner leichtesten Übungen. „Ich hab nämlich heute Brunos Geschichtsbuch eingepackt und wollte es ihm noch wiedergeben, aber ich weiß leider nicht, wo er wohnt. Vielleicht könnten Sie mir die Adresse verraten?“   Herr Mehner sieht überrascht aus, scheint aber keinen Verdacht zu hegen. Vermutlich, weil ich heute eh schon so schräg drauf bin. „Natürlich. Aber wenn du willst, können wir auch schnell vorbeifahren. Dann kannst du ihm das Buch gleich bringen. Ich habe heute keine weiteren Termine.“ Wieder möchte ich jubeln. Gleichzeitig wächst der Drang, mein ohnehin nicht eben üppiges Mittagessen von mir zu geben. Der Fraß in der Cafeteria war heute wieder ungenießbar. „Das wäre toll“, bringe ich heraus und strahle Herrn Mehner an, als würde mein Magen nicht gerade rebellieren wie ein tollwütiger Wachhund. Er lächelt leicht und deutet nach vorne. „Dann mal los. Wir müssen da am Ende der Straße rechts und dann wieder die zweite links. Aber pass auf, das ist eine abknickende Vorfahrt.“   „Natürlich“, antworte ich siegessicher, setze den Blinker und schramme beim Gasgeben nur haarscharf an der gegenüberliegenden Hausmauer vorbei. Man könnte meinen, dass ich es eilig habe. Dabei ist das ja nun wirklich nur eine Frage der Perspektive.   Kapitel 10: Hundertprozentig sicher ----------------------------------- Das Haus, vor dem ich stehe, ist schon ein wenig älter, aber riesig. Nach rechts und links strecken sich weiß verputzte Wände unter einem dunklen Holzdach. Stallgebäude, ein Hofplatz, ein Bauerngarten. Vor den Fenstern Blumenkästen mit Geranien. Rote Geranien. Rundherum so ein Zaun aus dünnen Holzlatten, die mit Draht aneinandergebunden worden sind. Man kann hindurchsehen, aber wenn man das Haus betreten will, muss man durch ein großes, gemauertes Tor. Auch hier wieder Blumenkästen, ein Briefschlitz und eine Klingel. „Spaich“ steht in runden, altmodisch wirkenden Buchstaben auf einem sorgfältig geschriebenen Schild. Wenn ich hinein will, muss ich wohl klingeln. Vielleicht war das doch keine so gute Idee.   Aber ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr. Herrn Mehner habe ich mit der Versicherung, dass es länger dauern könnte, bereits nach Hause geschickt. Ich stehe also mutterseelenallein auf der Straße, die sich nach ein paar weiteren Häusern in der Landschaft verliert, und kann eigentlich nur die Flucht nach vorn antreten. Aber was ist, wenn Bruno mich gar nicht sehen will? Oder wenn er nicht zu Hause ist?   Blödsinn. Er ist krank, wo soll er denn sonst sein? Da ich auf die Frage keine Antwort weiß und auch nicht weiter dumm auf dem Grünstreifen herumstehen will, gebe ich mir selbst einen Ruck und drücke auf den Klingelknopf. Als nichts passiert, versuche ich es noch einmal. Vielleicht war ich ja beim ersten Mal nicht kräftig genug. Immer noch regt sich nichts und ich will mich schon umdrehen und abhauen, als plötzlich die Haustür aufgeht. Eine blasse, blonde Frau erscheint im Türrahmen. Sie hat eine spitze Nase und unruhige, helle Augen. „Ja?“, fragt sie und sieht mich nicht besonders freundlich an. Eine geblümte Schürze verhüllt den größten Teil ihrer Kleidung, aber ich kann sehen, dass sie einen langen Rock und eine weiße Bluse trägt. Darunter grobe Schuhe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich vermuten, dass sie gerade für ein Bauerntheater probt. Eigentlich wundert es mich, dass sie nicht noch ein Kopftuch aufhat. Zuzutrauen wäre es ihr.   „Frau Spaich?“, frage ich und bin mir nicht sicher, was gleich passieren wird. So, wie sie guckt, würde sie mir wohl am liebsten die Tür vor der Nase zuschlagen.   „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin ein Schulkamerad von Bruno und habe … also ich wollte ihm sein Buch wiederbringen, das er mir letzte Woche geliehen hat.“   Okay, das war jetzt nicht meine beste Vorstellung aber immerhin ist mir gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass es wohl nicht gut kommt, wenn ich sage, dass ich ihm die Hausaufgaben vorbeibringen will. Wir sind schließlich nicht mehr in der Grundschule. Und bei Herrn Mehner hat die Ausrede mit dem Buch ja auch schon gezogen. Warum also nicht dabei bleiben?   Ich sehe genau, wie Brunos Mutter zögert. Wenigsten nehme ich an, dass sie seine Mutter ist. Sie hat die gleichen Augen wie er, allerdings sind ihre eher blaustichig und von dunklen Ringen umgeben. Um ihren Mund haben sich tiefe Falten eingegraben. Sie sieht aus, als würde sie niemals lachen.   „Er ist oben“, sagt sie schließlich und fällt dabei ein wenig in sich zusammen. „Du kannst hereinkommen, wenn du möchtest.“   Mit diesen Worten dreht sie sich um und geht wieder ins Haus. Anscheinend erwartet sie, dass ich ihr folge.   Was für ein seltsames Haus, denke ich noch, bevor ich das eiserne Tor öffne und mich selbst hinein lasse.   Drinnen ist es muffig und dunkel. Ein vollkommen vollgestopfter Flur, dessen Garderobe aus messingfarbenen Haken fast überquillt. Darunter Gummistiefel, Arbeitsschuhe und ein Paar Sneaker, die ich als Brunos wiedererkenne. Allesamt riesig und groß genug, um einen kleinen Hund darin zu beerdigen oder wenigstens eine Katze.   „Entschuldige bitte die Unordnung. Ich räum das schnell weg.“   Während sie das sagt, wuchtet Brunos Mutter mit viel Mühe ein riesiges Bügelbrett zur Seite, das mitten in der altbackenen Küche steht. Links und recht türmen sich Körbe mit sauberer Wäsche auf, dazwischen ein großer Esstisch mit einer Eckbank und auf der Bank …   „Oh hallo. Wer bist du denn?“   Ein Mädchen mit langen Zöpfen schaut mich aus großen Augen an. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Heft, in dem sie anscheinend gerade geschrieben hat. Ihre Hand schwebt noch immer über der Stelle, wo sie gerade aufgehört hat. Allerdings antwortet sie nicht auf meine Frage. Sie sieht mich nur an. „Ge, Katie. Pack zusammen. Du kannst später noch weiterschreiben.“ „Ja, Mama.“   Sofort klappt die Kleine ihr Heft zusammen, steckt den Stift ein und macht, dass sie wegkommt. An der Tür, die zum hinteren Ende der Küche hinausführt, wagt sie es noch, einen schnellen Blick zu mir zu werfen, aber dann ist sie fort, bevor ich sie auch nur anlächeln kann. Sehr eigenartig. „Ich sage Bruno, dass du da bist.“   Auch Brunos Mutter schickt sich an, die Küche zu verlassen und ebenfalls nach oben zu verschwinden. Himmel, was ist denn hier los? Hab ich irgendwas Falsches gegessen oder warum flüchten die alle vor mir?   Du bist hier nicht willkommen.   Um das zu erkennen, muss man nun wirklich kein Einstein sein. Es ist, als fürchteten sie, dass ich irgendwas zu sehen bekomme, das nicht für meine Augen bestimmt ist. Dabei frage ich mich, was das sein soll. Eine Leiche werden sie ja wohl kaum im Keller versteckt haben. Obwohl … vielleicht die Uroma. Ist Kartoffeln holen gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Zuzutrauen wäre es ihnen. Ansonsten ist das hier alles nur … fürchterlich traurig. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Ich bin kaum fünf Minuten hier und möchte am liebsten schreiend davonlaufen. Die weiß gekachelten Wände, die abgescheuerten Fliesen. Nirgendwo ein bisschen Farbe, alles wirkt klein und gedrückt trotz der Größe. Kein Wunder, dass sich Brunos Mutter und seine … Schwester (?) so verhalten. Hier kann man doch nicht leben. Maximal überleben. Während ich mich so umsehe, fällt mein Blick auf das Bügelbrett. Ein angefangenes Wäschestück liegt darauf. Es ist ein weißes Hemd und mich durchzuckt ein Gedanke.   Ist das etwa das Hemd, das ich … ?   Vorsichtig trete ich näher, doch noch bevor ich auf das Etikett spähen kann, höre ich erneut Schritte. Im nächsten Augenblick kommt Brunos Mutter um die Ecke.   „Du kannst hochgehen, wenn du möchtest.“   Eigentlich möchte ich nicht, denn inzwischen fühlt sich das Ganze an, als hätte ich meine Nase schon viel zu tief in den Kaninchenbau gesteckt. Gleich wird bestimmt jemand mit einem Knüppel auftauchen und mich ohne zu zögern hinterrücks erschlagen. Oder eine von diesen Drahtfallen erwischt mich und ich zappele panisch darin herum, während sich die Schlinge immer enger um meinen Hals zieht und mich langsam erdrosselt. Wie genau ich auf solche Gedanken komme, weiß ich nicht. Liegt vielleicht an dem ausgestopften Tierkopf, der mich von der Wand des Ganges aus anglotzt, der sich an die Küche anschließt. Was genau es ist, kann ich nicht sagen. Die dunkle Holzvertäfelung schluckt hier so gut wie jedes Licht. Außerdem kenne ich mich mit diesen Viechern nicht so gut aus. Irgendwas mit Hörnern halt. Rehbock, Gemse, was weiß ich. Daneben hängen noch zwei Geweihe. Eines sieht aus, als hinge noch Fleisch daran. Absolut gruselig.   Nichts wie weg, denke ich und mache mich wider besseren Wissens daran, die knarrende Treppe zu erklimmen. Auch sie ist aus dunklem Holz und ächzt unter jedem meiner Schritte. Möchte mal wissen, wie die beiden anderen das gemacht haben, dass man sie kaum gehört hat. Die müssen ja leicht wie Vögelchen sein.   Oben immer noch erdrückende Enge. Ein Flur mit ausgetretenen Teppichen und ein Geländer, das unter meinem Griff wackelt, als ich mich die letzten paar Stufen hinaufziehe. An den Wänden uralte Tapeten. Es sieht aus, als wäre hier seit 50 Jahren nicht mehr renoviert worden. Mindestens. Selbst die Trockenblumen in der Vase am Fenster müssen noch aus der Zeit stammen. Vermutlich sollte ich aufhören, sie anzustarren, sonst zerfallen sie noch vor lauter Schreck zu Staub.   Dann hätte es wenigstens einer von uns hinter sich.   Vor lauter Erstaunen – oder vielmehr Entsetzen – habe ich sogar vergessen, warum ich eigentlich hier bin. Das wird mir erst wieder bewusst, als ich hinter mir eine Tür klappen höre. Zu sehen ist niemand, aber ich bin mir sicher, dass die eine Zimmertür ziemlich schuldbewusst dreinschaut. Dahinter presst sich wahrscheinlich gerade ein kleines Mädchen die Hände auf den Mund und versucht, nur keinen Laut von sich zu geben, weil der komische Typ mit der knallengen Hose und der lässigen Frisur immer noch hier herumsteht, als wolle er Wurzeln schlagen. Während ich mir das vorstelle, frage ich mich, wie alt die Kleine wohl sein mag? Sieben? Acht? Sehr viel älter jedenfalls nicht. Und warum hat Bruno sie nie erwähnt?   Wann denn? Etwa während sein Schwanz in deinem Arsch steckte?   Na gut, wenn man es so formuliert, wäre das wohl ziemlich schräg gewesen. Und es bestand ja auch absolut kein Grund dazu. Immerhin wollten wir nur ficken. Dazu muss man sich nicht mögen. Oder miteinander reden. Man muss nur geil sein und das waren wir. Beide. Bis zu der Sache mit diesem … Kuss. Was hat er sich nur dabei gedacht?   Vielleicht ja nichts. Wäre doch nichts dabei. Immerhin hast du früher auch mit allen möglichen Kerlen rumgeknutscht.   Wieder hat der Typ in meinem Kopf irgendwie recht. Aber das war bevor … Nein! Schluss damit! Ich werde mir jetzt nicht auch noch über ihn Gedanken machen. Reicht doch, wenn mir ein Kerl im Kopf rumspukt. Da brauch ich nicht noch irgendwelche Exe, die sich als Geist der vergangenen Weihnacht aufspielen und den Moralapostel mimen. Bruno hatte absolut kein Recht dazu, mich zu küssen. Und erst recht hat er kein Recht, jetzt die beleidigte Leberwurst zu spielen, nur weil ich nicht mitmachen wollte. Und um ihm das zu sagen, bin ich jetzt hier. So.   Mit neu gefasstem Mut werfe ich mich in die Brust, atme tief durch und mache mich auf den Weg, den gruseligen Flur entlang.   Nein, verdammt. Der ist nicht gruselig. Nur alt! Und dunkel. Himmel, du bist so eine Memme.   Ich zeige dem Lästermaul in meinem Kopf den Stinkefinger und stehe, ohne es zu merken, plötzlich vor zwei Türen. Hinter einer ist leise Musik zu hören und immer mal wieder ein bellendes Husten. Dazwischen ein Klappern und Klirren, so als würde jemand etwas beiseite räumen. Hinter der anderen ist es vollkommen still. Vermutlich das Schlafzimmer, das vor meinem geistigen Auge ebenso antik eingerichtet ist wie der Rest des Hauses. Dunkle, schwere Holzmöbel, gestärkte Blümchenbettwäsche und weiße, bodenlange Gardinen. Ein absoluter Alptraum wie aus Großvaters Zeiten. Und ich stecke mittendrin.   Konzentration jetzt!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Du bist wegen Bruno hier und das ist alles, was zählt. Also mach jetzt!   Immer noch starre ich die beiden Türen an und rühre mich nicht vom Fleck. Ob ich wohl klopfen sollte? Damit er weiß, dass ich komme. Andererseits wird er ja kaum nackt sein, nachdem seine Mutter mich schon angekündigt hat. Und selbst wenn, wäre das ja nichts Neues. Andererseits könnte ich mich auch noch aus dem Flurfenster stürzen. Dann hätten die Blumen wenigstens was zu lachen. Ach scheiß drauf. Ich klopfe jetzt.   Ich hebe also die Hand, balle sie zur Faust und poche dreimal kräftig gegen die Tür. Drinnen wird es still. Allerdings kommt auch keine Antwort, sodass ich mich dazu entschließe, doch einfach reinzugehen. Mit weichen Knie drücke ich die Klinke herunter und schiebe die Tür dann vorsichtig auf. Ein Schritt nach vorne und dann …   „Du?“   Vor mir steht Bruno. Er trägt eine ausgeleierte Jogginghose und ein altes T-Shirt und starrt mich mit fast ebenso großen Augen an wie seine Mutter und seine kleine Schwester zuvor. Irgendwas habe ich heute anscheinend an mir. „Äh ja … ich. Hi.“   Bruno erwidert nichts. Es ist unübersehbar, dass er nicht mit mir gerechnet hat. Natürlich nicht. Wie auch? Ist ja nicht so, als ob ich regelmäßig hier vorbeikäme.   „Deine Mutter hat gesagt, ich soll einfach hochgehen.“   Wenn ich die Schuld ein bisschen verteile, wird er mich vielleicht nicht gleich umbringen. Dieser Gedanke scheint ihm nämlich gerade gekommen zu sein, wenn ich den mörderischen Ausdruck in seinem Gesicht richtig deute. „Was willst du?“, blafft er mich an. In seinem Zimmer sieht es so ähnlich aus, wie im Rest des Hauses. Ein wenig moderner sind die Möbel vielleicht, aber nicht viel. Wenn ich raten müsste, würde ich auf Pressholz tippen. Ein irgendwie nichtssagender Braunton, an den Wänden ein paar Poster, ein zerwühltes Bett, Stereoanlage. Wer hat denn bitte heutzutage noch so was? Die eine Tür am Kleiderschrank ist schief. Sieht aus, als hätte jemand dagegen getreten. Daneben ein Regal mit Pokalen und einige Urkunden. Wofür er die wohl bekommen hat?   „Ich hab gefragt, was du willst!“, holt mich Bruno in rauem Ton wieder in die Wirklichkeit zurück. Er hat echt schlechte Laune und obendrein ist er anscheinend wirklich krank. Seine Augen glänzen fiebrig und vor dem Bett liegt ein Haufen benutzter Taschentücher. Irgendwas sagt mir, dass die nicht davon stammen, dass er sich hier in einer Tour einen runtergeholt hat.   Bei dieser Überlegung wird mir plötzlich klar, dass ich hier nichts verloren habe. Absolut nichts. Und trotzdem bin ich hier. So eine Scheiße!   „Also ich … ich will dir dein Buch wiederbringen.“   Keine Ahnung, warum mein Gehirn jetzt ausgerechnet das ausspuckt. Ist vermutlich mal wieder im Notfall-Modus. Fight or flight situation. Der Parasympathikus pumpt dabei jede Menge Hormone ins Blut, die dafür sorgen, dass ich besser kämpfen oder schneller rennen kann. Oder Bruno dümmlich anlächeln. Woher auch immer diese Idee jetzt stammt. „Was?“   Okay, bei einem Wettbewerb im Dumm-aus-der-Wäsche-Gucken, hätte er jetzt gewonnen. Ein Abbild vollkommenen Unverständnisses. Eine echte Meisterleistung. Ja wirklich!   „Warum?“   Ich blinzele zweimal, um wenigstens irgendwelche Muskeln zu bewegen. Der Rest von mir bleibt vollkommen erstarrt.   Los sag was! JETZT!   „Weil du es mir geliehen hast“, blubbere ich heraus. „Denkt deine Mutter wenigstens. Und Herrn Mehner hab ich erzählt, dass ich es aus Versehen eingesteckt habe.“   Noch immer ergibt das, was aus meinem Mund kommt, nicht wirklich einen Sinn. Wenigstens für Bruno. Ich kann sehen, wie er versucht, es zu verstehen. Er versucht es wirklich. Ganz feste.   „Aha“, macht er schließlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob er es jetzt tatsächlich kapiert hat oder nur so tut. Was beides in dieser Situation irgendwie angebracht wäre. Man, was habe ich mir nur dabei gedacht, hier einfach so reinzuplatzen? Ich sollte gehen. Ganz schnell. „Ja, ich … ich wollte mal nach dir sehen. Wegen Freitag.“   Für den Bruchteil eines Wimpernschlags meine ich, ein Aufblitzen in Brunos Augen zu sehen. Ein flüchtiges Abbild dessen, was ich am Freitag schon entdeckt habe. Es ist wirklich nur ganz kurz zu sehen – vermutlich gibt es Sternschnuppen, die länger am Himmel stehen – dann verfinstert sich sein Gesicht wieder.   „Da gibt es nichts zu sehen. Ich bin krank. Jetzt verschwinde.“ Die Ansage ist eigentlich deutlich, aber mein dummes Gehirn ist anscheinend der Meinung, dass das noch nicht genug an Aussprache ist.   „Ich hab auf dich gewartet“, beginne ich daher und werde sofort von Bruno unterbrochen, der sich drohend vor mir aufbaut. „Sag mal, hörst du schwer? Ich hab gesagt, du sollst abhauen. Oder soll ich dir Beine machen?“   „Aber du …“, versuche ich es noch einmal, als Bruno mich bereits am Kragen packt und gegen die nächste Wand schleudert. Sein Gesicht schiebt sich ganz dicht an mich heran und seine Schnupfen-Bazillen packen schon mal die Koffer, um in unentdecktes Neuland vorzudringen. „Ich hab gesagt, dass du dich verpissen sollst“, faucht er. „Also geh endlich. Na los! Verschwinde! HAU AB!“   Während er das sagt, presst er mich fester und fester gegen die Mauer in meinem Rücken. Nur zu gerne würde ich ihn jetzt ja in süffisantem Ton darauf hinweisen, dass ich nicht gehen kann, während er mich festhält, aber da ist etwas in seinem Blick, das mich die dummen Sprüche vergessen lässt. Ich spüre, wie sein ganzer Körper vor Anspannung zittert. Dass er nur zu gerne zuschlagen würde. Mir wehtun, mich treten und anschließend windelweich prügeln. Um mich für das büßen zu lassen, was ich ihm angetan habe. Aber in seinem Blick sehe ich etwas ganz anderes. Etwas, das mich vergessen lässt, was ich eigentlich sagen wollte. Oder was er gesagt hat.   Der Moment währt allerdings nicht lange, denn schon im nächsten bohren sich seine Fingerknöchel wieder schmerzhaft in meine Kehle. Ich bin mir sicher, er würde noch weiter zudrücken, als wir plötzlich eine zaghafte Stimme hören. „Bruno?“ Unsere beiden Köpfe drehen sich herum und erblicken das kleine Mädchen von vorhin. Wahrscheinlich hat sie der Lärm aufgeschreckt, denn wenn ich das richtig sehe, müsste die Wand, an die ich gerade so unvorteilhaft gedrückt werde, zu ihrem Zimmer gehören. „Katie.“   Für einen Moment wird Brunos Griff lockerer, doch dann fasst er wieder ebenso fest zu wie gerade eben.   „Verschwinde“, zischt er die Kleine an. „Das geht dich nichts an.“   Ihre Augen werden, obwohl das eigentlich nicht möglich scheint, noch größer. Sie sieht erst mich an, dann Bruno und dann macht sie zögerlich einen Schritt nach hinten. „Geh, Katie“, sagt Bruno noch einmal und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er das nicht zum ersten Mal sagt. Da ist etwas an der Art, wie er die Worte betont. An dem bedächtigen Nicken, mit dem die Kleine den Kopf einzieht und ebenso lautlos, wie sie gekommen ist, wieder verschwindet. Im gleichen Augenblick, als ihre Zimmertür zuklappt, lässt Bruno mich los. Er tritt zurück und eröffnet mir damit einen Fluchtweg. Nur, dass ich gar nicht fliehen will. „Geh“, sagt er fast im gleichen Tonfall wie zu seiner Schwester und doch ist es vollkommen anders. Sein Kopf ist gesenkt und es wirkt, als wäre er derjenige, der gerade einen Schlag in die Weichteile kassiert hat. „Du hast hier nichts verloren.“   Noch bevor ich darauf reagieren kann, hat Bruno sich bereits umgedreht und macht Anstalten, in sein Zimmer zurückzugehen. Als er jedoch die Hand hebt, um die Tür hinter sich zuzuschieben, halte ich es nicht länger aus.   „Sehen wir uns morgen in der Schule?“   Ich weiß nicht, warum ich das frage. Vielleicht, weil ich nicht einfach so gehen will. Weil ich nicht will, dass es einfach so vorbei ist.   Bruno sagt nichts. Eine ganze Weile steht er einfach nur da, dann hebt er den Kopf und holt tief Luft. „Ich glaube nicht, dass ich diese Woche nochmal wiederkomme.“   Danach schließt er die Tür und ich stehe da und habe das Gefühl, versagt zu haben. Ich weiß nur nicht genau, wobei.       Die nächsten zwei Wochen sind scheiße. Nicht nur, dass wir quasi eine Klausur nach der anderen schreiben und Bruno mich wie Luft behandelt, wenn wir uns denn überhaupt über den Weg laufen. Nein. Jetzt fängt auch noch Pascal an, mir auf die Nüsse zu gehen, und zwar mit einem Thema, bei dem ich nun wirklich nicht damit gerechnet hätte. „Was soll das heißen, du willst nicht feiern? Bist du irre?“   Eigentlich sollten wir gerade anlässlich unseres „Lerntreffs“ im Simmerichschen Wohnzimmer angewandte Sozialwissenschaft und ähnlichen Mist in unsere Köpfe quetschen, aber mir stehen Globalisierung, demographischer Wandel und das ganze Scheiß-Europaparlament bis hier. Wen interessiert denn so was? Mich jedenfalls nicht. Die machen doch eh alle, was sie wollen. „Nee, keinen Bock“, wiegele ich Pascal ab und tue so, als würde ich nichts lieber tun, als mich über die aktuellen Maßnahmen zur Gleichstellung der Frau auf dem innerdeutschen Arbeitsmarkt zu informieren. Dummerweise merke ich erst, als er mir die Broschüre aus der Hand nimmt, dass ich sie die ganze Zeit verkehrt herum gehalten habe. „Und warum auf einmal nicht mehr?“   Man, der ist aber heute auch hartnäckig. Dabei ist doch nun wirklich nichts dabei. Immerhin wird er ja erst in zwei Monaten 18. Und Michelle hat ihren Geburtstag auch nicht groß gefeiert, weil sie zu der Zeit mit ihren Eltern im Ski-Urlaub war. Also alles tutti. Ist ja nicht so, als würde wirklich jemand zu meiner Party kommen wollen. Also außer den beiden natürlich.   „Ist doch scheiße in der Prüfungszeit. Da kommt doch eh keine Sau. Ich kann dann ja meinen Führerschein feiern. Nächstes Jahr oder so.“   Herr Mehner hat mir nämlich angekündigt, dass er demnächst ins Krankenhaus muss, um sich an der Bandscheibe operieren zu lassen. Deswegen zieht er momentan die Schüler vor, die eine Chance haben, noch vor seinem Krankenhausaufenthalt die Prüfung zu machen, und ich gehöre offenbar nicht dazu. Nicht, dass mich das gerade wirklich schockt. So, wie es aussieht, werde ich wohl eh noch ein Jahr länger hier hocken müssen. Bye Bye, Abitur, hallo Kleinstadtmief!   „Boah, ich hätte jetzt voll Bock auf Chinesisch.“   Michelle, die gerade eben noch voll der Motivation schien, wirft plötzlich ihr Buch von sich und hält sich den Magen.   „Ich hab echt solchen Hunger. Ihr auch?“   Irgendwas ist faul im Staate Dänemark, aber noch bevor ich darauf komme, was es wohl sein könnte, hat Pascal sich schon in die Heldenbrust geworfen. „Ich könnte uns was holen. Dauert ja nicht lange.“ „Oh wirklich? Das wäre toll.“   Auch Michelle kann offenbar 1000-Watt-Lächeln, nur dass es bei ihr ziemlich cringe aussieht. Aber natürlich merkt unser Don Quijote davon nichts. Der ist ja so was von liebesblind. Zur Strafe bestelle ich mir einmal die Karte rauf und runter, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich kaum was runterbekommen werde. Die Sache mit Bruno ist mir auf den Magen geschlagen und das ganz ohne Kantine.   „Schön, ich hol den Kram dann eben ab. Also zerfleischt euch nicht, während ich weg bin.“   Oh nein, hab ich etwa verpasst, dass er mich hier mit Michelle alleine lassen will? Ach du Scheiße. Hilfe!   „Warte, ich komme …“   „Bis später!“, fährt mir Michelle jedoch ganz gekonnt in die Parade und schlägt, kaum das Pascal hindurch ist, die Haustür hinter ihm zu. Noch ahne ich ja nichts Böses, aber als sie sich umdreht, weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. „So, und wir beide reden jetzt mal Klartext“, verkündet sie und sieht nicht aus, als würde sie damit mathematische Gleichungen meinen. „Was ist mit dir los?“   „Nich- …“, beginne ich, komme jedoch nicht weit, bevor sie mich schon wieder unterbricht. „Verarsch mich nicht, Fabian. Du hängst jetzt schon seit Wochen total durch und zwar nicht deswegen, weil du dich so doll in dein Abi reinkniest. Deine Englisch-Klausur hast du nach der Hälfte der Zeit schon abgegeben, obwohl du gerade mal ein Drittel der Aufgaben bearbeitet hattest. Das sind doch alles nur Ausreden.“   Michelle, Mickey und Donald belauern mich alle drei gleichermaßen. Ihr Top heute ist blau, der Lidschatten violett. Hat ihr eigentlich mal jemand gesagt, dass das scheiße aussieht? Eigentlich könnte ich das machen. Lenkt sie vielleicht vom Thema ab.   „Das geht dich gar nichts an“, sage ich stattdessen und will mich in Pascals Zimmer verziehen, aber Pausbäckchen hält mich mit der Kraft der drei Bären am Arm fest und schaut mich böse an. Man, wieso müssen Pascals Eltern auch ausgerechnet heute zu diesem Tagungs-Verabredungs-Dingens gehen? Normalerweise würde ich mich ja über sturmfrei freuen, wenn es nicht a) mit Michelle wäre und b) dazu geführt hätte, dass ich jetzt metaphorisch gesehen darauf hoffen muss, dass Michelle nicht gleich noch eine Streckbank und glühende Eisen aus der Tasche zaubert. Zuzutrauen wäre es ihr.   „Jetzt hör doch mal endlich mit dem Scheiß auf“, meckert sie jedoch nur, bevor sich die Zornesfalten auf ihrer Stirn in irgendwas anderes Welliges verwandeln. Sieht aus wie Hundefutter. „Wir machen uns Sorgen um dich.“   Ja genau. Wir! Als wenn ich das glauben würde. Michelle wäre doch froh, wenn sie Pascal für sich allein hätte. Und der hat mich heute nur eingeladen, um mich wegen dieser Geburtstagssache zu belatschern. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe.   Gab es für dich vor ein paar Wochen auch noch nicht, unkt das Arschloch in meinem Kopf, das in letzter Zeit ziemlich still geworden ist. Nur ab und an wirft es noch ein, dass die sozialen Medien nach irgendwelchen Spuren von Bruno zu durchforsten, nicht gesund für mich sein kann. Was es auch bestimmt nicht ist, aber das muss man mir ja nicht dauernd unter die Nase reiben.   „Seit dieser Sache mit Bruno …“   Bruno? Moment mal. Woher weiß sie von Bruno? Oh, hab ich das jetzt laut gefragt? Verfickter Fuck! Und jetzt schaut Michelle auch noch so mitleidig drein.   „Also doch“, meint sie und guckt dabei immer noch wie ein Dackel. Scheiße, was meint sie damit? Hat sie mich etwa …   „Ich hab mir schon gedacht, dass da irgendetwas läuft zwischen euch. Ihr habt euch beide mehr als merkwürdig benommen. Zuerst seid ihr wie Hund und Katz und dann auf einmal … Puff. Nichts mehr. Und dann die Aktion mit dem Hemd. Da wusste ich, dass da irgendwas im Busch ist. Also spuck es aus. Was hat er angestellt?“   Ich glaube, wenn man mich beschreiben sollte, würde man wohl die Worte „er guckt wie ein Auto“ in den Mund nehmen. Obwohl die meisten neueren Modelle nicht mehr wirklich menschlich aussehen. Diese ganzen SUVs, die da über die Autobahnen rasen, gleichen eher getunten Kampfhunden, und wie so einer sehe ich momentan nun wirklich nicht aus. Mehr wie ein gegen die Wand gelaufener Mops.   „Angestellt?“, wiederhole ich daher nur und kann mir auf die Frage nicht so recht einen Reim machen. Weil eigentlich war ich es ja, der …   „Ja, angestellt“, fährt Michelle jedoch ungerührt fort. „Das mit dem Hemd fand ich ja noch ganz witzig. Zumal ich davon ausging, dass er dich damit wegen der Sache auf dem Ball drangekriegt hat. Verdient hättest du es jedenfalls. Außerdem hat er ja anscheinend im Gegenzug dafür gesorgt, dass diese peinlichen Filmchen von dir wieder verschwinden. Es war zumindest auffällig schnell Ruhe damit, nachdem Bruno sich persönlich darum gekümmert hat. Angeblich, weil er keinen Ärger mit seinem Trainer wollte, aber mal ehrlich … Auf den meisten Aufnahmen war er doch gar nicht zu sehen. Das kam mir gleich spanisch vor.“   An dieser Stelle habe ich bereits den Atem angehalten und wage nicht einmal mehr zu blinzeln, weil ich gerade ernsthaft befürchte, dass Michelle daraus meine Wichs-Häufigkeit ablesen könnte. Wer ist diese Frau? Etwa eine Wiedergeburt von Agatha Christi? Wobei, Moment mal … ist die überhaupt schon tot? Und wenn ja, wer hat sie ermordet? Michelle? Ich hätte zumindest so überhaupt keine Bedenken, eine Grand Jury davon zu überzeugen. Und wie geschickt sie mich in die Enge getrieben hat, nachdem sie Pascal aus dem Weg geräumt hat. Ob er wohl von der Aktion wusste? Immerhin hat er ihr ja sonst auch alles weitergetratscht, die miese Petze. Gerade, als ich jedoch überlege, ob ich jetzt lieber nach einem Anwalt verlangen sollte, ändert Michelle schon wieder ihre Taktik.   „Eigentlich wollte ich dich da ja schon zur Rede stellen, doch dann dachte ich mir: Hey, was soll’s? Fabian ist gut drauf. Es wird schon nicht so schlimm sein. Aber dann, an dem Abend, als wir im Kino waren, warst du so … aufgewühlt. Du hast während der ganzen Fahrt kein Wort gesagt und warst auch sonst verdächtig ruhig. Nicht einmal mit diesem Stripper-Film konnte man dich hinter dem Ofen vorlocken. Da wusste ich, dass etwas passiert sein muss. Etwas, das mit ziemlicher Sicherheit mit Bruno zu tun hat. Und ich frage mich schon die ganz Zeit, was das ist.“   Wow, sie ist echt gut, das muss man ihr lassen. Denn ganz kurz, also wirklich nur für den Hauch einer Sekunde, war ich gerade tatsächlich in Versuchung, mich ihr an die wogende Brust zu werfen und ihr mein Leid zu klagen. Fast. Nur leider zieht diese Lasst-Busen-Sprechen-Nummer bei mir nicht und die Blitzblaue-Liebmädchen-Äugelein-Masche auch nicht.   „Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Wenn ich mich weiter dumm stelle, kommt Pascal vielleicht mit dem Essen zurück und da sie ja gut erzogen ist, hab ich dann vielleicht meine Ruhe. Weil 'mit vollem Mund' und so. „Fabian!“   Jetzt ist sie kurz davor, körperliche Gewalt anzuwenden. Ich sehe es genau und ich weiß, dass sie ganz schön zuknuffen kann. Nicht wirklich ladylike, aber echt effektiv. „Jetzt rück endlich damit raus. Pascal ist schon ganz kirre deswegen.“   Ich schiebe die Unterlippe vor und gebe den Beleidigten. „Und warum fragt er mich dann nicht selbst?“   Als Antwort bekomme ich ein Augenrollen. „Weil er darauf wartet, dass du zu ihm kommst. Aber du bist ja stur wie eine Kartoffel und leidest lieber stumm vor dich hin. Anstatt einfach mal miteinander zu reden.“   So ein bisschen möchte ich ja immer noch zicken. Ja, zicken! Weil Pascal und Michelle die ganze Zeit gewusst haben, dass Bruno im Spiel ist, und nicht ein Sterbenswörtchen gesagt haben, während ich nutzlos Zeit und Energie darauf verwendet habe, sie genau das nicht merken zu lassen. Das hätte ich mir auch sparen können. Echt mal.   „Ihr könnt euch wieder abregen“, murre ich deswegen und bringe mich vorsichtshalber trotzdem aus Michelles Reichweite. „Wir haben das Ganze geklärt. Kein Grund, euch eure hübschen Köpfchen zu zerbrechen.“   Mehr ins Detail werde ich definitiv nicht gehen, und wenn sie sich auf den Kopf stellt. Allein dass ich zugegeben habe, dass das Ganze etwas mit Bruno zu tun hat, ist mehr, als ich jemals für möglich gehalten hätte. „Ach wirklich?“   Der Ton, in dem sie das sagt, legt nahe, dass sie mir kein bisschen glaubt. Aber ich will es ihr nicht erzählen. Ich will nicht!   Michelle schnauft und ich rücke gnädigerweise auf dem Sofa ein wenig beiseite, bevor sie sich neben mich plumpsen lässt. Ist ja nicht so, als wenn ich hier zu Hause wäre. Aber ich habe definitiv die älteren Rechte, das muss man mal festhalten. Während ich also die Fernbedienung suche, die irgendwo in den Tiefen der Couchlandschaft verschwunden ist, ist Michelle immer noch nicht fertig mit dem Thema. Himmel, die Frau nervt.   „Du würdest mir aber schon sagen, wenn er … na ja. Wenn er dir was getan hätte, oder?“   Ich unterbreche meine Suche, um sie ein bisschen begriffsstutzig anzustarren.   „Getan? Was denn getan?“   Michelle hebt die Schultern. „Weiß nicht. Dich vielleicht … bedroht. Oder erpresst. Um Geld oder so.“   Oh man, so langsam wird sie mir echt unheimlich. Denn irgendwo hat sie die Sache ja haargenau erfasst. Nur, dass sie die Rollen dabei genau vertauscht hat. „Nein, hat er nicht“, versichere ich deswegen ausnahmsweise mal aufrichtig. Michelle nickt mit aufeinander gepressten Lippen. „Hätte mich auch gewundert. Dazu ist er einfach nicht der Typ.“   Eigentlich bin ich ja wirklich, wirklich in meine Suche nach dem blöden Remote-Teil vertieft, aber der einzige Platz, an dem ich noch nicht nachgesehen habe, ist der, auf dem Michelle sitzt. Außerdem guckt sie so … so! „Als wenn du dich da auskennen würdest“, grummele ich daher leicht frustriert und durchkämme zur Sicherheit doch nochmal die Sofakissen. Man kann ja nie wissen. „Na jaaa …“, antwortet Michelle gedehnt. „Also eigentlich kommt das schon irgendwie hin. Immerhin kenne ich Bruno ja bereits, seit wir klein waren.“   Sie lacht. „Obwohl Bruno eigentlich noch nie wirklich klein war. Ich weiß noch, wie er sich auf den Klassenfotos immer neben unsere Lehrerin stellen musste, damit das nicht so auffällt. Einmal wollte ihn ein Vertretungslehrer sogar rauswerfen, weil er dachte, einer der Drittklässler habe sich bei uns reingeschummelt. Man, war der sauer.“   Ich grinse ein bisschen. „Wer? Bruno, oder der Lehrer?“ „Beide.“   Michelle lacht immer noch und plötzlich finde ich gar nicht mehr, dass sie blöd aussieht. Tut sie ja eigentlich auch nicht. Es ist nur … na ja. Weil Pascal sie halt lieber mag als mich. Ich will auch einen Pascal.   „Und sonst?“, frage ich weiter. „Wie war Bruno sonst so. Als Kind meine ich?“   Michelle zieht die Nase kraus und wackelt mit der Schnute. „Eigentlich nicht viel anders als jetzt. Groß, grob, ungehobelt. Obwohl er manchmal auch so seine Momente hatte. Ich weiß noch, wie er mir damals im Matheunterricht mein Lineal zerbrochen hat. Statt sich zu entschuldigen, hat er sich einfach umgedreht und ist weggegangen. Ich dachte ja noch: 'Was für ein Blödmann', aber am nächsten Tag stand er plötzlich vor der Schultür und hat auf mich gewartet. 'Gib her' hat er gesagt und dann meinen Ranzen den ganzen Weg bis in unser Klassenzimmer geschleppt. Und mittags wieder zurück. Wie ein Irrer. Eine ganze Woche lang. Und dann erst die Sache mit dem Hamster.“ Sie lacht und ich horche auf.   „Hamster? Was für ein Hamster?“   Michelle streicht sich eine Strähne hinters Ohr und zieht die Füße in einen Schneidersitz. „Wir hatten damals in der Klasse einen Hamster. Eine völlig bescheuerte Idee, wenn du mich fragst, aber damals wussten wir das natürlich nicht. Eines Tages lag der kleine Kerl dann leider tot im Käfig. Die anderen wollten ihn rausholen und anfassen, aber Bruno hat sie alle weggeschubst und gesagt, dass wir ihn beerdigen müssen. Wie ein Riesen-Trauerzug sind wir dann zum Lehrerzimmer gelaufen, Bruno vorneweg mit dem Käfig, wir anderen hinterher. Leider hat unsere Lehrerin uns verboten, den Hamster im Schulgarten zu vergraben. Also hat Bruno ihn ganz vorsichtig in seinen Ranzen gepackt und mit nach Hause genommen.“   Immer noch hänge ich an Michelles Lippen. Das klingt alles so unglaublich.   „Ja und?“, frage ich ungeduldig, als sie einfach aufhört zu erzählen. „Wie ging es weiter.“   Michelle zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Als Bruno am nächsten Tag in die Schule kam und wir ihn danach gefragt haben, hat er nicht geantwortet. Wir haben ihn gelöchert und gelöchert, bis er irgendwann wütend geworden ist und uns angeschrien hat, dass wir ihn endlich mit dem dämlichen Hamster in Ruhe lassen sollen. Und dass der Nächste, der ihn fragt, eins aufs Maul kriegt. Hat natürlich keiner geglaubt, bis er seine Drohung wahrgemacht und Theo Schelke Nasenbluten verpasst hat. Danach musste er zwei Stunden nachsitzen und wir haben nie wieder über den Hamster gesprochen.“   Ich unterdrücke ein Knurren. Das ist jetzt irgendwie unbefriedigend und nicht halb so lustig, wie ich es mir vorgestellt habe. Fast wie dieser Besuch bei Bruno, nach dem ich mich eigentlich hätte besser fühlen sollen, der aber alles nur noch schlimmer gemacht hat. Oder wenigstens maximal anders, aber nicht besser.   Ohne es zu merken, habe ich angefangen, auf meiner Unterlippe herumzukauen. Mal wieder. Das Ding ist schon völlig zernagt, auch wenn in den letzten zwei Wochen meistens nur Mist dabei rausgekommen ist.   „Und? Was willst du jetzt machen?“   Ich blicke auf und damit direkt in Michelles fragende Augen. „Machen?“, echoe ich. „Wie meinst du das?“   Sie schnaubt ein bisschen belustigt. „Na weil du so aussiehst, als würdest du gerade einen Plan schmieden, mit dem ich hundertprozentig nicht einverstanden wäre, wenn ich ihn kennen würde.“   Ich überlege kurz, dann grinse ich breit und frech. „Tja, dann würde ich mal sagen, dass ich ihn dir besser nicht verrate.“   Im nächsten Moment muss ich mich vor einem sich viel zu schnell nähernden Kissen in Sicherheit bringen. Man, die Frau ist echt gewalttätig. Während ich also mache, dass ich wegkomme, fängt mein Gehirn allerdings tatsächlich an zu arbeiten. Was, wenn ich Bruno zu einem allerletzten Treffen überreden würde? So rein hypothetisch natürlich. Ob er sich darauf einlassen würde?   Da müsstest du aber sehr überzeugend sein.   Leider muss ich dem nervigen Typen in meinem Kopf ausnahmsweise mal Recht geben. Aber just in diesem Moment fällt mir auch schon etwas ein, wie ich mit meinem Plan Erfolg haben könnte. Sofort zücke ich mein Handy und werfe die Suchmaschine an.   „Bräuer Moden?“, fragt Michelle erstaunt, nachdem sie unerlaubterweise einen Blick auf mein Display geworfen hat. „Was willst du da denn?“   Ich presse das Gerät an meine Brust und versuche, möglichst unschuldig auszusehen. „Och, nichts Besonderes“, flunkere ich, ohne mit der Wimper zu zucken. „Meine Mutter hat bald Geburtstag und ich wollte dort nach einem Geschenk für sie schauen.“   Michelle macht große Augen.   „In einem Laden für Herrenmode?   Jetzt ist es an mir, ein dummes Gesicht zu machen, und ich merke erst, als Michelle anfängt zu lachen, dass sie mich verarscht hat.   „Nee, keine Bange“, erklärt sie kichernd. „Die haben auch was für Damen. Aber ich glaube nicht, dass das der Geschmack deiner Mutter ist. Die Sachen von da sind voll spießig.“   Ich nicke nur, denn eigentlich glaube ich das auch nicht. Im Gegenteil; ich bin sogar der festen Überzeugung, dass meine werte Erzeugerin alles, was der Laden zu bieten hat, vollkommen scheußlich finden wird. Allerdings bin ich mir ebenso sicher, dass ich dort trotzdem genau das bekommen werde, was ich brauche. Hundertprozentig sicher.   Kapitel 11: Was du willst ------------------------- „Was soll das heißen, ich muss etwas kaufen?“   Vollkommen entgeistert starre ich die Tante auf der anderen Seite des Tresens an. Sie ist eine von diesen strengen, älteren Damen mit grauem Dutt (na gut, eigentlich hat sie nur einen Kurzhaarschnitt) Brille (trägt sie auch nicht, aber sie könnte) und einer hochgeschlossenen Bluse, die leider nicht ansatzweise hochgeschlossen genug ist, um die Altersflecken auf ihrem schrumpeligen Hals und dem noch schrumpeligeren Dekolletee-Ansatz zu verdecken. Ich schwöre, ich sage nie wieder etwas über Michelles tiefe Ausschnitte. Das hier ist viel schrecklicher! „Unsere Tragetaschen sind nur für unsere Kunden bestimmt“, antwortet mir Methusalenta reichlich pikiert und ich unterdrücke ein Schnauben. Tragetaschen. Ha! Als wenn die flimsigen Tüten des Modehauses Bräuer diesen Namen überhaupt verdient hätten. Wenn ich sie nicht so dringend bräuchte, würde ich mich jetzt ja glatt umdrehen und hoch erhobenen Hauptes den Laden verlassen. Leider geht das nicht, also verlege ich mich notgedrungenermaßen aufs Betteln. „Aber es ist wichtig“, beteuere ich mit weit aufgerissenen Augenbrauen und bebender Stimme. „Es geht um Leben und Tod.“   Na gut, nicht ganz. Eigentlich geht es nur darum, dass ich mich bei meinem … Klassenkameraden entschuldigen möchte und ihn dafür auf ein Treffen in eine etwas positiv besetztere Umgebung einladen will. Und weil ich ihm ja schlecht einen Brief schreiben kann – oder eine SMS; schließlich habe ich seine Nummer nicht – brauche ich halt eine Tüte. Dummerweise lässt die Schreckschraube mit der verkniffenen Miene mich eiskalt auflaufen.   „Tut mir leid, aber so sind die Regeln“, säuselt sie fadenscheinig und grinst dabei mit Sicherheit heimlich in sich hinein. Als wenn sie nicht genau wüsste, das ich mir hier drinnen nicht einmal ein Paar Socken leisten kann. Neben schlechtem Geschmack zeichnet dieses Geschäft nämlich vor allem eines aus: exorbitant hohe Preise. Ich frage mich echt, warum Brunos Familie hier einkauft. Immerhin scheint bei denen das Geld ja auch nicht gerade locker zu sitzen.   Vielleicht war es ein Geschenk.   Tja, keine Ahnung. Fest steht jedenfalls, dass ich mir anscheinend an dieser alten Schabracke die Zähne ausbeiße. Sie kann, oder besser gesagt will, mir einfach nicht helfen. Wahrscheinlich hat sie zu Hause auch Netze über ihren Kirschbäumen. Und Gartenzwerge! „Ich würde die Tüte auch bezahlen“, starte ich einen letzten Versuch, dem Drachen seinen Schatz zu entreißen. Vielleicht lässt er sich ja mit klingender Münze locken.   „Die sind nicht käuflich zu erwerben“, schmettert das Monstrum mir jedoch entgegen und ich bin mir jetzt sicher, dass das hier ein ganz klarer Fall von Diskriminierung ist. Die blöde Gans verweigert mir die Tüte doch nur, weil ich nicht in ihre kleine Welt aus sauber aufgereihten Maßanzügen und farblich sortierten Krawatten passe. Dabei hat meine Jeans keinen einzigen Riss und mein T-Shirt ist absolut fleckenfrei. Gut, es ist knallviolett und das Motiv ist ein Baum aus Lausprecherkabeln, an dem alle möglichen Dinge wachsen. Nicht zuletzt ein Kopf mit dicken Kopfhörern und einer von diesen alten, zweifarbigen 3D-Brillen. Aber das ist doch nun wirklich kein Grund, mir nichts verkaufen zu wollen. Oder zu schenken.   „Bitte.“ Ein allerletztes Mal versuche ich das Herz der eisernen Lady zu erwärmen. Kann doch nicht sein, dass die wirklich so verbohrt ist. Und schließlich ist es nur eine Tüte.   „Gibt es ein Problem, Frau Schneider?“   Ein Mann ist von uns beiden unbemerkt aus dem Hintergrund getreten. Er ist groß, gut aussehend und sein Anzug sitzt absolut tadellos. Ein dunkler Drei-Tage-Bart und lustig blitzende Augen unterstreichen seinen gebräunten Teint und geben ihm das Aussehen eines Mannes von Welt. Ich starre und habe nur noch zwei Fragen: 'Wieso habe ich den hier noch nie gesehen?' und 'Möchte er mich heiraten?'   „Dieser junge Mann möchte eine unserer Tüten, aber ich habe ihm bereits gesagt, dass das nicht möglich ist.“ Der Blick des Halbgottes im Zweireiher richtet sich zuerst auf mich und dann auf die Schrapnelle hinter der Kasse. „Und warum nicht?“, fragt er in warmen Timbre, das mir glatt eine Gänsehaut verpasst. Heilig’s Blechle, wenn der Pornos synchronisieren würde, würde ich glatt das Bild abschalten und mir nur auf seine Stimme einen runterholen. Der Wahnsinn! „Na weil …“ Die Dame kommt deutlich ins Stottern. Ich kombiniere haarscharf, dass der heiße Typ so was wie ihr Chef, wenn nicht gar der Besitzer des Ladens sein muss. Na, jetzt erklär das mal schön, du homophobe Kuh. Erklär mal.   Hecktische rote Flecken kündigen an, dass anscheinend gerade das Klimakterium zuschlägt oder ihr die Sache höchstpeinlich ist.   „Nun ja, ich dachte mir, dass er damit womöglich irgendeinen Schabernack treiben wollte. Und schließlich steht der gute Ruf unseres Hauses auf dem Spiel.“ Während sie sich das zusammenstammelt, schaut mich der gut aussehende Fremde immer wieder an. Man, wenn der so weitermacht, wird mir auch gleich ganz heiß. „Und?“, fragte er mich bedächtig. „Hast du vor, mit unserem guten Namen Schabernack zu treiben.“ Treiben? Ja bitte, lass es uns treiben. Meinetwegen gleich hier und jetzt. „Äh … nein. Natürlich nicht. Ich will nur …“   Der prüfende Blick bringt mich vollkommen aus dem Konzept. Ihm würde ich wirklich alles verraten. Sogar, dass ich in der vierten Klasse mal eine Packung Kondome geklaut habe oder auf welche Stellungen ich besonders stehe.   „Ich möchte jemanden einladen. Und dazu brauche ich die Tüte. Als Erkennungszeichen.“   Uff, jetzt ist es heraus. Und es klingt absolut dämlich. Das wird er mir niemals abkaufen.   Jetzt fängt der Sex on Legs an zu grinsen. „Ah, ein Date also? Wer ist denn die Glückliche?“   Mhm, okay, das ist jetzt ein ziemlicher Abturner. Denn erstens ist das mit Bruno natürlich kein Date und zweitens hätte ich gedacht, dass er weiß, was Sache ist. Ich hätte es ehrlich gedacht.   „Sie, äh … geht in meine Klasse“, lüge ich mit einem Kloß im Hals. Wäre ja auch zu schön gewesen. Vonwegen 'all the handsome man are gay'. Da kann ich ja nur drüber lachen! Der Smartie hingegen grient immer noch.   „Na, Frau Schneider, dann wollen wir mal nicht so sein. Geben sie unserem Kunden von morgen doch bitte eine von unseren größten Tragetaschen.“   Frau Schneider verzieht das Gesicht und ich kann es ihr nicht mal verdenken. Wenn es nicht für Bruno wäre …   „Ich brauch nur ne normale“, informiere ich den Schleimer und die Verkäuferin gleichermaßen. Ist ja nicht so, dass ich mir daraus einen Schlafsack basteln will. Ich will nur eine Einladung an Bruno darin verpacken und sie im Klo deponieren, damit er sie findet. Was mir jetzt, da ich draußen vor dem Geschäft stehe, doch reichlich albern vorkommt. Aber was Besseres hab ich grad nicht. Ansprechen ist unmöglich und nochmal bei ihm vorbeigehen ebenfalls. Aber ich muss es versuchen. Ich muss einfach.     Der nächste Klausurtag rückt an und ich bin denkbar schlecht vorbereitet. Alles, was ich mir am Wochenende noch eingeprägt habe, ist wie weggeblasen. Außerdem brennt mir die Tüte ein Loch in die Tasche. Ich muss es schaffen, dass Bruno mich mit dem Ding sieht. Was gar nicht so einfach ist, weil er heute ein anderes Fach schreibt und somit irgendwo am entgegengesetzten Ende der Schule sitzt. Und zu allem Überfluss ist heute die letzte schriftliche Prüfung. Danach stehen dann nur noch die mündlichen an. Entweder ich erwische ihn also heute oder ich kann das Ganze vergessen.   Was vermutlich auch schlauer wäre, unkt da schon wieder ein gewisser Jemand, aber ich ignoriere ihn. Immerhin habe ich extra die Tüte besorgt, da werde ich doch jetzt nicht kneifen.   Ich rate mich also durch meine Klausur, schmücke mein rudimentäres Wissen noch etwas mit klug klingenden Floskeln aus und gebe meine leidlich gefüllten Bögen unserem Lehrer mit den Worten „Seien Sie gnädig oder Sie müssen mich noch ein Jahr ertragen“ in die Hand. Anschließend bin ich frei und kann tun und lassen, was ich will. Na ja, fast wenigstens. Immerhin ist da noch die Sache mit Bruno, aber wie der Zufall es will, ist der offenbar auch schon mit seiner Prüfung durch. Wenigstens hängt er mit ein paar anderen aus seinem Kurs auf dem Pausenhof ab, als ich kurz darauf aus dem Schultor trete und gegen das grelle Sonnenlicht anblinzele. Oha, jetzt hat er mich gesehen. Mich und die Tüte in meiner Hand. Ich kann quasi fühlen, wie seine Augen schmal werden.   Ja, genau. Feiner Bruno. Komm, putt-putt-putt. Ich hab was Schönes für dich.   Als hätte er mich gehört, sehe ich, wie er den Kopf zu den anderen dreht und irgendwas sagt. Dann löst er sich aus der Gruppe. Oh fuck, scheiße, er kommt direkt auf mich zu.   So schnell ich kann, flüchte ich wieder nach drinnen. Das hat jetzt ja mal viel zu gut geklappt. Was mache ich nur?   Wie der Wind eile ich in Richtung des Klos, stürme durch die Tür und bis zum Ende des Ganges zur Fensternische.   Schnell doch. Schnell!   Mit zitternden Fingern öffne ich meinen Rucksack und nestele eine Rolle Klebeband hervor, die darin steckt. Ich versuche den Anfang zu finden, aber es klappt nicht. Scheiße, warum klappt das nicht? Meine Hände sind schwitzig. Ich hab höchstens noch eine Minute, dann wird er hier sein. Scheiße, Scheiße, Scheiße!   Irgendwann habe ich es doch geschafft, den Anfang des klebenden Fiaskos zu finden. Ich ziehe und natürlich reißt der Scheiß mittendurch. Mal ehrlich, für einen Euro kann ich doch wohl erwarten, dass das bekloppte Paketband tut, was es soll. Aber nein, es zickt, und ich hab doch keine Zeit. Egal jetzt.   Ich pappe mit dem Mut der Verzweiflung die Tüte an die Klowand und hoffe, dass das Klebeband sie wenigstens so lange an Ort und Stelle hält, bis Bruno sie findet. Danach pfeffere ich alles in Rekordtempo wieder in meinen Rucksack und will abhauen, als ich die Tür im vorderen Teil quietschen höre.   Scheiße!   In meiner Panik tue ich das Nächstbeste, das mir einfällt. Ich flüchte in eine der Kabinen, hocke mich auf den Klodeckel, ziehe die Füße nach oben und halte den Atem an. Natürlich besteht immer noch die Möglichkeit, dass einfach irgendwer anders hier gerade ein dringendes Bedürfnis absolvieren muss, aber irgendwie glaube ich nicht daran. Immerhin ist gerade für die anderen Klassen noch Unterricht und irgendwie … Es ist, als würde Bruno unsichtbare Schwingungen aussenden. Wie so ein Hai, der unter der Oberfläche näher kommt.   Scheiße!   Das mit dem Hai war jetzt keine gute Assoziation. Vor allem nicht, wenn gerade Schuhe in Größe 50 unter dem Rand der Kabine auftauchen.   Scheiße!   Mein Kopf ist gerade anscheinend nicht in der Lage, mehr als das eine Wort auszuspucken. Im Gegenzug merke ich, wie Bruno draußen vor der Kabine zögert. Vermutlich ahnt er, dass ich hier drin bin. Die anderen beiden Kabinen sind nur angelehnt, während meine Tür ordnungsgemäß verschlossen ist. Ich habe sogar den Riegel vorgelegt. Trotzdem muss ich mir auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuschreien bei der Vorstellung, dass er gleich einfach die Tür aus den Angeln reißt oder wenigstens den Griff aus dem Holz. Meine Fingernägel bohren sich in meine Schienbeine. Ich hab Angst. Vor der Tür scheint Bruno sich überlegt zu haben, dass er mich vorerst doch nicht behelligen wird. Seine Füße setzen sich wieder in Bewegung und der bedrohliche Schatten, der mit ihnen gekommen ist, zieht vorbei. Mein Herz ist schon versucht, den Taktschlag ein wenig runterzuregeln, als ich höre, wie Bruno stehenbleibt. Fuck, jetzt muss er meine Klebekonstruktion entdeckt haben. Ich muss hier weg. Ich muss hier ganz dringend weg.   Bitte lass ihn nicht sauer sein. Bitte lass ihn nicht sauer sein.   Ich weiß nicht, zu wem ich gerade bete, aber irgendwer wird mich doch sicher erhören. Immerhin habe ich mich noch nie mit irgendwelchen Anliegen an himmlische Instanzen gewandt, da muss auf meinem Wunschkonto doch noch ein Guthaben sein. Oder? ODER?   Es raschelt und ratscht. Bruno hat die Tüte von der Wand gepflückt. Ich höre, wie er sie öffnet. Auf dem weißen Fliesenboden wackelnde Umrisse, die mich nur undeutlich seine Bewegungen erahnen lassen. Andererseits ist ja nicht viel in der Tüte drin. Nur ein Zettel. 'Donnerstag 16 Uhr?' steht darauf. Mehr habe ich mich nicht getraut zu schreiben für den Fall, dass jemand anderer ihn findet. Allerdings hatte ich auch gedacht, dass ich weit, weit weg sein würde, wenn er ihn liest. Ob er mir wohl antwortet?   Ich warte. Brunos Gehirn scheint noch Sinn und Zweck meiner Botschaft zu erkunden. 'Bitte warten Sie, Ihre Anfrage wird bearbeitet.' Dabei ist das doch nun wirklich nicht so schwer zu verstehen. Willst du dich nun nochmal mit mir treffen oder nicht?   Vielleicht muss er ja erst überlegen, ob er das will. Der Gedanke ist nicht gerade angenehm. Denn wenn nicht, habe ich es wohl endgültig verkackt. Dementsprechend halte ich den Atem an, als er sich wieder bewegt. Seine Schritte nähern sich der Kabinentür, die Schuhe werden wieder sichtbar. Ich beiße mir auf die Lippen. Ich will schreien. Ihn anspringen wie ein kleiner Hund. Und? Und? Treffen wir uns? Nun sag schon. Sag es! Aber er sagt nichts. Er geht einfach. Ungläubig blinzele ich, als ich wenige Augenblicke später die Tür vom Waschraum sich öffnen und schließen höre. Danach bin ich allein. Niemand mehr da. Nur ich und mein beschissener, dämlicher Plan, der alles nur noch schlimmer gemacht hat. Ich könnte heulen.   Nach einer gefühlten Ewigkeit, kriege ich es hin, die Beine wieder auszustrecken und meine Füßen auf den Boden zu stellen. Es fühlt sich lächerlich banal an. Ich schnaufe, seufze, ziehe mich hoch und öffne die Tür. Es war eben doch kein guter Plan. So gar nicht. Wie, um mich davon zu überzeugen, biege ich um die Ecke zum Fenster. Da liegt die Tüte auf dem Boden. Ich hab nicht mal mitgekriegt, dass er sie fallengelassen hat. Frau Schneider wäre sicherlich entsetzt, wenn sie das wüsste.   Mit einem weiteren, gottergebenen Seufzen bücke ich mich, um sie aufzuheben, als ich plötzlich stocke. Moment mal. Da fehlt etwas. Der Zettel ist weg!   Suchend drehe ich mich um, doch ich kann ihn nirgends entdecken. Weder auf dem Boden noch auf der Fensterbank. Da das Fenster geschlossen ist, kann Bruno ihn auch nicht rausgeworfen haben, das hätte ich gehört. Ob er ihn in den Müll …? Wie von der Tarantel gestochen rase ich in den Vorraum. Dort klemmt an der Wand ein abgenutzter, weißer Drahtkorb mit einer blauen Tüte darin. Der Inhalt besteht aus zusammengeknüllten Papierhandtüchern, die meisten nass, einige aber auch nur weggeworfen oder vielleicht schon wieder getrocknet. Ob mein Zettel darin liegt?   Nein, auf gar keinen Fall werde ich den jetzt ausräumen. Das ist ja eklig. Außerdem, so rekombiniere ich Brunos Schritte, ist er nicht nochmal zum Papierkorb gegangen. Er hat die Toilette direkt verlassen. Aber das würde ja bedeuten …   … dass er den Zettel mitgenommen hat.   Und das wiederum bedeutet doch wohl, dass er sich mit mir treffen will. Oder? Vielleicht wollte er das nur nicht so direkt sagen. Oder er war sich noch nicht sicher. Aber wenn er den Zettel hat, dann …   Oh, ich hoffe es. Ich hoffe es so sehr.   Jetzt muss ich nur noch warten.     Der verabredete Tag kommt. Wie genau ich die letzten zwei Tage und vor allem Nächte überlebt habe, weiß ich nicht. Oder was in der Zeit passiert ist. Ich erinnere mich dunkel an ein Treffen bei Pascal, bei dem wir dankenswerterweise nicht miteinander geredet haben. Nur Pizza gegessen und Filme geguckt. Es hat sich gut angefühlt, aber irgendwie auch seltsam, da ich ja wusste, dass er von Bruno weiß, aber nichts gesagt hat. Irgendwann werden wir da vielleicht nochmal drüber reden müssen. Vielleicht aber auch nicht, wenn ich es schaffe, das heute endlich abzuschließen. Zu wünschen wäre es mir.   Um mich herum ist alles grün. Der Sommer ist nicht mehr zu leugnen. Die Tage werden länger, die Nächte kürzer, und das Thermometer klettert um die Mittagszeit in ungeahnte Höhen. In den Nachrichten stöhnen sie schon wieder über schlechte Ernten und Bauernsterben, aber ich habe heute ganz andere Sorgen. Das Holzhaus ist in Sichtweite gekommen und mein Herzschlag beschleunigt sich mit jedem Schritt.   Heute wird es enden, hämmert es in meinem Kopf. Die Empfindung dazu ist nicht ganz so eindeutig. Einerseits bin ich aufgeregt. Ich werde Bruno wiedersehen. Wie es ihm wohl geht? Ob er sich auf das Treffen freut? Ob wir noch mal … na ja? So als Abschluss? Ich hab auf jeden Fall zur Sicherheit was eingepackt. Nicht, dass ich das wirklich planen würde, aber besser vorbereitet sein, als hinterher mit leeren Händen dazustehen. Außerdem hatte ich so wenigstens was zu tun. Ist ja nicht so, als wenn ich morgens um sieben aufgewacht wäre, aber der Tag war trotzdem noch viel zu lang. Doch jetzt ist es endlich soweit. Juhu!   Die Hütte ist immer noch verlassen. Drinnen ist es dunkel, die hölzernen Fensterläden vorgelegt und die Tür ist zu. Anscheinend bin ich heute der Erste. Na gut, dann warte ich eben. Kann ja nicht mehr lange dauern.     Ich warte. Die Minutenanzeige, die ich mir ca. alle 30 Sekunden auf meinem Handy angucke, dehnt sich zu Stunden. Also nicht wirklich, aber es fühlt sich so an. Ich versuche, mich mit Videos oder einem Spiel abzulenken, aber es klappt nicht. Immer wieder zuckt mein Finger zum Bildschirmrand, um die Uhrzeit einzublenden. Schon 20 nach vier und immer noch kein Bruno. Ob er wirklich kommt?   Weitere zehn Minuten später, beginne ich zu zweifeln. Er ist jetzt schon eine halbe Stunde zu spät und irgendwie sieht das Bruno so überhaupt nicht ähnlich. Ob er mich versetzt hat? Oder es sich im letzten Moment anders überlegt?   Noch einmal 20 Minuten später bin ich mir sicher, dass er nicht kommen wird. Immerhin haben wir inzwischen fast fünf und es ist nicht einmal eine Nasenspitze von Bruno zu sehen, geschweige denn der Rest von ihm. Ich habe mir also vollkommen umsonst Hoffnungen gemacht. Bruno hat mich versetzt und das gründlich.   Mit einem leisen Seufzen erhebe ich mich. Um mich herum ist immer noch Sommer, aber ich fühle mich nicht mehr besonders beschwingt. Ich weiß, dass ich eigentlich nicht enttäuscht sein sollte, aber trotzdem. Die Niederlage nagt an mir. Ich hätte wirklich gedacht, dass er …   Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Es war so etwas wie ein Rumpeln. Oder Kratzen? Keine Ahnung. Auf jeden Fall kann ich mich nicht erinnern, das in der letzten Dreiviertelstunde schon mal gehört zu haben. Zumal es von drinnen kam. Aus der Hütte. WT…   Die Tür öffnet sich. Ganz langsam geht sie auf und ich kann mich nicht bewegen. Wie erstarrt sehe ich Bruno entgegen, der jetzt langsam aus der Tür tritt. Auch er sagt nichts. Er sieht mich nur an.   „DU?“, bringe ich irgendwann heraus. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er war also die ganze Zeit in der Hütte? Was hat er da gemacht? Und warum? Und …   „Du hattest geschrieben.“   Okay, okay. Ganz langsam jetzt. Er ist also hier. Kein Grund zur Panik. Darauf habe ich doch die ganze Zeit gewartet. Irgendwie klopft mir mein Herz aber trotzdem bis zum Hals und ich kann nicht atmen. Verdammt, was fällt dem eigentlich ein? „Musst du mich so erschrecken?“   Brunos Reaktion auf meine Frage besteht aus … nichts. Er verzieht keine Miene. Wartet nur darauf, dass ich etwas sage. Oder tue. Verdammt, was soll das? Wollte er mich aus dem Konzept bringen? Wenn ja, hat er das geschafft. Herzlichen Glückwunsch. Und jetzt? Willst du ne Urkunde?   Ich schnaufe und versuche es erst einmal mit Atmen. Mehr Sauerstoff ist ja angeblich gut für die grauen Zellen. Und außerdem muss ich mir meinen Plan wieder zusammenkratzen, den ich mir so mühsam zurechtgelegt hatte. Der Plan hieß: Sich bei Bruno entschuldigen. Für die Sache mit dem Kuss und für den Überfall bei ihm zu Hause. Und dann vielleicht noch Sex mit ihm haben. Letzteres kann ich aber wohl von der Liste streichen, denn irgendwie sieht er nicht so aus, als würde er mich heute an sich heranlassen. Oder auch nur in die Hütte. Soll ich jetzt etwas hier draußen mein Geständnis ablegen? Na gut, kann er haben.   „Es tut mir leid“, sage ich so aufrichtig, wie ich nur kann. Dabei schaue ich ihm genau in die Augen und bemühe mich, nicht zu blinzeln. Angeblich wirkt das ja ehrlich. Hab ich mal gehört. Oder gelesen. Ich weiß nicht mehr so genau. Bruno hingegen scheint das Memo nicht bekommen zu haben, denn sein Gesicht verdunkelt sich. Dummerweise sagt er immer noch kein Wort. Er dreht sich einfach nur um und geht zurück in die Hütte. Für einen Augenblick bleibe ich noch draußen stehen, dann folge ich ihm nach drinnen. Als ich reinkomme, lässt er sich gerade auf der Bank nieder. Es ist mehr oder weniger genau die gleiche Stelle, an der er gesessen hat, als ich … und er … Ach Scheiße!   Langsam schließe ich die Tür hinter mir. Es wird merklich dunkler, aber durch die Läden dringt immer noch genug Licht, um alles erkennen zu können. Vorsichtig, weil ich mir nicht sicher bin, wie Bruno das findet, trete ich näher. Er sitzt immer noch da, den Kopf gesenkt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Könnte er vielleicht auch mal was sagen? Nein? Okay, dann ich nochmal.   „Weißt du, ich … ich hab nicht damit gerechnet, dass du … versuchen würdest mich zu küssen., beginne ich stotternd . „Weil das für mich einfach was Besonderes ist. Also zumindest seit … seit mein Ex gesagt hat, dass das so sein sollte. Er hat gesagt, wenn man jemanden küsst, dann …. sollte man etwas für ihn empfinden. Zumindest dann, wenn es ein richtiger Kuss ist. Und ich hab … hab das wohl übernommen. Deswegen hat es mich auch so … geschockt, als du das tun wolltest. Weil ich einfach nicht damit gerechnet hatte. Aber wahrscheinlich hast du dir gar nichts dabei gedacht, also war es wohl übertrieben, dass ich …“   „Er hat recht.“   Brunos Unterbrechung meines merkwürdigen Redeschwalls kommt leise aber bestimmt. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Als ich nicht zu verstehen scheine, präzisiert er seine Antwort. „Dein Ex, meine ich. Ich finde, er hat recht.“   Natürlich höre ich die Worte. Und ich begreife sie auch irgendwo, aber die wirkliche Bedeutung trifft mich erst mit deutlicher Verspätung, dann aber wie ein Hammerschlag.   HAT BRUNO ETWA GERADE GESAGT, DASS ER ETWAS FÜR MICH EMPFINDET???   „Was?“, krächze ich und kann es immer noch nicht glauben. Meint er das ernst? So richtig ernst? Honto ni? „Aber du kannst nicht …“, plappere ich los und verhaspele mich in meinem eigenen Satz. Also weil, natürlich kann er. Eine Menge Kerle müssten mir eigentlich zu Füßen liegen und den Boden anbeten, auf dem ich dahinschreite. Aber das hier ist Bruno. Bruno hasst mich!   „Du hasst mich“, entfährt es mir dementsprechend auch und ich bin mir nicht sicher, ob ich nur in hektische Schnappatmung ausbrechen oder lieber gleich komplett in Ohnmacht fallen sollte. Letzteres wäre praktisch, weil ich dann nicht mehr reden könnte. Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, dass das das Beste für alle Beteiligten wäre. Bruno, der den Kopf zur Seite gedreht hat, brummt unzufrieden. „Ich hasse dich nicht.“   Jaaa, genau. Deswegen machst du mir auch seit zwei Jahren das Leben zur Hölle. Oder, na ja, Hölle ist vielleicht übertrieben. Du nervst rum und lässt keine Gelegenheit aus, mir auf den Zeiger zu gehen. Ist das etwa so ein Negative-Aufmerksamkeit-Ding? Ernsthaft jetzt? „Und weil du mich nicht hasst, hast du seit meinem ersten Tag hier nichts Besseres zu tun, als mich blöde anzumachen?“   Jetzt hebt Bruno seinen Kopf und sein Blick wird beunruhigend finster. „Und du?“, blafft er mich an. „Du hast seit dem ersten Tag hier nichts Besseres zu tun, als an allem herumzunörgeln und dich für was Besseres zu halten. Du scheißt auf uns, du scheißt auf unsere Gemeinschaft, du scheißt auf alles, was wir hier … haben.“   Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. „Und was soll das sein? Eine homophobe, bis zum Arsch zugeknöpfte, intolerante, keine Ausnahmen duldende …“ „Warum willst du denn auch unbedingt anders sein?“   Brunos Ausbruch ist so heftig, dass es mir für einen Moment den Atem verschlägt. Ernsthaft jetzt? Das fragt er mich? „Na weil ich anders bin“, fauche ich zurück. „Und niemand in diesem ganzen gottverdammten Kaff wird je müde, mir genau das klarzumachen. Ich passe nicht hierher. Ich gehöre nicht hierher. Es gab sogar eine Petition, um mich von der Schule zu entfernen.“   „Nur aus den Umkleideräumen“, wirft Bruno ein und ist dabei zum Glück so kleinlaut, dass ich ihm nicht an die Gurgel gehe. Trotzdem sprühen meine Augen tonnenweise Funken. „Und wie würdest du dich fühlen, wenn man das mit dir machen würde?“   So, jetzt ist es heraus. Der Elefant ist aus dem Sack und endlich reden wir darüber. Denn das ist doch das eigentliche Problem. Dass Bruno verdammt nochmal auch anders ist und er eine Scheißangst hat, dass jemand das mitbekommt. Und weil er sich ja schlecht selbst verprügeln kann, drangsaliert er eben mich. Aber ich hab keinen Bock mehr darauf, mich stellvertretend für seine eigene ungeliebte Seite blöd anmachen zu lassen. Vor allem nicht, wenn er jetzt auch noch mit diesem Gefühlsmist anfängt. Denn wie soll das gehen? Wie soll das funktionieren? Selbst wenn ich das wollte, könnten wir doch nie … wir könnten nie …   Ach Scheiße!   Immer noch stehe ich da und versuche, wütend auf Bruno zu sein, aber es klappt einfach nicht. Stattdessen habe ich jetzt Mitleid mit ihm. Dieser große, starke Kerl, der innendrin so ein erbärmlicher Hasenfuß ist. Andererseits habe ich ja gesehen, wie es hier abgeht. Und, wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich wohl auch Schiss gehabt. Riesenschiss sogar. Es anderen zu sagen ist immer ein Risiko. Selbst ich musste zusehen, wie Leute, von denen ich dachte, dass sie cool damit wären, mir den Rücken zukehrten, als sie es erfuhren. Wie oft habe ich dumme Sprüche kassiert. Absichtlich und unabsichtlich. Wie viele nervige Fragen sind mir gestellt worden. Über Sachen, die keine Sau was angehen. Ich bin inzwischen darüber hinweg, aber Bruno? Der steht noch ganz am Anfang. Allein, dass er es mir gesagt hat, muss ein Riesenschritt für ihn gewesen sein. Und ich reagiere so bescheuert.   Ich schnaufe. Einfach, weil es gerade das Einzige ist, was mir einfällt. Man, was für eine beschissene Situation. Für mich und für Bruno. „Rück mal.“   Mit dem Spruch trete ich zu ihn und lasse mich, nachdem er ein Stückchen mehr Platz gemacht hat, einfach neben ihn fallen. Unsere Oberschenkel pressen sich aneinander und auch der Rest von mir hat nicht unbedingt Platz auf der Bank. Als er es merkt, will Bruno noch weiter nach rechts rutschen, aber ich komme ihm zuvor. „Lass mal, geht schon“, sage ich und gebe ihm nun meinerseits ein bisschen mehr Raum. Als wir uns endlich arrangiert haben, gibt es immer noch Berührungspunkte, aber es ist nicht so eng, dass es unangenehm wäre.   Und was machen wir jetzt?   Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Ich meine, Bruno hat mir quasi gerade seine Liebe gestanden. Was merkwürdig genug ist, wenn man bedenkt, dass wir uns vor ein paar Wochen quasi noch spinnefeind waren. Oder wenigstens dachte ich das. Vielleicht hätte ich ein bisschen genauer hingucken sollen. Eventuell hätte ich dann die Zeichen erkannt.   Eine Weile lang sitzen wir einfach nur da, bis ich es schließlich nicht mehr aushalte. Ich muss jetzt etwas sagen. „Michelle hat mir von dem Hamster erzählt.“   Okay, das war jetzt unerwartet. Wer von euch hat da oben die Kontrolle übernommen und an den Hebeln rumgespielt? Na? Hä? Wer war das?   „Welcher Hamster?“   Na prima. Nicht einmal Bruno weiß, wovon ich rede. Oder tut er nur so? „Na der, den ihr in der Schule mal hattet. Den du begraben wolltest.“   Neben mir höre ich ein kurzes Schnauben, dann ein tiefes Durchatmen. „Ach der. Ja, das war … ein Hamster.“   Für einen Moment kommt es mir vor, als hätte er etwas anderes sagen wollen. Aber was? Und warum rückt er nicht einfach damit heraus. Er weiß doch, dass er mir vertrauen kann.   Weiß er das?   Na gut. Ich gebe ja zu, dass ich mich vielleicht nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert habe, was das angeht. Aber sein Geheimnis habe ich für mich behalten. Mehr oder weniger.   „Was hast du mit ihm gemacht?“   Bruno schreckt aus seinen Gedanken auf.   „Was?“, fragt er nach und wirkt ziemlich entrückt. „Der Hamster“, beginne ich noch einmal von vorne. „Ich habe gefragt, was du mit ihm gemacht hast.“ Wenn er jetzt sagt, er hat ihn aufgeschnitten oder gegessen, laufe ich. Ganz schnell.   Bruno schweigt noch eine Weile, aber dann, als ich schon denke, dass das heute nichts mehr wird, bekomme ich doch noch meine Antwort. „Mein Vater hat ihn … er hat ihn auf den Mist geworfen. Hat gemeint, Tiere bräuchte man nicht zu begraben. Erst recht nicht solches Ungeziefer. Also hat er ihn weggeworfen. Wie ein Stück Müll.“ Wow, das ist hart. Zumal ich mir gerade vorstelle, dass den Hamster doch dann bestimmt irgendwelche Krähen mitgenommen und aufgefressen haben. Ich meine, wenn er ihn wenigstens in die Mülltonne …   „Und dann?“, frage ich, mehr um von diesem Bild loszukommen. In meinem Kopf hat die Krähe dem Hamster nämlich gerade den Kopf abgehackt. „Was ist dann passiert?“   „Nichts“, erklärt Bruno. „Er hat nur gesagt, dass ich aufhören sollte, so ein Gesicht zu machen. Und dass er mir eine Tracht Prügel verabreichen würde, dass ich drei Tage nicht sitzen kann, wenn ich es wagen sollte, noch einmal wegen dem Drecksvieh zu flennen. Ein Junge weint nicht.“   Oh WOW. Also das toppt jetzt wirklich alles. Nicht, dass mich das wirklich wundert, aber so ein Spruch ist ja wohl ultradaneben. Junge. Mädchen. Er war ein Kind, verdammt. Und sein Haustier war gestorben. Da darf man sehr wohl weinen. Da darf man immer weinen. So ein Schwachsinn!   „Hätte deine Schwester auch so einen Spruch kassiert?“   Die Spitze ist heraus, bevor ich es mir verkneifen kann. Als hätte ich geahnt, dass ich damit das nächste Thema anschneide. Es ist wie ein Fluch. „Katie? Vermutlich nicht. Sie hätte er wohl einfach ignoriert, schätze ich. So, wie er es immer tut.“   Während er das sagt, schwingt eine Bitterkeit in Brunos Stimme mit, die ich mir nicht so ganz erklären kann. Ignorieren klingt irgendwie besser als verhauen. Obwohl das auf seine Art natürlich ebenso falsch ist. Was läuft nur schief mit diesem Mann? „Und deine Mutter?“   Ich weiß, es ist dämlich, aber ich muss einfach nach ihr fragen. Immerhin scheint Bruno gerade nicht drauf und dran, mir den Kopf abzureißen, nur weil ich ihn auf seine Familie anspreche.   Doch dieses Mal schweigt Bruno. Ich vermute mal, dass das jetzt doch irgendwie kein gutes Thema war. Und so wirklich geklärt haben wir das mit uns eigentlich auch nicht. „Tut mir leid“, sage ich noch einmal. „Dass ich letztens so aus heiterem Himmel bei dir aufgetaucht bin. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du an dem Abend einfach so im Wald verschwunden bist.“   Bruno schweigt noch eine Weile, aber ich sehe, dass sich sein Gesichtsausdruck geändert hat. An was er denkt, kann ich daran nicht erkennen. Vielleicht an den Abend. Oder an meinen Besuch. „War vielleicht auch nicht die beste Idee von mir“, sagt Bruno plötzlich und beantwortet mir damit immerhin diese Frage. „Ich war einfach nur so …“ „Aufgewühlt?“, biete ich an. Nicht, dass ich Michelle irgendwas nachplappern würde. Mir erschien das Wort nur gerade so passend.   Bruno sieht mich an und lächelt ein winziges Lächeln, nicht mehr als ein kurzes Verziehen seines Mundwinkels, bevor er den Blick wieder abwendet und zu Boden starrt. „Ja“, sagt er leise. „So kann man das wohl nennen.“ Er presst die Lippen aufeinander und aus irgendeinem Grund fängt mein Herz plötzlich wieder an zu pochen. Dabei ist doch jetzt alles wieder in Ordnung. Ich hab mich entschuldigt, er hat sich entschuldigt. Jetzt müssen wir uns nur noch die Hand reichen.   Ich bewege mich. Kaum merklich aber irgendwie habe ich das Gefühl, das Bruno es trotzdem registriert. Er schluckt und ich könnte das eigentlich ebenfalls mal tun. Nur so, um überhaupt was zu machen. Was anderes jedenfalls, als meine Finger langsam auf seine zuzuschieben. Jetzt berühren sie sich auch noch. Himmel, was mache ich da? So wird das ganz bestimmt kein Handschlag. Mehr so ein … Händchenhalten. Nur dass wir uns nicht wirklich anfassen. Es ist mehr wie ein … ach, ich weiß auch nicht, wie man das nennen soll. Seine Hand liegt neben meiner und sie berühren sich. Ganz leicht, so als hätten wir beide Angst davor, was passiert, wenn wir weitergehen. Dabei ist das so albern. Immerhin haben wir schon … na ja. Gefickt halt. Ist ja nicht so, als wenn ich plötzlich prüde geworden wäre. Und ich bin auch keine 12 mehr. Willst du mit mir gehen. Ja, Nein, Bitte ankreuzen.' Und immer hat irgendein Depp dann noch ein 'Vielleicht' druntergequetscht, als wenn das irgendwie hilfreich wäre. Oder weniger peinlich. Dabei stellt sich doch die Frage hier bei uns überhaupt gar nicht. Weil: Das ist Bruno. Und Bruno …   „Ich mag dich.“ Der Satz kommt so unvermittelt, dass ich beinahe glaube, mich verhört zu haben. Erst im zweiten Anlauf, begreife ich, dass er das wirklich gerade gesagt hat. Zu mir! Das ist so irre, dass ich nicht anders kann, als zu lachen. Bruno guckt, als fände er das gar nicht komisch.   „Warum lachst du?“   „Na weil …“, beginne ich und kann es doch nicht richtig erklären. Immerhin habe ich zwei Jahre mit der Vorstellung gelebt, dass Bruno mich auf den Tod nicht ausstehen kann. Aber jetzt … jetzt ist alles so ganz anders und das macht irgendwas mit mir. Und ich weiß nicht, ob ich das gut finde. Oder finden sollte.   Aber du magst ihn doch auch.   Die Erkenntnis ist eigenartig und fast noch schockierender als die Tatsache, dass er mich mag. Ich meine, ich bin ja immerhin nicht derjenige, der …   Ach nein?   Die gehässige Stimme in meinem Kopf stemmt die Hände in die Hüften und funkelt mich herausfordernd an. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, war ich auch nicht gerade nett zu Bruno. Ich habe mich über ihn und seine Freunde lustig gemacht, wo immer es ging. Was nicht entschuldigt, was sie gemacht haben. Immerhin waren sie zu fünft und ich ganz alleine. Aber trotzdem bin ich vielleicht, eventuell, ganz am Rande nicht so ganz unschuldig daran, dass die Sache zwischen uns sich immer weiter zugespitzt hat. Aber trotzdem. „Und wann ist dir das aufgefallen?“ Das wüsste ich nun wirklich gerne. Denn, wenn man jemanden mag, hackt man doch nicht dauernd auf ihm herum. Man stellt ihm kein Bein oder so was, wenn man sich nicht gerade auf dem Niveau der fünften Klasse bewegt.   Bruno schweigt und nimmt seine Hand wieder zu sich. Ich lasse meine noch einen Augenblick liegen, bevor ich sie auch zurückziehe. Das hier ist nicht richtig. Es sollte nicht sein.   „Weißt du noch damals bei diesem Sportfest? Als wir dich in den Schuppen eingesperrt haben?“   Ich tue, als müsste ich überlegen, aber natürlich weiß ich sofort, wovon er spricht. „Klar. Ihr hattet ganz schön die Hosen voll, als ich rausgelassen wurde, oder?“   Bruno lächelt kurz, bevor er wieder ernst wird. „Ja, hatten wir. Paul hat zwar vorgeschlagen, dass wir behaupten, dass es keine Absicht war, aber dass sich ein Vorhängeschloss von selbst wieder einhängt, war halt irgendwie …“   Bruno schweigt kurz und ich erinnere mich, dass da tatsächlich ein ziemlich massiver Balken vor der Tür gewesen ist. Und ein Stahlriegel. Und dass es ziemlich Lärm gemacht hatte, als sie ihn vorgelegt hatten. Die Story, die sie unserem Lehrer hatten auftischen wollen, war also wohl wirklich ziemlich hanebüchen. „Aber dann hast du gesagt, dass es nicht so schlimm war und wir dich wohl nur aus Versehen eingesperrt haben, weil du nicht aufgepasst hast. Und ich weiß noch, wie ich in dem Moment dachte: 'Fuck, er verrät uns ja gar nicht. Warum verrät er uns nicht?' Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Gustav meinte später, dass das echt anständig von dir gewesen sei. Jakob hatte zwar gleich wieder irgendwas dagegen anzumeckern, aber ich fand, dass Gustav recht hatte. Und dass es verdammt stark von dir war, uns nicht zu verraten.“   Für einen Moment lasse ich die Nachwehen meines Heldenruhms noch nachwirken, dann seufze ich, denn es ist wohl an der Zeit, dass ich Bruno aufkläre. „Ich war eigentlich nur froh, dass ich nicht an dem Scheiß-Sportfest teilnehmen musste. Und ich hatte keine Bock, auf ewige Befragungen und Elterngespräche und den ganzen Kack, der nachgekommen wäre, wenn ich euch verpfiffen hätte. Also hab ich gesagt, dass es ein Versehen war. Ganz einfach.“   Bruno schweigt. Eine ganze Weile schweigt er, dann beginnt er plötzlich zu lachen. Ich ziehe eine Schnute und frage beleidigt, was das jetzt soll. Er kann jedoch gar nicht aufhören, sich zu beömmeln. „Meine Liebe beruht auf einer Lüge“, kichert er und sieht mich an, als wäre das wirklich witzig. Und, wenn ich ehrlich bin, ist es das irgendwie auch.   Ohne mein Zutun fange ich an zu grinsen. Bruno lachen zu sehen, ist schön. Viel schöner, als immer so ernst. Oder wütend.   „Wenn du lachst, siehst du eigentlich ganz gut aus“, informiere ich ihn daher und stoße ihn mit dem Ellenbogen an. Er stupst zurück und im nächsten Augenblick balgen wir uns auf der Bank. Es ist gut und befreiend und, wenn ich ehrlich bin, liebe ich es, ihn anzufassen. Muskeln, Arme, Beine. Und ich liebe es, wie er mich anfasst. Stark und kräftig, aber gleichzeitig so sanft, dass er mir nicht wehtut. Ich kann jedoch nicht verhindern, dass er mich irgendwann niederringt und ich auf dem Rücken unter ihm liege und nach Luft schnappe. Sein Gesicht ist direkt über mir und ich sehe, was ihm durch den Kopf geht.   Na los, nun mach schon, feuere ich ihn in Gedanken an. Küss mich endlich.   Aber er tut es nicht. Er schaut mich einfach nur an.   „Weißt du, ich kann dich wirklich gut leiden“, sagt er und lächelt dabei so ganz leicht.   „Ich dich auch“, sage ich sehr zu meiner Verwunderung, denn eigentlich hatte ich ja beschlossen, dass Bruno nicht geht. Dass er tabu ist. Eine persona non grata. Ein echtes No-No. Aber trotzdem liege ich hier und würde diesen Platz um nichts auf der Welt mit jemandem tauschen. „Und wenn wir es niemandem sagen?“ Da ist Hoffnung in Brunos Stimme. Eine Hoffnung auf etwas, das ich ihm nicht geben kann. Denn wie sollte das funktionieren? Heimliche Sex-Treffen im Wald? Händchenhalten auf dem Klo? Knutschen, wenn keiner hinsieht? Es würde maximal eine Woche dauern, bis Pascal und Michelle von der Sache Wind bekämen. Und ein ungeschriebenes Gesetzt sagt, dass es nur umso schneller herauskommt, je mehr Leute davon wissen. Das muss auch Bruno klar sein und doch will er es versuchen. Er will es unbedingt.   „Okay“, sage ich und weiß, dass es ein Fehler ist. Es muss einer sein, doch die Art, wie er mich ansieht, lässt mich vergessen, was alles dagegen spricht. Denn während er das tut, kann ich nur noch daran denken, wie es sich anfühlt, ihn auf mir zu spüren. An mir. In mir. Ich weiß, dass meine Pupillen sich mit Sicherheit gerade ziemlich erweitern und auch in Brunos Blick ist plötzlich etwas, das vorher noch nicht da war. „Ficken?“, frage ich und genieße, wie er bei dem Wort zusammenzuckt. Aber es ist kein Schreck. Mehr ein ertapptes Aufbäumen. Ein wohliger Schauer, der ihm ebenso wie mir tief zwischen die Beine fährt. „Aber … ich hab nichts mit“, stößt er hervor und ich spüre die riesige Härte an meinem Bein mehr und mehr anschwellen. Scheiße, Bruno, als wenn mir das nicht egal wäre.   „Na und? Machen wir es eben ohne“, sage ich grinsend und weiß, dass ich damit eine ganz klare Regel breche. Auch Bruno sieht mich zweifelnd an. „Wird das nicht … wehtun?“   Ich grinse noch ein bisschen breiter.   „Ich hab nicht vom Gleitgel gesprochen.“ Er zuckt erneut. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er gerade gekommen ist. In seiner Hose. Scheiße, das wäre heiß. Aber die Latte, die sich da immer noch steinhart und bombenfest gegen meinen Oberschenkel drückt, spricht eine andere Sprache.   „Und … darf ich dich dann auch küssen?“   Die Frage ist irgendwie niedlich. Immerhin habe ich ihm gerade angeboten, mich bare zu ficken, und er fragt, ob er mich küssen darf? Was für ein Trottel. „Klar darfst du“, antworte ich jedoch und hebe meinen Kopf ein wenig an, sodass wir uns noch näher sind. „Du darfst alles, Süßer. Alles, was du willst.“   Kapitel 12: Versprochen ----------------------- Brunos Lippen liegen auf meinen. Also eigentlich liegen sie nicht. Sie vollführen ein komplettes Workout. Und ich? Ich mache mit. Weil es sich gut anfühlt und aufregend ist. Auch wenn ich dabei kurz an Jamie denken muss. 'Versprich mir, dass du niemanden küsst, wenn er nicht der Richtige ist.' Das hat er gesagt, als wir uns das letzte Mal getroffen haben. Fast sechs Monate hat es gedauert, bevor er wieder jemanden hatte. Nur ich hab hier in Kuhkaffhausen in die Röhre geguckt. Weil gar niemand da war, in den ich mich hätte verlieben können. So richtig echt jedenfalls. Und jetzt küsse ich Bruno. Of all people. Ob das wirklich eine gute Entscheidung ist?   Aber Jamie kann mir nicht vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Er spielt keine Rolle mehr in meinem Leben. Oder?   Ich erinnere mich an den Moment, als ich das Foto von ihm und seinem Neuen gesehen habe. Knutschend. Natürlich. Damit auch allen klar ist, was da zwischen ihnen läuft. Und ich erinnere mich daran, dass es weh getan hat. So sehr, dass ich an dem Tag beinahe etwas sehr Dummes getan hätte. Aber zum Glück ist mir noch rechtzeitig eingefallen, dass Pascal wirklich, wirklich hetero ist und ich ihn, wenn ich was versucht hätte, nur auch noch verloren hätte. Also hab ich mich beherrscht und die mitgebrachten Fläschchen lieber in mich statt in ihn reingeschüttet. Irgendwann bin ich dann auf der Couch eingeschlafen und am nächsten Morgen mit einem Mordsschädel aufgewacht. Jamie war immer noch liiert, ich immer noch solo und Pascal immer noch mein Freund. Wenigstens das hatte ich hingekriegt. Der Rest … naja. Läuft nicht so bei mir.   Bruno unterbricht den Kuss. Seine hellen Augen mustern mich forschend, auch wenn seine Ohren schon wieder feuerrot glühen. „Was ist los?“, fragt er und beweist damit mal wieder mehr Aufmerksamkeit, als ich ihm zugetraut hätte. Wie peinlich. „Die Bank ist hart“, rede ich mich heraus und hoffe, dass er nicht merkt, dass ich gerade an was ganz anderes gedacht habe.   „Und du bist schwer“, schieße ich noch hinterher. Sofort weicht der Druck von meinem Brustkorb, weil Bruno sein Gewicht verlagert. So richtig passen wir beide nämlich nicht auf dieses schmale Holzbrett, sodass sein eines Knie schon seit geraumer Zeit den Boden küsst, während wir hier oben rummachen. Dass er mich deswegen jetzt allerdings mit traurigen Hundeaugen anschaut, wollte ich nicht. „Hey, schon gut. Ich bin halt nicht gemacht fürs passiv Rumliegen.“ Ich grinse, bevor ich hinzufüge: „Auch wenn ich mich sonst gerne nehmen lasse.“   Sofort schleicht sich wieder ein Lächeln auf Brunos Gesicht. Ich kann förmlich hören, wie er daran denkt. Wie es sich anfühlt, wenn wir Sex haben. Ich war ja auch schon ein paar Mal Top und weiß, wie es ist, wenn man jemanden unter sich hat. Oder über sich. Jamie hat sich meistens für oben entschieden. Er mochte es, die Kontrolle zu haben. Und ich hab ihm immer vertraut.   Bis er dich abserviert hat.   'Nein, das stimmt so nicht', möchte ich widersprechen, aber ich kann es nicht. Denn genau so hat es sich damals angefühlt. Natürlich war die Idee, mit 15 eine Fernbeziehung zu führen, absolut lächerlich. Aber er hätte es wenigstens versuchen können. Versuchen müssen.   „Lässt du mich hoch?“   Ich will nicht mehr hier liegen, Bruno küssen und an Jamie denken. Ich will mich ablenken und ich weiß schon, wie ich das schaffe. Denn, sind wir mal ehrlich, nichts macht den Kopf so gut frei wie Sex. Guter Sex obendrein. Was das angeht, kann ich mich bei Bruno nun wirklich nicht beschweren, auch wenn wir an seiner Kusstechnik noch ein bisschen feilen müssen.   Ein Aufblitzen in Brunos Augen folgt meiner Frage. Ich weiß nicht genau, was es zu bedeuten hat, aber ihm scheint der Gedanke in seinem Kopf zu gefallen. „Halt dich fest“, sagt er zu mir und ich ahne plötzlich, was er vorhat. „Bruno … Nein!“   Doch es ist schon zu spät. Mit einem Ruck hat er mich gepackt und ich kann gar nicht anders, als mich an ihn zu klammern. Wie ein kleines Äffchen hänge ich da und er lässt mich durch die Luft schweben, als wäre ich nicht schwerer als ein Aktenordner. Das ist doch verrückt!   „Halt, was machst du?“, rufe ich halb panisch, halb lachend, während sich die Welt um mich herum viel zu schnell bewegt und ich plötzlich wieder eine Tischplatte unter meinem Hintern habe. Brunos Arme liegen immer noch um meinen Körper und ich spüre seine Atembewegungen an meinem Bauch. Seine Hüften zwischen meinen Beinen. Meine Arme liegen um seinen Hals und mir wird klar, dass das hier unsere erste richtige Umarmung ist. Ein ganz Nahesein. Viel näher als je zuvor. Trotz des Sexes. Oder vielleicht gerade deswegen?   „Das wollte ich schon lange mal machen.“   Brunos Stimme schwankt ein bisschen, während er das sagt. Ich spüre seine Aufregung und das nicht nur im meinem Schritt.   „Was? Mich auf den Arm nehmen?“   Ich kann mir den Kalauer einfach nicht verkneifen, doch zum Glück lacht Bruno. Er lächelt. „Ja. Nein. Ach, ich weiß auch nicht.“   Tief in seinem Brustkorb, der sich immer noch hebt und senkt, glaube ich ein dumpfes Dröhnen zu hören. Sein Herz, wie es schlägt. Wie es wummert und pocht. Alles nur, weil ich da bin. Er ist so verliebt.   Und du?   Die Frage ist nicht fair und das Arschloch in meinem Kopf weiß das auch.   Es ist nicht richtig, was du da machst.   Aber ich mag Bruno doch. Ich mag ihn wirklich.   Insgeheim frage ich mich, wann wir zwei eigentlich Positionen getauscht haben. Erst war er es, der mir Bruno einreden wollte, und jetzt meckert er rum, weil ich mich an ihn ranmache. Was will der Kerl eigentlich?   Was willst du? Ich schnaube innerlich. Das ist nun ganz sicher nichts, über das ich mir gerade Gedanken machen möchte. Und doch sollte ich mir wohl antworten. Was will ich?   Wie, um eine Lösung für dieses Problem zu finden, sehe ich zu Bruno auf. Der Tisch ist nicht hoch genug, um unseren Größenunterschied auszugleichen. Dazu bräuchten wir vermutlich eine Küchentheke. Oder eine Leiter. Aber das hier ist trotzdem gut. Zu gut, um es nicht auszunutzen.   Langsam löse ich meine Hand aus Brunos Nacken und streiche mit den Fingern über die kurz geschorenen Stellen. Es fühlt sich gut an. Viel weicher, als ich gedacht hatte. Wenn ich ihn angesehen habe, hab ich immer an so kratzigen Polsterstoff denken müssen. Dabei ist sein Haar eher wie Samt, wenn man ihn gegen den Strich bürstet. Wie ein Teddybär. Jamies Haare waren lang. Länger als meine. Ich hab immer hineingegriffen, wenn wir uns geküsst haben. Aber mit Bruno geht das nicht. Trotzdem will ich es probieren. „Komm her“, sage ich leise und ziehe seinen Kopf zu mir heran. Brunos Lippen sind schmal, dafür ist sein Kiefer breit. Ich streiche mit dem Daumen daran entlang, während sich unsere Lippen immer weiter einander annähern. Bruno ist wirklich mehr als eine Handvoll und das nicht nur im übertragenen Sinne. Bei ihm kann man zupacken, ohne Angst haben zu müssen, dass etwas kaputtgeht. Oder?   „Küss mich“, flüstere ich, hebe den Kopf und öffne die Lippen leicht. Ich weiß, dass das verdammt sexy aussehen muss. Nicht umsonst will Bruno sich sofort auf mich stürzen, doch ich halte ihn sanft aber bestimmt zurück. „Langsam“, weise ich ihn an. Sofort zögert er. Vermutlich fragt er sich gerade, ob er vorhin etwas falsch gemacht hat. Dabei war der Kuss gar nicht so schlecht. Lediglich etwas … ungestüm. Wie ein junger Hund, der in eine Pfütze springt. Dieses Mal wollen wir schwimmen gehen.   Immer noch ziehe ich ihn näher. Meine Lippen streifen seine. Nur ganz leicht und doch spüre ich ihn erbeben. Noch einmal hasche ich nach ihm, bevor ich ihm endlich meine vollen Lippen gebe. Nur ganz kurz, sodass er auf den Geschmack kommt, dann bin ich wieder weg. Ich spiele mit ihm wie mit einem Kreisel. Diese Dinger, die man in alten Kinderbüchern sieht. Mit jeder Berührung dreht er sich schneller und schneller. Doch wir sind noch nicht fertig. Noch lange nicht.   Noch einmal rücke ich näher an ihn heran. Eigentlich sollte das nicht möglich sein, aber ich nutze jetzt meinen ganzen Körper, um ihn noch dichter zu bekommen. Mittlerweile passt nicht einmal mehr eine Mikrobe zwischen uns und der Druck, den er auf meinen Schwanz ausübt, ist fast unerträglich. Besonders, als er sich jetzt bewegt und ich unvermittelt aufkeuche.   Oh ja, mach das noch einmal.   Ich vergesse, was ich eigentlich wollte. Vergesse, was ich vorhatte. Stattdessen öffne ich den Mund und fahre mit meiner Zunge über seine Lippen. Bruno kommt mir entgegen. Ein wenig ungelenk noch, aber ich führe ihn. Ich zeige ihm, wie er es machen muss, und ziehe ihn immer noch näher an mich heran. Mittlerweile bin ich schon wieder so hart, dass es wehtut. Und doch will ich nicht, dass es aufhört. Ich brauche das.   Meine Hände wandern über seinen Rücken. Ich erwische den Rand seines T-Shirts und schlüpfe darunter. Warme, weiche Haut. Fest. Viel. Ich greife danach und schiebe den Stoff immer höher. Ich will, dass er sich auszieht. Jetzt.   Zum Glück versteht Bruno meinen Wink. Er unterbricht den Kuss. Seine Wangen sind gerötet, seine Lippen auch. Er atmet schwer, aber das hält ihn nicht lange auf. Fast schon hektisch befreit er sich von dem lästigen Stoff und ist sogleich wieder über mir. Seine Lippen streifen meinen Hals. Sofort lege ich den Kopf in den Nacken und gewähre ihm Zugang. Oh ich mag es, wenn er das tut. Es ist wie … ein Vorspiel. „Ziehst du dich auch aus?“ Brunos Murmeln klingt fast entschuldigend, obwohl seine Finger schon längst unter mein Shirt geschlüpft sind. Sie streicheln meinen Bauch, meine Seiten und wieder meinen Bauch. Eine Hand gleitet tiefer. Sie erfühlt die Ausbuchtung in meiner Hose.   „Klar“, stöhne oder keuche ich. Ich weiß es nicht genau, denn Brunos Hand liegt immer noch da, wo sie liegt, und reibt mich durch den Stoff meiner Jeans. Wenn er so weitermacht, bin ich gleich derjenige, der in seiner Hose kommt. Aber so was von.   Auch mein Shirt verschwindet und plötzlich stehen wir uns mit bloßem Oberkörper gegenüber. Bruno ist, wie ich zugeben muss, ein ziemlicher Anblick. Fast scheint es mir, als hätte er noch mehr trainiert. Oder bilde ich mir das nur ein? Er kommt mir plötzlich so riesig vor.   „Komm her.“   Eigentlich hätte ich das nicht sagen müssen, denn Bruno hat nicht lange gezögert, um sich wieder an mich zu schmiegen. Warme Haut auf warmer Haut. Seine Hände streichen über meinen Rücken, drücke mich an ihn und halten mich, während er mich leicht nach hinten beugt. Eigentlich müsste es anstrengend sein, mich in dieser Position zu fixieren, aber bei Bruno wirkt es, als wäre es nichts. Wieder beginnt er, meinen Hals zu küssen. Oh ja, genau da. Weiter. Tiefer.   Tatsächlich gleiten seine Lippen weiter nach unten. Er legt mich auf den Tisch und auch wenn es für einen Augenblick kalt ist, kann ich mich doch nur auf Brunos Lippen konzentrieren, die jetzt meinen Körper hinabwandern. Zielstrebig auf die Stelle zu, an der ich sie gerne hätte.   Ob er mir einen bläst? Das wäre ja so was von geil. Na los, Junge, du schaffst das.   Bruno ist am Hosenbund angekommen. Er zögert. Seine Augen schnellen zu mir nach oben und ich stütze mich auf meine Unterarme um zu sehen, was er macht. „Was?“, frage ich mit einem kleinen Grinsen. „Traust du dich nicht?“   Ich sehe, wie das Blut in seinen Ohren pulsiert. Er beißt sich ein wenig auf die Lippen. Unsicherheit flackert in seinem Blick. Na gut, also kein Blowjob. Macht nichts.   Ich richte mich wieder auf und suche seinen Mund mit meinen Lippen. Während ich das tue, lasse ich meine Hand an seiner Brust hinabgleiten. Schnell findet sie, was sie gesucht haben. Es ist groß, hart und schreit förmlich nach Aufmerksamkeit. Also gebe ich sie ihm und öffne ohne zu zögern seine Hose. Was mir entgegenspringt, lässt auch meine Latte freudig zucken. Oh man, ich liebe diesen Schwanz. Wer auch immer Brunos Gene zusammengepuzzelt hat, hat hierbei definitiv eine Meisterleistung vollbracht. Ein Geschenk an die Menschheit. Oder an mich, wie man es nimmt. „Scheiße, bist du heiß“, murmele ich und schiebe den Stoff seiner Jeans ein wenig nach unten. Jetzt habe ich freien Zugang und mache auch gleich ausgiebig Gebrauch davon. Bruno stöhnt in den Kuss, den ich ihm aufzwinge, während ich seinen Schwanz mit beiden Händen verwöhne. Oh ja, dieses Baby wird sich so gut in mir anfühlen. Ich kann es förmlich schon spüren. Wie, um nicht untätig zu sein, fängt Bruno jetzt auch an, an meiner Hose zu fummeln. Seine großen Finger mühen sich mit dem Knopf ab und ich muss fast lachen, als er ihn endlich aufbekommt. Seine Erleichterung ist spürbar, bis die nächste Hürde, der Reißverschluss, kommt. Ich hätte vielleicht lieber nur Knöpfe anziehen sollen.   „Lass mich mal“, will ich noch sagen, als Bruno mit einem Mal Erfolg hat und freigibt, was in Freiheit gehört. Im nächsten Moment ist seine Hand an meinem Schwanz und ich kann nicht anders, als ihm entgegenzukommen. Oh ja, ich will mehr. Mehr! Wir reiben uns gegenseitig, küssen uns, können nicht genug voneinander bekommen. Ich weiß, dass irgendwo meine Jacke liegt und darin das Gleitgel. Ein Päckchen für unterwegs, das eigentlich viel zu klein ist für Brunos riesigen Schwanz. Aber für mehr war keine Zeit. Außerdem kann ich mich gerade eh nicht dazu bringen, es zu holen. Dazu ist das hier viel zu gut. Viel zu nah. Viel zu geil. Brunos Hand ist inzwischen in meine Shorts gewandert und auch ich berühre mittlerweile nackte Haut. Wenn wir so weitermachen, brauchen wir bald kein Gleitgel mehr. Ich möchte nämlich einfach nichts weiter, als Bruno an mir spüren. Ihn schmecken, riechen, anfassen. Überall. Sofort. Jetzt. Meinetwegen auch in seiner Hand kommen, wenn er nur nicht aufhört, das zu machen, was er gerade tut.   Krach!   Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch fliegt die Tür der Hütte fast aus den Angeln. Bruno und ich fahren zusammen. Er dreht sich um, ich bekomme kaum die Hand aus seiner Hose. Mein Herz wummert, doch das, was ich sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. In der Tür steht ein Mann. Mit einem Gewehr. Und er sieht nicht glücklich aus. „Wusst ich’s doch.“ Der Fremde spuckt uns die Worte förmlich entgegen. In seinem Gesicht sehe ich Wut, Scham und Ekel. Eine vollkommen gefährliche Mischung, die sich ganz offenbar auf uns beide bezieht und das, was wir gerade noch getan haben. Jedenfalls zuckt sein Blick kurz zu Brunos offener Hose, bevor er das Gesicht noch weiter verzieht. Himmel, wie kann man nur so furchterregend aussehen?   Bruno neben mir ist vollkommen erstarrt und weiß wie die sprichwörtliche Wand. Alles Blut ist aus seinen Zügen gewichen und hat sich ganz gewiss auch nicht dahin verkrümelt, wo es mehr Spaß haben kann. Es scheint einfach verschwunden zu sein. Ausgesaugt von diesem Vampir von einem Mann, der wie der Leibhaftige selbst in der Tür steht. Dabei sieht er gar nicht mal so beeindruckend aus. Er ist groß, dünn und ansonsten ziemlich farblos. Unter seinen Augen hängen Tränensäcke, in denen man einen kleinen Einkauf nach Hause tragen könnte. Sein Kinn ist schlecht rasiert und seine Zähne gelb und ein wenig schief. Ich sehe es, als er sie bleckt, um Bruno anzuzischen.   „Schämst du dich nicht?“, faucht er und klingt dabei wie ein alter Wasserkessel. „Lässt dich hier betatschen von diesem … Hurenbock. Bringst ihn gar zu uns nach Hause. In unser Haus. Unser Heim!“   So langsam dämmert mir, um wen es sich bei dem wild gewordenen Schrotflinten-Fetischisten handeln muss. Irgendwie hatte ich mir Brunos Vater ganz anders vorgestellt. Vor allem aber weniger wahnsinnig. Jetzt legt er auch noch auf uns an. „Geh!“, schreit er. „Scher dich raus und lass dich nie wieder blicken!“   Seine Finger graben sich in den Lauf des Gewehrs und er spannt doch tatsächlich den Hahn. Obwohl ich keine Ahnung von Waffen habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass Schrotfeuer auf diese Entfernung auch tödlich sein kann. Zumal, wenn es ins Auge geht.   „Vater.“   Bruno scheint seine Sprache wiedergefunden zu haben. Allerdings wirkt er nicht so, als hätte er die Gefahr erkannt. Er macht einen Schritt auf den Mann zu.   „Vater, ich …“ „RAUS!“   Brunos Vater richtet das Gewehr jetzt direkt auf Brunos Gesicht. Ich kann die Wut sehen, die seinen Hals emporkriecht. Eigentlich würde es mich nicht wundern, wenn er entweder gleich abdrückt oder wenigstens mit dem Gewehrkolben zuschlägt. In seinem Blick steht der blanke Hass.   „Scher dich von meinem Grund, bevor ich mich vergesse.“ Das war jetzt wirklich die allerletzte Warnung. Noch ein weiterer Tropfen und hier rollen Köpfe. Wenigstens im übertragenen Sinne. Wir müssen hier raus.   „Komm, Bruno! Wir gehen.“   Ich greife nach meinem Shirt und versuche, Bruno am Arm zu packen, aber er wehrt meinen Griff ab. Seine Augen sind immer noch auf seinen Vater gerichtet. „Vater.“ Seine Stimme klingt erstickt. Weinerlich. Kläglich. Wie ein Kind, das nicht begreifen kann, was hier gerade vorgeht. Aber Brunos Vater weicht zurück. Er bleckt die Zähne. „Wage es ja nicht, mich noch einmal so zu nennen. Mit einem wie dir, will ich nichts zu tun haben. Wer weiß, von wem deine Mutter sich hat besteigen lassen. Mein Sohn bist du jedenfalls nicht.“ Der letzte Satz ist wie eine Ohrfeige. Ich kann sehen, wie Bruno noch bleicher wird. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. „Mutter hat nicht …“, beginnt er, doch das raue Lachen seine Vater unterbricht ihn. „Deine Mutter hurt herum, seit sie meinen Ring am Finger hat. Schlimm genug, dass sie mir das andere Balg untergeschoben hat. Aber ich lasse mich nicht mehr verarschen. Wahrscheinlich lacht schon die ganze Stadt über mich. Mit wem hat sie’s getrieben? Weißt du’s? War der auch da, während ich mich für euch krumm gearbeitet habe? War er? Und hat er nur sie gefickt oder dich gleich mit?“   Die Gehässigkeit von Brunos Vater kennt keine Grenzen. Sie ist wie ein Messer, dass er seinem Sohn immer wieder in die Brust rammt. Und endlich gibt Bruno auf. Er wendet den Blick ab, die Augen voller Verzweiflung. Ich höre noch, wie sein Vater auch das höhnisch kommentiert, aber Bruno nimmt das wohl nicht mehr wahr. Er taumelt zur Tür.   „So ist’s recht. Hau ab und lass dich nie wieder blicken. Feigling! Hurensohn!“   Immer noch keift er hinter ihm her, aber Bruno ist längst verschwunden. Das wiederum bedeutet, dass ich alleine mit dem bewaffneten Mann bin, dessen Aufmerksamkeit sich prompt auf mich richtet. „Was stehst du denn da und glotzt? Pack dich, bevor ich dir ein zweites Arschloch brenne.“   Zum meinen Glück packt er jedoch nur meine Jacke und wirft sich hinter mir her. Der Reißverschluss erwischt mich kurz unter dem Auge, aber ich achte nicht darauf, denn als nächstes vernehme ich es hinter mir Poltern. Offenbar ist der Jacke ein Stuhl gefolgt. Oder ein Schuh. Ich höre Brunos Vater schimpfen und schreien. Noch mehr Möbel werden herumgeworfen, während ich draußen in trügerischer Sicherheit bin. Bruno? Wo ist Bruno?   Vor der Hütte ist niemand, aber in einiger Entfernung sehe ich eine dunkle Silhouette durch den Wald brechen. Das muss er sein.   „Bruno!“   Ohne zu überlegen setze ich mich in Bewegung. Ich weiß, dass ich eigentlich machen sollte, dass ich hier wegkomme. Oder wenigstens die Polizei rufe oder irgendwen, bevor die Situation noch vollkommen eskaliert. Aber meine Gedanken kennen nur noch eine Richtung, genau wie meine Füße. Ich muss Bruno einholen und das schnell.     Blätter und Zweige schlagen mir ins Gesicht, während ich durch das Unterholz hetze. Eigentlich sollte man denken, dass so ein großer Kerl wie Bruno in so einer Umgebung nur langsam vorankommt, aber vermutlich walzt er die Büsche und jungen Bäume einfach mit seiner puren Masse platt, während ich mich mühsam hindurchschlängeln muss. Dabei komme ich ganz schön außer Puste, aber ich gebe nicht auf.   Nochmal verliere ich ihn nicht.   Ein Baumstamm versperrt mir den Weg. Ich setze zum Sprung an und bleibe natürlich volle Kanne am morschen Holz hängen und fliege auf die Fresse. Zum Glück ist der Waldboden weich, aber auch feucht, matschig und rutschig. Ich ratsche mir die Hände auf, meine Knie, mein Alles. Es tut weh, aber nicht so sehr, dass ich nicht gleich wieder auf die Füße komme. „Bruno!“   Noch einmal rufe ich nach ihm, während ich notdürftig den Dreck von mir runterwische.   Verdammt, wo steckt der Kerl nur? Der kann doch nicht einfach so verschwunden sein.   Um mich herum ist alles grün. Grüne Blätter, grünes Moos, grüne Hose. Na gut, die ist mehr so schlammbraun, aber was soll’s. Kann man bestimmt wieder waschen. Unter meinen Füßen raschelt trockenes Laub. Äste knacken und ich bin mir sicher, dass sämtliche Rehe in drei Kilometer Umkreis längst geflüchtet sind. Was mich wiederum zu der Frage bringt, wo Bruno hin ist. Der kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Nicht bei der Größe.   Da plötzlich höre ich etwas. Es klingt wie ein Schlagen? Ist das eine Axt? Ein Brecheisen? Um herauszufinden, woher das Geräusch kommt, drehe ich mich zweimal um mich selbst. Wenn ich mich nicht ganz irre, müsste es von dort drüben kommen. Da, wo die hohen Büsche stehen. Einen Versuch ist es immerhin wert.   Leise, um wen auch immer nicht zu verscheuchen, pirsche ich mich an die Quelle des Lärms heran. Als ich die Zweige beiseite biege, sehe ich tatsächlich Bruno. Er hat einen Knüppel in der Hand, mit dem er offenbar gerade noch auf einen Baum eingedroschen hat. Jetzt ist das Holzstück zerbrochen und ihm fehlt ein Ventil für seine Wut.   Vielleicht sollte ich mich nicht unbedingt dafür anbieten.   Aber ich kann jetzt nicht einfach umkehren und ihn alleine lassen. Das habe ich letztes Mal schon gemacht und es hat sich beschissen angefühlt. Und genau deswegen straffe ich mich jetzt, bevor ich auf den kleinen Trampelpfad trete und mich zu erkennen gebe. „Hey!“ mache ich und Bruno wirbelt zu mir herum. In seinen Augen flackert Panik, durchsetzt von Wut, Trauer und Abwehr. „Hau ab!“, schreit er mich an und erinnert mich dabei sinnigerweise an seinen Vater. Wie der auf die Idee kommt, dass Bruno nicht sein Sohn sein könnte, ist mir schleierhaft. „Bruno …“, beginne ich, aber ich komme nicht weit. „Ich hab gesagt, du sollst abhauen. Los! Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“   Ich weiß, dass er es so meint, aber ich kann nicht gehen. Nicht dieses Mal.   „Bruno …“, versuche ich es noch einmal und wieder unterbricht er mich. „HAU AB!“, schreit er so laut, dass es vermutlich bis ins nächste Dorf zu hören ist. Und vermutlich wäre es wirklich schlauer, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Trotzdem bleibe ich.   „Es ist nicht deine Schuld“, sage ich leise. „Dein Vater …“   „Hör auf, über meinen Vater zu reden!“ Wieder schreit Bruno, aber ich höre die Tränen, die er dabei nur mühsam zurückhält. Das gerade muss ihm vollkommen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Und ich muss zugeben, dass ich auch keine Ahnung habe, was ich jetzt tun soll. Ich mache einfach. Irgendwie. „Dein Vater hat Unrecht“, sage ich daher, mehr um überhaupt etwas von mir zu geben. „Du bist nicht …“   „Ich bin nicht was?“, faucht Bruno mich an. Seine Finger graben sich in das weiche Holz des Knüppels ebenso wie es die seines Vaters bei dem Gewehrlauf getan haben. Vermutlich wartet er nur darauf, dass ich etwas Falsches sage. Oder irgendwas, denn in dieser Situation kann man eigentlich nur danebengreifen. Aber schweigen kommt nicht infrage.   „Du bist nicht der, der sich schämen muss. Sondern er.“   Uff, jetzt ist es heraus. Vermutlich ist ein Angriff auf seinen Vater nicht unbedingt die beste Wahl, aber der Typ ist einfach so ein unglaubliches Arschloch, dass ich dazu nicht meine 'Goschn' halten kann, wie man hier so schön sagt.   Bruno starrt mich einfach nur an. Was vielleicht gut ist, da er immerhin nicht versucht, mich windelweich zu prügeln. Andererseits wäre es ganz schön, wenn er sich auch mal am Gespräch beteiligen würde. Ich bin nämlich nicht so gut im aufbauende Monologe halten. Mehr so im Gegenteil. Leider tut mir Bruno nicht den Gefallen, also muss ich wohl allein weitermachen.   „Wenn er ein Problem damit hat, dass du … dass wir …“   Ach fuck, jetzt hab ich auch noch den Faden verloren. Zumal ich gar nicht weiß, was ich eigentlich sagen wollte. 'Dass wir schwul sind' führt vielleicht doch ein bisschen zu weit und 'dass wir was miteinander haben' irgendwie auch. Aber 'dass wir miteinander rummachen' ist wiederum zu wenig und Bruno könnte es ebenso in den falschen Hals kriegen. Wie also mache ich ihm klar, dass das, was er getan hat, nichts Falsches war? Dass nicht an ihm was verkehrt ist sondern an der Welt, die das nicht akzeptieren kann. Und wie bringe ich das alles rüber, ohne wie eine Broschüre von der Jugendhilfe zu klingen. Das ist doch alles kacke. „Dein Vater ist ein homophober Arsch“, fasse ich daher meine Erkenntnisse nicht gerade eloquent zusammen. Soll Bruno sich doch raussuchen, was davon er für sich verinnerlichen will. Und natürlich reagiert er einfach nur ätzend. „Wenigstens habe ich einen“, schleudert er mir entgegen und vergisst dabei anscheinend, dass der sich gerade von ihm losgesagt hat. Idiot! Aber sei’s drum. Wenn’s ihm hilft.   „Ich hab auch einen Vater“, korrigiere ich ihn trotzdem. Bruno schnaubt abfällig. „Ach ja? Und wo ist der?“ „Keine Ahnung. Vögelt wahrscheinlich gerade meine Tante.“   Jetzt ist es an Bruno, dumm aus der Wäsche zu gucken. Ja, glotz du nur. Ich meine, normalerweise gehe ich damit ja nicht hausieren, aber wenn er mir dumm kommen will … das Spiel kann man auch zu zweit spielen. „Also sie ist nicht wirklich meine Tante“, lenke ich ein. „Sie war nur die beste Freundin meiner Mutter, aber … das hat es jetzt auch irgendwie nicht besser gemacht.“   Bruno steht immer noch da wie ein Fisch im Reihergehege. Und vermutlich fühlt er sich auch so. Ich kann’s ja verstehen, aber den Kopf in den Stand stecken oder arme, harmlose Bäume vermöbeln, macht die Sache ja auch nicht besser. Von unschuldigen Mitschülern ganz zu schweigen.   „Tut mir leid“, sagt Bruno plötzlich wie aus der Luft gegriffen und ich brauche einen Augenblick, bevor mir dämmert, dass er wohl das mit meinem Vater meint. Ich schnaufe und zucke mit den Schultern. „Ach, passiert. Man kann sich Verwandtschaft halt nicht aussuchen.“   Brunos Mundwinkel zucken, aber mir ist klar, dass ihm gerade nicht nach Lachen zumute ist. Wahrscheinlich eher nach Heulen, aber ein Junge weint ja nicht und ein Indianer kennt keinen Schmerz. Fand ich schon immer schwachsinnig.   Ich entschließe mich, nicht weiter dumm rumzustehen. Ohne mich also um den Knüppel in Brunos Hand zu kümmern, gehe ich geradewegs an ihm vorbei auf einen umgestürzten Baum zu. Das Ding ist reichlich grün bewachsen, aber ich setze mich trotzdem hin und sehe dann zu Bruno auf. Mit dem Kopf deute ich auf den Platz neben mir.   „Auch?“   Bruno antwortet mir nicht. Er steht einfach nur dumm in der Gegend herum, bevor er sich endlich einen Ruck gibt und zu mir rüberkommt. Den Knüppel wirft er dabei Gott sei Dank zur Seite. Eine Weile lang schweigen wir beide und hängen unseren Gedanken nach, bevor Bruno doch tatsächlich als Erster das Wort ergreift.   „Bist du hingestürzt?“, fragt er und deutet auf meine Hose. Anhand der Spuren kommt eigentlich keine andere Erklärung infrage, aber ich versuche es trotzdem. „Ja, nein, weißt du … da war so ein Pirat, der ist wild winkend hinter dem Busch vorgesprungen und hat mich aufgehalten. Darauf kam ein ganzer Schwarm Glitzerfeen und hat mich mit Dreck beworfen. Eigentlich sollte es Feenstaub sein, weil Peter Pan sich unsterblich in mich verliebt hat und mich nach Nimmerland entführen wollte, aber weil Tinkerbell so fürchterlich eifersüchtig ist, hat sie ihren Freundinnen stattdessen Schlamm in die Feenkörbchen getan und deswegen sehe ich jetzt so aus, wie ich aussehe.“   Bruno sieht mich an, als hätte er den Witz nicht verstanden. Einigermaßen frustriert rolle ich mit den Augen.   „Oh man, Bruno. Natürlich bin ich hingestürzt. Hab nen Baum übersehen. Soll vorkommen, weißt du?“   Bruno weiß anscheinend nicht. Kein Wunder, der kennt sich ja offenbar auch hier im Wald aus. Sollte er wenigstens, wenn er ständig drauflos prescht, als wäre ne ganze Hundemeute hinter ihm her.   „Und du? Kommst du öfter her?“, frage ich deswegen, um wenigstens die Unterhaltung am Laufen zu halten. Bruno wünscht sich augenscheinlich seinen Stock zurück. Sein Blick wandert in seinen Schoß und zu seinen leeren Händen, an denen immer noch Schmutz und Erdreste kleben. Geistesabwesend reibt er mit dem Daumen über einen der Flecken.   „Manchmal“, gibt er höchst zweisilbig zur Auskunft. Danach ist wieder Schweigen im Walde angesagt. Wortwörtlich. Über uns scheint die Sonne durch grüne Baumkronen und ein leiser Wind bringt die Blätter zum Rauschen. Ansonsten ist nicht viel zu hören. Nicht mal ein Vogel. Eigentlich unheimlich. Müsste hier nicht mal einer singen? Oder wenigstens pfeifen? „Willst du drüber reden?“   Brunos Frage trifft mich etwas unvermutet und ich brauche einen Augenblick um zu kapieren, dass er wohl die Sache mit meinem Vater meint, bevor ich mit dem Kopf schüttele. „Nee, lass mal. Ist keine so schöne Geschichte.“   Ich schau zu ihm rüber. Er sitzt immer noch da und guckt seine dreckigen Hände an. „Du?“   Bruno schaut kurz hoch und dann wieder weg. Dann schüttelt auch er den Kopf. Klar, wer würde über so einen Auftritt von seinem Alten schon reden wollen? Als wenn beim Sex erwischt werden nicht schon scheiße genug wäre, aber dann noch so eine Reaktion? Mehr cringe geht ja wohl nicht.   Eine Weile lang schweigen wir wieder, aber dann kann ich meine Klappe halt doch nicht mehr halten. „Der kriegt sich bestimmt wieder ein.“   Eigentlich ist das zwar nur eine dumme Phrase, aber es stimmt doch. Brunos Vater wird ja schließlich nicht ewig schmollen können, nur weil sein Sohn auf Schwänze steht, oder? „Glaub ich nicht“, erwidert Bruno düster. „Er hat das ernst gemeint.“   Was genau er damit meint, weiß ich nicht. Vermutlich das mit dem 'du bist nicht mein Sohn'. Aber selbst wenn …   „Soll er doch nen Test machen lassen.“   Bruno schaut auf und mich fragend an.   „Wegen der Vaterschaft“, erkläre ich. „Soll er doch testen lassen, ob du die Frucht seiner Lenden bist. Ich bin mir ziemlich sicher, das Ergebnis würde ihn überraschen.“   Neben mir hüllt sich Bruno weiterhin in Schweigen. Vermutlich überlegt er gerade, wo er DNA von seinem Vater herbekommt, um ihm den Nachweis seiner Erzeugerschaft neben das gut gebutterte Sonntagsbrötchen legen zu können.   „Den hat er bei Katie auch nicht machen lassen.“   Die Eröffnung lässt mich kurz rekapitulieren, was Brunos Vater in seinem Anfall noch so alles von sich gegeben hat. Das mitzuschneiden, während eine Schrotflinte auf einen gerichtet ist, ist schwieriger, als man sich so vorstellt. Aber ich erinnere mich. „Du meinst, sie ist nicht deine Schwester?“ Ich überlege kurz. „Oder nur deine Halbschwester?“   Bruno schweigt und zuckt mit den Schultern. Ob das jetzt heißen soll, dass er es nicht weiß, nicht wissen will oder nur nicht darüber reden, kann ich nur spekulieren. Vermutlich von allem ein bisschen.   „Ist das wichtig?“, sagt er plötzlich wie aus dem Nichts. Hätte ich ein Getränk gehabt, hätte ich mich vermutlich daran verschluckt. Bruno hat echt ein Talent dafür, mich kalt zu erwischen. „Weiß nicht“, gebe ich trotzdem recht beherrscht zurück. „Ist es?“   Wieder hebt Bruno nur seine breiten Schultern und ich frage mich, warum wir eigentlich darüber reden, ob seine Mutter fremdgegangen ist. Was ich ihr nicht verübeln würde, aber trotzdem. Das wichtigere Thema ist doch jetzt eigentlich Bruno.   „Was wirst du jetzt machen?“   Nochmal ein Schulterzucken. „Weiß nicht. So kann ich jedenfalls nicht nach Hause.“   Zum ersten Mal fällt mir auf, dass Bruno ja immer noch halbnackt ist. Nicht, dass das ein schrecklicher Anblick wäre, aber unauffällig ist anders. „Soll ich dir meine Jacke leihen?“   Das Angebot ist mehr als lächerlich, denn Bruno würde vermutlich nicht einmal seinen Arm in den Ärmel bekommen, geschweige denn beide Arme. Da könnte ich das Teil auch gleich in die Tonne kloppen. „Ich fürchte, die wird mir nicht passen.“   Bruno sieht mich nicht an, während er das sagt, und ganz kurz frage ich mich, ob wir eigentlich noch über die Jacke reden oder über etwas anderes. Irgendwas mit den Schuhen des anderen, die man anziehen muss, oder so ähnlich. Nur dass meine Schuhe Bruno nun wirklich nicht passen würden und ich in seinen wohl auch nur herumstolpern. Aber vielleicht …   „Vielleicht hab ich ja bei mir zu Hause noch was, das dir passt.“   Natürlich habe ich das nicht. Nichts, absolut gar nichts, in meinem Kleiderschrank wird Bruno auch nur annähernd bedecken. Und die Sachen meiner Mutter … okay, reden wir nicht drüber. Die Vorstellung ist absolut gaga. Aber darum geht es ja eigentlich auch gar nicht. Es geht darum, dass Bruno weiß, dass ich ihn nicht allein im Regen stehen lasse. Nicht nochmal. Schon wieder.   Bruno überlegt. Hart überlegt er, ob er das machen will. Denn, wenn er diesen Schritt geht, hat er sich entschieden. Wenigstens ein Stück weit. Natürlich schließt das nicht aus, dass er spätestens übermorgen mit wehenden Fahnen wieder zurückrennt, aber … hier und heute könnte er sich auf den Weg machen. Mit mir.   „Und?“, frage ich, nachdem er schon wieder viel zu lange geschwiegen hat. „Kommst du mit?“   Bruno ist offenbar noch immer zu keinem Ergebnis gekommen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Andere haben für diese Entscheidung Monate, wenn nicht Jahre gebraucht. Oder sie nie getroffen. „Vielleicht sollte ich lieber nachsehen, ob ich mein eigenes Shirt finde“, sagt er schließlich und tief in mir drinnen fühle ich mein Herz ein kleines bisschen tiefer sinken. Ich hatte wirklich gedacht …   „Was würde deine Mutter sonst denken, wenn ich so bei euch auftauche.“   Bumm! Mein Herz hat einen Satz gemacht und ist dabei vor lauter Übermut vom Stuhl gefallen. Das hindert es jedoch nicht daran, jetzt wie wild herumzuhämmern, während meine Mundwinkel einen neuen Höhenrekord anstreben. Bis zu meiner Nasenspitze sind sie jedenfalls schon gekommen.   Unfähig, noch weiter stillzusitzen, springe ich auf. „Das würde ihr nichts ausmachen“, plappere ich los, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass es das eventuell vielleicht doch tun würde. Zumal, wenn sich an dem Zustand nichts ändern ließe. Aber schließlich weiß sie Bescheid. Und ich bin fast 18. Da würde sie mir nicht verbieten, jemanden mit nach Hause zu bringen. Hoffe ich wenigstens.   „Aber du … du sagst ihr doch nichts, oder?“   Äh ja, gut. Das hatte ich jetzt so nicht erwartet, aber ich verstehe. Natürlich. Bruno will nicht, dass meine Mutter was von der Sache erfährt. Oder von uns. Oder überhaupt. „Nein, natürlich nicht“, wiegele ich seine Bedenken daher sofort ab. Was ich eventuell unter Erpressung oder Folter von mir geben könnte, zählt schließlich nicht als „etwas sagen“, oder?   „Und du bist dir sicher, dass das … okay ist?“   Bruno sieht zu mir auf und ich frage mich, wovon er jetzt eigentlich spricht. Nur davon, dass er mit zu mir kommt oder von … mehr?   „Klar“, sage ich jedoch und versuche, möglichst lässig auszusehen. „Du wirst sehen, wir kriegen das wieder hin. Versprochen.“   Kapitel 13: Den Mutigen gehört die Welt --------------------------------------- Der Rückweg verläuft in relativem Schweigen. Während Bruno irgendwelchen Gedanken nachhängt, die sich vermutlich um seine Freunde, seine Familie und seine weitere Zukunft drehen, zähle ich die Schritte, die wir seit unserem Abstecher zur Hütte zurückgelegt haben. Im Gras davor hat tatsächlich Brunos T-Shirt gelegen. Es war reichlich zerknüllt und dreckig, aber nachdem Bruno den gröbsten Schmutz entfernt hatte, konnte man immerhin die groben Fußabdrücke nicht mehr erkennen. Was das über seinen Vater aussagt, dass der anscheinend auf das Teil auch noch draufgetreten ist, nachdem er es schon zu Boden geschleudert hatte, sage ich jetzt mal lieber nicht. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass, wenn ich es doch tun würde, die Worte „Klapsmühle“ und „dämliches Arschgesicht“ fallen würden.   Die Stadt taucht auf und Brunos Schritte werden langsamer. Ich merke das, weil wir vorher fast schon im Takt gelaufen sind. So ganz passte das natürlich nicht, weil seine Beine länger sind als meine, aber irgendwie hatten wir da einen Rhythmus gefunden. Jetzt, da Bruno daraus ausbricht, werde unweigerlich auch ich langsamer. Ich versuche, es zu ignorieren, aber als wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem wir uns fast rückwärts schon bewegen, beschließe ich dann doch mal nachzufragen. „Alles in Ordnung?“   Ich weiß natürlich, dass so ziemlich gar nichts in Ordnung ist, aber irgendwas muss ich ja sagen. Reicht doch, wenn einer von uns schweigt wie das sprichwörtliche Grab.   Brunos Miene bleibt unbewegt, aber ich kann mir vorstellen, was für Gedanken jetzt gerade hinter seiner Stirn herumkriechen. 'Was, wenn sie mich sehen?', 'Wenn mich jemand erkennt?', 'Wenn wir jemand treffen, den ich kenne?' Und natürlich geht es dabei auch um mich. Ich bin der Störfaktor. Das rote Tuch. Der verräterische Ohrring auf der falschen Seite. Der, dessen Name nicht im selben Atemzug mit dem eigenen genannt werden darf. Ach Scheiße.   Ich kann ihm ja anbieten, sechs Schritte hinter ihm zu laufen.   An jedem anderen Tag hätte ich wohl nicht gezögert, ihm genau das vor den Latz zu knallen. Weil es scheiße ist, dass er sich darüber Gedanken macht. Und gleichzeitig verstehe ich es. Dreck! „Es wird uns schon keiner sehen.“   Und wenn werden sie vermutlich eher denken, dass Bruno mich gerade um die nächste Ecke bringt, um ohne mich wieder zurückzukommen. Blöde Witze? Kann ich.   Bruno gibt sich einen Ruck. Ich kann es spüren, schon allein deswegen, weil seine Schritte wieder schneller werden. Allerdings hält er weiterhin den Blick gesenkt und zieht die Schultern hoch. Nur nicht auffallen.   Als wenn das bei seiner Größe so einfach wäre.   Aber wir haben Glück. Einer der „Vorteile“ von Hinterschlumpfhausen ist nämlich, dass, sobald die Tagesschau angefangen hat, kein Mensch mehr auf den Straßen unterwegs ist. Die Bürgersteige werden hochgeklappt, Frauen, Kinder und kleine Hunde zu ihrer eigenen Sicherheit eingesperrt und für uns heißt es somit: freie Bahn mit Marzipan. Wenigstens, bis wir bei uns zu Hause ankommen. „Wir sind da“, plappere ich und deute auf das weiße Haus mit dem roten Dach, das sich nahtlos in die Reihe ganz ähnlicher Stadthäuser einfügt. Lediglich die Farben der Fassaden weichen punktuell voneinander ab. „Wir wohnen ganz oben.“   Letzteres hat sich Bruno wohl schon gedacht, denn das handgeschriebene „Vogel“, das inmitten der obersten Reihe sorgfältig maschinenbeschrifteter Klingelknöpfe klebt, ist wohl kaum zu übersehen. Irgendwann wollte der Verwalter sich mal darum kümmern, aber äh ja. Vielleicht, wenn wir ausgezogen sind.   „Es gibt aber keinen Fahrstuhl.“   Himmel, könnte dieser verbale Brechdurchfall endlich mal stoppen. Ich labere ja echt nur Scheiße. Als wenn irgendwer für zwei Stockwerke einen Fahrstuhl bauen würde. Gott, ich bin so dämlich.   Drinnen nimmt Brunos Nervosität erst ab und dann schlagartig wieder zu, als man irgendwo über uns eine Tür klappen hört. Als jedoch keine Schritte folgen, scheint er sich wieder zu entspannen. Ein leicht nervöses Lächeln trifft mich. „Sollen wir hochgehen?“   'Between a rock and a hard place'   Die Redewendung kommt mir in den Sinn und passt wohl gerade wie Faust aufs Auge. Hierbleiben kann Bruno nicht, weil man ihn da mit mir zusammen sehen könnte. Aber wenn wir jetzt hochgehen, wird ihn eine mir mehr als wohlbekannte Person ganz bestimmt mit mir zusammen sehen. Und vermutlich wird sie Fragen stellen. Viele Fragen.   Ich versuche ein Grinsen.   „Keine Bange, sie wird dich schon nicht fressen“, versichere ich Bruno und nehme mir vor, alles dafür zu tun, damit das auch wirklich nicht passiert. Die Zeichen dafür stehen allerdings mehr als schlecht, denn kaum, dass ich die Tür zu unserem trauten Heim geöffnet habe, höre ich die Stimme meiner Erzeugerin aus dem Wohnzimmer schallen. „Fabian? Bist du das?“   „Nee, der Weihnachtsmann“ gebe ich augenrollend zurück. Als wenn sonst noch jemand einen Schlüssel für die Wohnung hätte.   „Wo warst du denn so lange?“, ruft meine Mutter noch einmal, während sie sich offenbar aus dem Wohnzimmer auf den Weg in Richtung Küche macht, und ich erinnere mich dunkel, dass irgendwann mal mein Handy einen Ton von sich gegeben hat. Zu dem Zeitpunkt war ich aber gerade damit beschäftigt, nicht erschossen zu werden, und danach war es auch irgendwie ungünstig. Also von daher …   „Ich war bei Bruno“, lüge ich daher so halb, denn meine Mutter kommt in diesem Moment um die Ecke und stockt, als sie die riesige Gestalt in ihrem Flur entdeckt. Wobei ich finde, dass sie ein bisschen übertreibt. So groß ist Bruno ja nun auch wieder nicht, auch wenn es ein bisschen so aussieht, als stände ein Eisbär in unserem Flur.   „Äh, hi“, sagt Bruno dann auch prompt und wird von Minute zu Minute zappeliger. Das ist definitiv nicht hilfreich.   „Wir gehen zusammen zur Schule, weißt du“, quassele ich deswegen einfach los und ignoriere dabei sowohl die erstaunten Blicke meiner Mutter wie auch die Tatsache, dass Bruno gerade ein leichtes P in die Augen bekommt.   „Und weil Pascal doch zurzeit ständig mit Michelle anhängt, habe ich mir gedacht, ich suche mir mal jemand neues zum Abhängen. Du hast doch nichts dagegen, oder?“   Okay, das hier ist mit Abstand die schlechteste Vorstellung, die ich seit Jahren gegeben habe. Und die Analogie zu Pascal und seiner Freundin ist auch nicht gerade die beste Idee aller Zeiten. Warum habe ich mir denn auf dem Weg hierher keine gute Geschichte einfallen lassen? Ich finde mich doch sonst so clever.   Auch meine Mutter, die sonst nur wasserdichte Alibis von mir gewohnt ist, lupft eine Augenbraue und schaut kritisch von einem zum anderen. „Warum sollte ich etwas dagegen haben?“, fragt sie misstrauisch und ich kann quasi hören, wie sie ihm Geist all die Dinge durchgeht, die wir verbotenerweise gemacht haben könnten. Ihrem Blick nach zu urteilen zieht sie dabei außer Autodiebstahl und Mord so ziemlich alles in Betracht. Scheißndreck. „Na, weil äh … ich gedacht habe, dass Bruno vielleicht … ein bisschen länger bleiben könnte. So bis morgen früh etwa.“   Oder bis übermorgen. Oder überübermorgen. „Ach so?“ Die Augenbraue wandert noch weiter nach oben und bekommt dort prompt Besuch von ihrer Schwester. Die zwei sehen nicht aus, als wären sie von meinem Plan begeistert. Bevor sie jedoch auch noch den Rest meiner Mutter überzeugen können, springt endlich mein Notfall-Programm an. Dem Himmel sei Dank! „Ja, ich meine, es sind doch quasi Ferien. Also Lernferien. Bruno und ich wollten uns zusammen auf die mündliche Prüfung vorbereiten. Und bevor wir da noch viel Zeit mit Hin- und Hergurken vertrödeln, haben wir gedacht, Bruno könnte doch auch einfach hier übernachten. Damit wir morgen früh gleich anfangen können.“   Na gut, ich gebe zu, die Story ist auch nicht viel besser. Eventuell wäre es auch gut gewesen, mich bezüglich der Geschichte mit Bruno abzustimmen, denn der sieht so aus, als würde er bei der ersten kleinen Nachfrage meiner Mutter sofort zusammenbrechen. Die hat jedoch zum Glück nur Augen für mich. „Und wo soll er schlafen?“, fragt sie mit immer noch geknüllten Augenbrauen.   Im Geiste spitze ich die Ohren und wittere damit vorsichtig in ihre Richtung. Das hört sich ja gerade so an, als würde sie es tatsächlich in Betracht ziehen. „Na in meinem Zimmer. Ich werde auf der Couch schlafen.“   Ganz normal. Es ist alles ganz normal. Wenn ich daran glaube, wird sie auch daran glauben.   „Und was ist mit Abendessen? Ich wollte mir mit dir die Reste von gestern teilen.“   Ooookay, das könnte jetzt problematisch werden, denn erstens reichen die Überbleibsel des Tortellini-Auflaufs nie im Leben für uns drei und zweitens sind aufgewärmte Nudeln von gestern nun wirklich nichts, mit dem man irgendwen hinterm Ofen vorlocken kann. Warum kann sie nicht einmal was Ordentliches kochen? „Och Mama, haben wir nichts Besseres?“   Meine Stimme ist bereits im Nörgelmodus, bevor ich mich stoppen kann. Und natürlich zickt meine Mutter, wie erwartet, zurück. „Das hätten wir vielleicht, wenn du einkaufen gegangen wärst, wie ich es dir aufgetragen habe“, erklärt sie mit verkniffenem Gesichtsausdruck. Ich stöhne und gebe den Geschlagenen.   „Ich geh morgen, okay? Bruno hilft mir bestimmt.“   Bruno wird den Teufel tun, als sich mit mir an einem öffentlichen Ort sehen lassen, aber das muss sie ja nicht unbedingt wissen. Je normaler, desto besser. Zum Glück schaltet der Trottel jetzt endlich mal und lässt ein bestätigendes Nicken sehen. Man, das hätte ja auch echt mal früher kommen können.   Meine Mutter verzieht das Gesicht, als würde sie uns keinen Meter glauben, lässt es aber dann doch durchgehen. „Na schön. Ich mache euch ein paar Brote. Und wehe, ihr kauft morgen nur Chips und Junk Food. Wir brauchen frisches Obst und Gemüse.“   „Jaja“, schmettere ich ihr Anliegen fröhlich ab und schiebe Bruno dabei unauffällig in Richtung meines Zimmers. „Machen wir Mama. Alles, was du willst, und was immer du sagst.“   Immer noch bis zum Anschlag lächelnd, bugsiere ich Bruno durch die Tür, schließe sie hinter mir und lasse mich dagegen fallen.   „Puh, das wäre geschafft.“   Bruno steht in meinem Zimmer und sieht sich um. Viel zu entdecken gibt es nicht, denn es ist dank der gestrigen Putzaktion – saubergemacht wird samstags! - noch einigermaßen ordentlich und außerdem staubfrei. Nur meine Klamotten von gestern liegen auf dem Boden herum. Mit einem Fußtritt befördere ich sie unters Bett und setze mich obendrauf. Also aufs Bett, nicht auf die Klamotten.   „Willst du was trinken?“   Ich deute auf die Fanta, die auf meinem Schreibtisch steht. Bruno schüttelt jedoch nur den Kopf und steht danach immer noch herum, als würde er sich fehl am Platz fühlen. Dabei hab ich mir doch solche Mühe gegeben. „Willst du dich nicht setzen?“   Auf die Frage hin mustert Bruno die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und zieht sich dann den Schreibtischstuhl heran. Einen Augenblick scheint er zu überlegen, ob der wohl sein Gewicht aushält, dann setzt er sich, als wäre das Teil mit Nägeln bespickt. Noch ungemütlicher geht quasi nicht, es sei denn, er würde sich auf eine Schale mit glühenden Kohlen setzen. Alles an ihm schreit geradezu „Flucht“.   Ich gönne mir ein tiefes Luftholen. „So schlimm?“   Zum Glück muss ich nicht erklären, was ich meine. Bruno versteht mich auch so. Wenigstens denke ich das, weil er mich gleich darauf so entschuldigend ansieht.   „Nein“, meint er dann. „Es ist nur … ungewohnt.“   „Was ist ungewohnt?“ „Na alles.“   Äh ja. Präzise war heute aus, oder wie? „Was genau meinst du?“   Bruno atmet ebenfalls tief durch und lässt seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Wie schon gesagt, viel gibt es hier nicht zu entdecken. Nur dass meine Mutter sich etwas ausgetobt hat. Weiße Möbel, petrolfarbene Vorhänge, ein dazu passender Teppich und die Wand hinter dem Schreibtisch hat sie in so einem blaugrau gestrichen. Ganz allein, während ich in der Schule war. Auch die restliche Wohnung hat hier und da immer mal irgendwwelche Farbkleckse. Mal ein rotes Kissen hier oder ein bunt gestreifter Vorhang dort. Ihr Schlafzimmer hat sie in grün und braun gestaltet. Fast schon dschungelmäßig mit einer Unmenge von Pflanzen. Ich glaube, sie war fast traurig, als sie fertig war und wieder zur Arbeit musste.   „Na alles halt“, wiederholt Bruno jedoch nur noch einmal stur und ich glaube zu verstehen, was er meint. Das Gefühl von „alles ist anders als vorher und die ganze Welt tut, als wäre das normal“ kenne ich zur Genüge.   „Man gewöhnt sich dran“, will ich gerade sagen, als es an der Tür klopft. „Herein“, rufe ich also stattdessen und meine Mutter betritt den Raum, in ihren Händen einen Teller mit belegten Broten für ungefähr acht Leute. Anscheinend schätzt sie Brunos Fassungsvermögen ähnlich groß ein wie ich. „So, Jungs, Essen ist fertig. Lasst es euch schmecken.“   Sie stellt noch zwei Gläser ab, bevor sie Bruno und mir noch einen freundlichen Blick angedeihen lässt und sich wieder verkrümelt. Anscheinend hat sie beschlossen, heute doch die coole Mutter sein zu wollen, die ihrem Sohn einfach mal seine Freiheiten lässt. Manchmal kann ich meine Mutter gut leiden.   Bruno starrt auf den riesigen Teller und weiß anscheinend nicht so recht, was er davon halten soll. Die meisten Brotschreiben ziert eine reichliche Portion Salami, das andere sind gesammelte Reste aus diversen Aufschnittpackungen. Sogar Käse ist dabei und irgendsoein veganes Zeug, das ich maximal mit einer Unmenge von Gewürzgurken zusammen herunterkriege. Leider hat sie die vergessen. „Was ist?“, frage ich und runzele die Stirn. Unser Gast sieht nicht gerade begeistert aus. „Magst du keine Salami?“ „Doch“, gibt Bruno zurück. „Ich … ich wollte nur … ach vergiss es einfach“ Ohne mich anzusehen, greift er nach einem der Brote – Salami, was auch sonst bei der Quote – und beißt hinein. Während er kaut und schluckt und nochmal abbeißt und wieder kaut und wieder schluckt, lasse ich ihn nicht einen Augenblick aus den Augen. Irgendwann, etwa so nach dem fünften Bissen, gibt er auf. „Was?“, blafft er mich an und klingt dabei fast so wie der Bruno, den ich von früher kenne. Ich hebe meine Mundwinkel ein bisschen. „Nichts. Ich frage mich nur, ob du den ganzen Abend dasitzen willst, als hättest du einen Stock im Arsch.“   Bruno zuckt zusammen, aber bevor ich meine Wortwahl korrigieren kann, gibt er ein muffeliges Brummen von sich. Danach nimmt er sich noch ein Brot und isst es vor lauter Trotz ungefähr doppelt so langsam wie das vorherige. Als jedoch auch der letzte Bissen in seinem Mund verschwunden ist, hält er es nicht mehr aus. „Du bist eine Nervensäge“, knurrt er und versucht, mich böse anzugucken. Ich grinse und schlage die Beine unter.   „Das Kompliment gebe ich zurück“, meine ich und deute auf den Teller. Bruno reicht ihn mir und ich angele mir ein Brot von ganz unten hervor. Corned Beef. Lecker.   Während ich nun auch endlich was esse und dabei feststelle, dass ich wirklich mal was in den Magen gebrauchen könnte, mustere ich Bruno weiter. Der findet das gar nicht lustig. „Kannst du mal aufhören, mich anzuglotzen?“, murrt er und greift sich die Fanta vom Tisch. Ohne mit der Wimper zu zucken nimmt er einen großen Schluck. Es erinnert mich an die Flasche, die wir uns damals geteilt haben. Als das Ganze noch „einfach nur Sex“ war. Und was ist es jetzt?, will der Typ in meinem Kopf wissen, aber ich ignoriere ihn. Das ist jetzt nun wirklich nicht wichtig. Statt auf Brunos Frage zu antworten, fange ich an, den Rand vom Brot abzuknabbern. Das hab ich als Kind schon immer gemacht. So bleibt am Ende nur das weiche Innere übrig. Dabei gucke ich zur Abwechslung mal woanders hin. Eventuell entspannt er sich dann ja etwas.   Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn mitzubringen. Noch einmal sehe ich zu ihm rüber und kann erkennen, dass es jetzt er ist, der mich beobachtet. Als ich ihn dabei erwische, schaut er schnell woanders hin. Ich gebe ja zu, ich muss ein bisschen grinsen.   „Du kannst ruhig hingucken. Hier sieht uns keiner.“   Brunos Ohren bekommen einen leichten Rotschimmer und er senkt zunächst den Blick, bevor er dann doch zu mir rüberguckt. „Sorry“, murmelt er. „Macht der Gewohnheit.“   Ich nicke und deute auf die Flasche neben ihm. Er reicht sie mir. Als ich sie ihm abnehme, berühren sich unsere Hände ganz kurz. Wie im Film, nur nicht so kitschig. Besonders, weil ich gleich darauf angeekelt das Gesicht verziehe. „Da ist ja gar keine Kohlensäure mehr drin“, schimpfe ich und schraube diese Beleidigung an meinen Gaumen gleich wieder zu.   „Warum hast du denn nichts gesagt?“ „Ich hab mich nicht getraut.“   Einen Augenblick schweige ich verblüfft, dann poltere ich los.   „Sag mal, tickst du noch ganz sauber? Dein Vater hat dich vorhin mit ner Schrotflinte bedroht und du bist total cool geblieben, und jetzt traust du dich nicht, mir zu sagen, dass die Fanta schmeckt wie warme Katzenpisse? Dein Ernst?“   Bevor Bruno noch reagieren kann, bin ich aufgesprungen und aus dem Zimmer gestürmt. Ich rase in die Küche und suche dort nach einem Ersatzgetränk, finde aber natürlich nur Wasser. Immerhin mit Kohlensäure, aber trotzdem. Na prima. Ich muss wirklich einkaufen gehen.   Mit der Selterwasserflasche im Schlepptau schlappe ich wieder zurück in mein Zimmer und halte sie Bruno hin. „Hier. Und dann mach dich endlich mal locker. Das kann ja keiner mitansehen.“   Bruno nimmt gehorsam die Flasche, trinkt einen Schluck und verschließt sie dann sorgfältig wieder. Danach stellt er sie wieder zurück auf den Tisch. Von locker keine Spur. Da muss ich wohl nachhelfen. „Gibst du mir mal noch ein Brot? Ich sterbe vor Hunger.“   Bruno sieht zweifelnd von mir zum Teller und wieder zurück. Wahrscheinlich überlegt er sich gerade, ob er zulassen will, dass ich da esse, wo er heute Nacht schlafen wird. Aber wie meine Mutter immer so schön sagt: 'Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht wie Krümel piken.' Also her mit der Stulle!   Bruno reicht mir dann doch wortlos den Teller und ich schnappe mir dieses Mal ein Käsebrot. Wirklich Appetit hab ich keinen mehr, aber irgendwas muss man ja tun. Zumal Bruno immer noch keinen Mucks von sich gibt. Erst, als ich gerade überlege, ob ich Bruno eigentlich wirklich in meinem Bettzeug schlafen lassen kann und/oder will, gibt er plötzlich Laut.   „Er ist sonst nicht so“, sagt er und guckt mich dabei nicht an.   „Wer?“, frage ich dummdusselig und bin gedanklich immer noch in meine Bettwäsche verstrickt. „Mein Vater“, erklärt Bruno und ich bin mit einem Mal wieder ganz Ohr. Will er mir etwa gerade weismachen, dass der durchaus wütende Mann mit dem Karpfengesicht und dem ungesunden Hang zur Waffengewalt sonst ein ganz braves Lämmchen ist? Ich mein, man denke an die Geschichte mit dem Hamster! Der hat doch nicht mehr alle Latten am Stafettenzaun oder wie das Ding heißt.   „Ja genau“, erwidere ich mit einem abfälligen Schnauben. „Deswegen schleichen bei euch zu Hause alle rum, als würden sie sonst den Geist von Canterbury herbeibeschwören, wenn sie nur einmal zu laut husten?“   Gut, sinnvolle Sinnbilder sind nicht so mein Ding, aber Bruno versteht bestimmt, was ich meine. Wenigstens guckt er so. „Es ist nicht einfach“, murmelt er und ich weiß nicht so ganz, was er meint, denn in meinen Augen ist es ganz einfach. Sein Vater ist ein despotisches Arschloch, das seine Frau guilttript, seine Tochter aufgrund eines vollkommen aus der Luft gegriffenen Verdachts mit Missachtung straft und seinen Sohn aus dem Haus wirft, weil der seine Hand in der Hose eines anderen Kerls hatte. Also für mich gibt es da keine Unklarheiten.   „Er will doch nur, dass es uns gutgeht.“   Also jetzt reicht es mir langsam. Anscheinend ist dieser Rinderwahnsinn auch noch ansteckend. „Gutgeht?“, echoe ich daher mit reichlicher Entrüstung. „Und deswegen wirft er dich aus dem Haus und droht damit, dich zu erschießen? Also das musst du mir mal erklären.“   Auf Brunos Stirn bilden sich Falten und ich sehe, wie sich sein Kiefer anspannt. Oh-oh, das war wohl nicht gerade geschickt. „Für dich ist ja auch immer alles ganz einfach“, faucht er und sieht mich zum ersten Mal richtig an. „Du kommst hierher und …“   Ich unterbreche ihn, bevor er sich wieder in Rage redet. „Fängst du jetzt wieder mit dem Scheiß an?“, frage ich und wäre gerade ganz gerne das blöde Ding in meiner Hand los. Mit einem Käsebrot in der Hand rumzufuchteln nimmt einem irgendwie die Glaubwürdigkeit. „Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich genauso meine Probleme habe wie jeder andere auch. Aber im Gegensatz zu dir und deinem Vater gehe ich deswegen nicht los und vermöbele andere Leute.“   „Nein, natürlich nicht. Du mischt dich nur ungefragt in ihr Leben ein.“   Autsch, das hat gesessen. Vor allem, weil ich das wohl gerade eben wirklich getan habe. Aber ich hab’s doch nur gut gemeint.   Das Gegenteil von 'gut' ist 'gut gemeint', tönt es in meinem Kopf und ich frage mich, wann eigentlich auch noch meine Oma sich dort oben eingenistet hat. Nicht, dass ich sie nicht vergöttert hätte, als sie noch gelebt hat, aber ne alte Frau kann ich da oben nun wirklich nicht auch noch brauchen.   Ich atme einmal tief durch und versuche, mir einen inneren Frieden herbeizubeschwören. Vielleicht sollte ich es doch mal mit Yoga probieren. Oder mit Joghurt.   „Tut mir leid“, sage ich mit allem möglichen Ernst, der mir zu Verfügung steht. „Es ist nur … als ich bei euch zu Hause war, war das alles so deprimierend. Deine Mutter, deine Schwester und sogar du … das war alles so …“   „Na was soll ich denn machen?“, schnauzt Bruno mit einem Mal. In seinem Gesicht steht eine wilde Mischung aus Wut und Verzweiflung. Seine Augen blitzen auf und gleichzeitig wirkt es, als würde er jeden Moment anfangen zu heulen. In meiner Brust greift eine riesige Faust nach meinem Herz.   „Ich versuche ja schon, sie zu beschützen“, beteuert er. „Ich helfe meinem Vater, wo ich nur kann. Mache alles, was er verlangt. Und ich weiß, dass er unrecht hat. Aber wenn ich nicht so wäre, wenn ich einfach normal wäre, dann …“   Ich verkneife mir, ihn darauf hinzuweisen, dass er normal ist. Es zu wissen und es zu fühlen sind zwei verschiedene Dinge.   „Ich hab es mal versucht. Mit nem Mädchen, weißt du. Aber ich … ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.“   Seine Worte klingen in meinem Ohr nach und für einen Moment frage ich mich, warum er mir das erzählt. Hab ich ihm etwa einen Grund dafür gegeben?   „Ist schon okay. Du hast Zeit.“   Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist, was ich sage. All diese Probleme, die er jetzt hat … die hatte ich nie. Sogar mein Vater hat sich Mühe gegeben, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Auch wenn er dafür an anderer Stelle vollkommen versagt hat. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte. Trotzdem ist da noch etwas, das ich gerne wissen würde. „Bereust du es?“   Bruno senkt für einen Moment den Kopf.   „Auf dem Weg hierher habe ich überlegt, ob ich nicht lieber woanders hingehen sollte. Zu Paul oder Gustav. Mit denen war ich früher immer ganz gut dran. Gustav hat sogar manchmal bei uns übernachtet. Oder ich bei ihm. Das war schön.“ Die Vorstellung versetzt mir einen kleinen Stich, denn eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Gustav und mir ist durchaus vorhanden. Schlank, blond, große Klappe. Und wer weiß, vielleicht steht Bruno ja sogar auf ihn. Oder stand.   Aber das konnte er ihm nicht sagen. Er konnte es niemandem sagen. Nicht einmal seinem besten Freund.   „Und dann kam ich“, sage ich tonlos. Irgendwie mag ich die Richtung nicht, in die sich das Gespräch entwickelt. „Ja, dann kamst du“, wiederholt Bruno und seine Stimme klingt dabei ein wenig erschöpft. „Und ich wollte nicht, dass du da bist. Es war, als hielte mir jemand einen Spiegel hin, in dem ich all das sehen konnte, was ich nicht sein wollte. Und gleichzeitig wollte ich es doch. Es war … furchtbar verwirrend und ich wollte nicht, dass irgendjemand denkt, dass ich …“   Bruno atmet tief durch.   „Aber als das dann mit uns anfing, da war es …. toll. Ich hätte das nie gedacht. Alles war plötzlich so leicht bis zu … diesem Abend. Da dachte ich, dass es dann eben einfach doch nur eine Phase war. Ein kurzes Hirngespinst. Aber dann bist du zu uns nach Hause gekommen. Mir war sofort klar, dass mein Vater Wind davon bekommen würde. Und ich war so … wütend auf dich. Weil du alles kaputtgemacht hast.“   Ich schlucke, weil sich das, was Bruno da erzählt, nicht gut anhört. So gar nicht gut. In seiner Version der Geschichte bin definitiv ich der Arsch. Wenn ich mich nicht verkleidet hätte, wenn ich nicht auf sein Angebot eingegangen wäre, wenn ich nicht bei ihm Hause eingefallen wäre …   Dann hätte sein Vater uns vielleicht nie erwischt.   Einerseits weiß ich, dass er recht hat. Aber zu der Geschichte gehören immerhin zwei.   „Warum hast du dich denn überhaupt nochmal mit mir getroffen?“, frage ich und klinge dabei defensiver, als ich es möchte. „Du hättest mich doch einfach ignorieren können.“   Bruno hebt nicht den Kopf.   „Ich hab gedacht, du hättest bei uns eingebrochen.“   Ich blinzele und verstehe nur noch Bahnhof. Eingebrochen? Why?? „Als ich dich mit der Tüte gesehen habe, da hab ich gedacht, du wärst nochmal zu uns nach Hause und … na ja.“   Ich blinzele noch einmal und versuche, die schräge Logik zu verarbeiten. Er hat gedacht, ich hätte seine Tüte geklaut?   „Und dann dachte ich, meine Mutter hätte sie vielleicht fortgeworfen. Sie war ziemlich ramponiert nach der Tour durch den Wald. Ich hab ihr auch nicht gesagt, was drin war. Ich hab das Hemd einfach nur in den Schrank zurückgehängt, wo es mein Vater dann gefunden und total rumgeschrien hat, weil es nicht gebügelt war. Da war ich auch echt sauer auf dich. Aber als ich dann den Zettel entdeckt habe ….“   Okay, okay, Moment mal Stopp. Was wird das jetzt hier gerade? Ein „alles Schlampen, außer Mutti“ und besonders Fabian? Wenn ja, bin ich raus aus der Geschichte. Aber so was von. „Ich hab die Tüte nicht geklaut“, erkläre ich kategorisch und irgendwo auch ziemlich angepisst. „Und schon gar nicht habe ich in eurem Müll herumgewühlt. Ich war bei 'Bräuer Moden' und habe mir im Schweiße meines Angesichts eine neue 'Tragetasche' erbettelt. Ich hab mir sogar ne Freundin andichten lassen, um sie zu bekommen. Alles nur, um deinen fetten Hintern nochmal in den Wald zu kriegen, damit ich dir sagen kann, dass es mir leid tut.“   Ernsthaft ein wenig böse funkele ich Bruno an, der nun wiederum seines Zeichens kariert aus der Wäsche schaut. „Eine Freundin? Aber alle Welt weiß doch, dass du … Wer kommt denn auf so eine Idee?“ „Der Fatzke vom Modehaus“, brummele ich. „Dabei hätte ich wetten können, dass der selbst schwul ist.“   „Hans Bräuer?“, meint Bruno erstaunt. „Nein, der ist ein Schürzenjäger. Vor dem ist nichts sicher, was einen Rock anhat.“   „Na da bin ich ja froh, dass ich Hosen trage“, knurre ich und frage mich, wer eigentlich 'alle Welt' ist und warum die sich für mein Sexualleben interessieren. Aber momentan haben wir wohl Wichtigeres zu klären. „Ich hab auf jeden Fall ne ganze Menge auf mich genommen, nur weil du so ein Riesendickschädel bist“, schimpfe ich daher weiter und ziehe dazu auch noch einen Schmollmund. Ich meine, das muss ja nun wirklich mal gesagt werden.   Bruno senkt den Kopf und bekommt ein bisschen rote Ohren. „Ich weiß. Und deswegen …“   In diesem Moment klopft es. Oh man, echt jetzt? „Nein!“, meckere ich, was meine Mutter natürlich nicht davon abhält, trotzdem hereinzukommen. Ich glaube, wir müssen uns dringend mal über das Thema Privatsphäre unterhalten. „Hey ihr beiden, ich hoffe, ich störe nicht.“   Doch, tust du.   „Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich jetzt ins Bett gehe. Also seid bitte leise. Und Fabian, du musst dir noch die Couch fertig machen. Ach und das Brot ist alle. Wenn ihr morgen früh frühstücken wollt, muss einer von euch zum Bäcker gehen.“   Früh wollen wir ganz bestimmt nicht frühstücken. Spät vielleicht, aber das steht ja auch einem anderen Blatt. Doch natürlich nicke ich brav alles ab. „Ja, Mama. Ist gut, Mama. Bis dann, Mama.“   Meine Mutter legt ihre Stirn in Warnfalten. „Jetzt werd mal nicht frech, junger Mann“, ermahnt sie mich und schickt Bruno gleich darauf einen aufmunternden Blick. „Wenn er zu unverschämt wird, rufst du mich, dann sperren wir ihn zusammen auf den Balkon.“   Bruno grinst pflichtschuldig. „Ist gut, Frau Vogel. Und … vielen Dank, dass ich hierbleiben darf.“   Das Lächeln meiner Mutter wird breiter. „Aber sicher doch. Ist doch nichts dabei.“   Jaja, okay. Wir haben es alle verstanden. Du bist ne saucoole Mutter. Und jetzt verzieh dich endlich. Los. Kusch! Hau ab!!   Als sie endlich verschwunden ist und die Tür hinter sich zugezogen hat, funkele ich Bruno kampflustig an. „Wehe, du versuchst das mit dem Balkon. Ich schreie die ganze Nachbarschaft zusammen.“   Bruno schmunzelt ein bisschen. „Ich glaube, das würdest du echt machen.“ „Und ob ich das machen würde. Das ist Kindesmisshandlung!“   Bruno lacht noch einmal, dann atmet er tief durch. „Ich glaube, wir sollten auch langsam mal schlafen gehen. Es ist schon spät und … na ja.“   Oh man, der Typ ist echt der Meister der unausgesprochenen Wahrheiten und nicht zu Ende geführten Sätze. Aber gut, wenn er pennen will, kann er das haben. Obwohl ich zugeben muss, dass ich eigentlich gehofft hatte, dass wir … „Willst du zuerst ins Bad?“   Mhm, heißt dass jetzt, dass er abgeneigt ist oder dass er 'hard to get' spielt. Wegen der Ehre und so. Um ihm einen kleinen Schubs zu geben, erhebe ich mich daher und strecke mich ausgiebig, damit er sieht, was er verpassen würde.   „Ich leg dir ne Zahnbürste hin“, verspreche ich und verziehe mich dann ein bisschen mit dem Hintern wackelnd aus meinem Zimmer. Leider bleibe ich trotz aller Versuche, Bruno an die Angel zu kriegen, vollkommen ungestört und räume, nachdem ich eine unanständig lange Weile dort verbracht habe, irgendwann dann doch das Bad. Bruno verschwindet kurz darauf darin und ich höre, wie er die Tür abschließt. Das soll wohl heißen, dass heute nichts mehr passiert. Blödmann!   Ein bisschen muffelig und brummelig verziehe ich mich ins Wohnzimmer und lege mich, nachdem auch Bruno eine ganze Weile zu brauchen scheint, irgendwann tatsächlich hin. Bruno bleibt wirklich irrsinnig lange im Badezimmer, sodass mir, als er endlich die Tür aufschließt, schon fast die Augen zugefallen sind. Umso erstaunter bin ich, als ich plötzlich seine Stimme höre. „Fabian? Schläfst du schon?“   Ich ignoriere den Schauer, der meinen Rücken hinabrieselt, als er meinen Namen nennt, und bleibe einfach still liegen. Im Schatten der schwedischen Gardinen – die Einrichtung des Wohnzimmers ist von Ikea – kann ich Bruno im Türrahmen nur halb erkennen. Sicher ist jedoch, dass er keine Hose mehr anhat und somit nur noch in Shirt und Shorts vor mir steht. Und jetzt tappt er auch so unsicher noch von einem Fuß auf den anderen. Wie süß ist das denn, bitte? „Ich … also … ich wollte dir eigentlich noch sagen, dass ich es nicht bereue.“ Er macht eine kleine Pause, während ich den Atem anhalte. Wahrscheinlich sollte ich jetzt irgendetwas antworten, aber ich kann nicht. Ich weiß nicht was!   Bruno räuspert sich und fügt noch hinzu: „Weil du doch gefragt hattest. Deswegen wollte ich, dass du das weißt.“   Einen Augenblick verharrt er noch im Türrahmen, bevor er sich wieder herumdreht und ebenso schnell und lautlos wieder verschwindet, wie er gekommen ist. Ich wiederum liege jetzt hellwach auf dem Sofa und frage mich, was das denn gerade für eine Aktion gewesen sein soll. War das jetzt ein Geständnis? Eine Beichte? Eine Einladung?   Wenn ja, müssen wir wirklich ganz, ganz dringend über Kommunikationsformen sprechen. Ich kann schließlich nicht hellsehen. Außerdem gehen mir so langsam die Tüten aus.   Nichtsdestotrotz schiebe ich langsam die Decke zurück und setzte mich auf. Ob ich mal zu ihm rübergehe? Zwar ist das Schlafzimmer meiner Mutter nebenan, aber die Wände sind ja nicht aus Pappe und wenn wir ganz leise machen …   Na los, trau dich. Was soll schon schiefgehen?   Eigentlich könnte sogar eine ganze Menge schiefgehen. Allem voran, dass Bruno mich rausschmeißen könnte. Aus meinem eigenen Zimmer. Das wäre schon ziemlich peinlich. Aber andererseits …   Ene mene miste, es rappelt in der Kiste …   Ach scheiß auf Abzählreime. Ich geh jetzt zu Bruno und dann zeige ich ihm mal, was man auf 90 cm für Spaß haben kann. Also Augen zu und ran an den Mann. Den Mutigen gehört die Welt.   Kapitel 14: Die beste Idee -------------------------- Ein kühler Luftzug weckt mich. Er streicht über mein Gesicht und kitzelt mich an der Nase. Begleitet wird er von einem Rascheln und dem unangenehmen Gefühl, dass jemand nahe an mir vorbeiläuft. Derjenige wuselt geradezu um das Sofa herum, auf dem ich liege, was sich absolut störend auf meine innere Ruhe auswirkt. Grummelnd verziehe ich mich daher tiefer unter meine Decke und versuche, das Gefühl, die Störung und die verlorene Ruhe zu ignorieren. Leider meldet sich daraufhin eine Stimme.   „Hey, Schatz, bist du schon wach?“   „Nein“, behaupte ich und strafe mich damit direkt selbst Lügen, was meine Mutter natürlich sofort bemerkt. „Willst du nicht langsam mal aufstehen?“   Willst du nicht langsam mal verschwinden?   Mal ehrlich, die Frage ist so überflüssig wie Smarties und M&Ms auf einem Frozen Jogurt. Wenn man die ohne Erdnüsse drin nimmt, schmecken die vollkommen gleich!   „Bruno ist auch schon wach.“   Ach fuck!   Bei der Erwähnung seines Namens ist mein Puls sofort auf 180. Liegt vielleicht daran, dass ich gestern doch auf den nötigen Spannungsabbau verzichtet habe. Gerade als ich loswollte, kam nämlich meine Mutter aus dem Schlafzimmer, und während ich wartete, dass sie sich endlich wieder trollt, kriegte ich plötzlich Bedenken. Sollte ich jetzt wirklich zu Bruno gehen und ihn vernaschen? Mein Körper war ja all for it, aber ich war mir dann auf einmal doch nicht mehr so sicher. Mir persönlich wäre es ja egal gewesen, wenn meine Mutter uns gehört hätte, aber Bruno wäre mit ziemlicher Sicherheit ausgetickt, wenn sie uns heute mit wissendem Blick und nur schwer verborgenem Schmunzeln empfangen hätte. Oder irgendwelche Sprüche gebracht und Gott weiß, dass sie das hätte. Die Frau hat echt kein Schamgefühl! Und schließlich habe ich es ihm ja versprochen …   „Ich hab ihm Kaffee angeboten, aber er will mit dem Frühstücken lieber auf dich warten“, plappert die lästige Nervensäge derweil ungerührt weiter und versetzt mir damit den nächsten Herzinfarkt. Bruno ist nicht nur wach sondern hat auch noch mit meiner Mutter geredet?   „Er sitzt in der Küche.“   Und sitzt in der KÜCHE?   Mit einem Ruck strampele ich die Decke von mir und ziehe sie im nächsten Moment unter leidvoller Unterdrückung eines spitzen Schreis wieder an mich. Wirklich, es hat schon seinen Sinn, dass Kinder in diesem Land dazu gebracht werden, in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Das erspart ihnen peinliche Szenen, in denen ihre Eltern Zeuge ungewollter, körperlicher Reaktionen werden. Dabei hatte ich vorher von Mondfischen geträumt. Mal ehrlich, was soll das?   „Mama!“, mache ich deswegen und hoffe gleichzeitig, dass sie nicht ahnt, weswegen ich so empört bin. Am liebsten würde ich sie ja aus dem Zimmer schmeißen, aber dummerweise ist das hier das Wohnzimmer. Und ihr Arbeitszimmer. Quasi. Deswegen steht sie auch gerade vor ihrem Schreibtisch, tippt auf ihrem Laptop herum, schlürft ihre Kaffee und sortiert gleichzeitig irgendwelche Akten in ihre Tasche. Da soll nochmal einer sagen, Frauen wären in Wahrheit gar nicht multitasking-fähiger als Männer. Ich sehe hier gerade den lebenden Gegenbeweis vor mir. Wenn ich das wäre, hätte ich längst die Aktentasche geflutet und versucht in die Tastatur zu beißen. Mir schwirrt ja allein vom Zusehen schon der Kopf.   „Hast du gut geschlafen?“, fragt sie zu all dem auch noch und hat meine peinliche Lage offenbar tatsächlich nicht bemerkt. „Ja, geht so“, muffele ich und wünsche, dass sie endlich verschwindet. Es ist doch bestimmt schon … spät, sodass sie langsam mal losmuss. „Ach ja, das neue Ektorp ist einfach nicht mehr so gut wie das alte Modell. Ich hab da zwar eine tolle DIY-Anleitung zum Aufpolstern gesehen, aber wann komme ich schon mal dazu?“   Ja ja, du hast voll den Stress. Also zisch endlich ab und lass mich in Ruhe!   Aber natürlich geht sie nicht. Nein, jetzt setzt sie sich auch noch, während die Morgenlatte zwar langsam verschwindet, sich dafür aber ein anderes Problem meldet, und in der Auseinandersetzung volle Blase vs. peinliche Enthüllung gewinnt leider erstere.   „Ich hasse dich“, murmele ich so leise, dass sie es zum Glück nicht mitbekommt, wickele mich, so gut es geht, von der Taille abwärts in meine Wolldecke und tappe so vorsichtig in Richtung Badezimmer. Leider habe ich dabei übersehen, dass ich zu dem Zweck durch die Küche muss. Wo Bruno sitzt. Verdammte Scheiße!   „Morgen“, murmele ich und halte den Blick gesenkt. Die Nummer mit der Wolldecke wird gleich noch eine ganze Ecke peinlicher und auch Bruno scheint nicht so recht zu wissen, wie er es finden soll, dass ich schon wieder im Toga-Look unterwegs bin. Er wendet den Blick ab und brummt ein „Morgen“ zurück, während ich in Erwägung ziehe, einfach den Schwanz einzuziehen – im wahrsten Sinne des Wortes – und mich rückwärts wieder aus dem Raum zu bewegen und hinter der Yucca-Palme im Wohnzimmer zu verstecken. Wenn ich mich ganz still verhalte, merkt ja vielleicht keiner, dass ich da bin. Das wäre doch die Lösung für all meine Probleme. „Ich geh dann mal … ins Bad“, sage ich stattdessen, lupfe meine Decke ein wenig und stolziere möglichst hoheitsvoll an ihm vorbei in Richtung Flur. Natürlich ist mir klar, dass er mir dabei nachsieht, aber ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen. Immerhin muss ich pinkeln und das dringend. Während ich also erledige, was die Natur nach dem nächtlichen Genuss einer ganzen Flasche Wasser so vorgesehen hat, höre ich draußen auf dem Flur meine Mutter. Im nächsten Moment klinkt die Badezimmertür. „Besetzt!“, schreie ich und rolle innerlich mit den Augen. Sie hat doch gesehen, dass ich aufgestanden bin. Was meint sie denn, wo ich hinwollte? Timbuktu?   „Ich brauch nur schnell meinen Lippenstift“, höre ich von draußen und verdrehe gleich nochmal die Augen.   „Geh ohne!“, brülle ich zurück. „Ich kann grad nicht.“   Kann ich wirklich nicht. Ich brauch nämlich noch einen Augenblick, bevor ich Bruno gegenübertreten kann. Oder auch zwei oder drei, je nachdem.   „Kannst du ihn mir nicht rausgeben?“   Ich schnaube und spüle und bin kindischerweise versucht, mir nicht die Hände zu waschen, tue es dann aber doch, bevor ich mir das gewünschte Teil aus dem Badezimmerschrank schnappe, die Tür entriegele und sie einen winzigen Spaltbreit öffne. „Wie ist das Passwort?“, knurre ich in meiner besten Türsteherstimmen-Imitation, aber meine Mutter hat heute keinen Sinn dafür. „Nun gib schon her, ich hab’s eilig“, meint sie ärgerlich, also schiebe ich den Lippenstift in den Türschlitz. Er wird mir sogleich aus den Händen gerissen, sodass ich unweigerlich an ein Löwenrudel denken muss, dem man einen Antilopenschenkel hinhält.   „Danke“, sagt die Löwin immerhin noch, bevor sie mit ihrer Beute einen schnellen Zwischenstopp am Flurspiegel einlegt, um dann in ihre Schuhe zu schlüpfen und im Schweinsgalopp die Treppe hinunterzurasen. Vielleicht sollte ich Zoowärter werden.   Dann gäbe es wenigstens einen Grund für den Affenzirkus in meinem Leben.   Das Krachen der Haustür zeigt an, dass meine Mutter nun endgültig das Gebäude verlassen hat. Somit sind Bruno und ich wohl allein in der Wohnung und mir fallen natürlich gleich wieder jede Menge Schweinereien ein, die man aus diesem Grund anstellen könnte. Aber andererseits … Bruno hat gerade echt Probleme und so sehr ihn das sicherlich auf andere Gedanken bringen und ihm zeigen würde, was für gute Seiten das andere Uferfür ihn bereithält, ist das vielleicht doch ein wenig … unsensibel? Ich sollte wenigstens abchecken, ob er erst reden oder erst ficken will. Bei beidem gleichzeitig müssten wir noch in Verhandlung gehen; ich weiß nämlich nicht, ob ich ihm einen blasen möchte, während er über seinen Vater redet. Oder seine kleine Schwester. Brr.   Um dennoch für alles gewappnet zu sein, springe ich nochmal kurz unter die Dusche. Man weiß ja nie. Außerdem ist Vorsicht besser als Nachsicht und nichts ist unsexyer, als ein heißes Vorspiel mit „ich muss da nochmal kurz ins Bad“ unterbrechen zu müssen. Oder Mundgeruch, weswegen ich auch da nochmal schnell die Bürste schwinge, bevor ich rundherum frisch das Bad verlasse und mich nun endlich der Herausforderung stellen kann, Bruno gegenüberzutreten. Der heute Nacht hier geschlafen hat. Ohne dass ich über ihn hergefallen bin. Ich bin fast stolz auf mich.   Beschwingt begebe ich mich daher zurück in die Küche, wobei ich vorher nochmal einen kurzen Abstecher in mein Zimmer mache, um mir frische Unterwäsche und eine Hose zu holen. Ganz so 'in your face' wollte ich dann nämlich doch nicht sein. Andernfalls hätte ich natürlich die Klamotten auch weglassen und gleich nackt in die Küche stürmen können, aber das würde dann vielleicht doch etwas notgeil wirken.   In meinem Zimmer ist es hell und kalt. Das Fenster steht offen, das Bett ist sorgfältig zurückgeschlagen. Ich schließe den aufdringlichen Frischluftspender und drehe die Heizung ein bisschen auf. Danach ziehe ich mir schnell was über und sehe zu, dass ich wieder ins Warme komme. Die spinnen doch alle, die Lüfter!   „Morgen“, sage ich, als ich die Küche betrete, und möchte mir im nächsten Augenblick gegen die Stirn klatschen, weil wir das ja schon hatten. Aber doppelt hält besser oder wie war das?   „Morgen“ sagt auch Bruno erneut und guckt mich von seinem Fensterplatz aus an. Eigentlich wundert es mich, dass er sich überhaupt in die Bank gequetscht bekommen hat. Allerdings hätte die Alternative aus einem Platz bestanden, bei dem er mit dem Rücken zum Raum gesessen hätte. Fand er vermutlich auch nicht so prickelnd. „Hast du gut geschlafen?“, frage ich und möchte mich gleich wieder ohrfeigen. Das ist ja nun wirklich eine Steilvorlage für ein Gespräch. Ich will aber nicht reden, ich will ficken. Daher hätte ich vielleicht lieber fragen sollen, wie der Kaffee ist, aber nun ist es zu spät dafür, denn Bruno hat bereits begonnen zu antworten.   „Ja, war okay. Dein Bett ist bequem.“   Ich weiß. Außerdem ist es leer ebenso wie die Wohnung, also …   „Wollen wir frühstücken?“   Oh. Mist. Ich glaube, ich habe da noch eine Möglichkeit übersehen, nämlich die, dass Bruno morgens etwas zu essen braucht. Ich selbst bin ja nicht so der Frühstücks-Typ, aber das heißt ja nicht, dass auch alle andere ohne was zwischen den Zähne auskommen. Dreck!   „Äh ja. Klar“, gebe ich zurück und drehe mich um, um mein dummes Gesicht zu verbergen. „Ich seh mal im Kühlschrank nach.“   Im Kühlschrank ist nichts Gescheites, davon aber reichlich. Lediglich ein paar Salamischeiben – Woher? Warum? War die im Angebot oder was? - und eine Eierpappe fristen noch ihr klägliches Dasein in den ansonsten wie ausgestorben wirkenden Regalen. Ach, und saure Gurken haben wir noch. Wie schön. Warum gab es die nicht gestern?   „Wir haben noch Eier“, verkünde ich und komme erst danach darauf nachzusehen, ob überhaupt noch was in der Pappe drin ist. Tatsächlich lachen mich aber von dort noch sieben schneeweiße Hühnereier an. Ein Glück. Ich werfe einen Blick in Richtung Küchentisch. „Magst du Omelette?“   Nicht, dass ich wirklich weiß, wie man das zubereitet, aber so schwer kann das nicht sein. Eier und ein paar Zutaten zusammenrühren und in die Pfanne schmeißen werd ich schon hinkriegen. „Ich würd lieber Spiegelei nehmen.“   Spiegelei. Ausgerechnet! Aber gut, wenn er meint.   „Okay, kriegst du.“   Ich beschließe spontan, einfach so zu tun, als wäre es vollkommen normal, dass Bruno hier geschlafen hat und jetzt Eier zum Frühstück will. Immerhin ist da Eiweiß drin und wer weiß, wofür wir das später noch brauchen können. Ich ziehe somit eine Pfanne aus dem Schrank, stelle sie auf den Herd und schalte ihn an. Im nächsten Moment kommt doch glatt ein Kommentar von der Küchenbank. „Soll ich dir helfen?“   Helfen? Bei Spiegeleiern? Nein danke, aber das schaffe ich gerade noch so alleine. Glaube ich. Andererseits wäre es wohl unhöflich, sein Angebot abzulehnen. Also nicke ich. „Klar. Du kannst schon mal Teller rausholen. Geschirr ist im Schrank neben dir.“   Während Bruno also den Tisch deckt und sich anscheinend vollkommen darauf konzentriert, warte ich darauf, dass die Pfanne heiß genug ist. Auf dem Boden ist so ein Kreis und angeblich wird der rot, wenn das der Fall ist. Noch bevor es jedoch soweit ist, steht Bruno auf einmal neben mir. „Wo ist das Besteck?“   Ich deute auf die entsprechende Schublade und sehe zu, wie er zweimal Messer und Gabel herausnimmt. Und noch bevor ich mein Mundwerk aufhalten kann, hat es sich schon in Gang gesetzt. „Ich brauch nur ne Gabel“, informiere ich Bruno, der mich daraufhin zweifelnd ansieht. „Du isst Spiegelei nur mit der Gabel?“ „Nein, aber Rührei.“   Immer noch zögert Bruno und zieht die Stirn kraus. Ehrlich, wenn ich gewusst hätte, dass die Art meines Frühstückseis so eine Debatte nach sich zieht, wäre ich lieber bei Kaffee geblieben. Nur Kaffee. „Ich mag den Glibber nicht“, sehe ich mich gezwungen, ihm die Sache zu erklären. „Auf dem Spiegelei. Das ist eklig.“   Man sagt nicht 'eklig' zu Dingen, die andere Leute noch essen wollen, höre ich daraufhin prompt meine Oma in meinem Kopf. Die alte Dame scheint es sich doch da oben gemütlich gemacht zu haben. Da bleibt nur zu hoffen, dass sie wenigstens beim Sex die Klappe hält.   „Und warum drehst du es dann nicht um? Das macht meine Mutter immer. Ich mag das nämlich auch nicht.“   Jetzt ist es an mir, eine Runde Bauklötze zu staunen. Spiegeleier umdrehen? Wie? Warum?   „Umdrehen?“, frage ich deswegen auch höchst erstaunt und sehe offenbar so aus, als wenn ich von Tuten und Blasen keine Ahnung hätte. Obwohl wir ja beide wissen, dass ich mich wenigstens mit einem davon schon recht gut auskenne.   „Ja, umdrehen. Hast du einen Pfannenwender? Ich zeig’s dir.“   Bruno scheint plötzlich Feuer und Flamme. Er sieht mich erwartungsvoll an und seine Augen leuchten geradezu. Es ist verwirrend. „Äh ja. Ich … schau mal.“   Ich krame in der Schublade mit den Kochutensilien und fische tatsächlich einen Pfannenwender heraus. Er ist dreieckig, an der Seite gezackt und vermutlich von Ikea.   „Geht der?“   Ich halte Bruno das Teil hin und er nimmt es, während er nach der Ölflasche greift, die schon neben dem Herd steht. „Ja, der ist prima. Habt ihr auch Ketchup?“   Noch einmal gehe ich zum Kühlschrank und fische die Flasche mit dem lachenden Piraten heraus. Einen Moment lang wünsche ich mir, dass meine Mutter kein Kinderketchup gekauft hätte, aber was soll’s? Weniger Zucker und so. Soll ja gesund sein.   „Wie viele Eier willst du?“   Ich gebe „zwei“ als gewünschte Anzahl an und sehe zu, wie Bruno die Eier mit fachmännischem Gesichtsausdruck aus der Packung nimmt. Als er sie jedoch auf die Tischplatte klopft, falle ich fast vom Glauben ab. „Meine Mutter macht das immer am Pfannenrand“, bluppe ich unwillkürlich. Bruno lächelt. „Wenn man sie so aufschlägt, brechen sie sauberer durch“, erklärt er mir, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Und tatsächlich befindet sich in dem Ei, was er gleich darauf mit nur einer Hand in die Pfanne leert, nicht ein Krümel Eierschale. Beeindruckend.   „Cooler Trick, aber schaffst du das auch nochmal?“, frage ich und grinse Bruno herausfordernd an. Er grinst zurück und schlägt doch glatt drei weitere Eier vollkommen ohne Zwischenfall in die Pfanne. Beim fünften hat er jedoch etwas zu fest zugedrückt, sodass nicht nur keine Schale, sondern überhaupt nichts davon in der Pfanne landet. Stattdessen haben wir Eiermatsch auf der Tischplatte. „Ach Scheiße!“, flucht Bruno und macht sich sogleich daran, die Bescherung wieder auseinanderzusortieren. Ich stehe daneben und grinse, bis mir auffällt, dass ich vielleicht auch mal was Sinnvolles tun könnte „Warte, ich hol dir ein Küchentuch“, biete ich an und rolle höchst hilfsbereit gleich drei Papiertücher ab. Sicher ist sicher. „Nein, passt schon. Das kann man noch essen“, wehrt Bruno jedoch ab und macht tatsächlich Anstalten, das Ei von der Tischplatte in die Pfanne zu befördern. Ich halte ihn unter Aufbietung meiner gesammelten Kräfte gerade noch auf.   „Quatsch“, mache ich und zeige ihm einen Vogel. „Wegen dem einen Ei …“   Während meine Oma in meinem Hinterkopf mosert, dass es eigentlich 'wegen des einen Eis' heißen müsste, wirkt Bruno unentschlossen.   „Meinst du wirklich?“, will er wissen und starrt erst auf die Pfanne und dann auf seine mit Eigelb verklebte Hand. „Ja, logisch. Komm her, ich wisch das weg.“   Während ich um ihn herumwusele und mich bemühe, die Bescherung mit Hilfe des weißen Zellstoffs in den Griff zu kriegen, beobachtet Bruno mich. Seine Blicke kitzeln auf meiner Haut und ich kann mich nicht gegen einige höchst pikante Bilder wehren, die sich mir unweigerlich aufdrängen. Schweinereien auf der Küchentheke. Mhm, lecker!   „Ich, äh … geh dann mal Hände waschen.“   Bruno dreht sich herum und stapft in Richtung Spüle. Die Eier in der Pfanne sind mittlerweile bereits weiß geworden, aber die Eigelbe schlabbern immer noch roh und unappetitlich herum. Na da bin ich ja mal gespannt, wie er das hinkriegen will.   „Hast du ein Handtuch?“   Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch und sehe mich um.   „Öh ja. Natürlich.“   Irgendwo wenigstens. Ich schwöre, die Dinger sind immer weg, wenn man sie mal braucht.   Ich finde das Handtuch schließlich halb hinter der Heizung klemmend und reiche es Bruno, der sich ein wenig umständlich die großen Pranken abtrocknet. Danach kommt er wieder zu mir an den Herd und schlägt auch noch de Rest der Packung in die Pfanne. Jetzt bin ich es, der ihn beobachtet. Er wiederum beobachtet die Eier. Nach einer Weile zückt er den Pfannenwender. „Jetzt pass auf. Siehst du? So.“   Ich sehe zu, wie Bruno eines der Eier anhebt, sich konzentriert und es dann – schwupp – mit Schwung herumdreht und wieder in die Pfanne befördert. Es zischt und spritzt und ich kann förmlich dabei zusehen, wie der glibberige Teil zu einer leckeren und überhaupt nicht mehr glibberigen Kruste wird. Wenn ich gewusst hätte, dass das so einfach ist …   „Siehst du, ganz leicht“, meint jetzt auch Bruno, bevor er auch noch die restlichen Eier umdreht. Durch den Geruch, der sich in der Küche ausbreitet, kriege ich fast Hunger. Wie aufs Kommando knurrt Brunos Magen. „Oh, sorry“, murmelt er und wendet verlegen den Blick ab. Ich lächele. „Kein Problem. Schließlich sind wir die mit dem leeren Kühlschrank.“   Brunos Lippen zucken ebenfalls zu einem kurzen Lächeln, bevor er den Herd abstellt und nach der Pfanne greift. „Na los, setzt dich. Ich mach das.“   Gehorsam setze ich mich tatsächlich auf den Stuhl, auf dem sonst immer meine Mutter sitzt, und sehe zu, wie Bruno die Eier auf den Tellern verteilt. Bevor er sich das letzte Ei auftut, schaut er mich noch einmal fragend an. „Willst du wirklich nicht noch eins?“ „Nein, danke. Mir reichen die hier.“   Bruno brummt und nickt und schaufelt sich auch noch Ei Nummer vier auf den Teller. Danach trägt er die Pfanne zum Herd zurück. Als er wiederkommt, quetscht er sich erneut in die Bank, greift, ohne mich eines Blickes zu würdigen, nach der Ketchupflasche und verteilt eine unanständig große Portion davon auf seinen Eier. Der Teller sieht aus wie nach einem Massaker.   „Schmeckt das?“, frage ich. Brunos Augen zucken hoch. „Klar.“ „Bist du sicher?“ „Ja.“   Okay, ich gebe auf. Er scheint das Problem wirklich nicht zu erkennen. Na wenigstens schippert 'Captain Tomatobart' so endlich seinem Ende entgegen. Wenn Bruno nochmal hier isst, ist die Flasche leer.   Na schön, genug gekaspert. Essen wir.   Ich hebe also Messer und Gabel, doch noch bevor ich dazu komme, das Spiegelei anzuschneiden, unterbricht Bruno mich schon wieder. „Willst du auch?“   Er hebt die Ketchupflasche und die Augenbrauen und ich überlege. Ei mit Ketchup hab ich noch nie gegessen. Bruno hingegen scheint das nur so zu sich zu nehmen. Also warum nicht?   „Klar“, sage ich daher etwa im gleichen Tonfall wie er zuvor, was Bruno zum Anlass nimmt, meine Teller zu sich rüberzuziehen und doch tatsächlich Ketchup auf meinen Eiern zu verteilen. Doch noch bevor ich mich darüber amüsieren kann, wie sich der Gedanke in meinem Kopf anhört, schiebt er mir den Teller wieder rüber. Auf den Spiegeleiern sind mehrere Punkte und Striche. Das sind eindeutig Gesichter. Sein Ernst?   „Was …?“, beginne ich eine Frage, doch Bruno grinst sich bereits eins. „Das mache ich für meine Schwester auch immer“, sagt er und kriegt sich anscheinend gar nicht wieder ein. Ich runzele die Stirn und überlege, ob ich das jetzt lustig oder entwürdigend finde, aber Bruno ist noch nicht fertig. „Wenn ich Gewürzgurken hätte, hättest du auch noch Nasen bekommen.“   Gewürzgurken? Na die kann er haben.   Ohne ein Wort zu sagen, stehe ich auf, gehe zum Kühlschrank und fische das Gurkenglas heraus. Immer noch ein todernstes Gesicht machend kehre ich zum Tisch zurück und stelle das Glas vor Bruno ab. Jetzt ist er es, der erstaunt die Augenbrauen hebt. Dann jedoch grinst er. „Na gut, wie du willst.“   Er schnappt sich meine Gabel, öffnet das Glas und angelt nach einer sauren Gurke. Auf seinem Teller teilt er sie mit dem Messer in mehrere längliche Streifen, halbiert einen von ihnen und legt dann mit höchst konzentriertem Gesicht je einen Gurkenstreifen in die Mitte der Ketchupgesichter. Als er fertig ist, hebt er den Kopf und sieht mich an. „Und? So besser?“   Meine Mundwinkel zucken. Ich will nicht darüber lachen, aber ich muss. Weil es so herrlich absurd ist.   „Unglaublich“, meine ich mit mühsam beherrschtem Gesicht. „Ein wahres Meisterstück. Ja wirklich. Du solltest Koch werden.“   Ich grinse, weil Brunos Ohren prompt anfangen zu glühen. Verschämt schlägt er die Augen nieder. „Lust hätte ich ja schon, aber das würden meine Eltern nie erlauben“, sagt er. „Wer soll denn dann den Hof übernehmen?“   Mir liegt auf der Zunge zu sagen, dass das ja nun nicht sein Problem ist, aber Bruno als Koch? Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Vielleicht in ner Imbissbude, aber bestimmt nicht in so einem Nobelladen, wo er dann einzelne Zitronengrasschnippsel auf Lachshäppchen drapiert. Obwohl …   „Ach, warum nicht“, sage ich und stelle mir Bruno in weißer Uniform vor. So mit Kochmütze und allem. Und ich wäre dann der unartige Küchenjunge, der von ihm … Oh man, ich muss echt dringend Druck abbauen.   Bevor sich meine interessanten Vorstellungen schon wieder in einer handfesten Erektion manifestieren können, mache ich mich lieber daran, nun endlich das erste von Brunos Kunstwerken anzuschneiden. Kaum, dass ich den ersten Schnitt gemacht habe, fließt ein Strom sattgelben Eidotters über weißes Porzellan. Schnell versuche ich, ihm Einhalt zur gebieten, aber ich scheitere. Binnen kürzester Zeit habe ich eine riesige, gelbe Pfütze auf meinem Teller. Bruno grinst. „Jetzt wäre ne Scheibe Brot nicht schlecht“, meint er und kämpft anscheinend mit dem gleichen Problem. Aus dem Ketchup-See ist ein Schlachtfeld in gelb-rot geworden. Ich brumme abwesend und zustimmend, bin jedoch zu sehr mit meinem eigenen Teller beschäftigt. Obwohl ich zugeben muss, dass Ei mit Ketchup leckerer ist, als ich gedacht hätte, bleibt dennoch das Problem, wie ich den Kram in den Mund bekomme. Messer ablecken ist ja nicht, aber von der Gabel läuft das immer wieder runter. Da heißt es schnell sein. Und das noch ohne zu kleckern? Oh-oh.   „Meine Mutter backt immer selber. Ihr Brot ist echt lecker.“   Bruno verstummt und auch ich schlucke ein wenig schwer an meinem Ei herum. Wenn das gestern nicht passiert wäre, säßen wir jetzt wohl nicht hier. Wir würden kein Ei ohne Brot frühstücken und auch sonst nichts. Wir wären einfach nur zwei Typen, die im gleichen Ort wohnen. „Wirst du es ihr sagen?“   Ich muss nicht erklären, was ich meine. Bruno versteht mich auch so. Allerdings antwortet er nicht. Er senkt nur seinen Blick auf seinen mittlerweile leeren Teller. Hinter seiner Stirn arbeitet es und ich kann sehen, wie sich seine Haut immer weiter verhärtet.   Er macht dicht, schießt es mir durch den Kopf und der nächste Gedanke ist, dass das meine Schuld ist. Ich habe ihn gedrängt. Dabei wollte ich doch gar nicht … „Hey, ich … so war das nicht gemeint“, sage ich schnell und setze ein Lächeln auf. „War nur so ein Gedanke. Vergiss es einfach.“   Ich lache und tue so, als wenn wirklich nichts wäre. Dabei suche ich Brunos Blick und wünsche mir, ich hätte einfach die Klappe gehalten. Bruno atmet tief ein, bevor er wieder zu mir hochsieht. Sein Blick findet meinen Mund.   „Du hast da noch Ei“, sagt er und hebt die Hand, um mir die Spuren meines schlampigen Essstils aus dem Gesicht zu wischen. Vollkommen verdattert halte ich still, während sein Finger neben meinem Mundwinkel entlangfährt. Und nochmal. Und nochmal. „Okay, es geht nicht ab“, schnauft Bruno und ich muss schon wieder grinsen. „Macht nichts, ich nehm ne Serviette.“   Wieder grinsen wir beide, bevor wir uns daran machen, die Reste der Küchenschlacht in die Spülmaschine zu räumen. Bruno bietet zwar an, auch noch abzuwaschen, aber da lege ich vehement Veto ein. „Du hast immerhin schon gekocht“, erkläre ich und schmeiße die dreckige Pfanne einfach zum Rest des Geschirrs. Macht meine Mutter schließlich auch immer. Meistens.   Bruno zuckt mit den Schultern.   „Ach, na ja. Das war doch nichts Besonders“, meint er und sieht mich dabei nicht an. „Nichts Besonderes? Na klar war es das. Das war mit Abstand das beste Spiegelei, dass ich seit Jahren gegessen habe. Ganz ehrlich. Ab jetzt ess ich das nur noch so.“   Zu Brunos verlegener Miene kommen prompt auch noch rote Ohren. Jetzt scharrt er auch noch mit den Füßen. Süß!   „Danke. Trotzdem kommt mir das immer noch zu wenig vor. Immerhin hast du mich heute Nacht hier schlafen lassen und alles. Da muss ich mich doch revanchieren.“   Ich grinse und kann nicht verhindern, dass mir dabei schon wieder versaute Gedanken kommen. Aber immerhin steht er hier direkt vor mir. Da kann man ja nur schwach werden. „Und jetzt“, sage ich und schiele unter leicht gesenkten Lidern in seine Richtung. Obendrein beiße ich mir auch noch ein wenig auf die Lippen. Wenn ich will, kann ich ganz schüchtern aussehen.   Bruno schluckt und räuspert sich. „Also ich … eigentlich sollte ich wohl ausnutzen, dass mein Vater nicht zu Hause ist. Mal die Lage checken und mit meiner Mutter reden. Sie weiß ja nicht, wo ich bin.“   Die Frage, warum er ihr nicht einfach ne Nachricht schreibt, liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche sie nicht aus. Er wird seine Gründe haben. Außerdem kommt mir da gerade eine wundervolle Idee. Meine Mutter wird zwar ausflippen, aber …   „Warum kommst du danach nicht einfach wieder her? Ich teile gerne mein Bett mit dir.“   Am liebsten jetzt gleich und sofort. Los, komm schon. Sag Ja.   „Ich weiß nicht“, sagt Bruno jedoch langsam. „Ich denke, ich sollte lieber woanders…“   Mir ist klar, was er meint. Wenn sein Alter ihn wirklich rausschmeißt, wird er zu Paul gehen. Oder zu Gustav, Gregor oder eventuell sogar zu Jakob. Jemand von seinen richtigen Freunden. Aber noch gebe ich nicht auf. Ich schürze die Lippen und stoße zischend die Luft aus. „Tja also … wenn du dir wirklich so sicher bist, dass du auch ganz bestimmt nicht wiederkommst … könntest du ja jetzt vielleicht noch ein bisschen bleiben, oder?“   Wieder trifft ihn ein unschuldiger Augenaufschlag. Mir ist klar, dass ich unmöglich bin, aber ich will nicht, dass er schon geht. Und Bruno knickt ein.   „Na schön“, sagt er und lacht halblaut. „Ein bisschen noch.“   Ich grinse und greife nach seiner Hand.   „Dann komm.“   Während ich ihn mit mir ziehe, kommt mir kurz der Gedanke, dass das albern ist, so händchenhaltend über den Flur zu laufen. Aber andererseits fühlt es sich zu gut an, um es nicht zu tun. Außerdem sieht uns ja keiner. „Wir sind da“, verkünde ich. Natürlich hat sich mein Zimmer nicht verändert, seit ich das letzte Mal da war. Trotzdem kommt es mir gerade vollkommen neu vor und als Bruno die Tür hinter sich schließt und mich aufmerksam ansieht, läuft mir ein Kribbeln den Rücken hinab und landet irgendwo zwischen meinen Beinen. Ich bin aufgeregt und geil und nervös und … alles!!   „Wollen wir … uns aufs Bett setzen?“   Bett ist gut. Bett ist nah dran an 'Sex haben'. Das ist es doch, was ich wollte. Von Anfang an.   Bekommen hast du aber sehr viel mehr. Der blöde Typ in meinem Kopf ist anscheinend zurück und ich kann mich gerade noch so zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Am Ende denkt Bruno noch, ich meine ihn.   „Okay“, sagt Bruno und lässt sich tatsächlich auf dem aufgeschlagenen Bett nieder. Schnell setze ich mich dazu und verfluche im gleichen Moment meinen Aktionismus. Ich hätte mich auf seinen Schoß setzen sollen, das wäre eindeutiger gewesen. Und dass er einfach nur neben mir sitzt und mich nicht ansieht, ist auch nicht gerade hilfreich. Ich lache ein bisschen. Normalerweise müsste ich mich ja nur auf ihn stürzen, aber aus irgendeinem Grund krieg ich das grad nicht gebacken. „Ich … ich hab gestern Abend noch überlegt, ob ich zu dir kommen soll“, gestehe ich. „Aber ich war mir nicht sicher, ob du das möchtest.“   Während ich das sage, starre ich auf unsere Hände, die sich gerade noch berührt haben. Auch jetzt liegen sie nicht weit voneinander entfernt und wenn man es genau nimmt, sind seine gar nicht so viel größer. Die Finger sind nur breiter. Wie alles an ihm.   „Ich konnte auch lange nicht einschlafen“, gibt er zu und hört sich an, als würde er noch mehr sagen wollen. Ich sehe, wie seine Augen über den Teppich wandern, als würden sie dort etwas suchen. Er räuspert sich.   „Aber wenn du gekommen wärst, hätte ich wohl nichts dagegen gehabt.“   Ich grinse, denn ich hätte wohl auch nichts dagegen gehabt, wenn ich gekommen wäre. Aber natürlich sage ich das nicht, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht gemeint hat. Vielmehr hätte er wohl eher jemand gebraucht, der ihn hält und ihn auffängt. Worin ich definitiv nicht gut bin. Ich bin kein Teddybär, an dessen breiter Brust man sich ausweinen kann. Maximal ein Emotional Support Demon, wenn überhaupt. Trotzdem hat er gesagt, er bereut es nicht. Heißt das, er bereut auch mich nicht?   Finden wir’s raus.   „Wenn du willst, können wir das ja jetzt nachholen.“   Ein wenig erstaunt hebt Bruno den Kopf und sieht mich an und auch ich frage mich, was ich da eigentlich gerade von mir gebe. Aber andererseits mag ich es, mit ihm zusammen zu sein. Es fühlt sich gut an, wenn er da ist. Richtig.   Bruno runzelt die Stirn.   „Wird deine Mutter nicht …“   „Die ist bei der Arbeit,“ versichere ich. „Aber wenn es dich beruhigt, kann ich die Tür abschließen.“   Ich erhebe mich, gehe zur Tür und drehe mit einer demonstrativen Geste den Schlüssel herum. Anschließend gehe ich, nach einer kurzen Überlegung, auch noch zum Fenster und lasse das Rollo herunter, bis nur noch ein kleiner Spalt übrig ist. Gerade genug Licht, damit man alles erkennen, aber niemand von draußen hereinsehen kann. „So besser?“, frage ich. Bruno nickt.   „Na gut, dann … los?!“   Ich gehe zum Bett zurück und ignoriere einfach mal das „Boah, ist das cringe“-Gefühl in meinem Bauch. Stattdessen krabbele ich an Bruno vorbei Richtung Kopfkissen, lege mich hin und sehe ihn erwartungsvoll an. Er lacht und schüttelt ein wenig den Kopf, bevor er seine Beine ebenfalls aufs Bett schwingt. Die Matratze neigt sich in seine Richtung und ich rutsche, den Schwung nutzend, gleich ein Stück näher. Nase an Nase liegen wir uns jetzt gegenüber. Eine Ausgeburt an Platz ist mein Bett jetzt nicht gerade, besonders mit Bruno darin, aber es wird schon gehen. Ausweichen ist nicht. „So?“, frage ich und grinse anzüglich. „Oder willst du mich lieber von hinten.“   In Brunos Augen blitzt es auf . „Von hinten hört sich gut an.“ „Okay.“   Ich drehe mich also herum und Bruno rutscht noch ein Stück an mich heran, legt den Arm um mich und zieht mich dann so dicht, dass mir fast die Luft wegbleibt. Danach lehnt er seinen Kopf an meinen und steckt seine Nase in meine Haare. Ich reagiere, indem ich meinen Hintern fester in seinen Schritt presse. Mhm, das ist heiß. Und sexy. Und ganz schön eng.   „Gut so?“, frage ich, denn auch wenn Bruno sich zunehmend um mich schlingt wie so eine Boa Constrictor, muss das ja nicht heißen, dass es auch das ist, was er möchte. „Perfekt“, murmelt er und sein Atem streift dabei meinen Nacken. Man, der will jetzt echt kuscheln, oder? Ich verdrehe innerlich die Augen. Na gut, meinetwegen. Kuscheln wir.   Eine Weile lang liegen wir einfach nur so da und schweigen. Brunos Arm umschlingt meinen Brustkorb und ich muss zugeben, dass die Position gar nicht mal so übel ist. Der kleine Löffel zu sein, hat was. Aber je länger dieser Zustand anhält, desto nervöser werde ich. Ich bin einfach kein großer Kuschler und Stillliegen ist für mich ungefähr genauso anstrengend wie Marathon laufen. Also ruckele ich mich irgendwann aus der Umarmung los und drehe mich wieder herum, um Brunos Gesicht zu sehen. Er sieht glücklich aus und entspannt, obwohl ich mir sicher bin, dass wir das noch besser hinkriegen. Nach einer Runde wildem, hemmungslosem Sex zum Beispiel.   „So so“, beginne ich und grinse dabei ein bisschen. „Davon träumst du also nachts.“   Er schlägt kurz die Augen nieder, bevor er mich wieder ansieht. „Na ja, nicht nur“, gibt er zu. „Aber ich habe mir das schon mal vorgestellt.“   „Ach so“, frage ich und ziehe die Augenbrauen hoch. „Und was hast du dir noch so vorgestellt?“   Bruno antwortet nicht direkt. Er zieht mich nur ein wenig näher, sodass sich sein Schritt gegen meinen presst.   „Soll ich dir das wirklich verraten?“, fragt er leise und seine Stimme klingt dabei seltsam rau.   „Keine Ahnung“, gebe ich ebenso zurück. „Wenn du willst, kannst du es mir auch zeigen.“   Bruno atmet ein und wieder aus. Ich spüre seinen Herzschlag unter meiner Hand. Da ist sie wieder, diese Nähe. Der Wahnsinn. „Soll ich das wirklich?“, fragt er noch einmal so leise, dass ich es kaum verstehen kann.   „Ja, bitte.“   Zuerst küssen wir uns. Es ist gut und groß und Bruno kann anscheinend gar nicht genug davon bekommen. Immer wieder treffen seine Lippen auf meine, seine Zunge erforscht meinen Mund und ich wehre mich nicht dagegen. Ebenso wenig wie gegen die Hände, die nach einer Weile beginnen unter mein Shirt zu schlüpfen. Brunos Finger streichen über meine Haut wie Sandpapier und hinterlassen eine Spur aus Gänsefüßchen. Oder so ähnlich. Mein Gehirn funktioniert gerade nicht mehr so gut, da Brunos Hand jetzt tiefer gewandert ist und mit sanftem Druck über die Ausbuchtung in meiner Hose reibt. Seine Lippen streifen derweil meinen Hals und ich kann gerade noch ein Stöhnen zurückhalten. Das ist so gut. Ich will auch.   Ich packe alles von Bruno, was ich zu fassen bekomme. Haut, Haare, Muskeln, das ganze Programm. Gleichzeitig komme ich ihm mit meinem Becken entgegen und reibe meinen Unterkörper an seinem. Mein Oberschenkel zwischen seinen Beinen. Er ist ebenso hart wie ich, das spüre ich. Und dieser Schwanz. Alles in mir zuckt, wenn ich mir vorstelle, dass wir beide gleich nackt …   Bruno unterbricht den Kuss. Seine Augen leuchten, seine Wangen glühen und seine Lippen sind vom Küssen schon ganz rot. Ich bin mir sicher, dass ich ebenso aussehe. Nur blond. Und ein bisschen heißer.   „Wollen wir …?“, stößt er atemlos hervor, aber ich lasse ihn nicht zumWort kommen. „Auf jeden Fall.“   Grinsend lange ich nach seinem Hosenbund und ziehe ihn näher zu mir heran. Die Knöpfe sind mir kaum ein Hindernis und schon im nächsten Moment kann ich ihn vor mir sehen. Lang, prall und herrlich groß. Der Prachtschwanz. Die Preiszucchini. Oh ja, das will ich.   „Warte!“   Bruno entzieht sich mir und macht, nicht gerade zu meinem Bedauern, kurzen Prozess mit seinen Klamotten. Als er wieder zu mir aufs Bett steigt, wippt sein Schwanz hin und her. Ich folge ihm mit den Augen wie das hypnotisierte Kaninchen der Schlange. Ohne lange zu zögern greife ich zu, als er in meine Reichweite kommt, und nehme ihn direkt in den Mund. Meine Finger rechen über Brunos Hintern, während er über mir stöhnt. Eigentlich würde mir das Geräusch ja ein selbstgefälliges Grinsen entlocken, aber das funktioniert gerade nicht besonders gut. Mein Mund ist zu voll.   Wow, das ist so gut. Eine Tatsache, die mir offenbar anzumerken ist, denn Bruno lacht über mir. „Du stehst drauf, was?“   Ich lecke noch einmal über die ganze Länge, bevor ich zu ihm aufsehe. Natürlich stehe ich auf seinen Schwanz. Das sollte ich ja wohl inzwischen mehr als deutlich gemacht haben. Aber es ist nicht nur das. Es ist mehr.   Sag ich doch.   Ich ignoriere den Blödmann in meinem Kopf. Dass wir uns gerade mal einig sind, kann kein gutes Zeichen sein. Und kein gutes Ende nehmen. Aber scheiß drauf, ich sag es jetzt einfach.   „Ich steh auf dich.“   Ja, ich weiß, an dem Punkt waren wir schon mal. Gestern. Und dann ist alles zum Teufel gegangen. Aber jetzt sind wir hier. In Sicherheit. Es kann nicht passieren.   Bruno sieht mich an. Lange sieht er mich an, was ein bisschen merkwürdig ist, weil meine Hand auf seinem Oberschenkel liegt und sein Schwanz auf mein Gesicht zielt. Ich kann ihn riechen, schmecken. Ihn mit einem Blowjob um den Verstand bringen und mich dann von ihm halb besinnungslos ficken lassen. Und doch kann ich mich nicht rühren. Da ist so eine Wärme in seinem Blick. Als wäre ich das Schönste auf dieser Welt. „Ich steh auch auf dich“, sagt er irgendwann und lächelt dabei, als wären wir in irgendeinem romantischen rosa Kitschplörrenfilm. „Sehr sogar.“   Meine Mundwinkel zucken und wollen auch mitmachen bei diesem Honigkuchengegrinse, aber ich lasse sie nicht. Stattdessen zwinge ich sie in ein maliziöses Grinsen. „Ach ja? Wie sehr?“ „Sehr sehr.“ Es funktioniert nicht. Als Bruno sich zu mir runterbeugt und mich küsst, will ich eigentlich nach seinem Schwanz greifen. Ich will ihn daran erinnern, warum wir hier sind und dass er sich gefälligst beeilen soll, mich zu stopfen wie eine Weihnachtsgans. Aber ich kann nicht. Ich schmelze in seinen Armen und selbst, als er mir nach schier stundenlangem Streicheln irgendwann die Hose öffnet und mich anfasst, kann ich nicht aufhören, ihn zu küssen. Ich will auch gar nicht. Ich will, dass es immer so weitergeht. Aber ich bin auch geil und als Bruno schließlich meine Hose und mein T-Shirt zu Boden befördert hat und sich an meinem Schwanz und meinen Eiern zu schaffen macht, kann ich dann doch nicht mehr anders, als schnell das Gleitgel aus meinem Nachttisch zu fischen. Ich will ihn. In mir. Jetzt!   „Soll ich?“ „Ja, bitte.“   Bruno bereitet mich vor. Gründlich bereitet er mich vor, während wir uns in die Augen sehen und er mich immer wieder küsst und seine Finger in meinen Hintern schiebt. Erst zwei, dann drei. Scheiße, das ist so krass. „Jetzt“, sage ich, denn ich will nicht mehr warten. Mir ist klar, dass es wehtun wird, aber scheiß drauf. Ich will ihn. Sofort!   Bruno nimmt noch einmal ordentlich von dem Gel. Ein kurzer Blick zu mir. Dass er das Zeug auf die pure Haut schmiert, ist mir – und mit Sicherheit auch ihm – bewusst, und es macht die Sache noch besser. Eigentlich hätte ich das ja übernehmen können, aber ich sehe ihm nur zu, wie er sich fertigmacht und dann …   „Bereit?“ „Immer!“   Ich spreize die Beine und will ihn dazwischen lassen, doch Bruno legt sich stattdessen neben mich. Wie schon zuvor rückt er nah an mich ran, seine Hand gleitet über meinen Hintern. „Ist das so okay?“ „Sicher.“   Ich beuge mich leicht nach vorn und merke, wie er sich positioniert. Es drückt gegen den äußeren Muskelring und ich atme aktiv aus, um ihn einzulassen. Bruno erhöht den Druck, es zieht und pikt und will nicht funktionieren und dann … ja! Die dicke Spitze gleitet nach drinnen und ich sauge zischend die Luft ein. An diese Größe werde ich mich wohl nie gewöhnen. Aber es fühlt sich so geil an!   Bruno küsst meine Schulter, meinen Hals. Sein Arm schlingt sich um mich und seine Hand wandert zwischen meine Beine, während er sich nicht oder nur kaum in mir bewegt. Anscheinend hat er gemerkt, dass es nicht gut vorangeht. Aber ich will, dass es geht. Ich will. „Sch, mach langsam“, flüstert er mir in mein Ohr und ich kann nicht anders, als mich zu ihm herumzudrehen und ihn zu küssen. Er ist so gut zu mir. So aufmerksam. So lieb!   „Na los, beweg dich!“ flüstere ich. Ein atemloses Echo der Vergangenheit. Bruno küsst mich und gehorcht. Sachte und unendlich vorsichtig. Mit jedem Vorstoß, jedem Zurückziehen und wieder Hineingleiten, kommt er dabei ein kleines Stück weiter hinein. Tiefer. Und noch tiefer. Ich merke, als er den Punkt erreicht, der mich besonders erregt. Wie, um es ihm zu zeigen, bäume ich mich ihm entgegen. Ich brumme, stöhne, irgendwas dazwischen. Ein Geräusch reiner Lust.   Oh ja, mach das nochmal.   Und Bruno tut mir den Gefallen. Langsam aber stetig, fickt er mich, während er mich hält und küsst und mich und meinen Schwanz bearbeitet, als wäre er ein Schifferklavier. Ich weiß, dass ich so nicht lange durchhalten werde, aber das ist mir gerade völlig egal. Ich will nur noch kommen. Mit Bruno. In mir.   Ich merke, wie es mir kommt. Brunos Schwanz steckt mittlerweile tief in meinem Hintern und er ist definitiv nicht faul, was die Handarbeit angeht. Noch ein paar Striche und es ist um mich geschehen. Ich spüre, wie sich meine Eier zusammenziehen.   „Bruno, ich …“   Ich komme nicht weiter. Mit einem letzten tiefen Stoß über windet Bruno die letzte Hürde und schickt mich endgültig über die Klippe. Ich fliege und falle und schwebe und für einen Moment verschwimmt die Welt, verschwimmt Bruno, die Wohnung, das Bett, einfach alles, und mein Denken und Fühlen konzentriert sich nur noch auf diesen einen Punkt. Dieses explodierende Feuerwerk aus Weiß und Weiß und Weiß, das aus mir herausschießt, direkt auf Brunos Hand, meine Bettdecke, einfach überall hin. Ich glaube, so heftig bin ich noch nie gekommen. Es hört gar nicht wieder auf …   Als es doch aufhört, höre ich Bruno hinter mir keuchen. Mir ist klar, dass er kurz davor ist und mit dem letzten bisschen Verstand, dass er mir noch nicht rausgevögelt hat, schiebe ich ihm höchst entschlossen meinen Hintern entgegen.   Na los, fick mich! Fick mich!   Und er tut es. Seine Hände krallen sich in meine Haut, sein Atem wird heiß an meinem Ohr, er stößt wieder und wieder und wieder und dann endlich fühle ich das warme, feuchte Pulsieren in mir, die befriedigende Füllung, die Sahne, auf die ich schon so lange gewartet habe. Bruno kommt und ich spüre es so, wie ich es schon immer wollte. Jede Welle, jeden Tropfen. Es ist großartig. „Wow, was für ein Ritt.“   Bruno gibt sich offenbar große Mühe, nicht auf mir zusammenzubrechen. Gleichzeitig lässt er mein Bein jetzt endlich los, an das er sich geklammert hat, um genügend Halt zu bekommen. Von Außen betrachtet sah das vermutlich ziemlich dämlich aus, aber fuck und scheiß drauf. Es hat sich absolut geil angefühlt.   „Du sagst es“, schnaufe ich und lasse mich der Einfachheit halber einfach nach hinten sinken, gegen Bruno, der immer noch die Hand voller Sauerei hat. „Mhm“, macht er und wischt die Wichse doch tatsächlich an meiner Bettdecke ab. Hallo? Spinnt der? „Ey!“, meckere ich und bin gleichzeitig viel zu faul, um mich auch nur einen entrüsteten Zentimeter wegzubewegen. „Und wer macht die Ferkelei wieder weg?“   Ich spüre Bruno in meinem Nacken grinsen.   „Na du. Du hast doch mittlerweile Übung im Wäsche waschen.“ „Arschloch.“   Er lacht. Ich fühle seinen Bauch an meinem Rücken wackeln. Als Nächstes schließt er mich in seine Arme und küsst erneut meinen Nacken. „Und, was ist? Magst du jetzt kuscheln?“   Eigentlich bin ich versucht, das mit einem Nein zu beantworten wegen der Frechheit mit der Wäsche. Aber der Sex und die kurze Nacht haben beschlossen, jetzt und auf der Stelle ihren Tribut zu fordern. Also scheiß auf die Wäsche und scheiß auf die Welt da draußen. Ich bleibe heute im Bett.   „Aber nur fünf Minuten“, murmelte ich trotzdem, bevor ich mich noch einmal in seinem Arm zurecht ruckele. Dabei rutscht sein Schwanz endgültig aus mir heraus und ich beeile mich zuzukneifen, damit mir nichts auskommt. Dieses Sperma ist meins und es bleibt schön an seinem Platz, bis ich ihm sage, dass es hinaus darf.   Ob ich nochmal ins Bad gehe, überlegt mein Verstand träge und will sich gerade dagegen entscheiden, als ein Geräusch mich plötzlich zusammenfahren lässt. Es ist ein schrilles Schellen und kommt eindeutig von unserer Haustür. What the fuck?   „Was zum … ?“   Auch Bruno ist sofort in Alarmbereitschaft. In seinem Blick flackern Angst und Panik um die Wette. „Schnell, versteck dich“, raune ich, weil die das in den Filmen auch immer sagen. Dabei ist das hier meine Wohnung und außerdem wird das vermutlich nur die Post sein. Oder die Zeugen Jehovas. Irgendwer, den ich mit ein paar unfreundlichen Worten loswerden kann. Bruno hingegen zögert keinen Augenblick, sich seine Klamotten zu greifen und sich nach dem nächsten Schrank umzusehen. Schnell hebe ich beide Hände. „Keine Bange! Wer immer das auch ist, ich wimmele ihn ab.“   Bruno schaut weiter gehetzt. Er glaubt mir nicht. Schließlich schießen seine Augen runter auf den Boden, wo noch meine Sachen liegen. Ein wilder Haufen, wie nach dem Sex. Chaotisch. „Aber zieh dir was an“, sagt er mit dünner Stimme und ich denke, dass das die beste Idee ist, die er seit langem hatte. Kapitel 15: Voll verknallt -------------------------- Mit meinen an mich gerafften Klamotten haste ich über den Flur, als es schon wieder schellt. Ich zucke zusammen und hätte beinahe ne Sauerei veranstaltet. Zum Glück kann ich mich gerade noch beherrschen, stehe jetzt aber wie zur Salzsäule erstarrt und starre die Tür an. Um diese zu öffnen, müsste ich mich anziehen. Um mich anzuziehen, müsste ich aber erst ins Bad. Um beides zu tun, reicht die Zeit nicht. Himmel, immer diese Entscheidungen.   Schluss mit die Pietät, jetzt wird gestreut.   Ohne mich weiter mit komplizierten Wenn-und-Aber-Abwägungen aufzuhalten, schnappe ich mir, nackt wie ich bin, den Hörer der Gegensprechanlage, um erst mal zu sondieren, wer da überhaupt ist. Vielleicht hat derjenige sich ja in der Tür geirrt oder will nur ein Paket für die Nachbarn abgeben. Dann wäre die ganze Hektik völlig umsonst. „Ja?“, frage ich vorsichtig und werde sofort von der anderen Seite angemeckert. „Na endlich!“, tönt mir Pascals Stimme leicht verzerrt entgegen. „Wo bleibst du denn? Ich steh hier schon seit Stunden.“   Äh.   „Äh.“   Viel weiter komme ich gerade nicht, denn mein Gehirn kämpft noch mit der Tatsache, dass da mein bester Freund vor der Tür steht. Also nicht wortwörtlich, denn schließlich befindet er sich noch zwei Stockwerke unter mir, aber trotzdem. Den kann ich grad gar nicht brauchen. „Was heißt hier 'äh'“, nölt Pascal prompt. „Machst du nun auf oder nicht?“ „Äh.“   Ja, tut mir leid, ich bin gerade leicht überfordert. Immerhin stehe ich gerade nackt, mit dem Arsch voller Wichse in unserem Flur und muss meinem besten Freund klarmachen, dass er ungelegen kommt. So richtig ungelegen. Aber vielleicht hilft ja das: „Ich hab grad nichts an.“   Pascal stöhnt.   „Dann zieh dir halt was über. Oder bleib meinetwegen so. Ist ja nicht so, als wenn mich das stören würde.“ Dich nicht, aber mich vielleicht.   Wobei das umgekehrt schon interessant wäre, aber … na gut, lassen wir das. Ist jetzt gerade nicht die Zeit dafür.   „Geht nicht“, behaupte ich und drücke den Klamottenberg an mich, als wenn es ein Schild und Pascal ein feuerspeiender Drache wäre. Der Drache lacht. „Wieso? Hast du heute Waschtag?“   Ich grinse ein bisschen, weil mir so was ja wohl noch bevorsteht, aber so wirklich zum Lachen ist mir nicht zumute. „Nein, aber …“   Ich atme tief durch, bevor ich weiterspreche.   „Ich bin nicht alleine.“   Bumms, das hat gesessen. Einen Moment lang herrscht Schweigen im Hörer, dann hat Pascal die Neuigkeit offenbar verdaut.   „Nicht alleine? Was soll das heißen? Hast du Besuch? Etwa nen Kerl?“   Bingo, der Kandidat hat hundert Punkte.   „Ja.“ Wieder Schweigen. Offenbar ist Pascal unter die Wiederkäuer gegangen. Während er also die Info erneut gedanklich durchspeichelt, kann ich einen Blick auf mir fühlen. Er kommt aus Richtung der Schlafzimmertür und mir läuft es ein bisschen kalt den Rücken runter. Das kann natürlich an meiner unzureichenden Bekleidung liegen, aber vermutlich ist eher so, dass ich instinktiv wahrnehme, wenn ich gerade gedanklich gevierteilt werde. Irgendwann entwickelt man dafür wohl auch ein Gespür. „Hör zu, ich erkläre es dir“, haspele ich daher schnell in die Sprechanlage. „ Aber nicht jetzt, okay? Ich ruf dich nachher an.“   Bitte sag Ja. Bitte!   „Okay. Klar. Ich mein, sorry. Ich wusste ja nicht …“   „Schon gut“, werfe ich eilig ein. Hier drinnen fängt es nämlich langsam an zu brodeln und damit meine ich nicht meine Innereien. Ich muss dringend mit Bruno reden. Dringend!   „Bis später!“ Damit lege ich auf und halte mich noch einen Moment an dem weißen Hörer fest. Er ist mein Rettungsboot in dem Sturm, der mich erwartet. Als es jedoch nichts mehr hilft, drehe ich mich um.   Bruno steht vor der Tür zu meinem Zimmer. Sein Gesicht ist zur Faust geballt, seine Hände ebenfalls. Angesichts dieser Dreifachbedrohung, setze ich ein vages Lächeln auf. Vielleicht hätte ich diesen Move doch vorher mit ihm absprechen sollen. „Das war Pascal“, informiere ich Bruno, obwohl der das vermutlich schon mitbekommen hat. Seine Augenbrauen haben sich nämlich in der Mitte seiner Stirn zu einer dramatischen Versammlung getroffen und gucken mit von dort aus wütend entgegen. Alles an Bruno wirkt gerade etwas wütend.   „Ich hab ihm gesagt …“ „… dass du Besuch hast.“   Bruno knurrt und ich bereite innerlich meine Verteidigung vor. Immerhin ist Pascal nicht der Terminator und hat auch keine Röntgenaugen. Mit den wenigen Infos, die ich ihm gegeben habe, könnte ich jetzt hier auch einen 40-jährigen Steuerbeamten mit Halbglatze und beginnenden Potenzproblemen stehen haben. Nicht, dass ich das wollen würde, aber möglich wäre es immerhin.   „Ja, aber ich habe nicht gesagt, wer es ist. Es ist alles gut.“   Mein Beschwichtigungsversuch scheint Bruno nicht zu überzeugen.   „Und wenn deine Mutter ihm erzählt, dass ich hier war?“   Okay, I see where you’re coming from. So ganz unrecht hat Bruno damit natürlich nicht. Und dann ist da ja auch noch Michelle. Die hatte Bruno doch eh schon auf dem Kieker und wenn Pascal ihr jetzt erzählt, dass ich was am Laufen habe, und meine Mutter Bruno erwähnt, dann …   Scheißdreck!   „Ich werd ihm sagen, dass er es niemand erzählen soll“, plappere ich los. „Dass es ein Geheimnis ist und er es niemand verraten darf. Und meiner Mutter …“   Okay, das könnte natürlich zu einem Problem werden. So, wie ich sie kenne, wird sie Pascal beim nächsten Mal bestimmt fragen, ob er Bruno kennt und ob wir manchmal was zusammen unternehmen. Und Pascal wird dann mit Sicherheit wissen wollen, was Bruno hier wollte. Crap!   „Ich sorge einfach dafür, dass sie sich nicht über den Weg laufen. Wir sind sowieso meistens bei ihm. Und wenn sie sich doch mal begegnen, sage ich, du warst hier, um dich wegen der Scheiße in der Schule zu entschuldigen. Ganz einfach.“   So richtig überzeugt sieht Bruno noch immer nicht aus und ich könnte mich ja selbst in den Hintern beißen, dass ich mich nicht einfach totgestellt oder wenigstens so getan habe, als wäre ich nicht da. Vermutlich hätte es auch geholfen, wenn ich mich gestern Abend noch aufgerafft hätte, um mein Handy zu laden. Das hat nämlich, nachdem ich mir die Zeit, in der ich nicht schlafen konnte, mit Zocken und Videos gucken vertrieben habe, irgendwann den Geist aufgegeben. Vermutlich hat Pascal daraufhin gedacht, dass meine Mum es mal wieder einkassiert hat und sich deswegen genötigt gesehen, hier aufzutauchen. Wenn man es genau nimmt, ist das Ganze also wirklich meine Schuld. Trotzdem finde ich, dass Brunos waidwunder Blick nicht ganz angebracht ist. Ich meine, was hätte ich denn tun sollen? Pascal reinbitten und ihm sagen, dass sie das untereinander klären sollen? Wohl kaum.   „Ich geh mir erst mal was anziehen.“   Mit diesen Worten drehe ich mich um und verschwinde im Badezimmer. Draußen höre ich, wie Bruno in die Küche geht. Wasser rauscht und ich nehme an, dass er sich die Hände wäscht oder sich was zu trinken nimmt. Oder beides. Ich hingegen beeile mich, mich wieder in einen einigermaßen vorzeigbaren Zustand zu bringen, bevor ich mich ebenfalls in die Küche begebe. Als ich dort ankomme, steht Bruno am Fenster. „Suchst du was?“, frage ich und er zuckt schuldbewusst zusammen. „Ich hab nur geguckt, ob die Luft rein ist.“   Für einen Moment pikt es mich, ihn zu fragen, was er denn erwartet. Dass unten ne Armee von Reportern und Paparazzi auf ihn warten, um ein Bild davon zu schießen, wie er sich aus der Wohnung schleicht? Den meisten Leuten wird es einfach scheißegal sein, dass er hier ist. Aber andererseits sind wir ja schon erwischt worden und das Ausmaß dieser Katastrophe steht noch nicht einmal fest. Da ist es wohl mehr als verständlich, dass er sich nicht noch tiefer in die Scheiße reiten will. Nicht noch mehr verlieren. Würde mir an seiner Stelle wohl nicht anders gehen.   Und worauf wartest du dann noch? Los! Geh hin und sag ihm das!   Ich nicke meinem inneren Arschloch zu und zwinge mich, erst einmal tief durchzuatmen und die garstigen Bemerkungen herunterzuschlucken. Er braucht jetzt nicht meinen Spott. Er braucht ein Netz. Sicherheit. Die Gewissheit, dass ihn jemand auffängt. Dass nicht alle Menschen auf dieser Welt so sind wie sein Vater. Und wer wäre besser als Beispiel dafür geeignet als Pascal?   Ich lächle kurz bei dem Gedanken, bevor ich mich wieder auf Bruno konzentriere. Zoowärter wäre vielleicht wirklich ein guter Beruf. Oder Löwenbändiger. Ein bisschen Erfahrung hab ich ja schon. „Hey“, mache ich und schlage dabei einen möglichst sanften Ton an. „Du musst dir keine Sorgen machen. Pascal ist in Ordnung. Ich meine, selbst wenn er es rauskriegen würde … was vollkommen unwahrscheinlich ist!“, füge ich schnell hinzu, nachdem ich Brunos Blick gesehen habe. „Er wäre cool damit. Bestimmt. Immerhin ist er mein Freund.“   Bruno atmet. Sein Brustkorb hebt und senkt sich und ich kann sehen, wie er mit einer Panik kämpft. Sein Kiefer verkrampft sich unter dem Bemühen, es sich nicht anmerken zu lassen. Es tut weh, ihn so zu sehen.   Langsam, ohne hastige Bewegungen, trete ich zu ihm. Ich drehe ihn sanft vom Fenster weg und schmiege mich an ihn. Es dauert einen Augenblick, bis sich seine Arme um mich legen, aber sie tun es. Das ist ein gutes Zeichen.   Eine Weile lang stehen wir einfach nur so da. Ich weiß, dass ich jetzt bestimmt irgendwas sagen sollte. Dass es gut und richtig ist, was wir hier tun, und dass wir das hinkriegen. Dass ich ihm das doch versprochen habe.   Aber ich sage nichts. Stattdessen lehne ich mich nur an ihn und halte ihn fest. Oder lasse mich festhalten. So genau weiß ich das nicht. Aber ich weiß, dass es sich gut anfühlt. Verdammt gut.   „Ich sollte jetzt echt langsam mal los“, sagt Bruno irgendwann und dieses Mal klingt es wirklich nach Abschied. Aber ich will nicht, dass er geht. Noch nicht! „Musst du wirklich?“, murmele ich und vergrabe meine Nase in der Kuhle zwischen seiner Schulter und seinem Schlüsselbein. Er ist so groß, so warm und er riecht so gut. Besonders hier und an der Stelle hinter seinen Ohren. Beschreiben könnte ich den Geruch nicht. Es ist „einfach Bruno“ und wenn es möglich wäre, würde ich den Duft in Flaschen abfüllen und verkaufen. Oder nur für mich behalten, um mein Bett damit zu tränken und mich dann darin zu suhlen oder so. So gut! „Ja, muss ich“, entgegnet er rau und ich weiß, dass ich ihn jetzt gerade mühelos zu einer zweiten Runde überreden könnte. Die Aussicht ist verlockend, aber ich will nicht unfair sein. Ich weiß ja, was ihm bevorsteht.   Mit einem Seufzen richte ich mich auf. Sein Blick ist schon wieder voller Wärme, seine Lippen leicht geöffnet. Ich möchte sie küssen. Sehnsüchtig streiche ich über die weichen Haare in seinem Nacken.   „Sehen wir uns morgen?“ Vielleicht hilft die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen, den Abschied leichter zu machen. Leider wird Brunos Gesicht sofort ernster. „Ich glaub nicht.“   Während er das sagt, weicht er meinem Blick aus und ich verstehe. Er hat jetzt erst mal andere Sachen im Kopf. Seinen Scheiß auf die Reihe kriegen und so. Mit seiner Familie reden. Am liebsten würde ich ja mitkommen, aber das würde es wohl nur noch schlimmer machen. Der Gedanke bereitet mir Magenschmerzen. Ich will ihn nicht alleine lassen, aber ich muss. Weil es besser ist.   „Krieg ich dann wenigstens deine Nummer?“   Immerhin kann ich nicht jede Woche neue Tüten erbetteln.   Bruno lächelt.   „Hast du nen Stift?“   Ich nicke und krame aus der Schublade, in der alles landet, was sonst keinen Platz hat, einen leidlich funktionierenden Kuli heraus. Als ich ihn Bruno reiche, klickt ihn auf und greift nach meinem Arm. In großen, runden Ziffern schreibt er mir seine Telefonnummer darauf. Es kitzelt und ich muss mich beherrschen, nicht wegzuzucken. Am Ende lässt Bruno den Stift wieder sinken.   „So. Zufrieden?“   Ich starre auf die blauen Zahlen, die meine Haut zieren wie ein Tattoo. Wenn ich könnte, würde ich den wohl nie wieder waschen. Ich will, dass das ewig so bleibt. „Ich ruf dich an“, sage ich sofort bevor ich hinterherschiebe: „Oder ich schreibe dir. Das ist unauffälliger.“   Bruno lächelt und nickt und macht sich daran, in seine Schuhe zu schlüpfen. Ich weiß, dass er gleich weg sein wird. Auf unbestimmte Zeit. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er bleiben soll, aber wir wissen wohl beide, dass es jetzt außer einer wild gewordenen Nashornherde, die beschlossen hat, die Stadt zu überrennen, nicht mehr viel gibt, was ihn aufhalten könnte. Er muss jetzt gehen und es fühlt sich scheiße an.   „Ich schick dir nachher meine Nummer. Dann kannst du mir schreiben, wie es gelaufen ist.“   Bruno nickt. „Klar. Mache ich.“   Immer noch möchte ich ihn nicht gehen lassen. Es zieht an meinem Herzen, an meinem Magen, eigentlich an meinem gesamten Inneren. Würde er jetzt für ein Jahr nach Australien gehen, könnte es sich nicht schlimmer anfühlen.   Ist vielleicht gar nicht so ne schlechte Idee. Wir beide für ein Jahr am anderen Ende der Welt. Weit weg von all der Scheiße hier.   Ich lächle, als ich es mir vorstelle. Mehr als Träumen bleibt mir wohl gerade nicht.   „Wird schon schiefgehen“, versuche ich ihm – und mir – Mut zu machen. Noch einmal überlege ich, ob ich ihm anbieten sollte, ihn zu begleiten, aber allein der Gedanke daran, wie er sich auf dem Weg drehen und winden würde, unter wie viel Druck ihn das setzen würde, lässt einen fiesen Knoten in meinem Magen entstehen. Ich will nicht daran denken und rede mich mir selbst gegenüber damit heraus, dass ich bestimmt keine große Hilfe wäre. Ich will trotzdem mitkommen.   „Halt die Ohren steif“, schiebe ich den nächsten dummen Spruch hinterher und will noch einen obendrauf setzen, als Bruno bereits die Türklinke in der Hand hat. „Mach’s gut“, murmelt er und dann ist er weg, bevor ich noch ein Sterbenswörtchen herausbringen kann. Fuck!   „Bruno!“   Ich stürze an die Brüstung des Treppengeländers und spähe nach unten. Er bleibt tatsächlich stehen und sieht zu mir hoch. Er wirkt so klein von hier oben. „Viel Glück!“, sage ich noch, weil mir nicht mehr viel einfällt. Und weil es wirklich albern ist, wie ich mich aufführe. Aber ich kann nicht anders. Ich würde ihm so gerne helfen.   Bruno lächelt. Ein letztes Lächeln, bevor er sich wieder der Treppe zuwendet und endgültig verschwindet. Ich möchte ihm nachrennen, aber ich tue es nicht. Weil es falsch wäre.   Mit dem letzten bisschen Selbstachtung, was mir geblieben ist, schleppe ich mich wieder zurück in die Wohnung, die mir jetzt, da Bruno nicht mehr da ist, unheimlich groß und leer vorkommt. Okay, eigentlich nur leer. Nicht, dass wir beengt wohnen würden, aber es ist halt keine Luxusvilla und ich muss auch nicht erst durch sieben Zimmer laufen, bis ich wieder vor meinem Bett stehe. In dem ich vorhin noch mit ihm gelegen habe. Seufz.   Reinlegen oder abziehen?   Diese wirklich schwierige Frage beschäftigt mich ungefähr drei Sekunden, bevor ich mich wieder umdrehe, in Richtung Wohnzimmer tigere und dabei den vorwurfsvollen Blick des leeren Kühlschranks ignoriere. Ich fische mein Handy unter dem Couchtisch hervor und begebe mich auf die Suche nach einem Ladegerät. Ich finde zwei unter meinem Bett und höre im Geiste meine Mutter, die mir vorwirft, die Dinger zu horten wie andere Leute Packpapier. Recht hat sie. Das hält mich aber trotzdem nicht davon ab, mich aufs Bett zu schmeißen und ungeduldig darauf zu warten, dass der Ladebalken so weit stabil ist, dass ich es anschalten kann. Gefühlte drei Stunden später kann ich dann endlich den Messenger öffnen. Dort erwartet mich ein halbes Dutzend Nachrichten. Die meisten von Pascal, eine von meiner Mutter, die mich daran erinnert, Klopapier zu kaufen. Na prima, das kann sie doch ja nun echt selbst machen. Immerhin muss sie es nicht unter aller Augen in der Stadt spazieren tragen. Wird echt Zeit, dass ich nen Führerschein habe.   Und ein Auto, ergänzt das Arschloch in meinem Kopf.   Ja ja, und ein Auto, gifte ich zurück. Ich arbeite dran, okay?   Ich halte mich nicht weiter mit dem Lesen der restlichen Nachrichten auf. 'Wo bist du?' 'Was machst du?' 'Bist du tot?' So ungefähr ist jedenfalls der Tenor der Dinger, also gedenke ich, das Ganze lieber gleich richtig aufzuklären. Erst, als es klingelt, fällt mir auf, dass ich vielleicht noch etwas mit dem Anruf hätte warten sollen, aber da ist es schon zu spät. Pascal nimmt ab. „Hey, das ging ja schnell“, sagt er dann auch gleich. „Ich bin gerade erst rein.“   Fuck! Wenn ich ihm jetzt sage, dass wir zu dem Zeitpunkt, an dem er geklingelt hat, schon kuschelnd im Bett lagen, könnte er Lunte riechen, dass mein Besuch hier übernachtet hat. Da schieb ich ihm lieber die Schuld in die Schuhe, dass ich nicht zum Zug gekommen bin. Für das zweite Mal stimmt das schließlich. „Tja, dein Überfall war ein echter Moodkiller“, sage ich deswegen und bemühe mich, mir das Grinsen nicht anmerken zu lassen. „Mein Besuch hat die Kurve gekratzt.“   Ist ja jetzt nicht wirklich gelogen, nicht wahr? „Ach echt? Sorry, Bro. Ich wollte euch echt nicht stören.“   „Schon gut“, gebe ich hoheitsvoll kund und zu wissen. „Wir waren eh fertig.“   Boah, echt jetzt? Wie war das noch mit dem Plan? Ich bin aber auch zu blöd.   „TMI! TMI!“, funkt Pascal auch sogleich und ich setze mir wieder ein Grinsen auf. Diesmal ein hörbares. „Tja, wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Du hast mich um ne zweite Runde gebracht.“   Mit Pascal darüber rumzublödeln ist besser, als mir ernsthafte Gedanken darüber zu machen, warum die ausgefallen ist. Außerdem treibt mir sein entnervtes Stöhnen meine Glückshormone nach oben. „Du bist echt unmöglich“, schimpft er, aber ich kann hören, dass er es nicht ernst meint. Außerdem ist es ja nicht mein Problem, dass er sich das bildlich vorstellt. Mache ich bei ihm und Michelle ja auch nicht. Ich meine: Igitt? „Und vor allem konnte ich das doch nicht ahnen“, meckert er weiter. „Du hast ja nie was gesagt. Woher kommt denn dein Prince Charming auf einmal?“   Mhm, na ja. 'Auf einmal' ist wohl etwas kurz gefasst. Aber Pascal zu erzählen, dass das jetzt schon ne ganze Weile geht, ist wohl keine gute Idee. Ihn anlügen will ich aber auch nicht.   „Hat sich so ergeben“, sage ich deshalb und weiß, dass das natürlich so überhaupt nicht befriedigend ist. Und natürlich fragt Pascal nach. „Ja wie, 'so ergeben'? Wann? Wo? Wie?“   Während er mir einen Fragenkatalog ins Ohr rattert, gucke ich rüber zu dem feuchten Fleck, der inzwischen bestimmt schon tief ins Gewebe eingedrungen ist. Vermutlich muss ich jetzt auch noch die Bettdecke waschen. Scheißdreck.   „Ich wollte ja“, mogele ich, während ich am Ladekabel herumzupfe, das mich dazu zwingt, bäuchlings auf dem Bett zu liegen. „Aber es ist ein bisschen kompliziert weißt du? Er ist nicht geoutet und seine Familie … na sagen wir mal, die wären nicht begeistert.“   Die Untertreibung des Jahrhunderts, aber immerhin scheint die Message dieses Mal bei Pascal angekommen zu sein. Sein Ton wird versöhnlicher. „Verstehe. Und wo habt ihr euch kennengelernt?“   Vor zwei Jahren in der Schule. Du warst dabei, du Depp!   „Wir haben uns im Wald getroffen.“   Das ist immerhin nicht gelogen, wenngleich auch nicht wirklich eine Antwort auf Pascals Frage. Außerdem glaubt er mir kein Wort. „Im Wald“, höhnt er und schnaubt belustigt. „Als wenn du freiwillig in den Wald gehen würdest. Oder irgendwohin, wo kein Bus fährt.“   Ich schiebe die Unterlippe vor. „Soll das heißen, dass ich faul bin?“ „Stinkend faul!“   Mhm, na gut, da könnte er recht haben. Also muss ich die Story wohl noch ein bisschen unterfüttern. „Er hat mich beim Sportlerball gesehen. Und dann haben wir uns im Wald getroffen. Irgendwie kam dann eins zum anderen und …“ „Jetzt seid ihr zusammen.“   Ich überlege. Tja, mhm, keine Ahnung. Sind wir? So wirklich geklärt haben wir das ja nicht. Und ich weiß auch nicht, ob er das eigentlich will. „Weiß nicht“, sage ich deswegen auch nur und hoffe, dass Pascal das erst mal reicht. Was es natürlich nicht tut.   „Also ist es nur ne Bettgeschichte.“ So, wie er das sagt, klingt es nicht danach, als wenn ihn das stören würde. Oder als ob er was anderes erwartet hätte. Immerhin ist das ja das, was ich wollte. Trotzdem mag ich nicht, wenn er es so bezeichnet. Ich lege meinen Kopf auf das Kissen, das nach Bruno riechen müsste und es nicht tut. Doof. „Weiß nicht“, sage ich nochmal und höre mich an wie ein grenzdebiler Papagei. Eigentlich habe ich gar keine Lust mehr, mit Pascal zu telefonieren. Ich würde jetzt lieber mit Bruno sprechen. Oder meinetwegen auch kuscheln. Oder irgendwas unternehmen. Einfach mit ihm zusammen sein. Aber der muss ja seine homophobe Familie besuchen. Ob er wohl schon angekommen ist? Was seine Mutter wohl sagt? Ob sie es weiß?   „Hallo, Erde an Fabian. Bist du noch da?“ „Was?“   Ich schrecke hoch und habe anscheinend irgendeine Frage verpasst. Oder ein halbes Gespräch. Pascal rollt hörbar mit den Augen.   „Ich hab gefragt, ob du ihn mir vorstellen wirst. Wir könnten ja mal was zu viert machen.“   Tja, das wäre schön. Aber leider ist es unmöglich. „Nee, geht nicht. Ich hab doch gesagt, er ist nicht geoutet.“ „Kenne ich ihn?“   Ah fuck, die Frage hab ich befürchtet. „Nicht wirklich“, weiche ich aus und kreuze dabei heimlich zwei Finger. Aber irgendwo stimmt es doch, denn wirklich kennen tut er Bruno ja nicht. „Geht er auf unsere Schule?“   Oh man, jetzt hör doch mal auf zu fragen. „Du nervst“, sage ich statt zu antworten und erinnere mich daran, dass ich ihn ja eigentlich noch einnorden muss. Also seufze ich. „Ich kann dir nicht sagen, wer es ist, okay? Und es muss echt unter uns bleiben. Kein Wort zu niemandem.“   Pascal schweigt einen Augenblick. „Das heißt, ich darf es niemandem sagen?“ „Nein.“ „Auch Michelle nicht?“ „Der erst recht nicht!“ Wenn sie nämlich davon erfährt, sind wir schneller aufgeflogen, als ich Wolkenkuckucksheim sagen kann.   Pascal schnauft.   „Oh man. Du weißt aber schon, dass das schwer wird.“ „Ja, weiß ich.“   Ich wünschte ja auch, dass es einfacher wäre.   „Was ist mit deiner Ma? Weiß sie davon?“   Ich schüttele automatisch den Kopf, bis mir einfällt, dass er das ja nicht sehen kann. Also verneine ich verbal. Selbst durchs Telefon kann ich hören, wie Pascals die Stirn runzelt. „Und er war trotzdem bei dir?“   „Mhmmmm“, mache ich und muss lächeln, als ich an die Sache in der Küche denke. „Er hat mir Frühstück gemacht. Spiegelei. Mit Ketchup.“   In diesem Moment – ich weiß nicht, woran es liegt – fängt Pascal fürchterlich an zu lachen. Er lacht und prustet und kichert, bis ihm die Luft wegbleibt und ich endlich dazu komme, ihn zu fragen, ob er eigentlich noch ganz knusper ist. Als Antwort erhalte ich ein weiteres Kichern. „Alter, wie du dich anhörst. 'Er hat mir Frühstück gemacht.' Zum Schießen.“   Die Imitation, die er dabei hinlegt, hört sich definitiv nicht nach mir an. So gar nicht. „Wenn es doch aber stimmt“, maule ich beleidigt und ziehe schon wieder einen Flunsch. Pascal prustet immer noch und wischt sich anscheinend die Lachtränen aus den Augen. Er japst regelrecht. „Oh man, du bist echt voll verknallt.“   Rumms, dieses Mal hat er mich volle Kanne erwischt und ich glotze wie blöde auf das Handydisplay. Verliebt? Ich?   „Gar nicht“, antworte ich reflexartig. „Mit Ketchup“, flötet Pascal daraufhin und ich beschließe, dass ich meinen besten Freund das nächste Mal, wenn ich ihn sehe, leider töten muss. Alles andere ist undenkbar.   „Ich lege jetzt auf“, sage ich und will den Blödmann schon wegdrücken, als er mich im letzten Augenblick aufhält   „Warte“, ruft er und klingt, als würde er nur mit aller größter Anstrengung verhindern können, gleich wieder loszuprusten. „Ich wollte doch wissen, ob wir heute zusammen abhängen wollen.“   Ich zögere. Einerseits muss ich befürchten, dass er mich dann weiter ausfragt. Andererseits fällt mir hier drinnen jetzt schon die Decke auf den Kopf und alles, was ich drinnen oder draußen sonst noch tun könnte, ist ungefähr so attraktiv wie Katzenkotze. „Na schön“, sage ich deswegen hoheitsvoll, als würde ich ihm einen Gefallen damit tun, wenn ich meine wertvolle Zeit mit ihm verbringe.   „Um halb acht?“ „Bei dir oder bei mir?“   Warum frage ich das? Ich hab Bruno doch versprochen, dass ich dafür sorge, dass Pascal und meine Mutter ... „Bei mir. Ich will dir was zeigen.“   Oh, das klingt spannend. „Alles klar, um halb acht bei dir. Ich bring Pizza mit.“   Wenn ich mich einschleime, ist er vielleicht gnädig, was die Identität meines Lovers angeht. „Na gut, aber ich bezahle.“   So viel zu dem Plan.   „Okay, wenn du drauf bestehst.“ „Tue ich. Und pack deine Badehose ein.“   Das muss er mir nicht zweimal sagen.   „Alles klar, bis dann.“ „Bis dann.“   Ich lege auf und verspüre für einen ganz kurzen Augenblick den Drang, mich ins Leben zu stürzen. Vielleicht sogar einkaufen zu gehen. Doch dann lasse ich mich wieder auf mein Kissen sinken. Ich umarme es und stecke es so zurecht, dass es ein ganz kleines bisschen wie Bruno aussieht, bevor ich mich darauf lege, es mit beiden Armen fest umschließe und mir vorstelle, ich wäre nicht alleine.   Pascal hat recht, schießt es mir dabei durch den Kopf, den ich im nächsten Moment am liebsten so fest in den federgefüllten Stoff drücken möchte, dass ich nie wieder aufwache. Ich bin echt voll verknallt. Kapitel 16: Keine Antwort ------------------------- „Vorsicht Stufe!“   Instinktiv strecke ich die Arme aus und werde langsamer. Links bekomme ich rauen Stein zu fassen, rechts einen Türrahmen und vor mir befindet sich nichts als warme, nach Sommer riechende Luft, Vogelgezwitscher und das Brummen eines Insekts, das ziemlich nahe an mir vorbeifliegt. Wir befinden uns also an der Terrassentür, das heißt offenbar, dass die Überraschung, die Pascal mir so großspurig angekündigt hat, draußen ist. Hinter mir höre ich meinen Freund ungeduldig herumhampeln.   „Nun mach schon, geh endlich.“   Ich grinse, weil ihm sein Plan, mich mit geschlossenen Augen durch die Gegend zu lotsen, offenbar gerade gar nicht mehr gefällt. Aber nett wie ich bin, lasse ich ihn nicht weiter zappeln.   „Kann ich denn jetzt gucken?“, frage ich, nachdem ich einen Schritt vorgetreten bin und somit auf der Simmerichschen Terrasse stehe. Die Sonne hat die grauen Fliesen ordentlich aufgeheizt und ich spüre ihre Wärme unter meinen Fußsohlen. Trotz Socken.   „Nein, warte. Einen Augenblick noch.“   Pascals Hände legen sich auf meine Schultern und schieben mich noch ein Stück vorwärts. Wären unsere Rollen vertauscht, müsste ich jetzt wohl Angst haben, dass er mich in den Pool schubst. So jedoch weiß ich, dass mir nichts passieren wird. Pascal ist viel zu anständig.   „Jetzt kannst du gucken.“   Vorsichtig blinzele ich und sondiere die Lage. Ich stehe tatsächlich noch weit genug weg vom Pool, um nicht im nächsten Moment hineinzufliegen. Allerdings hat sich etwas verändert. Da ist immer noch die geschmackvolle Loungegarnitur, die blühenden Hortensienbüsche, der nahezu englische Rasen, die in Form geschnittenen Orangenbäumchen und die von keinem Krümel Unkraut verunzierten Beete. Inmitten des Ausblicks allerdings, der normalerweise unverdeckt bis ins Tal hinab geht, prangt ein riesiges, viereckiges, mit Wasser gefülltes Gebilde. Die dunklen Wände mit der kleinen Einstiegstreppe sind perfekt auf die Holzelemente des Hauses abgestimmt und auf einen Wink mit Pascals Handy hin fängt das Wasser im Inneren des Dings zuerst an zu brodeln und dann auch noch die Farbe zu wechseln. Im Halbminutentakt erstrahlt der gesamte Pool in rotem, grünem, blauen, gelben, türkisem und violettem Licht. Ich glaub, ich steh im Wald. Das ist ja wie Weihnachten. Nur nasser. Und geiler. „Der Wahnsinn!“, stammele ich irgendwann, als ich meinen Mund wieder zugeklappt bekomme. Pascal grinst bis über beide Ohren.   „Fett, oder? Komm mit, ich zeig ihn dir.“   Er packt meine Hand und zieht mich ohne große Gegenwehr vorwärts. Das ist so ultrakrass. Die Erfüllung meiner feuchtesten Träume, die ausnahmsweise mal nichts mit Männerhintern in engen Shorts zu tun haben. Ein Wunder. Ein Himmelreich. Ein Eins-A-Riesen-Luxus-Whirlpool. Ich kann es immer noch nicht fassen.   „Wenn ich sterbe, will ich, dass du meine Asche hier drin verstreust“, murmele ich und hänge meine Nase über das mit Chlor ordentlich steril gemachte Heißwasserbecken. Noch nie rochen Chemikalien so gut. Ich glaube, ich schmelze. Pascal lacht hinter mir. „Hab ich doch gewusst, dass es dir gefällt. Na los, wir probieren ihn aus. Ich hol meine Badehose.“   Nur widerwillig trenne ich mich von dem Schätzchen, das mir zuzuflüstern scheint, nicht allzu weit wegzulaufen. Als ich mich endlich losreiße, um mich ebenfalls umzuziehen, ist Pascal bereits im Wohnzimmer angekommen. „Yallah, mein Freund!“, ruft er und nimmt gleich zwei Treppenstufen auf einmal. „Wer zu spät kommt, muss nachher an die Tür.“ Das wirkt. Entgegen meines Versprechens habe ich nämlich vergessen, Verpflegung mitzubringen, sodass wir nachher Pizza bestellen müssen. Oder vielmehr gleich, was heißt, dass einer von uns in spätestens ner halben Stunde wieder aus dem Wasser muss. Und das werde ganz bestimmt nicht ich sein. Ich schnappe mir also meine Tasche und will Pascal gerade die freischwingende Treppe nach oben folgen, als mir plötzlich eine Idee kommt.   Wenn ich hier unten bleibe, bin ich schneller.   Keine Ahnung, woher der Gedanke plötzlich kommt, aber ich mache im selben Augenblick, da er mir durch den Kopf schießt, auf dem Absatz kehrt und laufe in Richtung Gäste-WC. Wobei die Bezeichnung „WC“ wirklich stark untertrieben ist. Das hier ist ein voll ausgestattetes Badezimmer, mit Dusche, zwei Waschbecken und sogar einem Bidet. Im Schrank warten stapelweise weiche, flauschige Handtücher und wenn man nicht auf eine Übernachtung vorbereitet ist, befinden sich in den Schubladen alle nur denkbaren Hygieneartikel von Zweitzahnbürste bis Abschminkpads. Und jetzt haben sie auch noch nen Whirlpool. Ich glaub, ich zieh hier ein.   Erst einmal geht es jedoch ums Ausziehen. Ich streife also meine Hose, Unterwäsche und Strümpfe ab und meine Badehose über. Auch das olivfarbene Hemd, das ich mehr aus Gründen der Ästhetik anhabe, fliegt in die Ecke. Als ich mich jedoch auch noch des roten T-Shirts entledigen will, das ich darunter trage, stockt meine Bewegung. Auf meinem rechten Arm prangt unübersehbar Brunos Telefonnummer. Natürlich habe ich sie inzwischen in mein Handy eingespeichert und mich sogar getraut, ihm eine Nachricht zu schreiben. Zwei, wenn man genau ist. 'Hey!' und 'Alles okay?' lautete der Text. Beide Nachrichten sind angekommen, beide wurden bisher nicht gelesen. Zumindest, wenn man der Statusanzeige trauen kann. Und natürlich hat Bruno nicht geantwortet. Auch jetzt nicht, wie mich das unter meiner Berührung aufleuchtende Display wissen lässt. Der Bildschirm ist leer, ich habe keine Benachrichtigung. Zur Sicherheit öffne ich nochmal den Messenger für den Fall, dass da irgendwas nicht richtig übermittelt wurde, aber die Häkchen neben meinen Nachrichten sind weiterhin grau und das Symbol am Header des Chats immer noch nichtssagend anonym. Scheiße! „Fabi? Wo steckst du?“   Ich zucke zusammen und lasse das Handy schnell zwischen meinen Sachen verschwinden. Pascal muss ja nicht unbedingt wissen, dass ich hier wie ein liebeskrankes Hündchen an meinem Telefon klebe. Zumal ihn das nur wieder auf das Thema „mein geheimer Lover“ bringen würde, das ich seit meiner Ankunft tunlichst vermieden habe.   „Komme!“, rufe ich daher schnell und stürme nach draußen, ohne jedoch mein Shirt auszuziehen. Etwas, das Pascal natürlich sofort kommentiert.   „Hast du Sonnenbrand?“, fragt er und deutet auf meinen Oberkörper. „Oder Knutschflecke?“   Ich zeige ihm meinen Mittelfinger und gehe nicht weiter auf die implizierte Frage ein. Wirklich, der Kerl ist so was von neugierig! „Bestell lieber Pizza“, meine ich, um ihn abzulenken. So wirklich hungrig bin ich eigentlich nicht. Den ganzen Tag schon nicht. Ich ernähre mich sozusagen von Luft und Liebe, haha.   „Geht klar“, erwidert Pascal jedoch nur und schiebt ab in die Küche, um in der einzig zumutbaren Pizzeria vor Ort anzurufen. In anderen Städten gäbe es für so was vermutlich ne App, aber nicht hier in Hintertupfingen. Die haben nicht mal ne Website. Es ist ein Wunder, dass man nicht noch per Morsezeichen bestellen muss.   „Halbe bis Dreiviertelstunde“, kommt Pascal kurz darauf mit der üblichen Nachricht zurück. Als wenn die jemals was anderes sagen würden, egal wie lange es dauert. „Na dann, ab in die Fluten“, meine ich fröhlich und kaschiere damit meine Befürchtungen, dass er die Telefonnummer auf meinem Arm erspähen könnte. Im Wasser kann ich die bestimmt verstecken. Oder sogar entfernen, obwohl es mir irgendwie nicht gefällt, das zu tun. Immerhin ist die von Bruno.     Der Pool ist atemberaubend. Nicht nur, dass das Wasser die perfekte Temperatur hat. Sobald ich meinen Körper auf einer der Liegen drapiert habe, umschwärmen mich sofort Millionen von wunderbar kitzelnden Blubberbläschen, von denen ich, wenn ich kitschig veranlagt wäre, wohl behaupten würde, dass sie sich anfühlen wie Engelsflügel. So jedoch bleibt mir nur ein aus dem tiefsten Tiefen meiner Seele stammendes Seufzen und das einzig mögliche Urteil. „Zehn von zehn, Bro!“   Wie um das zu bestätigen, lasse ich mich noch ein bisschen tiefer sinken. Oh man, das ist so gut. Seit ich das erste Mal in so einem Teil gesessen habe – Pascals Eltern hatten mich auf einen Ausflug in so ein ultranobles Spa mitgenommen, das aus einer gefühlten Million verschiedenen Saunen, Pools und thematisch aufeinander abgestimmten Ruhezonen bestand – habe ich mir geschworen, dass ich so etwas später mal in mein Badezimmer einbauen lasse. Immerhin liebe ich es zu baden und was könnte es Besseres geben, als sich neben dem Planschen in Bergen von duftendem Schaum noch rundherum von gut eingestellten Düsen wohltuend massieren zu lassen? Also außer natürlich, die Wasserstrahlen würden durch einen knackigen Massageboy ersetzt, aber der läge wohl wirklich außerhalb meiner Preisklasse.   „Der Wahnsinn“, sage ich noch einmal, bevor ich auch noch den Kopf untertauche und sofort wieder hebe, weil es da unten einfach laut ist. Okay, Eins zu Null für ne normale Badewanne, aber sonst kriegt mich hier so schnell keiner wieder raus. Nicht mal für Pizza. „Wusste ich doch, dass es dir gefällt“, meint Pascal grinsend von der anderen Seite des Pools. Ich hab wirklich verdammtes Glück, dass seine Eltern ihn so gepolt haben, wenigstens einen Teil seines Reichtums an arme Bedürftige weiterzugeben. Arme Bedürftige wie mich zum Beispiel.   „Gefallen?“ echoe ich. „Ich liebe es.“   Wäre der Pool ein Mensch und ich ein Hund, würde ich mich wohl jetzt sein Bein rammeln. Wie kann etwas nur so geil sein? Ob man hier drin auch übernachten kann?   „Michelle war auch ganz hin und weg“, sagt mein allerliebster Lieblingsfreund und holt mich damit ein winziges Stückchen zurück in die Wirklichkeit. Eigentlich sollte ich jetzt wohl verschnupft sein, weil seine Freundin vor mir hier reindurfte, aber dann beschließe ich, es ihm durchgehen zu lassen. Wenn ich die Wahl zwischen Pascal und Bruno gehabt hätte, um hier herumzuplanschen, wäre meine Wahl eventuell auch auf Letzteren gefallen. Also eigentlich ziemlich bestimmt sogar. Mir ist echt nicht mehr zu helfen. „Mhm“, mache ich daher nur und lasse mich mit geschlossenen Augen nach hinten sinken. Diese Liege ist wirklich so was von bequem. Wenn ich jetzt noch ein Kissen …   „Sie hat sogar gemeint, wir sollten uns überlegen, ob wir nicht doch zwischenfahren. Also wegen des Studiums.“   Jetzt fängt der schon wieder damit an. Hat man denn nie seine Ruhe? „Das ist doch Unfug“, brumme ich und versuche, mich auf das warme Wasser zu konzentrieren, das meinen Körper liebkost. „Da ist man ja mindestens zwei Stunden unterwegs.“ „Zweieinhalb“, meint Pascal und klingt dabei nicht so unbegeistert, wie er sollte. „Ich hab nachgeschaut.“   Zweieinhalb Stunden. Das ist ja total irre! Zumal man die Strecke ja abends auch noch zurück müsste. Das macht doch kein Mensch.   „Man könnte im Zug lernen. Die haben da sogar W-Lan.“   Anscheinend hat mein lieber Freund sich das alles schon fix und fertig ausgedacht. Ich frage mich nur, wofür? Immerhin wollten wir doch von hier weg.   „Woher der Sinneswandel?“, frage ich deshalb und überlege, ob man sich auf diesen vorgeformten Liegen wohl auch auf den Bauch drehen kann. Eine intensive Wasserströmung an der richtigen Stelle, könnte sich interessant anfühlen.   „Na ja, du hast doch gemeint, dass deine Klausuren nicht so gut gelaufen sind. Und wenn du vielleicht doch erst nächstes Jahr …“   Ich zucke zusammen, reiße die Augen auf und kippe fast von meiner Liege. Hat er etwa gerade ernsthaft in Erwägung gezogen, dass ich durchfallen könnte? „Hey!“, mache ich und klinge dabei auch nicht so überzeugend, wie ich sollte. „Ich werd das schon schaffen. Alles easy, okay?“   Pascal lächelt. Und er bemüht sich, dabei nicht allzu mitleidig dreinzuschauen. „Klar. Was sonst. Ich hab halt nur gedacht, für den Fall, dass nicht … Außerdem weiß ich ja nicht, wie die Pläne deines Lovers aussehen. Vielleicht kann der ja hier nicht weg.“   Ich schnaufe. „Klar, weil er ein 46-jähriger, verheirateter Familienvater ist“, knurre ich und reiße im nächsten Moment die Augen noch weiter auf, weil Pascal tatsächlich ertappt aussieht. Ertappt!   „Ist er nicht!“, erkläre ich zutiefst entrüstet und frage mich, wer von uns eigentlich den Kopf tiefer in der Gosse hat. Oh man, das ist ja eklig. Widerlich! Pfui!   „Hab ich auch nicht angenommen“, behauptet Pascal prompt, ohne rot zu werden. Ich glaube, so langsam muss ich aufpassen, dass ich ihm nicht zu viel beibringe. Der trickst mich am Ende noch … „Sonst hätte er dir ja wohl kaum seine Telefonnummer auf den Arm geschrieben.“   Argh!   Ich versinke trotz der Lautstärke einfach mal unter Wasser, weil ich grad nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Ich meine, müsste Pascal nicht so langsam verstanden haben, dass ich Bruno nicht outen kann? Das geht einfach nicht, das gehört sich nicht. Nicht, wenn man nicht rausfindet, dass er wirklich verheiratet ist und zwei Kinder hat. Und selbst dann wäre das ein absoluter Arsch-Move, so verständlich ich es ja auch fände.   Als ich wieder auftauche, sieht Pascal immer noch höchst zufrieden mit sich aus, nur das leichte Flackern in seinem Blick zeigt mir, dass er sich vielleicht doch nicht so ganz sicher ist, ob er nicht ein bisschen zu weit gegangen ist. Das ist jedoch im nächsten Moment vergessen, als es an der Tür klingelt. „Ich geh aufmachen“, meint er und springt auf.   „Nimm dir ein Handtuch!“, belle ich hinter ihm her. Er nickt und winkt und hinterlässt weiter eine deutlich sichtbare nasse Spur auf dem Fußboden. Ach, was soll’s. Ist ja nicht mein Wohnzimmer.   Kurz darauf erscheint Pascal erneut in der Türöffnung, dieses Mal mit zwei Pizzakartons in der Hand. „Willst du was trinken?“, ruft er und ich wedele lässig mit der Hand. „Chardonnay, Süßer! Aber zack-zack.“   Pascal lacht und verschwindet noch einmal, um kurz darauf mit zwei Colas wieder zurückzukommen. Immer noch grinsend wirft er mir eine davon zu. „Cheers!“, rufen wir beide und lassen kurz die Dosen zusammenknallen, bevor wir einen großen Schluck nehmen und uns dann über die Pizza hermachen. Aus den Augenwinkeln checke ich, ob Pascal mich immer noch beobachtet, aber der scheint ganz mit seinem Stück käseüberladenen Teig beschäftigt zu sein. Als er das allerdings vernichtet hat, lehnt er sich zurück und lässt den Blick schweifen.   „Weißt du …“, meint er und guckt dabei anscheinend extra nicht in meine Richtung. „Ich hab überlegt, zur Einweihung des neuen Pools ne Party steigen zu lassen. Vielleicht in zwei Wochen oder so. Was meinst du dazu?“   Da ich gerade einen großen Bissen im Mund habe, meine ich erst mal gar nichts. Ich wundere mich nur über den Themenwechsel, bis mir auffällt, was in zwei Wochen ist. Entsprechend entgeistert starre ich Pascal an, der mir gegenüber die Unschuld in Person gibt. „In zwei Wochen?“, frage ich nach, schlucke und tue so, als wüsste ich von nichts. „Warum ausgerechnet da?“   „Och, nur so“, meint er und beißt mit nur schlecht verborgenem Grinsen nochmal von seiner Pizza ab. „Ich dachte nur, dass dann ja noch genug Zeit ist bis zu den mündlichen Prüfungen ist und wir vielleicht alle ne Aufmunterung vertragen könnten. Ich hab überlegt, den ganzen Jahrgang einzuladen. Nur damit keiner ausgeschlossen wird und so.“   Er schaut mich an und seine Augen funkeln jetzt.   „Also, was sagst du? Ist das ne gute Idee?“   Ich schnaufe ein bisschen und starre auf meine Pizza hinab. Sie haben jede Menge Oregano auf dem Käse verteilt, obwohl ich extra gesagt hatte, dass sie den weglassen sollen. Diese Stümper können aber auch gar nichts. Das Ding schmeckt wie frisch gemähte Wiese. „Wie soll das denn ablaufen?“, frage ich, um mich ein wenig aus der Affäre zu ziehen. Natürlich weiß ich, was er vorhat. Er versucht gerade, der verdammt beste Freund aller Zeiten zu sein und auch gegen meinen ausdrücklichen Wunsch, meinen 18. zu feiern. Spinner! „Tja, keine Ahnung. Ich dachte, wir könnten so ne Art Vor-dem-Abi-Party daraus machen. Du weißt schon, jeder bringt was mit, alle sind eingeladen. Es würde also gar nicht auffallen, wenn da auch jemand kommt, den du unbedingt dabei haben möchtest.“   Fuck, er ist wirklich der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Und ne verdammte Nervensäge! „Ich sage dir nicht, wer es ist“, murre ich und beiße noch ein Stück von der Zumutung ab, die sie hier Pizza nennen. Immerhin habe ich dann den Mund voll und kann meinen finsteren Blick auf die Überdosis an Blattwerk schieben. Denn, wenn ich ehrlich bin, hört sich die Idee verdammt klasse an. Ich und Bruno auf einer Party. Wie geil!   „Hab ich ja auch nicht gefragt“, meint Pascal mit einem so breiten Grinsen, dass selbst die Tante von 'Smile' vor Neid erblassen würde. „Ich hab nur gedacht, dass du dich vielleicht freuen würdest, wenn wir ein bisschen … feiern. Nichts weiter.“   An dieser Stelle beschließe ich, dass ich die Pizza nicht weiter essen werde. Sie ist furchtbar. Ebenso wie die Tatsache, dass ich Pascal so scheiße behandele. „Okay“, sage ich und muss selbst ein bisschen grinsen. „Aber ich will ne Torte. Und Kerzen. Und Feuerwerk!“   Pascal lacht, weil er weiß, das mindestens zwei Sachen davon nicht ernst gemeint sind. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber ich kann nichts versprechen.“ „Schon klar“, sage ich und lasse mich zurück in das warme, sprudelnde Wasser sinken. Für einen Moment wage ich, es mir vorzustellen. Die Party, die Leute, Häppchen und Cocktails. Wie ich mich zwischendurch mit Bruno ins obere Bad verziehe und wir ne schnelle Nummer schieben, um danach unentdeckt am Panoramafenster dabei zuzusehen, wie bunte Sterne in den Sommerhimmel schießen. All das wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein. Und ich habe einen Freund, der es trotzdem für mich möglich macht. Der sogar erwägt, noch ein weiteres Jahr in diesem Kaff zu verbringen, wenn meine Noten es erforderlich machen. Was nicht der Fall sein wird. Garantiert nicht! Aber alleine, dass er es in Erwägung zieht … Ich bin wirklich ein verdammter Scheiß-Lucker.       „Fabian! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du gefälligst dein Handtuch aufhängen sollst? Und schmeiß doch die dreckigen Sachen bitte gleich in den Wäschekorb, statt sie auf dem Boden liegenzulassen.“   Die genervte Stimme meiner Frau Erzeugerin schallt durch den Flur und damit zielgerichtet an mir vorbei. Ich stehe nämlich gerade vor meinem Kleiderschrank und begutachte die enorme Menge an „Nichts Anzuziehen“. Wenn das so weitergeht, muss ich mir bald mal wieder was bestellen. Oder was von Pascal ausleihen, wenn dessen Sachen nicht so unheimlich spießig wären. „Die sind nicht dreckig“, gebe ich nur so halb anwesend zurück. Ehrlich, so langsam müsste sie doch kapiert haben, dass Sachen, die im Badezimmer auf dem Boden liegen, nicht in die Wäsche gehören. Die kann man nochmal anziehen. Nur halt nicht sofort. Und in den Schrank legen kann ich das getragene Zeug ja schließlich auch nicht, also lasse ich es da, wo ich es vermutlich das nächste Mal brauchen werden. Das versteht meine Mutter aber nicht. „Dann räum sie weg.“   Siehste, sag ich ja.   „Ja ja“, gebe ich zurück und greife nach einem sonnengelben Polo-Shirt mit weißen und hellblauen Streifen. Irgendwie ist mir so, als hätte ich das letztens gerade erst angehabt. Aber wann? Und wo? Außerdem ist es irgendwie zu … gelb. Frustriert stopfe ich es zurück in den Kleiderschrank und will gerade das nächste Teil herausziehen, als meine Mutter mit Sturmmiene in der Tür erscheint. „Hier!“ meckert sie und schmeißt meine Klamotten einfach aufs Bett. Ich taste in Panik nach meinem Handtuch. „Ey, Privatsphäre! Ich bin nackt!“   Meine Mutter schnaubt. „Erstens habe ich dich nackt auf die Welt gebracht. Zweitens hast du ne Hose an. Und drittens solltest du dann vielleicht einfach die Tür zumachen. Wir leben schließlich nicht in der U-Bahn.“   Damit rauscht sie wieder ab und lässt mich, das nasse Handtuch und die Sachen von gestern alleine zurück. Missmutig lasse ich mich neben den Klamottenstapel fallen und ziehe noch missmutiger mein Handy darunter hervor. Auf dem Display: gähnende Leere. Mal abgesehen von einem Daumen hoch für das witzige Meme, das ich Pascal heute morgen geschickt habe, keinerlei Aktivitäten. Es ist wirklich zum Heulen.   Ohne viel Hoffnung, dass das etwas bringt, entsperre ich das Display und rufe den Messenger auf. Mein Zeigefinger schwebt über dem Chat mit Bruno. Die Nummer ist immer noch anonym, was wohl heißt, dass er sie weiterhin nicht gespeichert hat. Aber es gibt eine Antwort von ihm. Ein Lebenszeichen, wenn man so will. Es besteht allerdings nur aus zwei Worten.   'Bei Gustav.'   Diese höchst ausführliche und so überhaupt nicht befriedigende Nachricht war die Antwort auf die Nachricht, die ich ihm gestern noch im Anflug geistiger Umnachtung unbedingt schicken musste. Vermutlich, weil ich so gehyped war von all der Party-Planerei und Pascal und der Tatsache, dass er das mit Bruno als absolut ernstzunehmende Beziehung behandelt hat. Obwohl es das ja eigentlich noch gar nicht ist. Ich weiß nicht, was es ist. Aber weil Pascal so getan hat und ich dadurch wohl auch irgendwie das Gefühl hatte, einen festen Freund zu haben, habe ich Bruno nochmal geschrieben und gefragt, wo er ist. Natürlich hatte ich nicht erwartet, eine Antwort darauf zu bekommen. Doch dann erschienen plötzlich auf magische Weise diese zwei Worte. Ich bin fast aus dem Bett gefallen und habe bestimmt eine Viertelstunde atemlos darauf gewartet, dass da noch was kommt. Aber nichts. Niente. Nada. Das Handy blieb stumm. Es kam keine Erklärung, keine persönliche Nachricht, kein 'Schlaf gut' oder 'Ich melde mich morgen' oder gar 'Ich wär aber lieber bei dir'. Einfach nur ein großes, fettes Gar nichts, das mich Schluss endlich dazu veranlasst hat, das Handy wegzulegen und zu schlafen. Was natürlich nicht geklappt hat. Verdammter Fuck!   Vielleicht sollte ich ihm nochmal schreiben. Das Ding ist nur, ich weiß nicht, was. Dass das Gespräch mit seinen Eltern nicht gut gelaufen ist, kann ich mir ja an drei Fingern abzählen. Andernfalls wäre er wohl nicht geflüchtet. Dass er weiterhin vermutlich nicht wirklich unbeobachtet ist, ist auch klar. Wenn ich ihm jetzt also was allzu Verfängliches schreibe und Gustav dann das Handy in die Finger bekommt oder er gar mitkriegt, wenn ich Bruno texte oder ihn anrufe … nee, das lassen wir lieber. Bliebe also die Möglichkeit, was relativ Belangloses zu schreiben, was wiederum total dämlich ist, weil ich ja weiß, was gerade bei ihm abgeht. Oder es eben nicht weiß.   Argh!   Wütend pfeffere ich das Handy wieder aufs Bett und vergrabe die Hände in meinen Haaren. Gibt bestimmt einen ganz prima crunchy Out-of-bed-Look. Wobei ich fast schon vor mir sehe, dass das heute eher ein Inside-bed-Look wird. Es steht nämlich so gar nichts an und ich langweile mich jetzt schon des Todes. Alternativ werde ich verrückt wegen Bruno. Da kann man sich doch nur die Haare raufen.   Weil ich keinen Bock mehr habe, mir weiter Gedanken zu machen, und es für den übergroßen, schwarzen Hoodie, nachdem mir eigentlich wäre, heute viel zu warm ist, greife ich der Einfachheit halber nach dem roten Shirt von gestern und streife es über den Kopf. Damit habe ich immerhin einen Menschen in diesem Haus glücklich gemacht und das ist ja auch was wert.   Immer noch voller negativem Optimismus und mit wenig Hoffnung auf Besserung, begebe ich mich in Richtung Küche, um mich dort im aufgestockten Kühlschrank nach etwas umzusehen, dass meine Laune bessert. Karamellpudding zum Beispiel. Oder Mini-Käse.   Als ich an der Badezimmertür vorbeikomme, stoppe ich jedoch. Durch den Türspalt – wer wohnt jetzt hier in ner U-Bahn? – kann ich meine Mutter sehen, die vor dem Spiegel steht und sich schminkt. An einem Samstag. Was ist denn jetzt kaputt? „Gehst du aus?“, frage ich und lehne mich in die Tür. Gut, das Erstaunen in meiner Stimme ist vielleicht nicht so nett, aber erstens haben wir kurz nach Mittag, zweitens geht sie nie aus und drittens sehen ihre Klamotten nach Arbeit aus. Ein Geschäftsessen? Müsste ich davon wissen?   Als Antwort erhalte ich nur ein angestrengtes Atmen; wahrscheinlich, weil sie gerade dabei ist, Wimperntusche aufzutragen. Ich fände so spitze Borsten in der Nähe meines Augapfels ja gruselig, insofern verzeihe ich ihr die mangelnde Konzentration. Eine Antwort bekomme ich trotzdem.   „Ich hab doch gesagt, dass ich ins Krankenhaus fahre. Ah ja, da war irgendwas. Als ich vor ner Stunde oder so am Frühstückstisch aufgetaucht bin – 'Räum gefälligst ab, wenn du fertig bist' – hat sie irgendwas davon gefaselt, dass das Mittagessen ausfällt, weil sie nicht da ist. Zu dem Zeitpunkt war ich aber noch nicht aufnahmefähig. Ich staune ohnehin, dass die Info jetzt von irgendwoher in mein Bewusstsein gekrochen kommt. „Wer ist denn krank?“, frage ich unschuldig und ernte einen vernichtenden Blick. (Die Wimpern sind inzwischen fertig getuscht und trocknen vermutlich schneller, wenn man glühende Blicke dazwischen hindurchströmen lässt.)   „Ich fahre zu Herrn Häberle, schon vergessen?“   Oh. Oh. Jetzt, wo sie es sagt, hat sie so was wohl gestern schon mal erwähnt. Irgendwas wegen seines Testaments oder so. Meine Mutter will das Ding wohl heute abholen, um es möglichst schnell offiziell hinterlegen zu lassen. Warum das nicht am Montag reicht, weiß ich zwar nicht, aber meine Freizeit ist es ja nicht.   Sie ist jetzt beim Lippenstift angekommen, was wohl heißt, dass sie gleich aufbrechen wird. Sie hält jedoch inne, dreht den Kopf und schaut mich an. „Willst du mitkommen?“   Mitkommen? Ich? Im Ernst?   „Herr Häberle würde sich sicher über Besuch freuen.“   Herr Häberle würde sich vielleicht auch über ne Nackttänzerin und ne Flasche Einzianschnaps freuen, aber wir sind hier schließlich nicht bei Wünsch-dir-Was.   „Weiß nicht“, meine ich und bohre meine nackten Zehn in die Troddeln der Badezimmermatte. „Da sind doch bestimmt voll viele alte Leute.“ „Nicht nur“, sagt meine Mutter mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. „Ich habe da auch schon Familien gesehen. Kinder. Es ist eigentlich ganz nett, wenn die Umstände nicht wären.“   Ich merke, wie sich in meinem Bauch ein Knoten bildet. Mit dem Tod hatte ich bisher noch nicht so viel zu tun. Also klar, ich war damals auf der Beerdigung meiner Oma und soweit ich mich erinnern kann, habe ich auch geweint, aber so richtig bewusst, was das heißt, wenn jemand stirbt, war mir damals noch nicht. Und eigentlich habe ich auch jetzt nicht wirklich Lust, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Andererseits bringt mich das Ganze vielleicht auf andere Gedanken. Nicht unbedingt bessere, aber andere. „Na schön, ich komme mit“, sage ich daher zu meinem und dem Erstaunen meiner Mutter. Immerhin bin ich ja normalerweise nicht gerade der Fürsorglichsten einer.   „Meinst du, wir sollten ihm was mitbringen?“   Ich sehe, wie der Gesichtsausdruck meiner Mutter sich wandelt und so ein warmes Lächeln darauf erscheint. So ein Hab-ich-doch-nicht-alles-falsch-gemacht-er-ist-ja-eigentlich-ein-lieber-Junge-Lächeln. Ha! Wenn die wüsste.   „Ja, das wäre schön. Wir halten auf dem Weg nochmal an, ja?“ Sie strahlt und ich nicke. Keine Ahnung, ob sich Herr Häberle wirklich freut, mich zu sehen, aber meine Mutter scheint von der Idee begeistert zu sein. Und vielleicht meldet sich ja Bruno, während wir da sind. Das wäre doch wirklich mal was Feines.   Aber warum sollte er sich melden, quengelt mein inneres Alter Ego. Du hast ihn doch gar nichts gefragt.   Stimmt. Hab ich nicht. Aber vielleicht …   Noch bevor mein Kopf versteht, was meine Finger da machen, habe ich mein Handy herausgezogen. Noch einmal rufe ich den Chat auf. Immer noch scheint er die Nummer nicht eingespeichert zu haben, aber vielleicht rückt er ja mit der Sprache raus, wenn ich mich interessiert zeige. So ein bisschen wenigstens. Schließlich hat er es versprochen.   'Was ist denn passiert?', tippe ich und schicke die Nachricht ab, bevor ich es mir noch anders überlegen kann. Nur Sekunden später ist sie auch schon übermittelt. Das heißt, selbst wenn ich die jetzt lösche, würde er sehen, dass ich ihm geschrieben habe. Es gibt also kein Zurück mehr.   Ach, ich lass das jetzt so, denke ich und stopfe mein Handy zurück in meine Hosentasche. Er wird sich schon melden. Ganz bestimmt.         Das Gebäude, dem wir uns nähern, ist kleiner und flacher, als ich es erwartet habe. Es sieht eher aus wie ein Wohnheim. Drumherum gibt es eine Parkanlage, viele Bäume, Blumen und Bänke. Auf denen sitzen hier und da Leute und eine Frau mit so einem Nonnending auf dem Kopf schiebt eine andere Frau in einem Rollstuhl durch die Gegend. Wie es aussieht, arbeitet die hier, denn als wir hineingehen, kommen uns zwei weitere Nonnen entgegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das finde, und dementsprechend froh, als meine Mutter am Tresen der Anmeldung auf eine Dame ohne Kopfbedeckung stößt. Während sie mit ihr spricht, stehe ich da mit meinem Blumenstrauß und meinen Keksen in der Hand und komme mir fehl am Platz vor. In einer Couchecke sitzen einige ältere Menschen. Sollten die nicht in ihren Betten liegen und sterben?   „Komm, er ist wach“, sagt meine Mutter und geht ohne weiter zu zögern in Richtung Aufzug. Ich folge ihr eilig, damit sie mich hier ja nicht alleine lässt. An der Wand steht ein Sinnspruch. Irgendwas mit 'Zeit' und 'Leben' oder so ähnlich. Ein bisschen zynisch, denn viel Zeit hat hier bestimmt keiner mehr.   Reiß dich zusammen, ermahne ich mich ausnahmsweise mal selbst, denn schließlich sind wir hier, um es Herrn Häberle nett zu machen. Und im Gegensatz zu ihm werden wir dieses Haus ja in einer Stunde oder so wieder verlassen. Also Kopf hoch, Brust raus und durch da.   Das Zimmer am Ende des Ganges ist dann endlich so, wie ich es erwartet habe. Ein großes, helles, ein wenig an ein Krankenhaus erinnernder Raum mit eingebauter Nasszelle, einem Bett, einer Sitzgruppe, einem Tisch mit drei Stühlen und einem großzügigen Balkon, den Herr Häberle aber wohl nicht mehr betreten wird. Zumindest wirkt die alte, faltige Gestalt inmitten der weißen Bettwäsche nicht so, als würde sie noch irgendwelche Luftsprünge machen. Dementsprechend überrascht bin ich, als der hutzelige Mann plötzlich lospoltert. „Na endlich kommt mal wer. Ich klingle und klingle hier, aber keiner rührt sich. Es ist zu hell. Es zieht. Machen Sie gefälligst das Fenster zu!“   Meine Mutter lächelt ein bisschen angestrengt, bevor sie zum Fenster tritt und die Vorhänge ein Stück weit schließt. Anschließend kommt sie zurück zum Bett. „Hallo, Herr Häberle“, sagt sie. Der Alte auf dem Bett, der einen Schlauch in der Nase hat, guckt böse. „Ach Sie sind’s. Ich dachte, es ist einer von diesen Pinguinen. Die lassen mich hier noch im Zug verrecken. Eine Schande ist das.“   Er verzieht das Gesicht und bricht im nächsten Moment in einen Hustenanfall aus, der seine gesamte Gestalt erschüttert. Kurz bevor meine Mutter jedoch losprintet, um den Notruf zu betätigen, kriegt Herr Häberle sich wieder ein. Seine trüben Augen richten sich auf mich und er verzieht die eh schon völlig zerfurchte Stirn in noch mehr Falten. „Wer ist das?“, will er wissen, als wäre ich ein Sittenstrolch, der es auf seine Bettpfanne abgesehen hat. „Das ist mein Sohn, Herr Häberle“, erklär meine Mutter. „Sag 'Guten Tag', Fabian.“   Ich schicke ihr einen Blick, der hoffentlich laut und deutlich 'Ich bin nicht mehr vier!' ausdrückt, bevor ich mich einige Mikrozentimeter weiter ans Bett wage.   „Hallo, Herr Häberle“, sage ich und halte Blumen und Kekse wie einen Schutzschild vor mich. Es sind sehr edle Butterkekse und ein fröhlich-bunter Strauß. Ich hab ihn selbst ausgesucht und dachte, dass ich dem alten Mann damit eine Freude mache. Anscheinend habe ich mich getäuscht.   Herr Häberle beachtet die Blumen gar nicht. Stattdessen mustert er mich von Kopf bis Schritt – weiter kommt sein Blick nicht – bevor er die Nase rümpft und mich wissen lässt: „Ich hatte mir dich größer vorgestellt.“   Ich blinzele und glaube, mich verhört zu haben. Spinnt der? „Ich sie mir auch“, knurre ich, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht habe. Meine Mutter sieht mich entsetzt an und auch Herrn Häberles Gesicht knautscht sich noch weiter zusammen. Da verdecken auch die dünnen Haare nichts mehr. Dann fängt er an zu lachen. „Na du bist mir ja einer“, meint er und winkt mit seiner knotigen Hand in Richtung Waschbecken.   „Tu mal das Gemüse ins Wasser. Und hol mir ne Flasche Wasser. Ich bin durstig.“   Ich erspare mir den Hinweis, dass neben seinem Bett noch eine halbvolle Flasche steht. Froh, wenigstens etwas zu tun zu haben, mache ich mich daran, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Und natürlich überhöre ich, wie er zu meiner Mutter sagt, dass der 'Rotzaff' ja nicht alles zu wissen bräuchte und warum sie mich überhaupt mitgebracht hätte.   Das scheint eine sehr lange Stunde zu werden.   Als ich feststelle, dass im Zimmer keine Vase ist, schickt mich meine Mutter zum Schwesternzimmer. Ich schnappe mir die Blumen und schiebe mit der festen Absicht, so bald nicht wiederzukommen, ab nach draußen. Und die Kekse, nehme ich auch mit.   Während mir eine nette, ältere Nonne – die scheinen hier echt vorzuherrschen – eine Vase heraussucht, gibt mein Handy plötzlich einen Ton von sich. Schnell ziehe ich es aus der Tasche und entsperre den Bildschirm. Endlich eine Nachricht. Sie ist allerdings nicht von Bruno, sondern von Pascal.   'Heute ist Stadtfest in Wieslingen. Bock mitzukommen?'   Ich überlege. Dass er mich das jetzt erst fragt, heißt vermutlich, dass Michelle auch mit von der Partie ist. Und obwohl ich ihm das Versprechen abgenommen habe, dass er ihr gegenüber auf gar keinen Fall etwas von meinem Freund erwähnt, bin ich mir nicht sicher, dass sie nicht vielleicht doch was aus ihm rausgepresst hat. Oder sie wollte einfach nur nett sein. Jedenfalls bin ich mir ziemlich sicher, dass die Einladung auf ihrem Mist gewachsen ist.   'Mal sehen', texte ich zurück und schicke die Nachricht schnell ab, weil der Pinguin auf dem Rückweg ist. Ich grinse, als mir klar wird, dass ich den Ausdruck von Herrn Häberle übernommen habe.   Wenigstens etwas von ihm, das überleben wird, denke ich und stecke mein Handy wieder weg. Von Bruno habe ich immer noch keine Antwort.   Kapitel 17: Verdammte Scheiße ----------------------------- „Du hast ihm seine Kekse geklaut?“   Michelle lacht und mustert mich im Rückspiegel, als könne sie es nicht glauben. Ich blase die Backen auf und lasse geräuschvoll die Luft entweichen. „Nicht geklaut“, schwäche ich ihre Anschuldigung ab. „Ich hab sie ihm nur nicht gegeben.“   „Aber das ist ein alter Mann!“ „Na und? Wer ficken will, muss freundlich sein.“   Ein weiterer Blick aus blitzblauen Augen verrät mir, was die Freundin meines besten Freundes von dem Spruch hält. Zu meiner Überraschung schlägt sich Pascal jedoch auf meine Seite. „Ich finde, Fabian hat recht. Ich mein, er kennt den Kerl doch kaum. Warum sollte er ihm was schuldig sein, so arschig, wie der zu ihm war?“   Michelle verzieht den Mund und erwägt offenbar, uns beiden einen Vortrag über Moral und Anstand und „so was tut man einfach nicht“ zu halten, aber dann seufzt sie einfach nur. „Ich find’s trotzdem nicht gut“, sagt sie und belässt es dann dabei. Misstrauisch warte ich darauf, dass da noch was kommt, aber anscheinend hat Michelle heute Abend beschlossen, nett zu mir zu sein. Warum und weshalb ist mir zwar immer noch schleierhaft, aber einem geschenkten Gaul schaut man ja angeblich nicht ins Maul. Außerdem gibt mir ihr Schweigen Zeit, mich von der Tatsache zu erholen, dass sie einen Führerschein hat. Einen Führerschein. Heimlich still und leise hat sie einfach die Prüfung abgelegt, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Ich meine, ich wusste natürlich, dass sie auch Fahrstunden nimmt – wir sind uns mal bei einer der Theoriestunden begegnet, die ich nicht geschwänzt habe – aber dass sie offenbar eine der Auserwählten ist, die Herr Mehner noch durch die Prüfung geschleust hat? Gemein. Absolut gemein! Die nächste Ungerechtigkeit betrifft das Gefährt, in dem wir sitzen. Es ist ein kleiner, gammeliger, roter Fiat der eigentlich Michelles Oma gehört, den sie sich aber ausleihen kann, wann immer sie möchte. Was im Klartext heißt, dass sie quasi auch noch ein Auto besitzt. Gut, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich momentan wohl eher Pascals Whirlpool wählen, aber ein Auto. AUTO?? Gah, ich bin so was von gefickt.   Eigentlich nicht, merkt meine innere Meckertante an und hat damit natürlich recht. Denn Bruno hat sich immer noch nicht gemeldet und ich hab mir natürlich auf die Finger gebissen, ihm nochmal zu schreiben. Das wäre ja nun echt jämmerlich gewesen. Trotzdem bin ich nicht drumherum gekommen, ab und zu an ihn zu denken. Zumal ich zu Hause eh mal wieder nur mein Handy zur Belustigung hatte. Meine werte Erzeugerin hat natürlich vorgeschlagen, ich könnte aufräumen oder etwas in der Art, aber mal ehrlich: Wer verbringt denn damit seinen Samstagabend? Also bin ich geflohen, direkt in Pascals und Michelles Arme. Und ich gebe zu, dass sich das Ganze bis jetzt echt lustig anlässt. Zumindest konnte ich mich schon dreimal darüber beömmeln, wie Michelle das altersschwache Gefährt unter unseren Hintern abgewürgt hat. Zu komisch. Es macht einen Teil des Schmerzes über ihren heimtückischen Verrat, Brunos Taubnussigkeit und die allgemeine Ungerechtigkeit des Seins wieder wett. Den Rest meiner Problem plane ich, gleich in jeder Menge Alkohol zu ertränken. Denn auch wenn die Dinger ja angeblich schwimmen können, habe ich beschlossen, es mal auf einen Versuch ankommen zu lassen. Man kann ja nie wissen.     Das Stadtfest des Nachbarortes präsentiert sich, wie sich diese Veranstaltungen in der Gegend hier meistens präsentieren. Alle möglichen Vereine kommen aus ihren Ecken gekrochen und halten die Hand auf, während ihre Mitglieder mehr oder weniger gekonnt zum Besten geben, was sie so im letzten Jahr gelernt haben. Dazwischen gibt es Bratwurst, Bier und Ponyreiten, untermalt von Blasmusik, Tanzmusik und „das will doch keiner hören“-Musik. Und natürlich bekommt man überall Wein in allen möglichen Sorten und die verschiedensten Bowlen, was mir sehr entgegenkommt. Sich zu betrinken sollte daher kein Problem darstellen. Einen Parkplatz zu finden schon eher. „Da ist was frei“, ruft Pascal und deutet auf eine Lücke am Straßenrand. Michelle hebt die blonden Brauen. „Ich soll rückwärts-seitwärts einparken?“ meint sie spitz.   „Ist doch Teil der Prüfung“ stichele ich von hinten und weiß genau, das ich in diese Winzlücke niemals reinkommen würde. Aber ich hab ja auch keinen Führerschein. „Wir können ja auch noch weiter suchen“, meint Pascal gutmütig, aber mich hat jetzt der Schalk am Nacken gepackt. Soll Michelle doch mal zeigen, was sie gelernt hat.   „Nee, dass schaffst du“, feuere ich sie an und zaubere ein aufmunterndes Lächeln auf mein Gesicht. „Na los. Für unsere Füße!“   Michelle schnauft. Und stöhnt. Und setzt den Blinker, nur um wenige Minuten und endlose Meter Kurbelei später fast schon heulend hinter dem Steuer zu sitzen. Der Fiat steht immer noch nicht in der Parklücke, dafür versammelt sich eine zunehmend größer werdende Menschentraube um uns und betrachtet kopfschüttelnd die erfolglosen Versuche. Ich glaube, ich hab es mit dem Spaß etwas übertrieben. Blöde Gaffer.   „Vielleicht fährst du doch nochmal weiter“, biete ich versöhnlich an. „Ein bisschen Fußmarsch wird uns schon nicht umbringen.“   Michelle schluckt und nickt und kurbelt und fährt dann beim Zurücksetzen beinahe eine Oma über den Haufen. Aber wenigstens scheint sie sich so weit wieder gefangen zu haben, dass sie den richtigen Blinker bedienen und uns gute 20 Minuten später doch einigermaßen manierlich in einer riesigen Parklücke unterbringen kann, in der vorher ein dicker Familienvan stand. Ich sehe zu, wie der Wagen mit den Eis- und Zuckerwatte-verschmierten Gören am Heckfenster in der Ferne verschwindet und sage ausnahmsweise mal gar nichts dazu, dass wir nun endlich aussteigen können. Weiß der Himmel, wo das auf einmal herkommt. Wahrscheinlich saß ich zu lange im Pool.   „So“, sage ich stattdessen und reibe mir tatendurstig die Hände. „Wo fangen wir an?“   Auf dem Marktplatz haben sich bereits lustige Runden gebildet. Ein Menschenmeer wogt um die endlosen Reihen aus Bierzeltgarnituren herum und ich frage mich, wo die Leute wohl alle herkommen. So, wie das hier aussieht, müssen die mindestens fünf umliegende Orte mit Bus-Shuttles komplett eingesackt und hierher verladen haben. Oder anders gesagt: Es steppt der Bär, es fliegt die Kuh. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn über der Bühne, auf der eine Live-Band ihre Stücke zum Besten gibt, seilt sich gerade ein kuhförmiger Ballon in den Abendhimmel ab. Ich wette, irgendein Gör plärrt seinen Eltern deswegen jetzt die Ohren voll. Da das aber nicht mein Problem ist, steuere ich zielstrebig den nächsten Getränkestand an und ordere erst einmal eine Runde für uns drei. Michelle bekommt natürlich alkoholfrei, wir sind ja verantwortungsbewusst.   „Auf uns“, rufe ich und stoße mit den beiden auf einen gelungenen Abend an. Endlich kann das Besäufnis beginnen.     „Noch ne Runde?“   Fragend hebe ich mein Glas, doch meine beiden Begleiter wehren entschieden ab. „Ich hab noch“, meint Michelle und deutet auf ihr halbvolles Spezi. Auch Pascal, der zwar leer hat, aber offenbar schon ein bisschen beduselt ist, schüttelt den Kopf. „Ich mach mal ne Pause“, meint er, aber das lasse ich nicht gelten. „Ach komm schon. Einer geht noch. Ich lad dich ein.“   Ich sehe, dass er nicht will, aber alleine trinken geht gar nicht. Also wähle ich einen Umweg. „Ich bring dir ne Cola mit.“   Das zieht endlich und ich sammle mein und Pascals Glas ein, um mich auf den Weg zur nächsten Zapfstelle zu begeben. Als ich aufstehe, merke ich, dass auch bei mir die Maibowle schon ziemlich reingehauen hat. Der Boden schwankt etwas, aber nicht so sehr, dass ich nicht zielsicher die nächste Bude ansteuern könnte. Leider herrscht da so ein Andrang, dass ich mir mindestens ne halbe Stunde die Beine in den Bauch stehen müsste, um auch nur in die Nähe des Tresens zu kommen. „Scheißsäufer“, murmele ich und sehe mich nach einer Alternative um. Mein Blick fällt auf einen anderen Stand ein bisschen weiter weg. Von dort hat sich gerade eine größere Gruppe gelöst und ich sehe meine Chance, schneller zum Zug zu kommen.   „Ich guck mal, was die da drüben haben.“   Pascal und Michelle, die nebeneinander auf eine Bank sitzen, nicken und geben mir je einen Daumen hoch. Natürlich weiß ich, dass sie die Gelegenheit nutzen werden um rumzuknutschen, sobald ich außer Sichtweite bin. Obwohl romantisch trotz der Lampions und so sicherlich anders geht, kann ich es ihnen nicht so recht verdenken. Inmitten dieser Menschenmassen jemanden an seiner Seite zu haben, von dem klar ist, dass er zu einem gehört, hat schon was. Dafür müsste ich nicht mal Knutschen. Händchenhalten würde ja reichen. Oder wenigstens eng nebeneinandersitzen und sich ab und an mal unauffällig anlehnen. Leider ist mir ja nicht einmal das vergönnt und die Einzigen, die mir auf die Pelle rücken, sind meine Mitbewerber auf den frei gewordenen Thekenplatz. Aber das können sie mal gepflegt vergessen. Das hier ist meiner!   „Hallo! Bedienung?“, rufe ich gleich, als ich die Front erreicht habe. Natürlich weiß ich, dass das nicht gerade die feine englische Art ist, aber zu meiner Verteidigung spricht da auch ein Gutteil Bowle aus mir. Meine Augen werden jedoch groß, als sich die Tresenkraft mit der engen, schwarzen Jeans zu mir umdreht. Vor mir steht ein echt schnuckeliger Typ, dessen Poloshirt einen gar nicht mal so uninteressanten Körperbau erahnen lässt. Er scheint ein paar Jahre älter zu sein, aber definitiv nicht viele. Seine Haare sind am Oberkopf länger und mit Gel in eine windzerzauste Form gebracht, was ihm zusammen mit seinem nachlässig rasierten, dunklen Bart irgendwie etwas Verwegenes gibt. Als er mich sieht, spannen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Na, aber hallo. Was darf’s denn sein, schöner Mann?“   Auch wenn ich schon einiges intus habe, merke ich sofort, dass er mich abcheckt. Es kribbelt, als sich unsere Blicke begegnen, und zwar an ziemlich guten Stellen. Automatisch fange ich auch an zu grinsen. „Weiß nicht“, gebe ich in spielerischem Tonfall zurück. „Was hast du denn anzubieten?   Wie von selbst gleitet mein Blick bei der Frage an ihm runter und bleibt wohl einen Tick zu lange an seinem Schritt hängen. Dass er nen ziemlich knackigen Hintern hat, konnte ich ja vorhin schon feststellen. Wie es wohl vornerum aussieht? Immerhin bin ich da momentan ziemlich verwöhnt.   Das solltest du bleiben lassen, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich glaube, wenn sie könnte, würde sie mir mit einem Bild von Bruno vor der Nase rumwedeln.   Nur mal gucken, nuschelt eine andere und will ja gar nicht wirklich was mit dem Kerl anfangen. Nur ein paar Streicheleinheiten fürs Ego abholen. Das wird ja noch erlaubt sein.   Ach was! Scheiß drauf und schnapp ihn dir, grölt eine dritte. Immerhin sind die Gelegenheiten nicht gerade üppig gesät und man muss nehmen, was man kriegen kann. „Tja, kommt darauf an, wonach dir der Sinn steht“, meint der schnucklige Don Juan und grinst eindeutig zweideutig. Mir ist klar, dass wir beide uns gesucht und gefunden haben. Andernfalls hätte er wohl nicht so auf mich reagiert. Ganz automatisch lecke ich mir über die Lippen. Ich weiß, wie das aussieht. Ich hab es vor dem Spiegel geübt. Bevor ich jedoch etwas bestellen oder auch nur sagen kann, werde ich von hinten unterbrochen.   „Oh Scheiße, jetzt schaut euch die zwei Schwucken an.“ „Ieh! Ist ja ekelhaft.“ „Verpisst euch, Homos!“   Ich fahre unwillkürlich zusammen und auch der Typ hinter der Bar bringt binnen Sekunden Abstand zwischen uns. Doch wo er nur ein paar besoffene Pöbler sieht, weiß ich, dass mich mehr erwartet. Viel mehr. Denn im Gegensatz zu ihm kenne ich die Stimmen, die da gerufen haben, leider viel zu gut. Mit einem mulmigen Gefühl, einem regelrechten Knoten im Bauch, drehe ich mich herum, um zu sehen, ob ich recht habe.   In weniger als zwei Meter Abstand, kann ich sie stehen sehen. Allen voran Jakob, von dem auch der erste blöde Spruch gekommen ist. Sein Frettchengesicht ist zu einer Maske unübersehbarer Abscheu verformt, aber auch der Rest der Truppe scheint nicht gerade begeistert zu sein. Doch so sehr ich mich ja auch darüber ärgern will, dass Gregor, Paul und die anderen ausgerechnet jetzt und hier aufgetaucht sind, kann ich doch nicht anders, als Bruno anzusehen. Bruno, der aufgrund der Masse an Leuten heute eigentlich gar nicht mal so hervorstechen sollte, es für mich aber trotzdem tut. Bruno, der mich ansieht, als hätte ihm gerade jemand seinen Sack mit einem rostigen Brotmesser abgeschnitten. Bruno, der jetzt die Miene zu einer wütenden Grimasse verzieht, als könne er mich allein damit schon aus den Latschen hauen. Was er auch tut, aber nicht im guten Sinne. Mir rutscht das Herz in die Hose und pocht dabei doch so laut, dass es beinahe die Hasseröther Spatzen, oder wer sich auch immer auf der Bühne gerade die Seele aus dem Leib singt, übertönt. Fuck! Absoluter Oberfuck!   Nur nichts anmerken lassen. Cool bleiben!   „Hey, hey, hey!“, rufe ich und ordne meine Gesichtszüge so weit, dass sie nicht mehr ertappt sondern vielmehr überrascht-gelangweilt aussehen.   „Sieht aus, als hätten die Jungs aus der Anstalt mal wieder Ausgang bekommen. Leider scheinen sie die Zwangsjacken und Maulkörbe vergessen zu haben. Tzz. Ich glaube, ich sollte da mal nen Beschwerdebrief schreiben. Das ist ja unverantwortlich.“   Lacher bleiben natürlich aus, denn die meisten um uns herum tun wohl lieber so, als würden sie nichts mitkriegen. Typisch. Wenn es darum geht, mal Eier in der Hose zu haben, sehen sie alle lieber weg. Wieder huschen meine Augen zu Bruno. Er sieht immer noch so aus, als würde er mir am liebsten eine reinhauen. Dabei hab ich doch gar nichts gemacht.   Ach, hast du nicht?, nörgelt die Stimme in meinem Kopf. Ich glaube, es ist die erste. Der Rest hat sich zusammen mit der fröhlich-erheiternden Wirkung meiner fünf Gläser Bowle irgendwohin verkrümelt, wo sie mehr Spaß haben können. Auch die Bedienung ist abgetaucht. Ich bin auf mich allein gestellt.   „Werd bloß nicht frech“, droht mir Jakob und hebt herausfordernd das Kinn. Auch Paul und Gregor gehen in Position. Das einzig Gute daran ist, dass sie Bruno so den Weg zu mir versperren. Wenn er an mich ranwill, muss er seine Freunde schon aus dem Weg boxen. Leider sieht er fast so aus, als wolle er genau das tun. Ich will mich schon nach einer Fluchtmöglichkeit umsehen, als ich plötzlich Hilfe erhalte von so ziemlich der letzten Person, von der ich es erwartet hätte. „Man Leute, jetzt chillt mal.“ Gustav, der neben Bruno in der letzten Reihe steht, macht ein genervtes Gesicht.   „Ich denk, wir sind hier, um zu feiern.“   So wirklich überzeugend klingt er ja nicht und auch seine Freunde reagieren so gar nicht. Also wird der Blondschopf energischer.   „Hallo? Jakob! Duuu~huuurst!“ Das scheint endlich zu wirken. Der Rädelsführer der kleinen Bande dreht sich um, nicht jedoch ohne mir einen gehässigen Blick zuzuwerfen. „Ja, du hast recht, geh’n wir woanders hin. Hier ist die Luft zu schwul.“   Mit diesen Worten dreht er sich um und will wohl hoheitsvoll von dannen reiten, aber ich lass ihn nicht. Irgendwo zwischen Mai- und Erdbeerbowle muss sich wohl doch noch ein bisschen Red Bull oder was auch immer versteckt haben, denn genau wie ebendieses Hornvieh schnaube ich jetzt und irgendetwas verleiht mir Flügel. „Ja, lauf nur“, rufe ich ihm hinterher und grinse breit. „Aber du kannst dich nicht verstecken. Wir sind überall.“   Klar ist das ein ganz blöder Spruch. Und noch klarer ist auch, dass genau der Richtige ihn in den falschen Hals kriegt. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, war bei dieser Drohung nicht Jakob der Vater des Gedanken. „Halt deine Fresse!“ Schneller, als ich es ihm zugetraut habe, steht Bruno auf einmal vor mir. Und er schubst mich, ebenfalls nicht gerade sanft, sodass ich rückwärts gegen die Theke fliege. Da der Platz noch nicht wieder besetzt ist, rettet mich kein weicher Körper vor irgendwelchen Blessuren und ich knalle volle Kanne mit dem Rücken gegen das Holz. „Aua!“, rufe ich. „Scheiße! Sag mal, tickst du noch ganz richtig?“   Die Leute um uns herum kommen jetzt wohl leider nicht mehr daran vorbei, uns einige Aufmerksamkeit zu schenken. Leider verteilen sie diese gleichmäßig, sodass ich auch was abkriege.   „Pass doch auf!“ „Herrgott nomol.“ „Saubagasch, dreckigsche.“ „Schleichts euch!“   Bruno beeindruckt das wenig und auch ich habe nicht vor, jetzt einfach klein beizugeben. Jetzt erst recht nicht. „Was?“, rufe ich und hebe doch glatt die Hände, um Bruno zurückzuschubsen. „Was willst du?“   Die Frage ist nicht fair und nicht schlau und sowieso sind wir ja hier nicht alleine. Aber ich will es wissen. Ich will jetzt endlich wissen, was los ist.   „Nimm deine Finger von mir.“ Bruno schlägt meine Hand weg, aber in meinem Kopf scheint irgendwas ausgehakt zu haben. Bevor ich mich zurückhalten kann, hab ich sie wieder oben und ihn vor die Brust gestoßen. Er ist so überrascht, dass er glatt einen Schritt nach hinten macht. Oh Scheiße!, kann ich gerade noch denken, bevor er ausholt und seine Faust direkt auf mein Gesicht zurast. „Bruno!“   Ich kann nicht reagieren, kann mich nicht bewegen. Ich kann nur zusehen, wie wieder ausgerechnet Gustav Bruno in den Arm fällt und so verhindert, dass er mir eine reinhaut. „Man, lass es. Der ist es nicht wert.“   Gustav hält seinen Freund fest, zieht an ihm. Redet beruhigend auf ihn ein. Ich jedoch kann Bruno nur anstarren. Kein Wort kommt über meine Lippen, während es in meinem Kopf widerhallt.   Er ist es nicht wert.   Tatenlos muss ich zusehen, wie Bruno weggezogen wird. Wie er den Blick abwendet, den Kopf senkt. An seiner Seite Gustav, der nicht einmal zu mir zurückblickt, sondern Bruno nur immer weiter von mir weg durch die Menge lotst. Der Rest der Truppe ist längst verschwunden. Wahrscheinlich haben sie nicht mal mitgekriegt, was passiert ist. Es war vollkommen umsonst. „Willst du noch was bestellen?“   Der Typ ist wieder da, jetzt, wo die Luft rein ist. Oder vielleicht ist es auch seine Kollegin, die mich fragt. Ich schaue mich nicht um. Stattdessen setze ich mich in Bewegung. Wie betäubt drängele ich mich durch die Menge. Ich werde geschubst, angerempelt, achte nicht darauf, wo ich hintrete. In meinem Kopf summt weiterhin dieser eine böse Satz. Wütend, wie eine Biene. Eine Hornisse. Ein Wespennest. Wie in Trance stolpere ich weiter und komme schließlich am Tisch an, wo Pascal und Michelle sitzen. „Hey, du warst ja lange weg.“   Die beiden haben offenbar nichts von der Szene am Bierwagen mitbekommen. Wie auch? Sie waren bestimmt mit sich selbst beschäftigt. „Was ist los? Du guckst ja so.“   Ach, wie gucke ich denn? Als wäre gerade eine ganze Herde vollgefressene Elefanten über mich hinweg getrampelt? Wenn ja: Herzlichen Glückwunsch! Denn genau so fühle ich mich auch. Einfach nur platt und beschissen. „Ich will nach Hause.“   Meine Ankündigung hat einiges an Unruhe zur Folge. Nicht zuletzt bei Pascal, der Michelle augenblicklich loslässt und mich besorgt ansieht. „Was ist passiert?“, will er wissen, doch ich schüttele nur den Kopf. Ich kann das grad nicht erklären. Ich will nicht. Ich will einfach nur weg von hier, von diesen Menschenmassen, der lauten Musik und vor allem der Gefahr, Bruno noch einmal über den Weg zu laufen. Das würde ich nicht ertragen.   Warum zum Teufel hat er das gemacht? Warum?   Die Frage hämmert in meinem Kopf und mischt sich da oben mit Wut, Enttäuschung und Bowle. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß es nicht. „Komm, wir bringen dich heim.“   Die Hand an meiner Schulter ist weich und warm und definitiv schmaler als es Pascals wäre. Eigentlich will ich nicht, dass Michelle mich anfasst, aber ich lasse es trotzdem zu. Lasse geschehen, dass sie mich durch die Menge schiebt. Ebenso wie Gustav Bruno geschoben hat. Scheiße.   Während der Fahrt nach Hause sage ich gar nichts. Mir ist ein bisschen schlecht und ich bin bei jeder Kurve kurz davor, das Fenster runterzukurbeln, aber ich tue es nicht. Ich halte aus, bis wir vor unserem Haus halten und Pascal aussteigt, um mich rauszulassen. „Ist wirklich alles in Ordnung? Soll ich dich noch hochbringen?“   Ich weiß, dass er es gut meint. Dass er was tun will. Trotzdem schüttele ich wieder den Kopf. „Ist schon gut“, murmele ich. „Hab nur zu viel getrunken.“   Das Mondlicht und die Straßenlaternen zeigen mir, dass Pascal nicht überzeugt ist. Wenn ich raten müsste, würde ich denken, dass ich gerade ziemlich blass um die Nase bin. Vielleicht sollte ich ihm doch noch vor die Füße kotzen, damit er mir glaubt. Leider geht es mir dafür dann doch zu gut und auf Kommando reihern kann ich nicht. „Ich ruf dich morgen an.“   Mit dem Versprechen bin ich endlich aus dem Schneider. Pascal zieht mich noch in eine letzte Umarmung, bevor er mir auf den Rücken klopft und mich stehen lässt, um wieder zu seiner Freundin ins Auto zu steigen. Michelle lässt den Motor an, die Lichter flammen auf und ich winke und sehe ihnen nach, bis sie um die nächste Ecke verschwinden, Dann erst kriege ich es fertig, mich von dem Anblick der leeren Straße loszureißen und mich dem Haus zuzuwenden. Ohne irgendwas zu fühlen, schließe ich die Tür auf, gehe hinein und lasse sie wieder ins Schloss fallen. Es rumst ein bisschen, danach ist es still. Viel zu still und dunkel. Aber ich mache kein Licht. Stattdessen mache ich mich daran, die ersten Stufen zu erklimmen, bis mir auch dafür die Kraft ausgeht. Mutlos, kraftlos, willenlos lasse ich mich, so wie ich bin, auf die Stufen zwischen sinken, lehne meinen Kopf gegen das Geländer und schließe die Augen. Das ist doch alles scheiße, denke ich und versinke in einem leichten Dösen. Alles ist besser, als weiter nachzudenken. So dämmere ich vor mich hin, bis ein leises Piepsen mich aus dem Halbschlaf reißt. Ich nestele mein Handy hervor und entsperre den Bildschirm. Es ist eine Nachricht von Pascal.   'Ist wirklich alles in Ordnung?'   Ich schnaufe und denke nur, dass ja wohl offensichtlich war, dass es das nicht war. Was also soll ich darauf antworten? Bevor ich mir darüber jedoch weiter Gedanken machen kann, kommt noch eine Nachricht. 'Hast du deinen Typ mit nem anderen gesehen?'   Ich blinzele und will mich gerade fragen, wie Pascal nur auf so was kommt, als es mich plötzlich heißkalt überkommt. Scheiße. Was, wenn Bruno genau das gedacht hat. Wenn er gesehen hat, wie ich mit der Bedienung … oh fuck!   'Nein', schreibe ich schnell und überlege, ob ich noch 'Aber er mich' hinzusetzen soll, aber dann beschließe ich, dass das jetzt zu viel Info wäre. Ich muss das mit Bruno klären.   'Ich ruf dich morgen an' schreibe ich deswegen nur noch einmal und schließe den Messenger. Vielleicht glaubt Pascal dann, dass ich ins Bett gegangen bin. Dabei ist an Schlaf jetzt definitiv nicht mehr zu denken.   Ob Bruno wirklich was gesehen hat? Immerhin hat Jakob ja so was angedeutet. Aber da war doch nichts. Also fast nichts. Aber vielleicht …   Und was, wenn er gar nicht eifersüchtig war. Wenn er einfach nur ein feiges Arschloch ist, dass es sich anders überlegt hat?   Der Gedanke ist irgendwie gar nicht gut und lässt den Stein in meinem Magen zurückkehren. Klar, die Situation war nicht ideal und er hätte mir ja auch nicht gleich seinen Freunden um den Hals fallen müssen, aber das, was er abgezogen hat, war ja nun auch übertrieben. Reichlich übertrieben. Ich versteh das einfach nicht. Was ist nur mit ihm los?   Wie um mich selbst abzulenken, nehme ich erneut mein Handy zur Hand und öffne den Messenger. Der Chat mit Bruno ist schnell gefunden, auch wenn das Bild immer noch anonym ist. Ich tippe darauf und lese zum 375. Mal die wenigen Nachrichten. Eine wirkliche Konversation ist das nicht. So gar nicht. Vielleicht heißt das ja, dass er wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben will. Aber warum auf einmal? Es war doch alles gut.   Wenigstens zwischen uns, denke ich und könnte mich im nächsten Moment ohrfeigen, weil mir klar wird, dass ich genau das wohl gerade zunichte gemacht habe. Bruno muss sich echt verarscht vorgekommen sein nach all der Scheiße, die er meinetwegen schon am Hals hat.   Na ja, nicht nur meinetwegen, denke ich trotzig und starre weiterhin auf die Nachrichten, als sich plötzlich oben am Bildschirmrand was bewegt. Die Statusanzeige neben Brunos Namen hat sich geändert. Er ist online. Wah!   BS schreibt …   Meine Hände beginnen zu zittern. Okay, das bedeutet wohl, dass ich gleich eine Erklärung kriege. Vielleicht sogar eine Entschuldigung. Ja, ich finde, ich habe eine Entschuldigung verdient. Immerhin ist er derjenige, der hier einen auf Schweigen im Walde macht.   BS schreibt …   Ja nun, das hatten wir ja schon. Die Frage ist, was er schreibt. Und warum er es nicht abschickt. Wird das ein Roman? Eine Liebeserklärung? Eine Absage?   Mit wachsender Ungeduld beobachte ich die drei kleinen Pünktchen, die auftauchen und verschwinden, auftauchen und verschwinden. Maaan, wie lange braucht denn der? Ist ja nicht auszuhalten.   Irgendwann beschließe ich, dass ich genug von der Scheiße habe. Ohne lange zu überlegen, tippe ich auf meine Chatzeile und beginne zu schreiben.   'Wird das heute noch was?'   Schnell schicke ich die Nachricht ab, bevor ich es mir noch anders überlege. Sofort stoppen die drei Pünktchen am Bildschirmrand. Man kann förmlich fühlen, wie Bruno ertappt innehält und ihm fast die Augen rausfallen, als er meine Nachricht sieht. Vielleicht ist ihm ja sogar das Handy runtergefallen. Jedenfalls dauert es etwas, bis wieder Bewegung in die Statusanzeige kommt.   BS schreibt …   'Du bist online?'   Ich verdrehe die Augen. Nee, bin ich nicht. Das ist ne Geisternachricht.   'Hab ich nicht gesehen.' Scherzkeks. Mit einem Kopfschütteln tippe ich eine Antwort und drücke auf Senden.   'Das sieht man auch nur, wenn man die Nummer gespeichert hat.' Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Spitze musste jetzt einfach sein. Am anderen Ende herrscht Schweigen.   'Hab sie jetzt gespeichert.'   Mhm, okay, das sollte mir jetzt wohl irgendwas sagen. Immerhin, wenn er sie speichert, heißt das ja wohl, dass er weiter was mit mir zu tun haben will, oder nicht? Oder will er nur sichergehen, dass ich ihn nicht wieder kalt erwische. Mhmpf.   'Was war heute Abend los?'   Ich starre auf den Text, den ich gerade geschrieben habe, bevor ich ihn wieder lösche und durch einen neuen Satz ersetze. Ja, schon besser.   'Was sollte die Scheiße vorhin?'   Mhm, jetzt, da ich es abgeschickt habe, ist das vielleicht doch ein wenig zu unfreundlich? Aber zu spät, er hat es schon gelesen. Also egal jetzt. Mal sehen, was er antwortet.   BS schreibt …   Ungeduldig trommele ich mit den Fingern auf meinem Oberschenkel herum. Entweder hat Bruno echt Schwierigkeiten, seine Gedanken ins Schriftliche zu übertragen, oder er arbeitet an einer neuen Version von 'Krieg und Frieden'. Irgendwas davon muss es wohl sein, denn es dauert ewig, bis seine nächste Nachricht auftaucht.   'Es tut mir leid.' Was? Dafür hat er jetzt so lange gebraucht? Für ein lumpiges 'Es tut mir leid'. Sein fucking Ernst? Wütend hebe ich mein Handy und will anfangen zu tippen, aber dann halte ich inne. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Vielleicht, dass es mir auch leidtut? Immerhin war ich ja vielleicht doch auch ein winzig kleines bisschen mit Schuld an der Situation. Andererseits hab ich ihm keine reinhauen wollen. Das kam erst hinterher.   BS schreibt …   Grr, ich schwöre, dieser Satz weckt inzwischen bei mir echt Aggressionen. Vor allem, weil er schon wieder gefühlte hundert Stunden lang aufleuchtet, verschwindet, aufleuchtet, verschwindet. Man, sag doch einfach, was du zu sagen hast.   'Ich hatte nicht damit gerechnet, dich zu treffen.'   Tja, äh ja. Das ist jetzt irgendwie … enttäuschend. Also mit Sicherheit hatte er nicht damit gerechnet, so weit war mir die Sache auch klar. Aber das erklärt doch nicht den ganzen Mist drumherum.   Ich seufze und fahre mir mit der Hand über das Gesicht. Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Andererseits habe ich ein bisschen Schiss, dass er dann gleich wieder auflegt. Oder mich wegdrückt. Ich weiß ja nicht mal, wo er ist.   'Wo bist du?'   Wahrscheinlich ist es geschickter, wenn ich ihm einfache Fragen stelle. Damit kommt er besser zurecht. Außerdem will ich wirklich wissen, wo er ist.   'Unterwegs.'   Oh, prima. Jetzt sind wir also wieder zurück bei den Ein-Wort-Antworten. Na gut, neuer Versuch.   'Ist Gustav bei dir?'   Mhm, nein, nicht gut. Löschen. Neuer Versuch.   'Wohin?'   Nur ein Wort schreiben? Kann ich auch.   Dieses Mal dauert es länger, bis Bruno wieder anfängt zu schreiben. Dafür erscheint die Antwort prompt auf meinem Bildschirm.   'Nach Hause.'   WAS? Okay, halt Stopp. Was soll das denn jetzt werden? Ist der allen Ernstes auf den Weg zu seinen Eltern? But why?   'Zu deinen Eltern?'   Besser, ich gehe auf Nummer sicher.   'Ja.'   Okay, er ist bescheuert. Absolut. Es sei denn …   'Hat dein Vater dich nicht rausgeschmissen?'   Nachfragen kann man ja mal. Wer weiß, vielleicht habe ich seinen Aufenthalt bei Gustav ja auch völlig falsch interpretiert. Bruno schreibt.   'Doch hat er.'   Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, doch bevor ich noch dazu komme, weiter nachzuhaken, kommt noch eine Nachricht.   'Aber ich kann das nicht.'   'Was? Was kannst du nicht', will ich schreiben, aber ich komme nicht mehr dazu. Brunos Statusanzeige verändert sich und wechselt auf 'zuletzt online heute 23:53'. Scheiße, so spät ist es schon? Und was soll das überhaupt heißen?   Schnell tippe ich noch eine entsprechende Nachricht und schicke sie ab. Und dann noch eine. Und noch eine. Ich will unbedingt eine Antwort.   Mit wachsender Unruhe belauere ich das Display. Meine Augen switchen zwischen der Statusanzeige und den grauen Häkchen neben meinen Nachrichten hin und her. Doch bei beiden tut sich nichts. Im Gegenteil. Die Häkchen weigern sich nicht nur ihre Farbe zu ändern, die bleiben auch noch Single. Das heißt, die Nachricht wurde zwar abgeschickt aber nicht empfangen. Was ist da los? Was soll das?   Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich muss jetzt wissen, was da zu bedeuten hat. Ohne lange zu überlegen, drücke ich auf den kleinen grünen Hörer und wähle Brunos Nummer.   „Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar, wird aber per SMS über Ihren Anruf informiert.“   Aufgelegt. Wütend starre ich das Display an, aus dem mir gerade noch eine unpersönliche Frauenstimme die noch viel unpersönlichere Bandansage ins Ohr gesäuselt hat. Fuck! Entweder heißt das, er ist tatsächlich offline gegangen und hat das Handy ausgeschaltet oder aber er steckt in einem Funkloch. Beides wäre möglich, aber ein leises Stimmchen raunt mir zu, dass es vermutlich eher das Erste ist. Er hat mich ausgesperrt. Er will nicht mit mir reden. Und ich habe keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.   Scheiße!   Was anderes fällt mir dazu gerade wirklich nicht ein. Was soll ich denn jetzt machen? Abwarten, dass er sich meldet?   Und schlafen gehen, raunt mir eine Stimme zu. Ihr ist nämlich aufgefallen, dass die Treppe alles andere als bequem ist und mir in dem kurzärmligen Hemd, für das ich mich heute entschieden habe, langsam kalt wird. Dunkelbrauner, fester Stoff mit gelben Blättern und Blüten. Venusfliegenfallen. Wie passend.   Ich bin ihm voll auf den Leim gegangen.   Ich weiß nicht genau, wen ich damit meine. Ob Bruno oder mich oder den Unbekannten auf dem Stadtfest. Alles, was ich weiß, ist, dass von dem, was so gut begonnen hat, irgendwie nur noch halb verdaute Insektenteile übrig sind. Ein schmieriger Fleck irgendwo auf dem Asphalt. Ein Fliegenschiss.   Oh, wie dramatisch, höhne ich und möchte mir schon wieder selbst eine zimmern. Ich meine, was hab ich denn erwartet? Dass Bruno sich outet, bei seinen Eltern auszieht und alles ist Friede, Freude, Regenbogen? Einhornstaub und Zuckerwatte. Pastell und Flanell. Gay pride in Hintertupfingen. Mein Ernst?   Ich sollte echt schlafen gehen.   Im Bett komme ich ja mit Chance wenigstens irgendwann zur Ruhe und höre auf, mir über diesen Klotzkopf Gedanken zu machen. Vielleicht finde ich ja vorher noch ne halbe Flasche Wodka, die ich mir in den Kopf schrauben kann. Hilfreich wäre es.   Missmutig und vielleicht ein bisschen lauter als notwendig erhebe ich mich und beginne, die Treppenstufen hochzustapfen. Eine nach der anderen. Nur nicht runtergucken. Immer schön nach oben schauen. Und atmen. Niemals aufhören zu atmen. Die Wohnungstür stellt sich als Nächstes quer, aber ich ruckele solange, bis sie sich endlich ergibt und mich hineinlässt. Drinnen pfeffere ich meine Schuhe in die Ecke und will gerade in die Küche gehen, als ich sehe, dass dort noch Licht brennt. Ich runzele die Stirn und mache mich, leiser als ich eigentlich vorgehabt hatte, auf den Weg. Als ich die Tür öffne, sehe ich meine Mutter am Küchentisch sitzen. Neben ihr liegt das Telefon und eine Packung Taschentücher. Ein weiteres, bereits benutzt, hat sie zusammengeknüllt zwischen ihren Händen. In der Luft liegt der Duft von Kräutertee. Eine halbvolle Tasse steht auf dem Tisch, daneben ein kleiner Teller mit einem zermatschten Teebeutel.   Immerhin kein Wein, denke ich und verschiebe meine Besäufnispläne. Das hier ist wichtiger. „Hey, Mum“, mache ich vorsichtig. Sie hat mich offenbar noch nicht bemerkt, denn als ich sie jetzt anspreche, hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind traurig. Sofort ist mir klar, dass etwas passiert sein muss.   „Herr Häberle ist tot“, sagte sie und ich kann absolut gar nichts darauf erwidern. Verdammte Scheiße! Kapitel 18: Blut ist dicker als Wasser -------------------------------------- Die nächsten Tage ziehen sich und gehen trotzdem größtenteils spurlos an mir vorbei. Ich quäle mich morgens aus dem Bett, gammle durch den Tag, ignoriere die Tatsache, dass ich eigentlich lernen müsste, stopfe Blödsinn in mich rein und verbringe zu viel Zeit vor irgendwelchen Bildschirmen. Dazwischen telefoniere oder chatte ich mit Pascal oder manchmal sogar mit Michelle, deren Nummer ich neuerdings mein Eigen nenne. Die beiden bemühen sich redlich, mir das Gefühl zu geben dazuzugehören. Wir haben sogar eine gemeinsame Chatgruppe für die Partyplanung eröffnet, obwohl da nicht wirklich viel abgeht, außer das Michelle mir versprochen hat, absolut göttliche Brownies zu backen. Ich lache, gebe Kommentare zu den verschiedenen Vorschlägen ab und lasse mir nicht anmerken, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Sogar die Sache vom letzten Samstag ist inzwischen abgehakt, nachdem ich habe verlauten lassen, dass ich einfach auf ein paar dumme Arschlöcher gestoßen bin, die mir die Laune verhagelt haben. Ich habe nicht gesagt, wer es war. Das bleibt mein Geheimnis. Alles in allem läuft es also bei mir. Mein Leben ist normal, die Sache mit Bruno so gut wie abgehakt. Alles ist so, wie es noch vor ein paar Wochen war, nur dass ich morgens nicht mehr zu Schule muss und auch sonst viel mehr Freizeit habe. Man sollte also denken, dass ich rundum zufrieden bin. Leider bin ich es nicht und das nervt.   Komischerweise scheint es meiner Mutter jedoch ähnlich zu gehen. Dabei geht die doch arbeiten, hat einen regelmäßigen Tagesablauf und so was alles. Also irgendwas stimmt da nicht. Des Rätsels Lösung scheint in greifbare Nähe zu rücken, als sie am Abendbrotstich einen Brief öffnet. Er hat ein kleines Bild von einer Kirche darauf und ich wollte ihn eigentlich schon in den Papiermüll schmeißen, war dann aber doch zu faul dafür. „Was ist das?“, frage ich und pike an meinem Rührei herum. Aus irgendeinem Grund steht die Ketchupflasche auf dem Tisch, obwohl ich mich nicht erinnern kann, sie da hingestellt zu haben. Eigenartig. „Das ist von der Gemeinde. Herr Häberle wird übernächste Woche beigesetzt.“   Ich nicke und kaue und schlucke, als ginge mich das nichts an. Dabei muss ich an die Packung Kekse denken, die immer noch in meinem Zimmer steht. Nachdem Herr Häberle gestorben ist, kam es mir irgendwie falsch vor, sie aufzuessen. Die Kekse eines Toten. Obwohl meine Mutter gemeint hat, dass das schon okay sei. Der alte Mann hätte da wohl mehr nach dem Motto „Lieber den Magen verrenken, als dem Wirt was schenken“ gelebt. Insofern sei es in Ordnung, dass ich sie nicht verderben lasse. Aber ich kann trotzdem nicht. Dumm!   „Ich werde wohl hingehen.“ Meine Mutter sagt das so beiläufig, als wäre nichts das nichts Besonderes, dabei bin ich mir sicher, dass es das doch ist. Sie war immerhin nur seine Anwältin.   „Warum?“, frage ich und komme mir wie ein Heuchler vor. Als wenn ich nicht ebenso viele Dinge in petto hätte, wo sich ein normal denkender Mensch fragen würde, warum ich das gemacht habe. Aber schließlich bin ich noch ein Teenager und darf das. „Na ja, er hat wohl sonst keine Verwandten. Und keine Freunde. Ich finde die Vorstellung traurig, dass niemand außer dem Pfarrer und dem Bestatter zu seiner Beerdigung kommen.“   Das ist wohl wahr. So was würde ich niemandem wünschen. Obwohl ich mir relativ sicher bin, dass einem das zu dem Zeitpunkt schon reichlich egal ist. An der Sache mit dem Himmelreich ist doch bestimmt eh nichts dran.   „Möchtest du auch mitkommen?“   Ich hebe den Kopf, um zu sehen, ob meine Mutter das ernst meint, aber sie lächelt einfach nur. „Du musst natürlich nicht. Es war nur so ein Gedanke.“   Nur so ein Gedanke. Ja, da ist was dran. Das Gefühl hatte ich in den letzten Tagen ständig.   „Mal sehen“, gebe ich indifferent von mir und weiß nicht, ob ich das wirklich will. Beerdigungen sind mit Sicherheit endlos öde und schließlich kannte ich den Mann ja nicht mal. Ich bin ihm einmal begegnet. Obwohl es trotzdem komisch ist, dass er weg ist.   Als würde etwas fehlen. Der Satz hallt in meinem Kopf wieder und ich weiß, in welche Richtung er sich bewegt. Die, in der die Erinnerungen an Bruno lauern. Dabei habe ich mich doch echt bemüht, einen Haken an die Sache zu machen. Weil es einfach nicht hinhaut. Weil wir zu unterschiedlich sind. Weil er nicht will.   Nein, nicht 'nicht will'. Nicht kann. Das ist jedenfalls das, was er gesagt hat. Oder besser geschrieben. Und irgendwie ist es wohl das, was mich nicht loslässt. Weil, wenn er nicht wollte, fein! Ich will ja hier niemanden zwingen und es gibt noch jede Menge andere schöne Männer da draußen. Aber dieses 'ich kann nicht' ist wie ein Mückenstich, der geradezu danach bettelt, ihn zu kratzen. Dabei habe ich es wirklich versucht. Ich hab mir gesagt, dass es vermutlich heißt, dass er lieber noch ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte in seinem Schrank bleiben möchte. Und eigentlich hätte es nicht der vielen, vielen Internetposts bedurft, um mir klarzumachen, dass ich mich deswegen von ihm fernhalten sollte. Weil das einfach nicht mein Ding ist. Nicht meine Welt. Weil ich was Besseres verdient habe als das. Oder wenigstens was Anderes. Aber irgendwie …   „Ich denke, es wäre ein schöner Abschluss.“   Meine Mutter quatscht wieder dazwischen und holt mich aus meiner Gedankenwelt zurück an den Küchentisch. Wovon redet sie noch gleich? Ach ja. Herrn Häberles Beerdigung. Und auch, wenn ich wirklich, wirklich keinen Bock habe, da hinzugehen, hat sie mit einer Sache vielleicht nicht ganz unrecht. Es wäre ein Abschluss. Ein richtiger so mit Verabschieden und wissen, dass es danach vorbei ist. Endgültig. Vielleicht ist es das, was mir fehlt.   Ich muss nochmal mit Bruno reden, beschließe ich und weiß auch schon, wie ich das anstellen werde. Ganz wohl ist mir bei dem Gedanken nicht, aber immerhin heißt es doch, dass es immer erst mal schlimmer werden muss, bevor es besser werden kann. Ich werde also wohl in den sauren Apfel beißen müssen und mich noch einmal in die Höhle des Löwen begeben. Wird schon schiefgehen.       Das gute am Ort-dessen-Name-nicht-genannt-wird, ist ja, dass nichts wegkommt. In großen Städten findet man unweigerlich irgendwo leerstehende Häuser, Gebäude, die eigentlich abgerissen oder saniert werden müssen, aber sich keiner drum kümmert. In Hintertupfingen passiert so etwas nicht. Möglich, dass es an der sprichwörtlichen Sparsamkeit der Schwaben liegt, aber sei es, wie es sei, für mich heißt dass, dass ich am Freitagnachmittag nicht lange suchen muss, wenn es darum geht, Bruno zu finden. Zumindest hoffe ich, dass er sich in dem schon leicht angeranzten Schuppen befindet, der früher mal eine Kegelbahn war. Nachdem der Besitzer das Zeitliche gesegnet hatte, hat sich der Sportverein die Räume gekrallt und in eine Art Fitnessstudio verwandelt. Natürlich nur für Vereinsmitglieder, wobei da das „mit Glied“ wohl wörtlich genommen wird. Anders kann ich mir die Wolke an angestautem Testosteron nicht erklären, die mir entgegenweht, sobald ich die Tür geöffnet habe. Eventuell ist es aber auch nur eine Mischung aus Schweiß, alten Turnmatten und Talkumpuder. Der typische Turnhallengeruch, der meinen Adrenalinspiegel gleich ein bisschen nach oben treibt. Ich war zwar nie das dicke Kind mit der Brille, das niemand in der Mannschaft haben wollte, aber durch besondere sportliche Leistungen habe ich mich halt auch nicht hervorgetan. Warum auch, das interessiert doch eh niemanden. Und jetzt stehe ich hier inmitten eines wahren Dschungels aus Eisenstangen, Lederpolstern und Stahlgewichten und fürchte mich ein bisschen. Eine moderne Folterkammer, dazu gedacht, den männlichen Körper zu stählen, zu trainieren und zu formen. Eigentlich gar nicht mal so ein schlechtes Prinzip, wenn mir nicht sofort und unmissverständlich klargemacht würde, dass ich nicht hierher gehöre. „Hey, du! Hier ist nur für Mitglieder.“ Der Typ, der mir entgegenstiefelt, trägt eine Art tief ausgeschnittenen Badeanzug mit angesetztem Höschen in einem derart grellen Gelbton, dass ich ihn gerne fragen würde, ob er den aus den 90ern hat. Einzig die Tatsache, dass das vermutlich der Wahrheit entspricht, hält mich davon ab. Auch dass Kniestrümpfe zu Shorts anscheinend neuerdings salonfähig sind und man das offenbar am besten mit einem breiten Ledergürtel der Marke „hierfür musste ein halber Ochse sterben“ trägt, will mir nicht so recht in den Kopf. Am schlimmsten ist jedoch der Gesichtsausdruck, der mich an eine wütende Bulldogge erinnert und vermutlich sofort verscheucht hätte, wenn ich nicht a man with a plan wäre. So gelingt es mir nämlich tatsächlich, ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen.   „Das ist super“, verkünde ich und gebe mich eifrig. „Ich bin nämlich wegen eines Probetrainings hier. Muss ich mich da bei Ihnen melden?“   Die Bulldogge wird unmerklich langsamer und mustert mich von den blond gefärbten Haarspitzen bis runter zu den hochmodernen, weißen Sneakern. Vermutlich ist ihr sofort klar, dass ich hier allenfalls als Hühnerfutter herhalten kann, aber eigentlich will ich ja auch gar keinen Sport machen. Ich will nur mit Bruno sprechen. „Ein Freund von mir trainiert hier, daher wollte ich es auch mal probieren. Sie kennen doch sicher Bruno Spaich?“ Die fleischige Visage der Bulldogge zuckt bei der Erwähnung von Brunos Namen und es kommt mir so vor, als würde sie ein kleines bisschen freundlicher dreinschauen. „Natürlich kenne ich den. Er ist gerade hier.“   Er dreht sich um.   „Bruno? Komm mal rüber. Hier will dich einer sprechen.“   Ich lächele immer noch und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Herzschlag sich mindestens verdoppelt, als ich die wohlbekannte Gestalt aus dem Hintergrund auf uns zukommen sehe. Noch kann Bruno mich hinter der massigen Silhouette der Bulldogge nicht ausmachen, aber dann …   Bruno bleibt auf der Stelle wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiten sich, als er mich sieht, und ich bilde mir ein, dass er ein bisschen blass um die Nasenspitze wird. Auch er trägt so einen merkwürdigen, hautengen Anzug, wobei seiner in schwarz und rot gehalten ist. Macht das Ding nicht unbedingt kleidsamer, aber wenigstens weniger Augenkrebs erregend. An seinen Händen klebt weißer Staub.   „Hallo Bruno!“, rufe ich und winke auch noch, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen. „Ich hab gedacht, ich schau mal vorbei. Du hast ja gesagt, dass du heute trainierst.“ Während ich das sage, sehe ich Bruno an und es scheint, als wäre er kurz davor, Reißaus zu nehmen. Er sieht vollkommen geschockt aus und für einen Moment überlege ich, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Aber was hätte ich denn machen sollen? Meine Nachrichten hat er ja nicht beantwortet.   'Was kannst du nicht?' 'Was soll das heißen?' 'Antworte mir!'   Deswegen stehe ich jetzt hier. Obwohl ich weiß, dass ich es nach dieser Schlappe einfach hätte gut sein lassen sollen und ihn in Frieden. Allein der Versuch, nochmal irgendwas mit ihm zu klären, ist der reinste Selbstbetrug. Aber irgendein sehr, sehr dummer Teil von mir scheint das nicht einsehen zu wollen. Nicht, bevor er es nicht von Bruno selbst gehört hat.   Bruno schluckt. Ich sehe förmlich, wie er sich zusammenreißt. Haltung bewahren. Sich nur keine Blöße geben. Keine Schwäche zeigen. Nicht hier und nicht vor ihnen. „Hallo Fabian“, gibt er zurück und seine tiefe Stimme sorgt dafür, dass ich instant Gänsehaut bekomme. Scheiße, ich hab ihn echt vermisst. Obwohl das Schwachsinn ist, immerhin will er mich nicht. Und trotzdem bin ich hier.   Idiot!   Der Trainer, oder was auch immer der Bulldoggen-Typ darstellen soll, knurrt. „Ich glaub ja nicht, dass dein Freund hier richtig ist. Das halbe Hemd bricht doch schon unter der Stange zusammen. Mal ganz zu schweigen von irgendwelchen Gewichten.“   Tja, also wenn ich ehrlich bin, könnte er damit nicht so ganz unrecht haben. Wobei … so ein bisschen was würde ich bestimmt schon schaffen. Nur halt unter Garantie nicht so ein Paket wie das, das jetzt im Hintergrund einer der anderen in die Höhe reißt. Das müssen mindestens 200 Kilo sein. Dabei keucht und schnauft er, als würde er gleich umfallen. Daneben ein anfeuernder Mob.   „Atmen!“ „Ja, du hast es.“ „Jetzt ganz ruhig.“ „Hoch! Hoch!“   Ein letztes Brüllen und die Stange mit den dicken Eisenscheiben hebt sich in die Höhe, bevor der Koloss sie nach einem kurzen Halten wieder auf die Matte schmeißt. Die anderen um ihn herum jubeln wie eine Horde wild gewordene Orang-Utans und ich weiß grad nicht, ob ich das jetzt nur dämlich oder gleich abstoßen finden soll. Was finden die nur da dran? Die Dogge in gelb grunzt.   „Wir können es ja mal probieren. Hast du Sportsachen mit?“   Lächelnd hebe ich meine Tasche. Wie schon gesagt: Ich bin vorbereitet. Der Trainer nickt zufrieden. „Na gut. Bruno, zeig ihm die Umkleiden.“   Damit stapft das Bulldoggen-Gesicht von dannen und lässt mich und Bruno allein zurück. Der wiederum sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Missmutig knurrt er mich an.   „Komm mit.“   Mit diesen Worten dreht Bruno sich um und stapft – anders kann man die Gangart mit diesen albernen Halbstrümpfen, die auch seine Beine bis über die Waden zieren, einfach nicht nennen – in Richtung zweier Türen davon. Daneben ein Glaskasten, indem früher vermutlich mal die Elektronik der Kegelbahn saß. Wenn es so was denn hier überhaupt schon gab. Der Zustand der Umkleide lässt jedenfalls nicht darauf schließen. Man, das ist ja noch elender als bei uns in der Schule und das will schon was heißen.   Kaum, dass sich die altersschwache Presspappentür selbsttätig hinter mir geschlossen hat, bleibe ich stehen. Bruno, der noch ein Stück weiter in den braun gefliesten Raum mit den metallenen Schließfächern und den überaus hart aussehenden Holzbänken hineingelaufen ist, wird ebenfalls langsamer. Wenn er sich beeilt hätte, hätte er sich vermutlich in die Waschräume abseilen können, die ich hinter einer halb geöffneten Tür erkennen kann. Die andere Tür im gleichen abstoßenden Kackbraun beherbergt vermutlich Pissoirs und Kabinen für schwerere Fälle. Wieder einmal stehen Bruno und ich uns also zwischen Kacheln und Klostein gegenüber. Nur, dass er dieses Mal nicht mal mehr den Versuch macht, mich anzusehen. „Was willst du?“, fragt er und wirkt dabei nicht so wütend, wie ich befürchtet hatte. Eher resigniert. Oder müde.   Vielleicht war es doch keine gute Idee herzukommen. Vielleicht sollte ich einfach gehen.   „Du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet“, sage ich, und bemühe mich, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. „Da hab ich mir Sorgen gemacht.“   Das ist nicht wirklich gelogen, aber vielleicht ein bisschen vorgeschoben. Die meiste Zeit war ich einfach nur sauer und enttäuscht.   Bruno antwortet wieder nicht. Er steht nur da mit gesenktem Kopf und wirkt, als würde er darauf warten, dass ihm irgendjemand den Gnadenstoß versetzt. Vorzugsweise ich. Aber das habe ich nicht vor. So leicht kommt er mir nicht davon. „Warum hast du dich nicht gemeldet?“   Brunos großer Brustkorb hebt und senkt sich und ich gebe zu, dass er mir jetzt gerade fast ein bisschen leidtut. Aber ich tue mir auch leid, verdammt. Ich hab diese Scheiße nicht verdient. Und er auch nicht. Trotzdem schweigt er und schweigt und schweigt und macht mich einfach rasend damit. Ich will jetzt endlich eine Erklärung.   „Warum …“ „Weil ich nicht konnte!“ Wie eine Faustschlag schleudert er mir seine Antwort entgegen. Sein Kopf ruckt herum und ich sehe die Wut darin aufsteigen. Aber auch Verzweiflung. Es schnürt mir die Kehle zu. „Ich konnte nicht“, wiederholt er noch einmal, bevor er den Blick wieder abwendet, die Hände zu Fäusten geballt, als würde er am liebsten auf etwas einschlagen. Doch was immer ihn quält, lässt sich so offenbar nicht beseitigen. „Warum nicht?“   Ja, ich weiß, die Frage ist kompliziert. Aber meine Güte, das Leben ist kompliziert. Fucking deal with it.   Bruno schweigt wieder und ich fühle förmlich, wie uns die Zeit davonrennt. Ewig werden sie uns hier nicht allein lassen. Wenn er also nicht bald mit der Sprache rausrückt …   „Ich hab mich geschämt.“ Der Satz, so leise er auch ist, hallt wie ein Glockenschlag zwischen den Wänden wider.   Geschämt? Warum? „Weil ich’s verbockt habe.“ Die Antwort, auf die Frage, die ich nicht wirklich gestellt, aber wohl ausgestrahlt habe, verwirrt mich. Was genau meint er jetzt? Das mit Samstagabend ist klar. Aber irgendetwas sagt mir, dass das noch nicht alles ist. Wovon also spricht er? „Was ist passiert?“   Bruno presst die Lippen aufeinander. Einerseits sieht er immer noch wütend aus, andererseits wirkt es, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Mir ist, als griffen verdammt große Fäuste nach meinem Herz.   „Ich hab es nicht hingekriegt“, flüstert er, jetzt wieder so leise, dass ich es kaum verstehe. „An dem Tag, als ich von dir kam, da wollte ich es ihr wirklich sagen. Ich hab gedacht, dass sie es verstehen würde. Dass sie sagen würde, dass es okay ist. Dass es keinen Unterschied macht. Aber als ich dann in der Küche stand, vor ihr ein Berg geschälter Kartoffeln und sie mich so angesehen hat, da … da hab ich mich nicht getraut. Ich hatte plötzlich Angst, dass sie sagt, dass mein Vater ganz recht hätte, mich rauszuschmeißen und dass sie nie wieder was mit mir zu tun haben will. Dabei wollte ich es ihr ja sagen. Ich musste doch, weil …“   Brunos Stimme versinkt irgendwo im strategisch platzierten Abfluss, neben dem er steht, und ich bin jetzt immerhin so schlau, dass er offenbar sein Outing versiebt hat. Aber das alleine kann doch nicht das Problem gewesen sein. Oder etwa doch? Hat er etwa gedacht, dass ich deswegen Stress machen würde?   „Und dann?“, frage ich, weil mir diese Überlegung nicht gefällt und ich außerdem wissen will, wie es weitergegangen ist. Brunos Gesicht verzieht sich zu einer gequälten Grimasse. „Dann stand auf einmal mein Vater in der Tür. Meine Mutter und ich haben ihn beide nicht kommen hören. Ich weiß noch, wie sie zusammengezuckt ist, als hätte er uns bei etwas Verbotenem erwischt. Und ehrlich gesagt hab ich auch gedacht, dass er ausflippen würde. Aber das ist er nicht. Er hat sich einfach an den Tisch gesetzt und hat so getan, als wäre ich gar nicht da.“ Während Bruno das sagt, habe ich unwillkürlich ein Bild vor Augen. Sein Vater mit verschlossenem Gesicht an dem großen Küchentisch, die Mutter erschrocken am Herd, keinen Plan, was sie tun soll, und mittendrin Bruno, der auf das große Donnerwetter wartet, das nicht kommt. Nur eisiges Schweigen. Ich kenne das. Ich habe es mal miterlebt. Es war furchtbar.   „Und dann?“   Wirklich kreativ ist meine Frage nicht, aber etwas Bessere fällt mir gerade nicht ein. Bruno atmet hörbar aus. „Eine Weile lang hat niemand etwas gesagt. Dann hat mein Vater meine Mutter irgendwann gefragt, ob sie nicht endlich mal das Mittagessen machen wolle. Sie hat sich sofort entschuldigt und angefangen, Töpfe und Schüsseln herauszuholen. Er hat nur dagesessen und kein Wort gesagt. Bis sie mich gefragt hat, ob ich auch Reibekuchen zum Mittag möchte. Da hat er plötzlich geknurrt, dass für einen wie mich hier kein Platz mehr wäre. Meine Mutter hat mich daraufhin angesehen als wollte sie sagen: 'Entschuldige dich doch einfach. Es ist bestimmt alles deine Schuld. Nun bitte ihn schon um Verzeihung.' Da habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich bin aus der Küche raus, hoch in mein Zimmer, hab ein paar Sachen in meine Tasche gestopft und bin weg zu Gustav. Ich dachte, ich würde nie wieder zurückkommen.“   Nach diesem Redeanfall verfällt Bruno erst einmal wieder in vollkommenes Schweigen und ich weiß auch nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Außer, dass das ja wohl noch nicht das Ende der Geschichte war, denn wie wir beide wissen, ist er ja inzwischen wieder zurückgekrochen. Ob er sich wirklich entschuldigt hat? Seinen Vater angefleht? Ihm versprochen, es nie wieder zu tun? Bei dem Gedanken wird mir schlecht und gleichzeitig fühlt es sich an, als hätte jemand glühende Lava in meinen Bauch gegossen. Das darf doch nicht wahr sein. Das darf doch alles nicht wahr sein.   Plötzlich will ich nur noch weg. Mir doch egal, ob Bruno ein Arschloch als Vater hat und welche tollen Gründe es gab, sich dem Deppen wieder vor die Flinte zu schmeißen. Ich bin raus aus der Sache und zwar endgültig.   „Ich sollte gehen“, sage ich und will mich schon umdrehen und nach der Türklinke greifen, als Bruno einen Schritt auf mich zumacht. „Fabian.“   Meine Nackenhaare richten sich auf. Ich will nicht, dass er meinen Namen sagt. Und ich will auch nicht, dass ich auf einmal nicht mehr gehen will. „Ich wollte es dir erzählen. Ehrlich. Aber ich wusste nicht wie und dann bei Gustav …“   Gustav. Immer wieder Gustav. Ob Bruno ihm wohl erzählt hat, warum ihn sein Vater rausgeschmissen hat? Sicher nicht. Gustav! Ha! Ich lach mich tot.   Mit angehaltenem Atem und funkelnden Augen wirbele ich wieder zu Bruno herum. Er steht da, die Hand nach mir ausgestreckt und wollte mich wohl aufhalten, aber als er sieht, wie mörderisch mein Blick ist, lässt er den Arm wieder sinken. Ist vielleicht auch besser, sonst hätte ich ihm das Ding vielleicht abgerissen. Ich blecke die Zähne. „Ja?“, frage ich und klinge dabei eklig gehässig. „Was war denn bei Gustav? Hat er dir ein Tittenheft gezeigt und du hast dir gedacht, ach eigentlich ist das ja doch gar nicht so schlecht, ich werd mal wieder hetero?“   Ich weiß nicht, woher die Assoziation kommt. Eigentlich habe ich mir bei Gustav nie darüber Gedanken gemacht, auf was er wohl steht. Oder bei sonst jemandem. Die einzigen, die meinen, sich ständig ungefragt in anderer Leute Schlafzimmer einzumischen, sind nämlich die Heten.   Bruno weicht zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Chihuahua gegen Dobermann oder so ähnlich. Ein unfairer Kampf, aber jetzt gerade hab ganz klar ich die Hosen an.   „Nein, so war das nicht“, stammelt er und wird doch glatt rot. „Gustav hat gar nichts gesagt. Ich hab nur …“ „Du hast was?“, fauche ich ihn an. Ich klammere mich regelrecht an meine Wut, damit ich nicht anfange zu heulen. Das ist doch alles scheiße.   „Katie war da.“ Der Satz ist wie ein Stein, der in einen Weiher plumpst. Plötzlich ist es still und man sieht nur noch die sich ausbreitenden Kreise. Aber man weiß genau, das etwas passiert ist. Wie ein Echo.   „Katie?“, frage ich nach einer Weile, als ob ich nicht mehr wüsste, dass das seine Schwester ist. Das kleine Mädchen mit den Zöpfen. Ich hatte sie ganz vergessen.   Bruno nickt leicht. Es scheint ihm peinlich zu sein, denn er sieht mir immer noch nicht in die Augen, aber in seinem Gesicht kann ich Entschlossenheit sehen.   „Sie kam zu mir und hat mir erzählt, dass sie ausgerissen ist. Um zu mir zu kommen. Und dass unsere Mutter zu Hause nur noch weinen würde, weil ich weg sei. Und dass ich zurückkommen müsse.“   Bruno schluckt und ich kann mir denken, dass die Worte in seinem Mund ebenso bitter schmecken wie sie sich anhören. „Ich hab ihr gesagt, dass das nicht geht, weil unser Vater wütend auf mich ist. Und sie hat gesagt: 'Dann entschuldige dich. Papa hat dich doch lieb. Er verzeiht dir.'“   Bruno schließt die Augen, als würde ihn allein die Erinnerung daran furchtbar quälen. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass er deswegen zurück ist. Wegen seiner Schwester?   „Ich hab ihr gesagt, dass ich es mir überlege und sie wieder nach Hause geschickt. Ich wusste, sie würde sonst Ärger kriegen. Danach hab ich … ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte einfach nur noch weg und als Gustav mir dann angeboten hat, auf das Fest zu gehen …“   Da hat er zugesagt. Die Schlussfolgerung ist vollkommen logisch und ich hätte es an seiner Stelle auch nicht viel anders gemacht. Was für ein Scheißtag. Was für ne Scheißfamilie. Was für ein Scheißleben.   Und dann kam auch noch ich.   Ich muss zugeben, dass ich es nicht verstehen will. Was er gemacht hat, war nicht in Ordnung. Er muss doch wissen, dass das nicht in Ordnung war. Aber unter den gegebenen Umständen …   Nein! Es war nicht richtig und es wird auch nie richtig sein. Okay?   Ich schnaufe, weil ich selbst nicht mehr weiß, was ich glauben soll. Das ist doch alles Mist.   „Und warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte das doch … verstanden.“   Hätte ich wirklich. Vermutlich. Also vielleicht nicht wirklich, denn schließlich hab ich ja keine kleine Schwester. Aber ich hätte es wenigstens … versucht?   Bruno blickt an mir vorbei zu dem vergilbten Lichtschalter neben der Tür. „Weil ich mich geschämt habe“, wiederholt er. „Und weil ich nicht wusste, was ich machen soll. Da warst du und meine Familie und …“   „Und da hast du gedacht, du fängst einfach mal Stress mit mir an, damit ich dich nicht mehr haben will?“   Ich fasse es nicht. Das ist ja so was von dämlich. Bruno schaut konsterniert. „Nein“, behauptet er und schüttelt den Kopf. „Ich wollte mich eigentlich nur zusaufen. Aber als ich dich da mit dem Typen gesehen habe, da …“   Er schaut jetzt auf seine Schuhspitzen, was es auch nicht viel besser macht.   „Da wollte ich ihn gerne vermöbeln. Oder dich. Oder irgendwen. Und als du mich dann geschubst hast …“ „Du hast mich zuerst geschubst!“ „Aber du hast mich provoziert!“ „Aber du hast …“   An dieser Stelle muss ich innehalten und überlegen, wer eigentlich mit dem ganzen Quatsch angefangen hat, denn ehrlich gesagt ist meine Erinnerung daran etwas schwammig. Muss an der Bowle liegen. Oder am Waldmeister. Ganz bestimmt war es der Waldmeister.   „Du hast einfach zugesehen, wie die mich fertiggemacht haben“, trumpfe ich schließlich auf, denn dass das so war, daran kann ich mich noch erinnern. Prompt dreht Bruno den Kopf weg und will sich offenbar am liebsten in einem der Schränke verstecken. „Ja, das war scheiße“, gibt er zu. „Aber ich hatte einfach Angst, dass sie …“   „Was merken?“ Der Satz war jetzt nicht so schwer zu beenden. Trotzdem zuckt Bruno zusammen und schrumpft gleich noch um einige Zentimeter. Wenn er so weitermacht, ist er bald nur noch so groß wie ich. „Ich hab mich doch schon entschuldigt.“   Ich schnaube. Als wenn das aus der Welt schaffen würde, dass er sich wie ein Arsch benommen hat. Aber da war er in der Geschichte wohl nicht der einzige. Sein Vater hat sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Oder seine Mutter. Erst die Klappe nicht aufkriegen und dann rumheulen. Prima Plan.   „Und was ist dann passiert?“   Immerhin ist zwischen unserem Zusammentreffen auf dem Fest und unserer nächtlichen Schreiberei noch einiges an Zeit vergangen. Wer weiß, vielleicht hat Bruno in der Zeit noch geheiratet. Oder jemanden umgebracht. Möglich wäre es.   Bruno richtet seinen Blick auf die hässlichen Fliesen. Wenn wir so weitermachen, hat er wirklich bald alles hier im Raum sehr sorgfältig begutachtet. Alles außer mir. „Also?“, hake ich nach, weil er anscheinend auf Zeit spielt.   „Wir haben uns noch ein Bier geholt. Die anderen haben bald ein anderes Gesprächsthema gefunden. Aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie du mich angesehen hast. Und Katie. Und meine Mutter. Und plötzlich ist mir klar geworden, dass ich immer nur alles kaputtmache. So wie früher schon. Und dann hab ich gedacht, dass ich wenigstens ein bisschen was wieder heil machen muss. Wenigstens etwas.“   Und das, was er gewählt hat, warst nicht du.   Eigentlich sollte mich das nicht überraschen. Ich meine, wer bin ich schon? Klar, wir hatten ein paar Mal Sex, aber im Grunde genommen …   Er ist es nicht wert. Gustav wusste es zwar nicht, aber offenbar hat er da den Nagel auf den Kopf getroffen. Bruno wird sicherlich keine Schwierigkeiten haben, jemand anderen zu finden. In nem Jahr oder zwei oder so. Mit dem, was er unterhalb der Gürtellinie anzubieten hat, allemal. Und das mit den Gefühlen … das geht auch wieder vorbei. In nem Jahr oder zwei oder so.   „Tja, das … ist dann ja wohl geglückt.“   Immerhin wohnt er wieder zu Hause. Mama happy, Schwester happy, Vater immer noch ein Arsch. Passt doch.   Bruno sagt nichts dazu. Und eigentlich ist mir das auch ganz recht. Ich will nicht hören, dass es ihm leidtut. Dass er das alles nicht wollte. Dass er nicht anders kann. Vermutlich vor allem, weil ich ihm das auch noch glauben würde. Ich will ihm aber nicht glauben. Ich will sauer auf ihn sein. Weil es dann leichter ist, ihn gehen zu lassen. Apropos gehen. Das sollte ich jetzt langsam echt mal tun. Hab hier ja doch nichts mehr verloren.   „Ich geh dann mal“, sage ich – schon wieder – und will mich umdrehen, als Bruno mich schon wieder aufhält. Dieses Mal wirklich. Ich spüre, seine Hand auf meinem Arm. „Bitte, Fabian. Ich … es tut mir so leid.“   Oh ja, spielen wir doch ne Runde Bullshit-Bingo. Mal sehen, welche Sprüche von meiner Liste er sonst noch so bringt. „Ich hab das nicht gewollt.“   Das wären dann wohl schon zwei.   Während ich noch überlege, ob ich die Reihe wohl schon vollmachen kann, weil ich das 'Ich kann das nicht' immerhin schon schriftlich habe, schafft Bruno es doch glatt, mich zu überraschen.   „Können wir nicht vielleicht … Freunde bleiben?“   Okay, das ist neu. So ein Schwachsinn ist selbst für Bruno eine Meisterleistung. Freunde bleiben? Sein Ernst?   „Ich wusste nicht, dass wir Freunde sind“, rutscht es mir heraus. Lover vielleicht. Fuckbuddies. Mittel zum Zweck. Schwanz und Loch. Alles so was halt. Aber Freunde?   Auch Bruno scheint zu merken, was er da gerade für einen BS von sich gegeben hat. Seine Ohren werden ein bisschen rot. Ich glaube, das wird mir fehlen. „Na ja, ich … ich mochte das mit dir. Also das Quatschen und das … andere auch. Aber ich kann schon verstehen, wenn das nicht geht. Glaub mir, wenn ich wüsste, wie …“   „Wie du es vor deiner Familie geheim halten kannst, würdest du weiter mit mir ficken?“   Ich weiß nicht, wo auf einmal diese Gemeinheiten herkommen, aber ich begrüße sie und greife gleich noch einmal zu. „Und wenn wir deinen Freunden begegnen, versprichst du mir, mich auch nur ein ganz kleines bisschen zusammenzuschlagen? Nur so viel, dass keinem auffällt, dass du eigentlich auf Kerle stehst? Ist es das, was du willst? Ist es das?“ Scheiße, Bruno. Sag mir, dass es das nicht ist. Bitte!   Bruno sieht vollkommen entsetzt aus.   „Nein! Nein, natürlich nicht. Ich hab nur gedacht, wir könnten vielleicht … mal miteinander schreiben.“   Am liebsten würde ich Nein sagen. Weil das nicht gut gehen kann. Weil wir früher oder später doch wieder bei dem einen Thema landen würden. Und dann würde das eine zum anderen führen und irgendwann liegen wir dann wieder nebeneinander im Bett und fragen uns, wie es so weit kommen konnte. Und er haut ab und ich bleib alleine zurück und warte auf seinen Anruf, aber er meldet sich nicht und …   Schluss damit! Du reagierst total über. Wir sind doch hier nicht in Hollywood. Reiß dich zusammen!   „Wenn du meine Nummer wieder entsperrst …“   Zu dem Schluss bin ich nämlich inzwischen gekommen, nachdem mir sein Online-Status nicht mehr angezeigt wurde. Nicht, dass ich den Chat mit ihm nicht vorher ungefähr 38 mal am Tag aufgerufen hätte, um nachzusehen, ob er meine Nachrichten endlich mal gelesen hat oder so.   Der Rotton von Brunos Ohren wird tiefer. „Tut mir leid“, sagt er noch einmal und zieht doch glatt sein Handy heraus, um gleich zur Tat zu schreiten. Ich seufze und lege meine Hand auf das Display. „Nachher reicht völlig.“   Oder in ein paar Wochen. Wenn Gras über die Sache gewachsen ist.   Bruno schaut, als hätte ich das Letzte ebenfalls laut ausgesprochen. Wie ein Hund, den man getreten hat.   „Dann … sehen wir uns in der Schule?“, fragt er und ich will beinahe sagen, dass sich das ja von selbst versteht, aber dann fällt mir ein, dass das eigentlich gar nicht stimmt. Die Tage, an denen wir da hintapern müssen, sind gezählt. Nichts mehr mit heimlichen Treffen auf dem Klo. Kein Beinstellen mehr auf dem Gang. Keine fiesen Nachrichten mehr auf meinem Tisch. Gar nichts mehr. Kein Sterbenswörtchen von Bruno.   Scheiße!   Und plötzlich will ich nicht mehr, dass es vorbei ist. Er soll mir schreiben. Meinetwegen auch mitten in der Nacht anrufen. Heimlich, draußen, wenn keiner es hört. Ich treff mich auch mit ihm in seinem Schrank. Alles, wenn er nur nicht weggeht.   Sei nicht albern. Das ist doch nicht das, was du willst.   Nein, ist es nicht. Aber es ist wohl alles, was ich von ihm bekommen könnte. Und offenbar war Bruno schlauer als ich und hat erkannt, dass das nicht reichen wird.   Ich kann nicht. Das hat er geschrieben. Und plötzlich ergibt die Nachricht einen ganz neuen Sinn.   Ich kann nicht der sein, den du brauchst. Denn darum geht es doch bei der ganzen Scheiße mit der Liebe, oder nicht? Dass man will, dass der andere glücklich ist. Aber Bruno ist nicht glücklich. Und ich bin es auch nicht.   Scheiße!   „Du könntest zu Pascals Party kommen.“   Fuckfuckfuckfuckfuck! Warum sag ich das gerade? Warum sag ich das bloß?   Bruno guckt ein bisschen unsicher, so als wüsste er nicht, ob ich das ernst meine. „Meinst du das ernst?“   Siehste, sag ich ja. „Klar“, meine ich und tue so, als wäre das nichts Besonderes. „Er hat schließlich den ganzen Jahrgang eingeladen. Da gehörst du doch auch dazu.“   Bruno sieht mich immer noch zweifelnd an. „Also die … anderen haben schon überlegt, ob sie hingehen. Simmrichs haben ja wohl einen Pool und alles. Aber ich hab gedacht, weil er doch dein Freund ist …“ „Ach, kein Problem“, behaupte ich und winke lässig ab. Was sind schon ein paar Idioten, wenn ich Bruno wiedersehen kann? Außerdem wäre Pascal wohl wirklich enttäuscht, wenn derjenige, wegen dem er die Party eigentlich veranstaltet, gar nicht auftaucht. Das kann ich meinem besten Freund doch nicht antun.   Du weißt aber schon, dass ihr nicht mehr zusammen seid?   Ich zeige meiner inneren Stimme einen gepflegten Mittelfinger und ignoriere sie.   „Natürlich kommst du. Ich hab nämlich Geburtstag.“   Bruno schaut wie ein Auto. Himmel, ich hatte ganz vergessen, wie dämlich er gucken kann. „Du hast … dann ist das deine Party?“   Okay, vielleicht nicht ganz so dämlich. Ich gebe ihm ein halbe Lächeln. „Na ja, offiziell nicht. Aber Pascal hat gemeint, dass wir meinen 18. unbedingt feiern müssen und von daher …“   „Ich komme“, unterbricht Bruno mich atemlos. Ich bin versucht, einen blöden Spruch zu machen, lasse es aber. Dafür ist das hier gerade zu schön. Zu nah. Zu kostbar.   „Na dann …“ beginne ich und würde mich vermutlich noch stundenlang in irgendwelchen Abschiedsfloskeln ergehen bis hin zu dem Punkt, an dem Bruno und ich uns in den Armen liegen und uns leidenschaftlich küssen, aber wie es der Zufall will, reißt in diesem Moment die Bulldodge die Tür auf und blafft mich an. „Du bist ja immer noch nicht umgezogen.“   Ich reiße mich zusammen, trete ein Stückchen von Bruno weg und gönne dem Kampfhund auf zwei Beinen ein entschuldigendes Lächeln. „Tja, äh, wissen Sie, ich hab es mir überlegt. Badeanzüge stehen mir nicht besonders und dann diese Kniestrümpfe. Ich glaube, damit kann ich mich nicht anfreunden. Deswegen sollte ich mir wohl eher eine etwas männlichere Sportart suchen. Synchronschwimmen zum Beispiel. Oder Purzelbaumschlagen.“   Er glotzt und ich warte nicht, bis er verstanden hat, dass ich ihn gerade verarscht habe. Lieber nehme ich die Beine in die Hand und strebe, so schnell es eben geht, ohne zu rennen, schnurstracks dem Ausgang zu. Dabei halte ich immer wieder nach Verfolgern Ausschau. Es kommt mir keiner hinterher, dafür renne ich vornerum volle Kanne in jemanden hinein. „Uff!“, macht der jemand und fällt fast wieder rückwärts zur Tür hinaus. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sich meine Sporttasche gerade in den Bauch eines Herrn mit Schnauzbart und Brille gebohrt hat. Er trägt ein grellgrünes Hemd und eine beige Stoffhose. Seine haarigen Unterarme schmückt eine protzige Uhr, daneben ein fetter, goldener Ehering, kaum zu übersehen. Wer auch immer er ist, ist somit wohl weg vom Fenster.   „Tschuldigung“, nuschele ich und hoffe nur, dass mir der Kerl jetzt nicht noch ein Gespräch ans Knie nageln will. Leider scheine ich diesbezüglich kein Glück zu haben   „Sag mal, trainieren hier die Jungs von Blau-Weiß?“   Ein schneller Blick verrät mir, dass am Ende der Halle die Bulldogge aufgetaucht ist. Wenn ich mich nicht beeile, erwischt er mich doch noch.   „Jaja“, entgegne ich deswegen und hoffe, dass das grüne Hemd mich endlich in Ruhe lässt. „Sind alle da drinnen. Sie können sich den schönsten aussuchen.“ Der Mann lacht, offenbar hat er Humor.   „Na, dann hoffe ich mal, dass die mich nicht auch mit einem Boxsack verwechseln, so wie du. Also, junger Mann. Augen immer schön geradeaus und nicht über die eigenen Füße stolpern.“   Selber Füße, denke ich und sage natürlich nichts, weil ich ihn ja immerhin gerade fast über den Haufen gerannt habe. Da sollte ich wohl etwas netter sein.   Draußen bin ich versucht, wieder langsamer zu werden und erst einmal durchzuatmen. Leider ist der Bulldogge zuzutrauen, dass sie nicht so schnell aufgibt, und so eile ich weiter an einem dunkelblauen Kastenwagen mit fremdem Kennzeichen vorbei. Auf der Seite klebt ein goldener Aufdruck, den ich jedoch keines Blickes würdige. In Gedanken bin ich nämlich viel zu sehr mit der Bulldogge und mit Bruno beschäftigt. Vor allem natürlich damit, dass ich mich, statt endlich einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen, noch viel tiefer reingeritten habe als vorher. Und dann hab ich ihn auch noch zu meinem Geburtstag eingeladen. Ich bin aber auch wirklich zu dämlich.   Er wird sich nicht für dich entscheiden. Niemals!, versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen und in meinem Kopf hämmert es im Takt meiner Schritte:   Blut ist dicker als Wasser. Blut ist dicker als Wasser. Blut ist dicker als Wasser.   Kapitel 19: Happy Birthday -------------------------- 'Hey!'   Die Nachricht ploppt auf dem Bildschirmrand auf, aber ich ignoriere sie. Schließlich stehe ich gerade vor der schwierigen Frage, ob ich den knackigen Halbgott vor mir nun verführen oder vermöbeln soll. Beide Optionen haben was für sich, allerdings ist das hier kein ausgewiesenes Gay-Spiel und ich bin mir nicht sicher, ob Pane … Pans? … Panini? eigentlich bisexuell sind. Oder vielleicht sogar pansexuell? Hahaha!   Ich grinse und lasse meine Finger in Richtung des „Ich zwinkere ihm zu“-Button wandern, als erneut eine Nachricht meine Konzentration stört.   'Hey!' 'Was machst du gerade?'   steht jetzt auf dem breiter gewordenen Chatfenster. Offenbar sind die Nachrichten vom selben Absender. Ich stöhne verhalten.   Man, Pascal, nerv nicht, denke ich und will die blöde Frage ignorieren, als mir plötzlich die zwei Buchstaben oben in der Ecke ins Auge stechen. Sofort wird mein Mund trocken und meine Hände fangen an zu schwitzen.   Was zum … ? Was? Fuck!   Noch bevor ich reagieren kann, ist das Nachrichtenfenster wieder verschwunden. Jetzt kann ich mir nicht mehr sicher sein, ob es wirklich Bruno war, der mir geschrieben hat. Und was ist, wenn doch? Und was ist, wenn nicht?   Ich muss nachsehen.   Die kleine Stimme, die mir wild winkend irgendwelche Warnungen zurufen will, ist leider zu langsam, und so wische ich den Ziegenmann schnellstmöglich beiseite und öffne im gleichen Atemzug den Messenger. Und Überraschung! Es ist tatsächlich Bruno, der mir geschrieben hat, und er ist online.   Mhm, und jetzt sieht er, dass du es auch bist. Hättest du mal nur die Benachrichtigungen aufgerufen. Trottel!   Ich presse die Kiefer aufeinander und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass es vielleicht wirklich ne dumme Idee war, so schnell auf ihn anzuspringen. Andererseits öde ich mich inzwischen schon selbst an und der Stapel benutztes Geschirr auf meinem Schreibtisch wird auch immer größer. Das Ding hat schon solche Ausmaße, das sich mich mit meinen Büchern kurzerhand ins Bett verzogen habe. Nicht, dass ich die wirklich lesen würde, aber …   'Ich lerne' schreibe ich nichtsdestotrotz, weil der Schulkram ja immerhin in greifbarer Nähe liegt, und will es gerade absenden, als mir auffällt, dass das vielleicht ein bisschen streberhaft rüberkommt. Außerdem könnte Bruno denken, dass ich nicht mit ihm chatten will. Und ich will. Unbedingt!   'Nichts besonderes', klingt da doch schon sehr viel besser, wenn auch ein bisschen uninteressant. Aber zu spät, ich hab es bereits abgeschickt.   Jetzt denkt er bestimmt, dass ich voll lame bin.   'Und du?', schicke ich daher schnell noch hinterher und warte mit zwischen die Zähne gezogener Unterlippe auf die Antwort.   Bruno tippt eine ganze Weile. Die drei Pünktchen erscheinen und verschwinden, erscheinen und verschwinden. Endlich ploppt eine Nachricht auf.   'Ich versuche zu lernen.'   Ich grinse mir eins und schreibe zurück.   'Hab ich aufgegeben.'   Na, wenn das mal nicht cool ist. Bruno scheint das nur irgendwie anders zu sehen. Er schickt einen zweifelnd aussehenden Smiley. 'Wieso? Bist du durchgefallen?'   Ey, wieso denken das nur immer alle? So schlecht bin ich ja nun auch nicht in der Schule. Ich teile mir eben meine Ressourcen ein. Mindestaufwand, Mindestanwesenheit, Mindestnoten. Schließlich heißt es doch, dass man nicht für die Schule, sondern für das Leben lernt, und wann werde ich schon mal eine Unterhaltung über die Eirollbewegungen von Graugänsen führen wollen. Das interessiert doch keine Sau!   Mit einem Schnauben fange ich deswegen erneut an zu tippen. 'Ich werde sie alle mit meinem Charme überzeugen.' Immerhin zählt in der mündlichen Prüfung ja nicht nur was man vorträgt, sondern auch wie man es macht. Im Ausführungspunkte einheimsen war ich schon immer gut. Bruno schickt prompt eine Antwort.   'Da hast du beim Böhme aber wenig Chancen.'   Ich lache bei der Vorstellung, dass ich tatsächlich versuche, unseren steinalten Mathelehrer mit einem verführerischen Augenaufschlag zu becircen. Der würde mich vermutlich nicht mal mit ner Kneifzange anfassen, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Andererseits reitet mich wohl gerade der Schalk und ich tippe.   'Och, wer weiß? Vielleicht steht er ja heimlich auf mich.'   Mit einem Grinsen und einem Smiley schicke ich die Nachricht ab. Ich meine, so rein statistisch gesehen, ist die Vermutung ja nicht ganz hinterm Mond vorgeholt, auch wenn man in Hintertupfingen wohl nicht unbedingt mit einer Gaußschen Normalverteilung rechnen darf.   Kaum habe ich das gedacht, lasse ich mich mit einem Stöhnen in mein Kissen sinken und möchte meinen Kopf gerne im Klo runterspülen. Ich glaube, das viele Lernen schadet meinem Gehirn. Da sind auf einmal Dinge drin, die ich nie wissen wollte. Fuck!   Um mich abzulenken von zu viel Schlauheit, nehme ich wieder mein Handy zur Hand und blicke gespannt auf den Bildschirm. Leider lässt Brunos Antwort auf sich warten.   Mhm. Ob er das vielleicht persönlich genommen hat? Immerhin haben ja er und ich und so …   Ach Scheiße!   Schnell beginne ich, eine Erklärung hinterher zu tippen, doch noch ich dazu komme, meinen Text abzuschicken, erscheint eine Nachricht von Bruno auf dem Bildschirm. 'Sorry, musste runter zu meiner Mutter.'   Ah, deswegen die Funkstille. Schnell lösche ich mein armseliges Geschwafel von wegen 'Tut mir leid' und 'war nicht auf dich bezogen', bevor ich es aus Versehen noch abschicke. Nicht, dass er sich nachher was einbildet. Die Sache ist durch und damit basta!   Ja ja, unkt meine innere Stimme und bekommt von mir dafür einen bösen Blick. Ich hasse den Kerl, ja wirklich.   Mit grimmigen Gesicht wende ich mich wieder Bruno und unserem Chat zu. Vielleicht sollte ich ihn fragen, wie es bei ihm zu Hause läuft. Freunde machen so was doch, oder? Andererseits habe ich irgendwie Angst vor der Antwort. Was, wenn er mir schreibt, dass das mit uns nichts Ernstes war. „Nur ne Phase“ oder irgendsoein Scheiß. Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen. Allein er Gedanke daran macht irgendwas Komisches mit meinem Brustkorb. Fühlt sich an wie Schluckauf, nur unangenehmer.   'Sie backt gerade.'   Mühsam blinzele ich meine leicht verschwommene Sicht wieder gerade und starre die Nachricht an, die Bruno mir gerade geschickt hat. Es dauert einen Augenblick, bevor mir klar wird, dass er seine Mutter meint. Sofort muss ich an die Sache mit dem Spiegelei denken. Da hat er mir davon erzählt. Ohne nachzudenken tippe ich. 'Brot?'   Die Antwort kommt prompt und ohne Verzögerung.   'Nein, Apfelkuchen.'   Ich lächele. Na klar. Apfelkuchen. Heile, heile Welt. Obwohl Apfelkuchen jetzt schon irgendwie geil wäre. Oder wenigstens jemand, der ihn für einen backt.   'Meine ist arbeiten.'   Jetzt, wo ich das so schreibe, klingt es ein bisschen bitter. Immerhin ist es ja nicht so, dass ich meine Mutter wirklich hier haben wollte. Viel zu anstrengend. Außerdem muss sie ja arbeiten. Wo sollen sonst die Brötchen herkommen? Trotzdem wäre es jetzt gerade schön, nicht allein zu sein. Vorzugsweise inklusive Apfelkuchen. Ich glaub, ich hab Hunger.   'Wie war das eigentlich, als du es ihr gesagt hast?'   Ein wenig überrumpelt starre ich den Bildschirm an und kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Bruno bei sich zu Hause ebenso gespannt zurückstarrt. Gleichzeitig weiß ich nicht, was ich jetzt schreiben soll. Will er das wirklich wissen?   Klar will er das, sonst würde er ja wohl nicht fragen.   Ich schnaufe und versuche mich an einer Antwort.   'Sehr unspektakulär. Ich hab ihr von nem Typen erzählt und sie hat gefragt, ob da was zwischen uns läuft. Da hab ich Ja gesagt.'   Ein bisschen unbefriedigt lese ich mir meinen Text nochmal durch und schicke ihn dann trotzdem ab. Denn eigentlich ist das natürlich nicht die ganze Geschichte. Ich hab schon ne Weile gebraucht, bis ich so weit war, es meinen Eltern wirklich zu erzählen und das obwohl meine Mutter immer mal erwähnt hat, dass es kein Problem wäre. Aber das mit Rico … von dem sollten meine Eltern gar nichts wissen. Und die Zeit danach war ja auch nur Sex. Und Gefummel. Und Geknutsche. Also wirklich nichts, über das ich mit meinen Eltern hätte sprechen wollen. Allein die Vorstellung! Brrr!! Geändert hat sich das dann irgendwie erst mit Jamie. Er war der Erste, den ich mit nach Hause gebracht habe. Und der Einzige.   Nicht ganz korrekt, bemerkt mein innerer Wichtigtuer und deutet unauffällig auf das Handy. Ja gut, Bruno hab ich auch mit nach Hause genommen. Aber das waren ja auch … andere Umstände. Er brauchte doch eine Unterkunft. Das war doch was anderes.   Mein innerer Vollidiot pfeift sich daraufhin eins und ich zeige ihm – mal wieder – den Mittelfinger. Echt man, der Kerl kotzt mich so an. Es ist vorbei, verdammt nochmal. Und selbst wenn … also falls da noch irgendwas zwischen uns wäre, würde das doch rein gar nichts an der Situation ändern. Überhaupt gar nichts!   Ein Geräusch holt mich zurück in die Wirklichkeit. Bruno hat geschrieben. Ich lese.   'Einfach so?'   Geräuschvoll blase ich die Backen auf und lasse die Luft wieder entweichen. Mal im Ernst, das sind doch keine Gesprächsthemen für einen Mittwochvormittags-Chat. Mehr so für ein besoffenes Sich-in-den-Armen-Liegen am Samstagabend.   Vielleicht machen wir das ja auch noch.   Bei dem Gedanken kribbelt es in meinem Bauch und ich wünschte, es wäre jetzt schon so weit. Obwohl ich natürlich weiß, dass die anderen Loser auch mit von der Partie sein werden und die Chance somit groß ist, dass sich Bruno wieder mal wie ein Arschloch verhalten wird. Aber trotzdem. Die Vorstellung, dass er und ich …   'Deine Mutter ist echt cool.'   Wieder muss ich mich aus meinen Tagträumen zurück zu einem sehr realen Bruno an meinem sehr realen Handy holen. Seine Nachricht entlockt mir ein leises Lächeln und ich schreibe.   'Dann solltest du sie mal erleben, wenn ich mein Zimmer aufräumen soll.'   Dann wird Madame nämlich zur nörgelnden Furie und nichts und niemand ist vor ihr sicher. Obwohl das in letzter Zeit weniger geworden ist. Hat wohl den Kopf voll, die Gute.   'Außerdem kann sie nicht backen.'   Keine Ahnung, wie wir jetzt in diesem Wer-hat-die-beste-Mutter-der-Welt-Wettstreit gelandet sind, aber ich lieb’s. Es fühlt sich so normal an.   Bruno schickt einen Lach-Smiley und eine Nachricht.   'Ich bring dir mal ein Brot mit.'   Ich grinse und schreibe zurück.   'Lieber Apfelkuchen.'   Daraufhin fängt Bruno an zu tippen. Es dauert eine ganze Weile und ich überlege schon, was er wohl so Wichtiges über Apfelkuchen zu sagen hat, als er endlich fertig ist und die Zeilen auf meinem Display erscheinen. 'Vielleicht schaffe ich es ja Samstag. Könnte aber später werden. Ich hab vorher noch was vor.'   Mit gerunzelter Stirn beiße ich mir auf die Unterlippe und überlege. Was vor? Was soll das denn jetzt heißen? Aber immerhin hat er gesagt, dass er kommt. Also …   'Was denn?' War ja klar, dass meine Finger wieder schneller sind als mein Gehirn.   Bruno schickt schon wieder einen Smiley. Einen frechen.   'Ist ne Überraschung.'   Okay, das ist jetzt ja wohl Folter. Wie soll ich denn drei volle Tage aushalten, bis …   'Ich muss jetzt. Wir sehen uns Samstag.'   Damit hat Bruno aufgelegt, beziehungsweise ist offline gegangen, und ich starre mein Handy an, als wäre es eine Erscheinung. Eine Überraschung? Für mich? Von Bruno? Ein merkwürdiges Summen erfüllt meinen Kopf.   Er wird mir was schenken, piepst eine Stimme aufgeregt.   Er hat vor, sich zu outen, meint eine andere.   Du hast doch ein Rad ab, behauptet dagegen mein altbekannter Nörgler und scheucht damit auch alle anderen wieder zurück auf ihre Plätze. Denn natürlich habe ich ein Rad ab. Ein ganz gewaltiges sogar. Oh, wenn doch nur endlich Samstag wäre.       „Na, was sagst du?“   Während sie mich das fragt, kleben Michelles Mundwinkel ungefähr in Höhe ihrer Ohren und auch Pascal kann sein Grinsen nicht wirklich verbergen. Allerdings muss ich zugeben, dass sie sich das auch verdient haben. Es sieht fantastisch aus. „Wow!“, sage ich und lasse meinen Blick über das Buffet schweifen, das im Garten aufgebaut steht. Es lässt sicherlich keine Wünsche übrig und sieht aus wie gemalt. Mit Häppchen und Salaten und sogar Servietten gibt es. Die Schüsseln stehen in Eis, die Wraps und Burger liegen in Reih und Glied und irgendwer hat Radieschenrosen geschnitzt. Bei letzterem vermute ich zwar, dass es der Partyservice war, aber die Schüssel mit dem dreifarbigen Wackelpudding und das Krokodil, das offenbar aus einer Gurke modelliert und danach mit Würstchen gespickt wurde, sind bestimmt von Michelle. Es ist wirklich der Wahnsinn. „Wer soll denn das alles essen?“, entfährt es mir, denn obwohl das alles unheimlich gut aussieht, bin ich irgendwie noch satt vom Mittagessen. Meine Mutter hat mich zum Vietnamesen ausgeführt, nachdem sie mich vorher neu eingekleidet hat. Also eigentlich hat sie mir nur das Geld in die Hand gedrückt; Shoppen durfte ich alleine. Dementsprechend heiß sehe ich heute Abend aus. Meinen Oberkörper bedeckt ein gebatiktes Tanktop mit einer weißen 53 drauf und ein offenes, orangefarbenes Sommerhemd, während mein Hintern in einer weißen Shorts steckt und meine Füße sich in sündhaft teuren Flipflops aalen. Jede Menge nackte Haut also, die vermutlich noch Zuwachs kriegen wird, wenn ich mich nachher in den Pool begebe. Ich sehe also echt hot aus, auch wenn Pascal mal kurz gelacht und mich gefragt hat, wie viele Buntstifte für mein Shirt draufgegangen sind. Banause. Echt mal!   „Hast du ne Ahnung“, gibt Michelle lachend zurück und grinst sich eins. „Ich garantiere dir, dass das alles spätestens um Mitternacht ratzeputze leergefressen ist.   Obwohl ich da so meine Zweifel habe, nicke ich. Heute ist kein Tag für Streit. Immerhin habe ich Geburtstag. Volljährig. Selbst meine Mutter hat so getan, als würde das irgendwas bedeuten. „Hier“, hat sie gemeint und mir einen nicht gerade schmalen Umschlag überreicht, als wir mit dem Essen fertig waren. „Das ist das Restgeld für deinen Führerschein.“   Natürlich habe ich den Umschlag sofort geöffnet, woraufhin mir ziemlich viele vornehmlich grüne und braune Scheine entgegengequollen sind. „Dein Ernst?“, habe ich gestaunt und kurz überschlagen, dass das Mindestens das Doppelte der benötigten Summe sein müsste. „Ja“, hat meine Mutter mit einem Schmunzeln zurückgegeben. „Ich hab mir gedacht, wenn du das Ganze selber bezahlen musst, strengst du dich vielleicht etwas mehr an.“   Ob sie damit recht hat, wage ich ebenso zu bezweifeln wie Michelles Buffet-Prognose, aber allein das Gefühl, mal so viel Geld in der Tasche zu haben, ist schon ziemlich geil. Ich hab mir sogar einen Hunderter in die Shorts gesteckt, einfach weil ich es kann. Erzählt habe ich das meiner Mutter natürlich nicht. Die hätte sicherlich nur Angst bekommen, dass ich das Geld verliere. Nur weil ich den Umschlag aus Versehen auf dem Tisch habe liegen lassen. Also ehrlich. Für wie doof hält die mich eigentlich?   Mein Dad hat natürlich auch angerufen. Es war ein ziemlich kurzes Gespräch mit den üblichen Floskeln und einem Versprechen, mir Geld zu überweisen, sobald am Montag die Banken wieder aufmachen. Als wenn er noch nie was von Onlinebanking gehört hätte. Ha! „Du kannst uns auch gerne mal besuchen“, hat er dann noch gemeint und ich hab geantwortet, dass ich es mir überlege. Im Grunde wissen wir ja beide, dass es nicht wirklich ernst gemeint ist, aber die Geste zählt oder so.   Doch über meinen Erzeuger und seine neue Lebensgefährtin werde ich mir heute Abend ganz bestimmt ebenso wenig Gedanken machen wie über die Tatsache, dass meine Mutter ausgerechnet an meinem Geburtstag zum Essen verabredet ist. Mit wem hat sie nicht gesagt, aber ich glaube, dass es dieser andere Anwalt ist. Mit dem hat sie sich in letzter Zeit öfter getroffen. Wer weiß, wer weiß.   „Na dann … let’s get the party started“, rufe ich und drücke mit Schwung auf den Knopf der Stereoanlage. Also sinnbildlich gesprochen. Praktisch gesehen hat uns Pascals Vater sein megateures und vor allem nigelnagelneues Soundsystem für den Garten ausgeliehen und lediglich darum gebeten, dass wir es nicht in den Pool schmeißen. Außerdem haben sie die Nummer der Putzfrau dagelassen, bevor sie gefahren sind. Ich denke, das war ein Zeichen. „Okay, Bro, was willst du trinken?“, will Pascal wissen, während „Queen“ aus den Boxen quillt und mich ja so ein kleines bisschen zum Zucken bringt. „Wir haben Rum, Wodka, Tequila, Gin …“   Ich grinse.   „Klingt nach einem Long Island Ice Tea“, meine ich und ernte ein Paar erhobene Augenbrauen. Mein Grinsen wird breiter. „Warum wählen, wenn man alles haben kann.“   Pascal lacht und macht sich daran, mir meinen Cocktail zu mixen. Währenddessen laufen bereits die ersten Gäste auf. Eine Gruppe Mädels, die doch tatsächlich noch mehr Essen mitgebracht haben. Wenn das so weitergeht, müssen wir anbauen. Oder die Heilsarmee rufen. „Wohl bekomm’s!“ verkündet Pascal und drückt mit meinen Drink in die Hand. Ich grinse und stoße mit ihm an, bevor mich die nächsten Durstigen beiseite drängen, um ebenfalls einen Cocktail zu ordern. In dem Moment bin ich mir sicher, dass das hier ein voller Erfolg werden wird. Aber so richtig.       „Noch einen“, lalle ich einige Stunden später. Also eigentlich nuschele ich mehr. In meinem Mund steckt nämlich nebenbei noch ein Würstchen und ein Stück Brownie. Eine absolut göttliche Kombination, wenn man sich erst mal an den Geschmack gewöhnt hat. Außerdem lässt es sich viel besser mit den Händen essen als Kartoffelsalat, für den man angeblich eine Gabel braucht. Behauptet wenigstens Michelle und die muss es ja wissen.   „Ich glaube, du kriegst erst mal ein Wasser“, gibt jetzt wiederum mein bester Freund bekannt und füllt mir doch glatt schnödes H2O in mein Glas. Will der mich vergiften? „Wenn ich Wasser will, spring ich in den Pool“, mosere ich dementsprechend beleidigt und deute auf die Wasserlandschaft hinter mir, die von jeder Menge halbnackter Körper, sowie der einen oder anderen Vollmontur bevölkert wird. Drumherum stehen lachen, schwatzend und tanzend noch mehr Leute und haben den Spaß ihres Lebens. Den ich auch haben könnte, wenn Pascal nicht so ein Knauser wäre.   „Komm schon, nur noch einen!“, bettele ich und bemühe mich um eine korrekte Aussprache. Pascal schüttelt den Kopf. „Du verpasst sonst noch das Feuerwerk.“   Ich blinzele. Oh Gott ja, das hatte ich fast vergessen. Er ist wirklich der Beste!   „Lass dich knutschen!“, rufe ich und will mich schon auf ihn stürzen, als ich aus den Augenwinkeln was Schlimmeres entdecke, als Pascal, der mir Alkoholverbot verpasst. Die Affenbande, die schon eine ganz Weile wie ein schlechter Geruch in der Gegend herumlungert, schiebt sich missgünstig nach allen Seiten sichernd durch die bunte Partymeute. Ehrlich, denen fehlen nur noch die Bomberjacken und Springerstiefel. Obwohl ich zugeben muss, dass wenigstens Jakob damit einigermaßen lächerlich aussehen würde. Solche Stiefel gehen ihm bestimmt mindestens bis zum Knie. Overknees sozusagen.   Leicht kichernd in meine Vorstellung versunken, merke ich nicht, dass die Kanaillen genau auf mich zusteuern. Erst, als Zwerg Nase direkt vor mir steht, merke ich, dass er mich obendrein auch dumm anmachen will. „Mach Platz!“, knurrt Jakob und wirft sich in die Hühnerbrust. Ich grinse schräg und betrunken.   „Ah, ich kann aber viel besser Männchen machen. Oder Bitte-Bitte. Willst du mal sehen?“   Bevor ich noch dazu komme, mit meinen „Pfoten“ einen auf lieber Hund zu machen, hat sich schon Paul vor mich geschoben. „Verschwinde!“, blafft er mich an und ich will ihn gerade fragen, ob er neuerdings Brunos Platz eingenommen hat, als eine dunkle Stimme hinter mir mich zusammenfahren lässt. „Hey Jungs, wir sind hier Gäste. Also benehmt euch.“   Bruno!   Mir läuft es heiß und kalt den Rücken runter und ich kann mich nur mit Mühe beherrschen, mich nicht umzudrehen und ihm an den Hals zu schmeißen. Buchstäblich. Himmel, ich komm gleich in meine Shorts. Er ist hier!   „Hey Simmrich. Danke für die Einladung.“   Und natürlich ignoriert er mich. Stattdessen reicht er doch glatt Pascal eine Flasche, die verdächtig nach billigem Weißwein aussieht. Danach sieht er sich suchend um.   „Habt ihr auch Bier?“   Pascal, ganz der Gastgeber, deutet auf den Kistenstapel. „Klar, bedien dich. Ist genug da.“   Bruno brummt etwas, das sich wie ein „Danke“ anhört und drängt dann, rein zufällig natürlich, seine Freunde ein Stück von mir weg. Eigentlich müsste ich ihm dafür wohl dankbar sein. Dummerweise fühle ich mich so gar nicht dankbar. Eher enttäuscht. „Hey, Kumpel, jetzt mach mal nicht so ein Gesicht. Du kriegst noch nen Drink. Sex on the Beach?“   Ich nicke abwesend und versuche, Brunos breitem Rücken nicht allzu auffällig nachzustarren. So richtig erfolgreich bin ich dabei wohl nicht, denn als Michelle an meiner Seite erscheint, checkt sie sofort, was los ist. „Ach Großer, lass dir die Stimmung doch nicht von diesen Idioten verderben. Du bist genau richtig, so wie du bist.“   Ich lächle leicht und nehme mein Getränk entgegen, während Michelle mir die Schulter tätschelt und sich einen Kuss von ihrem Schatz abholt, bevor sie sich wieder ins Getümmel stürzt.   Ich will auch denke ich und seufze in mein Glas. Am Horizont räumt die Sonne so langsam das Feld und die ersten Sterne am Himmel zu funkeln beginnen. Die perfekte Stimmung, um sich ein bisschen zurückzuziehen und zu knutschen. Ich wüsste da sogar eine Gartenbank, die ein bisschen versteckt den Hand runter steht. Leider ist sie, wie ich kurz darauf später feststellen muss, schon besetzt. Verdammt!   Nicht mal in Ruhe Trübsal blasen kann man hier, denke ich, während ich den Rest meines Cocktails hinunterstürze und mich dann auf schon leicht wackeligen Beinen wohl etwas zu schwungvoll umdrehe. „Hoppla“, meint jemand und fängt mich doch glatt auf, bevor ich unsanft einen Abgang mache. Oh Scheiße, ist das etwa …?   „Bruno“, flüstere ich und kann es noch gar nicht so richtig glauben. Auch er guckt ein wenig unangenehm berührt. Schnell lassen wir uns wieder los. Muss ja keiner mitkriegen, dass wir … „Können wir reden?“   Ich muss einen Augenblick über die Frage nachdenken. Nach Reden ist mir eigentlich weniger zumute. Aber na gut, wenn er meint. Dann reden wir eben.   „Allein?“   Ach so, ja. Natürlich. Er will ja nicht mit mir gesehen werden. Obwohl die zwei da auf der Bank vermutlich eh was anderes zu tun haben, als unser Gespräch zu belauschen. Bruno sieht allerdings nicht aus, als wenn dieser Punkt verhandelbar wäre. Einen Moment lang fixiere ich ihn noch, bevor ich mich von dem Anblick losreiße und in einen Ungefähr-Diese-Da-Richtung zeige.   „Mir nach“, befehle ich und widerstehe der Versuchung, nach seiner Hand zu greifen.   Ein bisschen schneller, als es mein Zustand und mein Schuhwerk zulassen, tänzele ich den Berg wieder zurück nach oben. Also vermutlich torkele ich eher, aber das Adrenalin vom Beinahe-Sturz und die verzweifelte Entschlossenheit, mir die Gelegenheit, Zeit mit Bruno zu verbringen, nicht durch die Lappen gehen zu lassen, beflügeln meine Schritte.   Wie der Zufall es will, ist Pascal gerade nicht auf seinem Posten hinter der Bar, sodass ich von ihm unbemerkt ins Haus schlüpfen kann. Drinnen ist es dunkel, nur der Weg zum Badezimmer ist ausgeleuchtet. Allerdings scheint hier gerade keiner zu sein. Das ist die Gelegenheit, sich ins obere Stockwerk abzusetzen. Kaum, dass ich diesen Plan gefasst habe, höre ich jedoch auch schon, wie mein Glück sich verabschiedet. Helles Lachen erklingt hinter mir und kommt unaufhaltsam näher.   Oh Fuck!   So gut es geht, verkrieche ich mich zwischen den Blättern einer Yuccapalme oder was immer das ist, und sehe zu, wie Anna, Sarah und Jule an mir vorbei in Richtung Klo schweben. Wenigstens gehen die ja immer im Rudel, sodass kurz darauf wieder Ruhe herrscht und Bruno und ich unseren Weg fortsetzen können.   Leise wie zwei Schwerverbrecher schleichen wir uns die Treppe hinauf und stehen kurz darauf in einem mit abstrakten Kunstwerken in braun und beige geschmückten Flur. Der Mond scheint durch das große Panoramafenster und beleuchtet sanft den dicken Teppichboden. Es könnte fast romantisch sein, wenn es nicht immer noch ein fucking Flur wäre. „Hier?“ fragt Bruno und betrachtet sorgenvoll die vielen Türen. Das von jetzt wieder Stimmen zu hören sind und irgendwer lachend nur haarscharf unter uns vorbei marschiert, während wir einen auf secret service machen, erleichtert die Sache auch nicht unbedingt. Trotzdem lächele ich zuversichtlich. „Keine Bange. Die Party findet unten statt.“   Trotz meiner Versicherung zögert Bruno. Da gibt mir Gelegenheit, ihn zu betrachten. Gut sieht er aus. Definitiv zurechtgemacht. Und er riecht gut. Wenigstens bilde ich mir das ein, als er sich endlich einen Ruck gibt und auf mich zu tritt. Wow. Ich hatte ganz vergessen, wie groß er ist. Und wie stark. Und wie … oh man, ich glaube, ich werde schwach. Scheiß auf Vorsätze, komm lass uns ficken!   Jetzt reiß dich mal zusammen!   Okay, okay, hast ja recht. Bruno guckt auch schon ganz komisch. Fast so, als würde er dasselbe denken wie ich. Dabei hatten wir das doch geklärt. Wir sind nur Freunde. Nichts weiter.   „Also … geile Party, oder?“, brabbele ich in einem Anflug geistiger Umnachtung. Zum Glück ist das genau das Niveau, auf dem auch Bruno gerade fährt. „Ja. Ja, absolut“, beeilt er sich zu versichern. „Das Haus ist toll. Und der Pool und …“   Du.   Bruno sagt es nicht, aber ich weiß, dass er das gedacht hat. Denn, sagen wir es doch mal, wie es ist: Ich bin heiß. Verdammt heiß und Bruno springt darauf an. Genau wie beim ersten Mal auf diesem bescheuerten Ball. Wahrscheinlich müsste ich nur mit dem Finger schnipsen, und ich würde alles von ihm kriegen. Wenigstens bis irgendwer auf der Bildfläche erscheint, der ihn kennt. Oder mich. Oder irgendwer. Vermutlich würde sogar ne Katze ihn dazu bringen, verschämt von mir abzurücken. Und deswegen geht es einfach nicht.   „Das Buffett!“, springe ich daher auch sofort hilfreich ein und zaubere ein „Hast du das gesehen“-Lächeln auf mein Gesicht. So eines, mit dem man Autos verkauft. Oder Zahnpasta. Bruno lächelt leicht und sieht mich an. „Ja, das ist auch toll.“   Oh fuck. Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck! Da ist sie wieder diese Stimmung, die ich doch gerade so schön von uns weggeschoben hatte. Es ist, als würde er sich kein bisschen anstrengen, das hier unpersönlich zu halten. Na schön, dann eben mit Gewalt. Hands up, jetzt komm ich!   Ohne ihm Kontext zu geben und ohne etwas dazu zu sagen, strecke ich meine Arme aus und halte sie Bruno auffordernd entgegen. Er schaut ein bisschen konsterniert und weiß offenbar nicht, worauf ich hinauswill. All right, dann muss ich nachhelfen. „Kuchen“, gebe ich ihm einen Hinweis, den mein leicht brunobenebeltes Hirn wohl beim Stichwort „Buffet“ herausgekramt und an die Abteilung für dämliche Ideen weitergereicht hat. Leider scheint es nicht zu funktionieren. Ich stöhne innerlich und präzisiere. „Du hast mir einen Kuchen versprochen. Also? Wo ist er?“   Jetzt endlich scheint Bruno zu begreifen, worauf ich hinaus will. Und da es offensichtlich ist, dass er keinen Kuchen dabei hat – es sei denn, er hat ihn in der Hosentasche seiner Jeans transportiert, doch den würde ich dann, bei aller Liebe, auch nicht mehr essen wollen – wird er mal wieder ein bisschen rot. Also seine Ohren. Zu schade, dass ich das nicht sehen kann. Aber ich erkenne den Gesichtsausdruck. „Den hab ich vergessen“, nuschelt er und guckt doch tatsächlich so bedropst drein, dass ich ihn am liebsten küssen würde. Also süß küssen, nicht sexy. Das auch, aber …   Schluss damit! Wir sind hier gerade beim Ablenken!   „Vergessen?“, frage ich und schiebe meine Unterlippe vor.   Okay, das ist nicht hilfreich. Sinnliches Schmollen aus! Kusch! Bei Fuß!   „Ja. Sorry.“   Oh er ist. So! Süß! Wie er dasteht mit seinen vielen Muskeln und seinem schiefen Lächeln und so unbeholfen und gar nicht furchterregend. Ich verstehe gar nicht, wie ich jemals Angst vor ihm haben konnte. Also nicht, dass ich die wirklich gehabt hätte, aber …   Jetzt reiß dich mal zusammen! Er ist nur ein Freund!!   „Ach na ja. Macht ja nichts. Dann werde ich nächstes Jahr einfach nochmal 18 und du kannst es erneut probieren.“   Wie ich gehofft hatte, lacht Bruno, und die Spannung, die zwischen uns brodelt und zischelt wie ein überhitzter Teekessel, wird ein ganz kleines bisschen weniger. Ich kann förmlich fühlen, wie er aufatmet. Und ich auch. Immerhin will ich das hier nicht. Und er auch nicht.   „Aber die Überraschung, die du mir versprochen hast, hätte ich schon gerne.“   Boah, echt jetzt? Fabian, du bist. So. Dämlich. Ernsthaft. Welchen Teil von „er ist nur ein Freund“ hast du denn eigentlich nicht verstanden? Und was erwartest du jetzt? Dass er niederkniet und dir nen Antrag macht?   Ach was. Ein Blowjob würde mir reichen.   Aber natürlich ist das Quatsch. Vollkommener Quatsch, allerdings wenigstens welcher, der mich einigermaßen wieder runterbringt. Denn Bruno wird mir keinen blasen. Und auch keinen Ring anstecken. Trotzdem sieht er nervös aus. Nervöser als noch vor einer Minute. Was hat er denn nur vor?   „Ich … also …“   Ich glaube, wenn er einen Hut in der Hand hätte, wäre der gerade echt in Gefahr, in kleine Stücke zerfetzt zu werden. Oder vollkommen zerdrückt. Oder vielleicht …   „Ich ziehe zu Hause aus.“   Bumms. Das ist das Geräusch, mit dem mein Hintern gerade auf dem Teppich gelandet ist, nachdem Bruno mir so nonchalant den Boden unter den Füßen weggezogen hat. In Wahrheit stehe ich natürlich noch. Obwohl … der letzte Cocktail muss irgendwie schlecht gewesen sein. Um mich dreht sich alles.   „Du ziehst … was?“, wiederhole ich und halte ihn mit einem schnellen Handgewedel davon ab, diese Ungeheuerlichkeit auch noch zu wiederholen. Dazu habe ich zu viele Fragen. „Wann? Wohin? Wie?“   Anscheinend klinge ich einigermaßen fassungsverloren, was Bruno wiederum dazu bringt, seine wiederzuerlangen. Er atmet tief durch.   „Zu meinem Onkel“, erklärt er und lächelt dabei ein wenig. „Er war letzte Woche bei mir im Studio. Kurz nachdem du weg warst. Meine Mutter hat ihn angerufen und … er hat einen Job für mich.“   „Einen Job?“, echoe ich und komme nicht mehr mit. Gerade war es doch noch eine Wohnung und jetzt auch noch ein Job? Sein fucking Ernst? „Dein Ernst?“, bringe ich auch noch heraus, während ich versuche zu rekapitulieren, was er mir gerade eröffnet hat. Irgendwo zwischen Wodka, Tequila und zu viel Ananassaft schwant mir, dass das grüne Hemd, in das ich hineingerannt bin, irgendwas mit der Sache zu tun haben muss. Sein Quadratschädel kam mir gleich so verdächtig vor. Aber warum und wie und was genau hier gerade abgeht, übersteigt momentan meinen geistige Fassungskapazität. Morgen vielleicht, wenn ich wieder nüchtern bin.   „Mein voller Ernst“, antwortet Bruno jedoch und scheint fast ein bisschen stolz auf sich zu sein. Und vermutlich kann er das wohl auch, doch meinem inneren Arschloch gelingt es, für einen Augenblick, die Kontrolle über meine Stimmbänder zu erlangen. „Und dein Vater?“   Kaum habe ich das gesagt, verdüstert sich Brunos Miene. Man, was bin ich doch für ein Depp. Ehrlich. Bruno hat es geschafft. Er hat sich auf den Weg gemacht. Und ich?   „Er weiß es noch nicht“, sagt Bruno leise. „Ich wollte noch abwarten, ob es wirklich klappt, bevor ich es ihm sage.“   Er hebt den Kopf und sieht mit aus dunklen, glänzenden Augen an. „Außerdem wollte ich es dir zuerst erzählen.“   Ich schlucke. In meiner Brust ist plötzlich ein Knoten, wo eigentlich mein Herz hingehört. Ein Knoten mit Schluckauf. Es puckert und muckt und möchte am liebsten zerspringen, doch gleichzeitig ist da diese Mauer. Die Grenze. Das ungesagte „Ich darf das nicht“, das es mir verbietet, ihm einfach um den Hals zu fallen und ihn zu küssen. Dabei will ich das doch. So gerne.   Peng … Puff! Etwas explodiert am Himmel und taucht Brunos Züge in blaues Licht. Gleich darauf folgt ein goldenes und dann ein rotes und grünes Aufleuchten. Es zischt und knallt. Funkenregen und Blitzgewitter. Alles auf seinem Gesicht. Und mittendrin ein Schrei. „Scheiße! Fabian? FABI!“ Das ist eindeutig Pascal. Er ruft meinen Namen.   „Fabian! Oh scheiße, komm schnell! Das Feuerwerk!“   Ich begreife und irgendwie auch nicht. Dass das hier gerade passiert. Ich und Bruno. Im Feuerwerk. So wie ich es mir vorgestellt hatte und doch ganz anders. Denn ich darf ihn nicht haben. Ich darf nicht.   „Bruno …“   Da ist so viel, was ich sagen möchte. So viel, was ich fühle. Angst und Hoffnung und noch mehr Angst und … Liebe. Denn scheiße, ja! Egal, was ich mir immer wieder einrede. Egal, was alles dagegen spricht. Ich bin in diesen verdammten Idioten verliebt. Doch bevor ich ihm das sagen kann, weicht er vor mir zurück. In die Schatten, wo niemand ihn sehen kann. Irgendwo höre ich donnernde Schritte. Auf der Treppe. Pascal. Er kommt um mich zu holen. „Fabian? Komm! Irgendsoein Spast hat das Feuerwerk gezündet. Du musst kommen.“   Pascals Finger legen sich um mein Handgelenk und zerren mich rücksichtslos mit sich. Die Treppe hinunter und raus auf die Terrasse, wo sich alle anderen schon versammelt haben. Rot und blau und gold blitzt es über uns auf. Es zischt und pfeift. Rauchgeruch liegt in der Luft und „Ahs“ und „Ohs“. Alles ganz genauso, wie ich es mir gewünscht habe. Nur nicht mit Pascal. Nicht mit ihm. „Happy Birthday, Mann!“, schreit mein bester Freund mir jedoch ungerührt ins Ohr. Er schlingt seinen Arm um meine Schulter und drückt mich an sich. Und ich? Ich drücke zurück. Weil es alles ist, was ich haben darf. Weil ich nicht mehr bekommen werde. Und weil es mein scheißverdammter scheißhappy Birthday ist.   Kapitel 20: Zeit für die Wahrheit --------------------------------- „Alles okay, Kumpel?“   Im Licht der explodierenden Sterne schauen mich Pascals gerunzelte Brauen fragend an. Auch sein Blick ist nicht von schlechten Eltern. So richtig besorgt. Zum Gruseln.   „Ja klar, alles supi“, sage ich und weiß im selben Moment, dass er jetzt unter Garantie weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich mein, wer sagt schon 'supi'? „Ich hab nur was im Auge.“   Oh fuck, echt jetzt? Habe ich das gerade wirklich gesagt? Warum? Ich meine, ich heule nicht mal. Warum sage ich so was? Ich sollte echt mal zum Arzt damit gehen. Das ist doch nicht normal.   Auch Pascal scheint zu finden, dass normal anders geht. Jedenfalls mustert er mich jetzt noch kritischer und dann …   „Oh scheiße!“   Äh ja … gut. Das ist jetzt nicht so ganz die Reaktion, die ich erwartet habe. „Ich bin so ein Klappspaten. Man, warum sagst du denn nichts?“   Sagen? Was denn sagen? Ich meine, ich habe doch gerade schon genug Schwachsinn von mir gegeben. Warum sollte er jetzt noch mehr davon wollen? „Wenn ich geahnt hätte, dass du …“   Oh natürlich. Jetzt bricht er auch noch mitten im Satz ab und erwartet, dass ich den Rest der Aussage anhand seiner mehr als dürftigen Mimik errate. Man, Junge! Sprich Deutsch mit mir!   „Und ich denk noch so: 'Warum hängt Fabi denn jetzt drinnen ab?'“, fährt mein Freund doch tatsächlich fort und schwankt dabei zwischen Lachen und Bedauern. „Oh man, das tut mir so leid. Ich wollte euch echt nicht stören, aber das Feuerwerk und …“   Wieder beendet er den Satz mitten im Wort und sieht mich aus großen, dunklen Kulleraugen an. Und ich? Ich hab voll den Flashback. Von Bruno. Bruno, der mir erzählt, dass er wegzieht. Weg! Und ich weiß nicht mal, wohin. So ein dämliches, dummes, verficktes, Riesena… „Ist er noch hier?“   Ich blinzele und sehe mich statt mit einem geknickten plötzlich mit einem neugierigen Pascal konfrontiert. Einem, der sich den Hals verrenkt, um zu sehen, ob Bruno …   Vorsicht! Er weiß nicht, dass es Bruno ist.   „Ich … wir … äh … wir haben Schluss gemacht.“   Eh? Mein Ernst, jetzt? Ich suche nach einer guten Ausrede, um Pascals Aufmerksamkeit von der Terrassentür loszueisen, und das ist das Erste, was mir einfällt? Wirklich?   Allerdings muss man mir wohl zugutehalten, dass es funktioniert. Pascal hört auf, hinter mich zu starren, und fokussiert sich wieder auf meine Wenigkeit. Leider ist seine Reaktion kein Stückchen besser als vorher. „Ihr habt … was? Dein Ernst?“   Ja, schon irgendwie. Ich meine, wenn man die Lage bedenkt und …   „Was für ein Arschloch!“   Wieder blinzele ich, denn obwohl das ja schon irgendwie das ist, was ich auch gerade gedacht habe, komme ich bei Pascals Stimmungsschwankungen gerade nicht ganz mit. Warum ist er denn jetzt sauer?   „Der kann doch nicht an deinem Geburtstag mit dir Schluss machen. Spinnt der? Oh, wenn ich den in die Finger kriege, dann kann der aber was erleben. Den verarbeite ich zu Hackfleisch.“   Pascal ballt drohend die Fäuste und ich muss bei dem Gedanken, wie er auf Bruno losgeht, schon ein bisschen grinsen. Immerhin ist Pascal nicht viel größer als ich und auch nicht gerade ein Muskelprotz. Trotzdem muss er irgendwo italienische Wurzeln haben oder so. Sein Temperament ist jedenfalls nicht von schlechten Eltern. „Komm wieder runter, Alter“, sage ich und lege ihm beruhigend die Hände auf die Schultern. „Es war schon vorher Schluss.“   Wieder ändert sich Pascals Gesichtsausdruck, diesmal zurück zu Verwirrung und Fassungslosigkeit. Ich glaube, der ist gerade echt noch gebeutelter als ich.   „Ich wollt’s dir nur nicht sagen, weil du doch alles vorbereitet hast“, fahre ich fort. „Die Party, das Essen und alles. Da hab ich gedacht …“   Ein wenig hilflos deute ich auf das Drumherum. Die vielen Leute, das Feuerwerk, das gerade zu einem grandiosen Finale aufläuft, die vielen Lichter und die gute Stimmung und ich mittendrin als totaler Trauerkloß. Das ist wirklich nicht das, was Pascal verdient hat, bei all der Mühe.   Lügen haben kurze Beine, mischt sich meine Oma mal wieder ein und ich glaube, die alte Dame hat wirklich recht. Ich hätte es ihm früher sagen müssen. Kackmist, verdammter!   Pascal schnauft. Einen Moment lang holt er Luft, dann seufzt er und zieht mich in eine Umarmung. „Tut mir leid, Kumpel“, sagt er und tätschelt mir ein bisschen den Rücken.   „Mir auch“, nuschele ich in sein Hemd, das er heute mal wieder offen trägt. Wie Bruno. Aber der ist jetzt nicht hier, sondern weit weit weg. Wie auf dem Mond, nur anders. Vielleicht besser. Oder schlechter. So ganz sicher bin ich mir das nicht. Ich weiß nur, dass ich in Pascal einen echt guten Freund habe. Und dass ich was zu trinken brauche. Dringend.       „Kommt gut nach Hause!“   Sina und Michelle umarmen sich noch einmal, bevor die kleine Truppe – die letzte für heute – sich endlich auf den Heimweg macht. Bei denen dachte ich echt, die würden nie gehen. Besonders weil Jonas … ach lassen wir das. Sie sind ja jetzt weg.   „So, das war’s“, verkündet Pascal und zieht den Stecker aus der Anlage. „Feierabend für heute.“ Der Garten um uns herum gleicht einem Schlachtfeld. Überall liegt etwas. Gläser, angefangene Flaschen und Pizzakartons (Wo kommen die denn her?) sowie etliche Servietten, Strohhalme und Plastikbecher verunzieren den Rasen. Ganz zu schweigen von den Tellern mit Essensresten, die die Rabatten bevölkern und so mit Sicherheit Ratten anlocken. Damit jedenfalls droht uns Michelle, nachdem Pascal und ich uns geweigert haben, jetzt noch aufzuräumen. „Morgen mit Kater wird es auch nicht leichter“, verkündet sie und fängt doch tatsächlich an, den Müll einzusammeln. Ich knurre und werfe Pascal einen Blick zu. „Vielleicht hättest du mal Schluss machen sollen. Deine Bitch ist ein echter Sklaventreiber.“   „Das hab ich gehört“, flötet Michelle von der anderen Seite des Pools und grinst mich an, als wäre sie eines der unzähligen Aufblastiere, die schon leicht luftleer im Wasser herumdümpeln. Eigentlich könnte ich ja nochmal reinspringen. Dann müsste ich wenigstens nicht aufräumen. Wer schwimmt, der nichts unternimmt oder so ähnlich. Leider scheine ich durchschaut worden zu sein. „Untersteh dich!“, höre ich da nämlich schon Michelle schimpfen und frage mich, woher sie nur wusste, was ich vorhabe. Gut, dass ich mir die Schuhe ausgezogen habe, war vielleicht ein Hinweis, aber … „So betrunken bist du nicht.“   Mhm, stimmt. Punkt für sie. Denn nachdem ich zunächst von Cocktails auf Tequila pur umgestiegen war und Michelle mich wenig später bei dem Versuch erwischte, mit einem Plastikflamingo rumzumachen, hat sie mir von da an Alkoholfrei verordnet. Das hat nun wiederum zur Folge, dass ich jetzt, vier Stunden später, wieder einigermaßen nüchtern, dafür aber viel zu wach bin. In Cola ist eben doch Koffein. Ich hätte es wissen müssen.   „Wir müssen noch die Stühle reinschaffen. Heute Nacht soll es regnen.“   „Heute Nacht soll es regnen“, äffe ich dat Michelle-Mäuschen nach und frage mich, wer eigentlich auf die dämliche Idee gekommen ist, die scheißschweren Loungemöbel auf den Rasen zu schleppen. Ich meine, die standen doch gut da, wo sie waren. Warum? Why?   „Komm, wir machen das zusammen“, höre ich meinen Freund sagen und stöhne etwas. Meine Fresse, der steht aber auch unter Michelles Knute. „Na gut“, gebe ich mich murrend geschlagen und trotte lustlos hinter Pascal her, der schon den ersten Sessel im Visier hat. Kurz bevor er dort ankommt, bleibt er jedoch wie angewurzelt stehen. Sofort checke auch ich alarmiert die Gegend. Was? Was ist passiert? Haben wir Einbrecher? Wildschweine? Haselmäuse? Ratten?! „Hey, Simmrich!“, höre ich da eine dunkle und viel zu vertraute Stimme, die sich jetzt zusammen mit einer massiven Gestalt aus dem Schatten schiebt. Vor Schreck bleibt mir doch glatt der Mund offen stehen. Was macht der denn hier?   „Bruno“, bringt jetzt auch Pascal heraus und betrachtet den Neuankömmling so, als wäre gerade tatsächlich ein Elch aus dem Unterholz gebrochen. Was ich ihm definitiv nicht verübeln kann. Ich meine, wir sprechen hier immerhin von Bruno …   „Braucht ihr Hilfe?“   Bruno, der ein Stück unterhalb des Abhangs stehengeblieben ist, schaut zu uns hoch und erwartet wohl, dass einer von uns eine Antwort auf seine Frage hat. Die von uns beiden offenbar noch prozessiert wird, denn weder ich noch Pascal geben auch nur ein Sterbenswörtchen von uns. Dafür erscheint Michelle auf der Bildfläche und rettet mal wieder den Tag. „Bruno!“, meint sie und lächelt freundlich. „Was machst du denn noch hier?“   „Ich wollte beim Aufräumen helfen“, erklärt Bruno noch einmal und fühlt sich im Licht unserer geballten Aufmerksamkeit offensichtlich unwohl. Allerdings wäre Michelle nicht sie selbst, wenn sie das lange zulassen würde. „Aber klar doch. Gerne“, meint sie doch glatt und wendet sich an ihr Schätzelein. „Ihr könnt doch Hilfe gebrauchen, oder?“   Was folgt ist einer dieser Situationen, in denen Leute die gleiche Reaktion zeigen sollten, sich jedoch nicht abgesprochen haben und dann auf eine gestellte Frage völlig unterschiedliche Antworten von sich geben. Dementsprechend nickt Pascal jetzt, während ich den Kopf schüttele, woraufhin er dann den Kopf schüttelt und ich nicke. Damit verwirren wir Bruno, der ohnehin schon aussieht, als würde er am liebsten die Flucht ergreifen. Aber er bleibt. Warum bleibt er?   „Gut, dann … nehm ich mal die Stühle“, verkündet er schließlich und macht sich daran, ganz alleine einen von den Loungesesseln zu schultern. Kurz bevor er das tut, wirft er mir noch einen kurzen Blick zu, so als wollte er schauen, ob ich damit einverstanden bin.   'Alles klar bei dir?' steht darin. Oder auch 'Tut mir leid'. So ganz sicher bin ich mir nicht. Liegt vermutlich daran, dass in meinem Kopf immer noch Ausnahmezustand herrscht.   „Ich glaube, wir sollten mal weitermachen.“   Pascals Selbstbeherrschung übersteigt meine offenbar bei Weitem. Oder sein Schock ist nicht so groß. Wie immer es auch ist, wir schaffen es irgendwie beide, uns wieder in Bewegung zu setzen. Auch wenn mein Einsatz eher einem Zombie in Zeitlupe ähnelt und ich ständig über meine eigenen Füße stolpere.   Ich hab gedacht, er ist heimgegangen.   Habe ich wirklich. Immerhin ist er während der ganzen Show nicht wieder aufgetaucht und als ich kurz nach Ende des Feuerwerks im Obergeschoss gucken gegangen bin, war er weg. Durch die Haustür raus, wie ich vermute, denn die Terrassentür habe ich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Und jetzt ist er wieder da. Und stemmt Stühle. Scheiße, warum stemmt er Stühle?   „So, ich glaube, das war’s.“   Michelles Feststellung eine gute halbe Stunde später reißt mich aus meinen Betrachtungen. Nachdem die Möbel abgeräumt waren, bin ich an die Getränkefront abkommandiert worden. Flaschen sortieren und Reste wegschütten. Dass ich mich dabei nochmal an der Tequilaflasche vergriffen habe, hat, glaube ich, keiner mitbekommen. „Gut, ich mach mal das Licht aus.“ Auf Pascals Ansage hin, wird es kurz darauf merklich dunkler im Garten. Nur noch die spärliche Beleuchtung über der Lounge-Ecke ist eingeschaltet und strahlt meinen Rücken an. Das heißt dann wohl, dass ich aufhören kann so zu tun, als wäre ich beschäftigt. Aber ich trau mich nicht. „Na dann …“ Das ist Bruno. Ich höre förmlich, wie er dasteht. Michelle und Pascal neben ihm und doch ein kleines Stück weit entfernt. Er sieht sie an.   „Michelle. Simmrich.“   Ich höre, oder vielleicht sehe ich es auch aus den Augenwinkeln in der großen Scheibe, dass er ihnen zunickt. Ein Abschiedsgruß, wie er im Buche steht. Im Bruno-Buch. Wäre wahrscheinlich kein Bestseller.   „Fabian?“   Ich schrecke zusammen. Heißkalte Ameisen rasen meinen Rücken hoch und runter und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gerade ein bisschen Pipi in meine Hose gemacht habe. Vielleicht sollte ich mal ein Buch schreiben. Oder einen Film drehen. 'Call me by my name' oder so. Hätte bestimmt Zeug zum Klassiker.   „Ja?“   Langsam drehe ich mich um, in meiner Hand immer noch die Flasche, an der ich mich die letzte halbe Stunde lang festgehalten habe. Schnell stelle ich sie beiseite und wische mir die Hände an den Hosenbeinen ab. Sie sind klebrig und feucht.   „Was ist?“   Tatsächlich steht Bruno genauso da, wie ich es mir vorgestellt habe. Gerade so am Rande des Lichtkreises, der einige Zentimeter über den Terrassenrand hinausgeht. Das Meiste von ihm ist nicht mehr als eine verschwommene Silhouette, seine Augen jedoch liegen fest auf mir. „Ich … ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken. Für die Einladung.“   Ich schlucke. In meinem Kopf habe ich wieder dieses Summen, dass verhindert, dass ich irgendetwas denke. Also quatsche ich einfach drauf los. „Klar“, erwidere ich, als wäre es das Leichteste auf der Welt. „Gerne.“   Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass Bruno enttäuscht ist. So als hätte er … mehr erwartet. Irgendwas.   Doch der Moment vergeht und er nickt mir noch einmal zu, ebenso wie er das bei den anderen getan hat, bevor er sich umdreht und verschwindet. Einige Sekunden sehe ich noch, wie sich sein breiter Rücken vom Nachthimmel abhebt, dann ist er verschwunden und ich bleibe allein und verwirrt zurück.   Nun ja, nicht ganz allein. „Bruno?“   Pascals Ausruf erinnert mich an ein Maultier mit Hustenreiz. So ein heiseres Blöken mit zu wenig Luft am Ende. Ein wenig konsterniert sehe ich ihn an. Mein Freund starrt. Er starrt mich an, als wäre ich derjenige, dem gerade ein zweites Paar Ohren gewachsen ist und als könne er das definitiv nicht glauben. „Ist das dein Ernst?“, japst er und ich überlege. Ist was mein Ernst? Wovon spricht er? „Oh mein Gott.“   Jetzt fängt auch noch Michelle an zu lachen. Ich glaube, ich hab irgendwas verpasst. Kann mich mal bitte jemand aufklären?   „Du verdammter …! Mann! Bruno? Wirklich?“   So langsam dämmert es mir. Es dämmert mir so einiges. Allem voran, warum Bruno mich so angeguckt hat. Und warum Pascal so außer sich ist.   „Äh …“   Sehr viel mehr fällt mir gerade nicht ein. Denn scheiße, nein, ich hab keine Ahnung, wie ich meinem besten Freund das erklären soll. Oder seiner Ische.   Zum Glück scheint letzteres nicht notwendig zu sein, denn Michelle grinst wie ein waschechtes Honigkuchenpferd. Mit Zuckerguss. „Ich hab doch gewusst, dass da was im Busch ist.“   Immer noch breit lächelnd kommt sie auf mich zu und im nächsten Moment schlingen sich ihre Arme um mich. Viel zu viele Arme. Ich fühl mich wie Calamari fritti.   „Du bist echt ein Schafskopf. Warum hast du denn nichts gesagt?“   Tja, warum wohl nicht? Wenn ich mir Pascal so ansehe, weiß ich warum. Der Kerl ist weiß wie die Wand und offenbar reif für die Klappsmühle.   „Bruno“, ächzt er noch einmal und legt in dieses eine Wort so ziemlich alles, was ich wohl ebenfalls denken würde, wenn es umgekehrt wäre. Nur das Pascal ja nicht am selben Ufer fischt wie ich. Oder Bruno.   „Wann? Wie?“   Mhm, ziemlich gute Fragen. Die bestimmt eine Antwort verdienen, aber nicht mehr heute. Oder am besten nie.   „Hat sich so ergeben“, sage ich deswegen mit einem Schulterzucken und tue so, als wäre alles normal. Was es natürlich nicht ist. Mir schwirrt der Kopf. Warum hat er das gemacht? „Aber ich dachte, ihr beide … hasst euch!“   Pascals Unglaube ist schwer auszuhalten. Fast ebenso schwer wie Michelles Grinsen.   „Wo die Liebe hinfällt“, säuselt sie und macht immer noch einen auf Strahlefrau. Es ist zum Kotzen.   „Ich dachte, ihr habt Schluss gemacht.“   Tja, und genau das ist der Punkt, den ich eben auch nicht so recht verstehe. Was genau hat Bruno dazu bewogen, sich ausgerechnet jetzt zu outen? Noch dazu vor Pascal und Michelle. Das passt nicht zusammen.   „Das dachte ich auch“, sage ich leise und blicke noch einmal in die Richtung, in die Bruno verschwunden ist. Was bitte geht in seinem Kopf vor? Und wie soll ich jetzt darauf reagieren?       „Fabian? Bist du fertig?“ „Gleich! Ah fuck, Scheiße!“   Missmutig betrachte ich die Unterseite meines Kinns, an der unübersehbar ein blutiger Schnitt klafft. Also eigentlich kein wirklicher Schnitt. Mehr so ein Schnittchen. Brennt aber trotzdem wie Sau. Ich glaube, ich muss mich … „Nun mach schon. Wir kommen sonst zu spät.“   Mann, meine Mutter nervt echt. „Ja gleich!“, brülle ich zurück. „Ich blute.“   Letzteres nimmt sie natürlich zum Anlass, ihren Kopf ins Badezimmer zu stecken. Hallo? Privatsphäre?! „Schlimm?“, will sie wissen und hebt fragend die Augenbrauen.   „Ja“, fauche ich zurück. Natürlich ist das schlimm. Ich meine: Ich blute!   „Zeig mal her“, sagt sie doch jetzt glatt und kommt ins Badezimmer gestöckelt. Ihre Absätze klackern auf den weißen Fliesen. Wenn ich hier mit Schuhen reinkäme, wäre der Teufel los. „Wo denn?“   Kritisch beäugt sie mein Kinn, kann aber anscheinend nichts erkennen. Das ist ja mal wieder typisch. Ich leide und sie sieht nichts.   „Wenn du willst, mach ich ein Pflaster drauf“, bietet sie mir trotzdem an. Ich glaube, es hackt.   „Nee, geht schon“, murmele ich und schiebe mich an ihr vorbei aus dem Raum. Schließlich muss ich mich noch anziehen. Ein schwarzes Hemd und eine ebensolche Hose liegen schon auf dem Bett bereit. Das Zeug passt nicht zu dem strahlenden Wetter draußen, aber was soll man machen.   „Bitte beeil dich etwas. Die warten doch schon.“   Mit Sicherheit nicht, aber ich werde jetzt garantiert keinen Streit anfangen. Dazu sitzt mir das Wochenende noch zu sehr in den Knochen.     In halsbrecherischem Tempo bringt meine Mutter uns zum Friedhof am anderen Ende der Stadt, Meinen Kommentar, ob sie plant, gleich hierzubleiben, ignoriert sie geflissentlich. Es ist wirklich kein Wunder, dass ich fahre wie ne besengte Sau. „Die Musik läuft schon“, flüstert sie und huscht, so schnell es ihre Absätze zulassen, durch die Tür der kleine Kapelle.   Drinnen ist es still, dunkel und feierlich. Kerzen brennen und einige Leute in schwarzer Kleidung sind auf die hölzernen Sitzbänke verteilt. Ganz vorne sitzt keiner. „Hier“, wispert meine Mutter fast unhörbar und fordert mich mit Gesten auf, mich in eine der mittleren Reihen zu setzen. Ich gehorche und rutsche, sodass sie sich gerade noch rechtzeitig neben mich quetschen kann, bevor die Orgelmusik abbricht und der Pfarrer in seiner schwarzen Kutte ans Pult tritt. „Liebe Gemeinde …“ beginnt er und hört dann eine ganze Weile auch nicht wieder auf zu sprechen. Über Buße und Menschen und Gott und das Himmelreich. Ich betrachte derweil das Bild von Herrn Häberle, das ganz vorne auf einem kleinen Tisch neben seiner Urne steht. Schwarz ist sie mit einem goldenen Streifen. Ich frage mich, wer die ausgesucht hat. Meine Mutter?   Ein Puff an meinem Arm macht mir deutlich, dass ich aufstehen soll. Wir singen irgendwas, setzen uns wieder, hören noch mehr Gerede, singen nochmal und irgendwann scheint die ganze Sache vorbei zu sein. Jedenfalls erheben sich alle und streben dem Ausgang zu.   „Und jetzt?“, frage ich, weil niemand wirklich Anstalten macht, Herrn Häberle mitzunehmen. Oder wenigstens das, was von ihm übrig ist. „Jetzt bringen wir die Urne noch zum Grab“, flüstert meine Mutter zurück. Draußen erwartet uns der Pfarrer. Er drückt meiner Mutter die Hand und nickt mir zu, als wüsste er, wer ich bin. Kurz darauf erscheint ein Mann, der die Urne trägt. Wir folgen ihn zwischen den Grabreihen entlang bis zu einem Platz, an dem einen tiefe Grube ausgehoben worden ist.   „Möchten Sie noch etwas sagen?“ Die Frage geht wieder an meine Mutter. An wen auch sonst, denn außer uns ist ja keiner da.   Meine Mutter nickt und tritt an die Grube. Jetzt weiß ich endlich auch, wozu sie die Blumen mitgeschleppt hat, die inzwischen schon ein wenig welk geworden sind. Es ist echt heiß heute.   „Vielen Dank“, sagt meine Mutter und ich habe dass Gefühl, dass sie gerade etwas mit ihrer Fassung ringt. „Für alles.“   Dann wirft sie die Blumen ins Grab und kommt, ein bisschen schniefend, zu mir zurück. „So, das war’s“, meint sie und macht ein tapferes Gesicht. Eigentlich müsste ich jetzt wohl rummotzen, weil es zu warm ist, die ganze Veranstaltung deprimierend und langweilig und ich sowieso eigentlich ganz andere Probleme habe. Aber ich sage nichts. Stumm gehen wir beide in Richtung des Friedhofsausgangs zurück. Neben uns die Grabreihen. Alle hübsch säuberlich gepflegt und eingezäunt. Auf dem meisten stehen Blumen, manchmal Büsche oder auch Statuen und Kerzen. Ich betrachte die Inschriften und versuche auszurechnen, wie alt der- oder diejenige wohl geworden ist. Leider sind wir immer zu schnell an den Gräbern vorbei. Oder ich bin einfach nicht so gut im Kopfrechnen. Vermutlich eher das Zweite. „Und?“, fragt meine Mutter irgendwann, als das Tor mit den zwei Steinsäulen schon in Sichtweite gekommen ist. „Hast du Hunger?“   Hunger? Nein, nicht wirklich. Eigentlich ist mir eher danach, mich noch zwei oder drei Stunden ins Bett zu packen. Die Nächte waren in letzter Zeit echt kurz. „Nein“, sage ich jedoch ganz zivilisiert. Immerhin klebt gerade Friedhofserde an meinen Schuhen, da muss man sich wohl zusammenreißen.   Wieder gehen wir ein paar Schritte, aber meine Mutter hat offenbar nicht vor lockerzulassen.   „Wenn du möchtest, können wir auch irgendwo hingehen. Ins Eiscafé. Oder einfach nur spazieren.“   Ich unterdrücke ein Schnauben und starre weiter auf die unzähligen Grabsteine. Können wir nicht einfach nach Hause fahren und ich verkrieche mich wieder in meinem Bett? Leider scheint meine Mutter diesem Plan äußerst abgeneigt. Sie wird langsamer. „Weißt du… ich wollte da gerne etwas mit dir besprechen. Aber ich glaube, dass du selbst gerade etwas auf dem Herzen hast. Möchtest du mir davon erzählen?“   Dieses Mal rolle ich wirklich mit den Augen. Nervige Kuh!   „Nein“, brummele ich und beschleunige meine Schritte. „Können wir jetzt heimgehen?“   Meine Mutter seufzt. Ich höre sie seufzen und weiß, dass sie es bestimmt gut meint. Aber das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint, oder so ähnlich. Außerdem kann ich ihr das einfach nicht erklären. Ich kann nicht. „Ist es wegen deines Geburtstags?“   Sie hat zu mir aufgeschlossen und geht jetzt wieder neben mir. Ich kneife die Lippen zusammen und antworte nicht. Soll sie doch mit der Wand reden.   „Oder hat es etwas mit diesem Bruno zu tun?“   Bämm, Volltreffer! Mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um im nächsten Moment doppelt so schnell gegen meine Rippen zu hämmern. So eine Scheiße! Woher weiß sie das? Woher weiß sie das?   „N-nein?“, versuche ich mich herauszureden, aber man muss wohl kein Anwalt sein, um zu merken, dass ich lüge. Meine Mutter lächelt nachsichtig. „Keine Sorge, ich habe nicht vor, dir irgendwie reinzureden. Aber ich sehe, dass dich die Sache belastet. Deswegen …“ Deswegen musstest du deine Nase in meine Angelegenheiten stecken und mir blöde Fragen stellen, auf die ich nicht antworten will. Schon klar. Danke, Mutter! „Es ist nichts“, murre ich daher und wende den Blick ab. Zumindest jetzt nicht mehr. Glaube ich wenigstens. Ich weiß es nicht.     „Er will bestimmt, dass du ihm nachläufst.“   Das wenigstens hat Michelle behauptet, nachdem ich ihr und Pascal die ganze Geschichte erzählt hatte. Also fast die ganze. Die Einzelheiten hatte ich im Rahmen des „Rettet-Pascals-intime-Umschuld“-Projekts ausgelassen. Immerhin wollte ich meinen Freund noch behalten. „Was er nicht tun wird“, kam daraufhin fauchend von eben jenem Freund zurück. „Wenn Bruno was von Fabi will, soll er gefälligst mit der Sprache rausrücken.“   „Und wenn er sich nicht traut?“ „Dann soll er sich mal Eier wachsen lassen. Von nichts kommt nichts.“ „Sagt derjenige, der sich vor Nervosität fast übergeben hätte, als er mich nach einem Date fragen wollte.“ „Aber ich hab dich gefragt.“ „Du hast mich angeschrien!“   An dieser Stelle hab ich es dann für besser gehalten, das Gespräch abzubrechen und mich mit meinem Freund Don Julio zu einer intensiven Beratung zurückzuziehen. Einer Beratung, die in den frühen Morgenstunden in einer sehr betrunkenen Nachricht an Bruno gipfelte.   'Warum hast du das gemacht'?, hab ich geschrieben, wenn man die Rechtschreibfehler abzog und die kryptischen Zeichen in einen verständlichen Text übersetzte. 'Weil er dir wichtig ist', war Brunos Antwort.     Das ist das Letzte, was ich von ihm gehört hab. Seit dem mache ich einen großen Bogen um mein Handy, was sogar schon dazu geführt hat, dass meine Mutter es mir in mein Zimmer hinterhertragen musste. Kein Wunder, dass sie so misstrauisch ist. Normalerweise bin ich ja mit dem Teil verheiratet. Aber jetzt …   „Du magst ihn, oder?“   Argh, schon wieder meine Mutter. Die gibt auch nicht auf. „Hmpf“, mache ich und strafe damit jeden möglichen Abstreitversuch Lügen. Es ist echt zum Kotzen. „Woher weißt du das?“, brummele ich und kicke einen Stein, der gerade so blöd im Weg herumliegt, durch die Gegend. Er trifft ein Grab. Scheiße!   „Na ja“, meint meine Mutter und lacht leise. „Also zum einen kommt es ja nicht gerade häufig vor, dass du unvermittelt mit Übernachtungsbesuch auftauchst. Und wenn du dann am nächsten Tag auch noch freiwillig die Bettwäsche abziehst …“   „Mama!“, unterbreche ich diese unglaubliche Peinlichkeit ganz schnell, bevor sie noch ins Detail geht. Immerhin hatten wir das Thema bereits und es war abgemacht, dass das meine Sache ist. Ganz allein meine Sache. Seit … schon immer!   Ich frage schließlich auch nicht, ob sie mit diesem Anwalt … also … nein. Nein!   Meine Mutter guckt nicht gerade, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Mehr so, als würde sie sich Sorgen machen. „Was ist passiert?“   Hätte ich einen Tisch, würde ich wohl hineinbeißen. Das ist so cringe! „Ich will nicht darüber reden.“   Manche Dinge muss man wohl einfach laut aussprechen. Sicher ist sicher. Vielleicht hab ich beim ersten Mal genuschelt oder so.   Wieder seufzt meine Mutter. Dieses Mal klingt es eher resigniert. „Manchmal erinnerst du mich wirklich sehr an deinen Vater.“   Diese Aussage entlockt mir ein Knurren. Ich bin ganz bestimmt nicht wie er. Ich hab niemanden sitzenlassen. „Weiß er, was du für ihn empfindest?“   Mein Vater? Na, ich gehe davon aus, dass er das weiß. Immerhin habe ich … oh. Oh! Sie meint Bruno. Tja also …   „Vermutlich“, murmele ich und will immer noch nicht darüber reden. „Also hast du es ihm nicht gesagt?“   Ich bleibe stehen und frage mich, wo in aller Welt ich eigentlich die Geduld hernehmen soll, meine Mutter nicht hier und jetzt zu erwürgen. Ich meine, vielleicht findet sich ja hier noch ein Plätzchen, wo ich sie unauffällig loswerden kann. Ein bisschen Erde, ein paar Blumen …   Ich schnaufe. „Nein. Nein, ich habe es ihm nicht gesagt. Aber er … weiß es. Denke ich. Aber das spielt alles auch gar keine Rolle, weil er nämlich nicht … nicht …“   Nicht will, will ich sagen, und weiß, dass das falsch klingt. Nicht kann wäre eine Option, aber auch da bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, ob das wohl noch so stimmt. Denn offenbar tut Bruno ja gerade etwas dafür, dass er kann. Oder nicht? Keine Ahnung. Dafür müsste ich wohl mit ihm sprechen, aber ich … ich … „Ach Fabian …“   Der Seufzer meiner Mutter ist so abgrundtief, dass er mich tatsächlich aus meiner Gedankenspirale, in die ich mich gerade so schön hineinsteigern wollte, herausreißt. Ich bleibe stehen und sehe sie an. Da ist ein trauriges Lächeln auf ihren Lippen. Falten um ihren Mund. Sie sieht plötzlich ein bisschen traurig aus. Trauriger, als sie es sein sollte. Ich will das nicht.   Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin schon groß. Ich krieg das hin.   Noch einmal seufzt sie. Dieses Mal allerdings mit einem Kopfschütteln. Kleine Lachfalten um ihre Augen. „Du bist ihm wirklich unheimlich ähnlich.“ Einen Moment lang bin ich wieder verwirrt, weil ich nicht weiß, wen sie meint, aber dann wird mir klar, dass sie jetzt wieder von meinem Vater spricht. Was hat der denn nur mit dem Ganzen zu tun?   „Bin ich nicht“, protestiere ich lieber mal, aber sie ist anscheinend nicht davon abzubringen. Jedenfalls glaube ich das, wenn ich dieses nostalgische Funkeln in ihrem Augen richtig deute. Oh bitte, nicht auch das noch.   Ich stöhne. „Man, Mama. Können wir bitte den Teil überspringen, wo du mir irgendwelche rührseligen Geschichten von früher erzählst, und bitte gleich zu dem Punkt kommen, wo du mir ungefragt irgendwelche Ratschläge um die Ohren haust? Ich bin heute echt nicht in der Stimmung.“   Hinter mir höre ich ein schnappendes Luftholen. Als ich mich umdrehe, sehe ich mich mit einer älteren Dame mit einer kleinen Harke in der Hand konfrontiert.   „Das hier ist ein Friedhof“, schimpft sie und guckt mich mit ihren Knusperhexenaugen so bitterböse an, das sich doch glatt den Kopf einziehen will. Ich mache es nicht, aber ich würde gerne. „Ja sorry“, gebe ich stattdessen zum Glück nur ein bisschen pampig zurück und wende mich stattdessen lieber wieder meiner Mutter zu. Die sieht allerdings auch so aus, als hätte sie vor Oma Ernas Nachbarin Angst.   „Na los, verschwinden wir von hier.“   Ich beschließe, dass das die beste Idee ist, die sie heute hatte, und folge ihr mit weiten Schritten zum Auto. Als wir drinnen sitzen und der Anschnallgurt in Schloss klickt, mache ich allerdings doch nochmal den Mund auf.   „Nun sag schon endlich, was du sagen wolltest.“   Meine Mutter tut so, als wäre sie erstaunt. „Ich dachte, du wolltest keine Ratschläge“, meint sie mit hochgezogenen Augenbrauen und lässt den Wagen an. Ich schiebe leicht schmollend die Unterlippe vor. „Nein“, muffele ich. „Will ich auch nicht. Aber da du ja eh keine Ruhe geben wirst, bist du ihn mir reingedrückt hast …“   Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass meine Mutter sich ein Grinsen verkneifen muss. Sie setzt den Blinker, schaut in den Spiegel und legt den Rückwärtsgang ein. Danach wirft sie mir einen Blick zu. „Ich denke, du solltest nicht versuchen, Dinge des Herzens mit dem Kopf zu entscheiden. Damit meine ich nicht, dass du einfach von einer Brücke springen sollst, wenn dir danach ist. Aber wenn dir etwas wirklich wichtig ist, solltest du dich nicht von deinen Ängsten zurückhalten lassen. Hab Mut. Hab Vertrauen. Lebe. Und vor allem aber: Hör auf dein Herz.“   Damit setzt sie endgültig aus der Parklücke zurück und reiht sich, nach einem kurzen Stopp, in den laufenden Verkehr ein. Viel ist nicht los. Kein Wunder, schließlich sind die meisten jetzt ja auch bei der Arbeit oder in der Schule. Ein Ort, an den ich nächste Woche auch endlich wieder zurückkehren werde, um meine letzten zwei Prüfungen abzulegen. Und dann?   Nur nicht drüber nachdenken. „Und was wolltest du mir noch erzählen?“   Meine Mutter lacht. „Ach weißt du, ich habe mich doch am Wochenende mit einem Kollegen getroffen. Wir hatten einiges zu besprechen und eigentlich wollte ich mich mit dir über ein paar wichtige Dinge beraten, aber ich denke, ich weiß jetzt schon, wie meine Entscheidung aussieht. Ganz von alleine.“   Erneut wirft mir meine Mutter einen kurzen Blick zu. Sie lächelt dabei und ich kann sehen, wie viel Wärme und Liebe in ihrem Blick liegt. Fast wie bei Bruno.   Ich muss ihn anrufen, denke ich und weiß im gleichen Atemzug, dass das nicht reichen wird. Denn eigentlich weiß ich immer noch nicht, was ich will. Oder vielleicht weiß ich es schon, aber ich weiß nicht, ob ich mich traue.   Zeit es herauszufinden.   Bei dem Gedanken fängt mein Herz an, schneller zu schlagen. Denn ich weiß, dass ich jetzt endlich aufhören muss herumzueiern. Egal, was dabei herauskommt. Und egal, wie schlecht die Zeichen stehen. Es ist Zeit für die Wahrheit.   Kapitel 21: No pun intended --------------------------- Ich hab Schiss.   Ganz egal, was ich versuche, mir einzureden, und wie sehr ich auch einen auf „manly man“ mache … die Wahrheit ist: Ich hab Muffensausen und zumindest sprichwörtlich die Hose voll. (In Wirklichkeit natürlich nicht. Ich meine, selbst wenn es nicht Mittel und Wege gäbe, da unten auf- und auszuräumen, bin ich aus dem Alter ja nun hoffentlich schon lange raus. Oder noch nicht wieder drin. Wie man es nimmt.) Trotzdem herrscht in mir gerade das Gefühl vor, dass ich irgendetwas von mir geben sollte. Mein nicht vorhandenes Mittagessen beispielsweise. Oder spitze Schreie. Ein ordentliches Gebrüll täte es bestimmt auch. Alternativ könnte ich auf etwas einprügeln oder es durch die Gegend kicken. Mit Stöcken zerfetzen. Irgendwas jedenfalls, um die nervige Spannung loszuwerden, die sich mit jedem meiner Schritte weiter in mir aufbaut. Dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob es sich wirklich nur schlecht anfühlt, denn – sind wir mal ehrlich – Ich wollte das hier. Nicht umsonst bin ich ja gestern noch losgetigert und habe mich eine halbe Ewigkeit vor dem Modehaus Bräuer herumgedrückt, um letztendlich doch nur ein Foto von der Fassade zu schießen. Selbiges habe ich dann an Bruno geschickt mit den Worten:   'Ich trau mich nicht rein. Kommst du trotzdem?'   Von ihm kam dann nur ein 'Ja.' zurück. Und genau deswegen latsche ich hier jetzt mal wieder durch die Gegend und erfreue mich an Feld, Wald und Blümchen. Okay, nicht wirklich. Denn eigentlich wäre ich gerade am liebsten zu Hause in meinem Bett und würde mir die Decke bis über die Ohren ziehen. Oder schon da sein. Alles jedenfalls, was endlich die bekloppten Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen bringen würde, denn die machen mich heute wirklich wahnsinnig. Warum machst du das eigentlich?, will jetzt schon zum dritten Mal ein echt angepisster, kleiner Kerl wissen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Pascal in einem Teufelskostüm aufweist und sich auf meiner linken Schulter niedergelassen hat. Wenn der Typ nicht die Eier hat, dir zu sagen, was Phase ist, kannst du es eh vergessen.   Also Eier hat er schon und zwar ziemlich prächtige, bemerkt daraufhin mein altbekanntes Arschloch mit süffisantem Grinsen. War ja klar, dass der wieder nur an das Eine denkt.   Klappe, kann ich allerdings gerade noch zurückdenken, bevor die Stimme auf meiner rechten Schulter das Wort ergreift. Sie trägt ein wallendes, weißes Gewand, spielt Harfe und hat erstaunliche Ähnlichkeit mit Michelle. Oder hätte sie, wenn Michelle denn ein Kerl wäre. Was sie nicht ist, aber so ohne Brüste und im Nachthemd …   Aber wenn er nichts für Fabian empfindet, warum hat er sich dann geoutet?, piepst das kleine Engelchen und sieht dabei höchst entrüstet aus. Der Teufel steckt ihm die Zunge raus und macht ein unflätiges Geräusch.   Pffrrr, geoutet, landet zusammen mit diversen Spucketröpfen und sehr viel Häme in meinem Ohr. Der Feigling hat sich doch alle Türen offengehalten. Ich sage dir, wir vergessen ihn einfach und suchen uns …   Einen dritten Mann für nen Abschiedsfick?   Für einen Moment herrscht Schweigen, dann fangen alle an durcheinanderzureden. Der Engel droht dem Arschloch mit der Harfe, woraufhin der Teufel einen Lachkrampf kriegt und fast von meiner Schulter fällt. Nachdem ich ihm wieder hochgeholfen und alle drei auf die Strafbank verfrachtet habe, herrscht jedoch erst einmal Ruhe. Und die Hütte ist in Sichtweite gekommen. Na großartig. Jetzt treffe ich gleich auf Bruno und hab immer noch keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Frag ihn einfach, ob er Bock hat zu ficken, flüstert das Arschloch noch, bevor ihm der Engel endgültig den Mund zuklebt und der Teufel sich auf seinen Rücken setzt, um zu verhindern, dass ich auf dumme Gedanken komme. Wenigstens da drin sind die beiden sich einig. Was hingegen den Rest angeht …   Sei einfach ehrlich.   Von wem genau dieser Rat nun kommt, weiß ich nicht. Vielleicht von meiner Ma. Oder meiner Oma. Oder ich habe noch irgendeine unbekannte Persönlichkeit entwickelt, die keine Ahnung davon hat, was einem alles Schlimmes passieren kann, wenn man ehrlich ist. Denn wer ehrlich ist, macht sich angreifbar. Extrem angreifbar und das macht mir Angst. Mehr als es sollte.   Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Definitiv meine Oma. Na dann. Ran an den Speck. Oder Mann. Oder so.     Bruno ist bereits da Ich sehe, wie er auf der Veranda sitzt. Ganz ruhig, wie ein Stein. Die Sonne bescheint seine massige Gestalt und plötzlich wünschte ich, dass das alles nicht passiert wäre. Dass ich einfach hingehen, mich in seinen Armen versenken und ihn küssen könnte, bis uns beiden die Luft wegbleibt. Fast schon kann ich ihn an mir spüren, seine Lippen schmecken, seinen Geruch riechen, so kraftvoll und männlich und …   „Hey, Fabi.“   Schnell schüttele ich mich und versuche, die aufkommende Leidenschaft zu unterdrücken. Himmel, das kann doch nicht wahr sein. Ich meine, ich seh den Kerl, und werde spitz wie Nachbars Lumpi. Aber nicht nur das. Ich will ihn küssen und lieben und kuscheln und …   „Hi Bruno.“ Erst jetzt fällt mir auf, dass er mich „Fabi“ genannt hat. Das macht normalerweise nur Pascal. Oder manchmal Michelle. Aber Bruno hat das noch nie getan. Heißt das jetzt, dass wir doch nur Freunde sind?   Schluss jetzt. Du bist hier um zu reden, nicht alles zu zerdenken.   Oder zu ficken, stellt noch jemand klar, aber diese Frage dürfte spätestens geklärt sein, als Bruno sich erhebt und sich ein wenig unbehaglich um sieht. „Wollen wir woanders hingehen?“ Was vermutlich heißt, dass die Hütte tabu ist. Was ich, ehrlich gesagt, ebenfalls begrüße. Zu viele schlechte Erinnerungen. Mir ist nur auf die Schnelle kein Ort eingefallen, an dem wir ungestört wären, und deswegen …   „Klar.“   Ich trete einen Schritt zurück, wie um ihm Platz zu machen, und Bruno erhebt sich. Man, ist der riesig. Ich schlucke unwillkürlich, weil ich echt das Gefühl habe, dass Bruno noch weiter gewachsen ist. Oder ich bin geschrumpft. Ach nee, die Hütte steht auf einer Anhöhe und er somit ein Stückchen über mir. Als er zu mir runterkommt, beruhigt sich mein flatterndes Herz wieder ein wenig. Das heißt, nicht wirklich, denn eigentlich würde es gerne …   „In den Wald?“ „Klar.“   Ohne ihn anzusehen, drehe ich mich um und warte kaum ab, bis er an meiner Seite erscheint, bevor ich mich in Bewegung setze. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen und unter meinen. Keiner von uns sagt ein Wort. Um uns herum blühen die Bäume.     Eine ganze Weile lang gehen wir einfach so geradeaus. Ich weiß, dass ich eigentlich was sagen sollte, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Bruno scheint es genauso zu gehen. Erst, als wir nach einer gefühlten Stunde an eine Wegkreuzung kommen, hält er an.   „Wollen wir …?“ Er weist auf den linken Weg, von dem ich annehme, dass er uns wieder zurück nach Hintertupfingen bringen wird. Der andere führt irgendwo hin. In den Wald vermutlich. Also in noch mehr Wald. Wir stehen ja schon in einem. Um uns herum singen die Vögel. „Wir könnten auch zurückgehen.“   Ja, das wäre schön, oder? Zurück zum Anfang, als alles noch einfach war. Als es mir noch egal war, was Bruno von mir denkt. Als ich nur von ihm gefickt werden wollte. „Ja, das könnten wir.“   Mag sein, dass ich es mir einbilde, aber ich meine fast zu hören, dass Bruno ein wenig enttäuscht klingt. Was ich irgendwie verstehen kann. Immerhin habe ich ihn um dieses Treffen gebeten und immer noch kein Wort rausbekommen. Nicht mal zu seinem Outing. Dabei war das so mutig von ihm. Selbst wenn die Aktion an sich ziemlich bescheuert war, sollte ich ihm wenigstens sagen, dass ich stolz auf ihn bin. Oder dass er stolz auf sich sein kann. Aber vielleicht braucht er mich ja auch gar nicht dazu. Vielleicht hat er ja …   „Du hast das gut gemacht.“   Der Satz – oder der fehlende Zusammenhang, mit dem ich ihn herausschleudere – lässt Bruno den Kopf heben. Sein Blick trifft mich und für einen Augenblick ist mir, als würde ein warmer Windhauch mich streicheln. Eine angenehme, warme Sommerbrise, in die ich mich nur hineinlegen müsste, damit sie mich hoch und höher und bis zum Horizont trägt. Doch ebenso schnell, wie das Gefühl gekommen ist, ist es auch schon wieder verschwunden. Bruno macht dicht und das wundert mich gar nicht. „Was meinst du?“   Och man, Bruno, jetzt tu doch nicht so doof. Du weißt, was ich meine.   Aber er guckt weiter grimmig und ich komme wohl nicht drumherum, es auszusprechen. Also dann … „Na, die Sache am Samstag. Du weißt schon. Das Outing. Michelle und Pascal haben zwar einen Augenblick gebraucht, bis sie es kapiert haben, aber …“   Aber eigentlich war ich derjenige, mit der langen Leitung. Das ist das Wichtige, was ich sagen müsste, und trotzdem verschweige. Weil es mir peinlich ist. Immerhin bin ich hier der gay dude. Ich sollte ein Outing erkennen, wenn ich eins sehe. Aber ich hab’s einfach nicht rechtzeitig gecheckt.   Bruno senkt den Blick. Ist schon klar, dass es dumm war, das so zu sagen. Als ginge mich das alles nichts an. Dabei hat er das doch wegen mir gemacht. Fürchte ich. Und vielleicht ist genau das das Problem an der Sache. Weil ich genau das wollte und nicht will, dass ich es wollte. Jetzt hab ich es und es fühlt sich scheiße an. Obwohl ich glücklich bin. Aber auch wieder nicht. Ach fuck, ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll.   Bruno weicht meinem Blick immer noch aus und ich weiß, dass ich jetzt was sagen muss. Also los! Mach!   „Ich war einfach nur total überrumpelt. Und ich hab’s nicht kapiert. Und es tut mir echt leid, dass ich mich so bescheuert verhalten habe, aber nachdem du mir gesagt hast, dass wir nicht zusammen sein können …“   Ich breche ab und meine restlichen Worte verlieren sich irgendwo im Wald zwischen Vogelgezwitscher und Blätterrauschen. Die Sonnenstrahlen tanzen zwischen den Bäumen. Es riecht nach Sommer.   Bruno runzelt die Stirn. „Das habe ich so nie gesagt.“   „Du hast aber gesagt, du kannst nicht.“   Ich fasse es nicht, dass ich ihn auch noch daran erinnern muss. Bruno bewegt die Hände. Sie öffnen und schließen sich, als würde er nach etwas greifen. Oder damit kämpfen, sie nicht zur Faust zu ballen und mir eine reinzuhauen. Was ich vielleicht verdient hätte. „Ja, das hab ich gesagt“, antwortet er irgendwann langsam. „Aber eigentlich … eigentlich ist es nicht das, was ich will.“   Zögernd hebt er den Kopf und da ist er wieder, dieser Wind. Der Wind unter meinen Flügeln … „Und was willst du?“   Meine Stimme klingt seltsam dünn, als ich das frage, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich die Frage geradezu herausschreie. So, als müsste die ganze Welt sie hören. Dabei brauche doch nur ich die Antwort. Nur ich.   Bruno beißt sich auf die Lippen. Sein einer Mundwinkel zuckt, als würde er versuchen, nicht zu lachen, aber gleichzeitig ist da ein Flackern in seinem Blick, das mich unruhig werden lässt.   Na los, sag es schon. Sag es!   „Ich will …“   Ja? Ja?!   „Eine zweite Chance. Oder eine dritte. Ich weiß nicht genau. Hab vergessen mitzuzählen.“   Während er das sagt, sieht Bruno mich unverwandt an. Er lächelt nicht, aber er weicht auch nicht zurück. Er steht einfach nur da und wartet, wie ich mich entscheide. Wage ich den Sprung mit ihm – nochmal – oder sage ich jetzt, dass ich endgültig genug davon habe. Was in Anbetracht der Lage ziemlich mies wäre. Immerhin bin ich ihm ja auch schon oft genug nachgelaufen. Das könnte man mir durchaus als Interesse an seiner Person auslegen. Und er hat sich gerade ziemlich weit für mich aus dem Fenster gelehnt. Das jetzt nicht zu honorieren, wäre echt arschig. Und eigentlich ist es auch nicht das, was ich will. Aber andererseits …   „Komm“, sage ich kurzentschlossen, weil ich das nun wirklich nicht hier mit ihm besprechen kann, und greife nach seiner Hand. Anschließend drehe ich mich um und setze Kurs direkt in den Wald hinein. Ich muss Ästen ausweichen und Blättern und aufpassen, dass ich mich nicht in irgendwelchen Brombeerranken verheddere, aber davon lasse ich mich nicht aufhalten. Ich wandere schnurstracks ins Gestrüpp hinein, mit Bruno im Schlepptau. Vermutlich wäre es schlau, ihn vorgehen zu lassen, aber er weiß ja nicht, wo ich hinwill. Ich auch nicht, aber das ist eigentlich auch nicht so wichtig. Nur weg von der Straße. Irgendwohin, wo es ruhig ist und wir reden können. Und vielleicht hat sich bis dahin ja auch mein wild klopfendes Herz wieder beruhigt.   Als wir an einer Lichtung ankommen – es ist nicht dieselbe wie die, auf der ich Bruno nach der Sache mit seinem Vater gefunden habe, aber durchaus ähnlich – halte ich an. Wirklich zufrieden bin ich mit meiner Wahl nicht, denn eigentlich ist das hier alles viel zu offen und es gibt auch nichts, wo man sich hinsetzen kann, romantisch geht also wirklich anders, aber … es wird wirklich Zeit, jetzt mal Tacheles zu reden. Deswegen habe ich ihn hergeholt und genau das werde ich jetzt auch tun. Los jetzt! „So“, sage ich, mehr um mich selbst davon zu überzeugen, dass es nun wirklich Zeit ist, das ein für allemal zu klären. Obwohl ich immer noch nicht weiß, wie das Ergebnis aussehen wird. Aber zunächst mal sollte ich vielleicht eins klarstellen.   „Ich will das auch. Also das mit uns. Nur damit du das weißt.“   Mit zur Faust geballtem Gesicht stehe ich da, und starre Bruno an. Er starrt zurück, so als würde sein Gehirn noch damit kämpfen, die frohe Botschaft aus meinem abwehrenden Tonfall herauszufiltern. Was ich ihm nicht verdenken kann, denn immerhin kann man das „Aber“, das dieser Aussage folgt, fast schon hören. Das will ich eigentlich nicht. Aber ich will auch …   „Ich will das“, sage ich deswegen noch einmal sanfter. „Aber ich …“   Ich hab Angst.   Das ist es doch, was ich jetzt endlich mal zugeben müsste. Neben ungefähr einer Million anderen Dingen, die mir das Herz in die Hose rutschen lassen, habe ich Schiss davor, dass es mit uns nicht klappt. Denn auch dafür könnte es ungefähr eine Million Gründe geben. Dass ich ihm zu viel werde. Dass er mir zu viel wird. Oder zu wenig. Dass es herauskommt und wir uns deswegen streiten. Dass seine Freunde uns dazwischenfunken oder seine Familie oder dass ihm allgemein auffällt, dass er mit mir halt doch nicht das große Los gezogen hat. Weil ich ätzend bin und schwierig und eitel und egoistisch und weil…   „Ich hab Angst, dass du gehst.“   Kaum habe ich das gesagt, komme ich mir albern vor. Immerhin bin ich doch derjenige, der immerzu Fluchtpläne geschmiedet hat. Der sich nicht festlegen und nur auf was Unverbindliches einlassen wollte, damit ihm ja niemand zu nahe kommt. Und hierbleiben, mich anpassen und den Kopf einziehen wollte ich schon gar nicht. Ganz im Gegensatz zu Bruno, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, damit ihn auch ja keiner aus dieser spießigen Kleinbürgergemeinschaft ausschließt. Und jetzt erwische ich mich auf einmal dabei, dass ich das auch will. Oder wenigstens in Betracht ziehe. Dass ich bereit bin, viel, viel mehr zu geben, als ich vermutlich bekommen werde, und das macht mir Angst. Denn was ist, wenn Bruno mich irgendwann nicht mehr haben will? Wenn er irgendwann die Schnauze voll hat von mir. Was ist dann?   Bruno guckt. Und guckt und guckt und gerade, als ich mich einfach umdrehen und gehen will, weil mir das hier jetzt echt zu viel wird nach diesem absolut peinlichen und gleichzeitig lächerlich armseligen Seelenstriptease, kommt plötzlich Bewegung in ihn. Langsam, vorsichtig, in einem Tempo, bei dem ihn vermutlich ein Gletscher auf dem Weg ins Meer überholen würde, kommt er auf mich zu. Ich meine, im Grunde hat er es ja nicht weit. Wir stehen kaum einen Meter auseinander. Trotzdem scheint es ewig zu dauern, bis er endlich bei mir angekommen ist. Und mich in die Arme nimmt. Ganz fest.   „Ich gehe nicht weg“, sagt er leise und hält mich und ich? Ich merke an dem verräterischen Kribbeln in meiner Nase, dass ich kurz davor bin loszuheulen. Verdammte Scheiße. Ich will nicht heulen! Ich will stark sein und mutig und …   „Weiß ich“, nuschele ich deswegen schnell gegen sein Schlüsselbein, obwohl ich gerade noch das Gegenteil behauptet habe. Kein Wunder, dass Bruno nicht weiß, woran er bei mir ist. Ich dreh mich doch wie das sprichwörtliche Fähnchen im Wind.   Seine Brust wackelt ein bisschen unter mir. „Ach ja?“   Das Amüsement in seiner Stimme ist nicht zu überhören und ich stöhne. Innerlich. Denn genau das hatte ich befürchtet. Dass er mich nicht ernst nimmt. Wie auch? Ich nehm mich ja selbst nicht ernst. Das ist echt so lächerlich, dass ich hier einen auf dramatisch mache. Also los, Fabian, reiß dich zusammen. Du bist doch kein Baby mehr!   „Was ist denn nun mit deinem Onkel?“   Irgendwo muss ich ja anfangen und da er das letztes Mal auch als Einstieg gewählt hat, ist es vielleicht safe, wenn ich danach frage. Nägel mit Köpfen und so.   Bruno, der von dem plötzlichen Themenwechsel offenbar ein wenig überfordert ist, lockert seinen Griff. „Wohnt er weit weg?“, präzisiere ich meine Frage noch und presse mich ganz entgegen seiner Bemühungen enger an ihn. Ich mag ihn jetzt nicht ansehen. Oder loslassen. Ich will lieber wissen, woran ich bin. „Nein“, antwortet Bruno langsam. „Er hat einen Gasthof in Seelheim. Der 'Goldene Geißbock'. Nichts großes, nur ein paar Zimmer, Biergarten, lokale Küche. Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, aber …“   „Du fängst bei ihm an?“   Das ergäbe Sinn. Bruno hat ja gesagt, er will Koch werden, und wenn die ne Küche haben, kann man da doch kochen lernen. Oder? Ich hab keine Ahnung.   Bruno selbst zuckt ein wenig unentschlossen die Schultern. „Wir müssen noch klären, ob mein Onkel einen Ausbildungsschein bekommt. Aber wenn das klappt …“   Er lässt den Rest des Satzes offen und ich gebe mir einen Ruck. „Das ist toll!“, sage ich und meine es auch so. Immerhin ist das doch das, was er wollte. Ich meine, klar, es ist nicht das Hyatt, aber wenn er dadurch den Hof nicht übernehmen muss …   „Und du ziehst bei ihm ein?“ Das ist der nächste Punkt. Immerhin hat Bruno mir noch nicht gesagt, ob er vorhat, seinem Onkel reinen Wein einzuschenken. Das wäre schon wichtig zu wissen.   „Nicht direkt. Es gibt in seinem Haus eine kleine Einliegerwohnung. Mit separatem Eingang. Die kriege ich.“ Das Schweigen über mir wird für einen Augenblick fast greifbar, dann setzt Bruno hinzu:   „Wenn ich da Besuch bekomme, merkt das keiner.“   Ich atme und versuche verzweifelt, meinen Puls unter Kontrolle zu behalten. Bruno hat also nicht nur eine Fluchtmöglichkeit gefunden, er hat gleich auch noch ein Liebesnest aufgetan. Ein heimliches Liebesnest. Eines, wo uns keiner erwischen würde. „Also weiß es dein Onkel nicht?“   Die Frage ist eigentlich blöd. Und gemein. Und sie kommt bei Bruno genauso an, wie sie gemeint war. Scheiße! „Nein, er weiß es nicht. Und auch sonst keiner aus meiner Familie.“   Außer seinem Vater natürlich, aber der ist ja ein Arsch.   „Und das wird so bleiben?“   Ich weiß nicht, warum ich jetzt so einen Schwachsinn frage. Himmel, Fabian! Er hat sich schon vor deinen Freunden geoutet. Was willst du denn noch?   „Vorerst ja. Ich … ich kann es meiner Mutter einfach nicht sagen. Vielleicht wenn Katie älter ist. Oder ich auf eigenen Füßen stehe. So richtig.“   Ich verstehe. Eigentlich will ich das nicht, aber dummerweise kann ich nicht verhindern, dass ich seinen Wunsch nachvollziehen kann. Denn so, wie ich seinen Vater einschätze, wird er einen Teufel tun, es irgendwem zu erzählen. Es ist ein erzwungenes Patt, dass den Blödmann dazu zwingt, die Füße stillzuhalten. Aber wenn Bruno ihm jetzt auf den Pelz rückt, wird er angreifen. Wie auch immer. Und ich glaube nicht, dass Bruno diesen Kampf gewinnen würde. Nicht, ohne alles zu verlieren. Die Geschichten, die ich dazu im Netz gefunden habe, sind mehr als haarsträubend. Außerdem steht ja immer noch nicht fest, wie seine Mutter reagieren würde. Was, wenn sie sich entschließt, zu ihrem Mann zu halten? Das wäre wirklich …   „Aber ich hab es Gustav erzählt.“   Ich erstarre und glaube einen Moment lang, mich verhört zu haben. Hat er wirklich gerade gesagt, dass er … oh fuck!   Ohne es zu wollen, reiße ich den Kopf nach oben und starre ihn an.   „Was?“, keuche ich atemlos und schieße gleich noch ein „Wann“ und ein „Wo“ hinterher. Das „Warum“ spare ich mir lieber auf. Ich glaube, das will ich gar nicht wissen.   Bruno guckt ein bisschen bedröppelt, fast so, als hätte er etwas falsch gemacht.   „Ich weiß nicht, es ist mir so rausgerutscht.“   „Rausgerutscht?“   Jetzt weiß ich wirklich nicht mehr, warum wir uns eigentlich im Wald treffen. Ganz ehrlich, der Kerl will doch erwischt werden. Meine Fresse!   Bruno verzieht das Gesicht. „Na ja, er war … Gustav war sauer. Weil ich zu der Party gehen wollte. Er hat mir vorgeworfen, ein opportunistisches Arschloch zu sein, weil ich letztens noch auf dich los bin, mich dann aber auf Kosten deines besten Freundes besaufen will. Und da hab ich gesagt, dass ich dir nicht ans Leder wollte, weil ich dich nicht leiden kann. Tja und dann ist eins zum anderen gekommen und …“   Bruno bricht ab und guckt immer noch wie ein Schaf.   „Gustav ist nicht dumm, weißt du?“ Nein, offensichtlich nicht. Bei Bruno bin ich mir da inzwischen jedoch nicht mehr ganz sicher. Oder bei mir. Also isses jetzt dann eigentlich auch egal. Nägel mit Köpfen. „Wir müssen es meiner Mutter sagen.“   Weiß der Kuckuck, wo das jetzt gerade herkam. Meine Gedankensprünge sind wohl auch nicht von schlechten Eltern.   Bruno runzelt die Stirn. „Deiner Mutter?“   Sein Zweifel ist echt, aber nicht hoffnungslos. Wie zur Bestätigung nicke ich „Ja. Entweder das oder sie findet es selbst heraus. Sie hat mich eh schon nach dir gefragt, also von daher …“   Das wären dann fünf, wenn man mich nicht mitzählt. Fünf Leute, die wissen, dass Bruno schwul ist. Eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass er es bis vor ein paar Wochen noch vollkommen geheim gehalten hat. Aber geheim ist scheiße. Geheim ist einsam. Geheim heißt, dass man niemand um Hilfe bitten kann. Niemals. Und wenn doch muss man sich Ausreden einfallen lassen. Warum man die „Braut“ da nicht scharf findet. Warum man noch keine Freundin hat. Warum man irgendwas gut findet oder tut, was angeblich nur jemand gut finden oder tun kann, der schwul ist. Deswegen wollte ich „geheim“ nie. Aber „nicht geheim“ heißt auch nicht, dass auf einmal alles eitel Sonnenschein ist. Man hat genauso Probleme, wenn auch andere, und wenn Bruno und ich zusammen wären, hätten wir wohl von beidem etwas. Nicht gerade rosige Aussichten. „Sie wird es nicht weitersagen“, verspreche ich trotzdem. Wem auch? Und warum? Nichtsdestotrotz habe ich das Gefühl, Bruno beruhigen zu müssen. Damit er nicht Angst vor der eigenen Courage bekommt. So wie ich. Aber kneifen gilt nicht. Jetzt nicht mehr.   Mit klopfendem Herzen, den Blick direkt auf sein Gesicht gerichtet, versuche ich ein Lächeln. „Das wird gut. Glaub mir. Pascal ist zwar noch ein bisschen skeptisch …“   Ich weiß nicht, wen ich hier gerade versuche zu überzeugen. Bruno jedenfalls nicht, wenn ich mir seinen Blick so ansehe. Mir wird warm. An verschiedenen Stellen.   „Gustav war auch nicht gerade begeistert“, gibt mein boyfriend-to-be leise zu. „Er hat mir einen schlechten Geschmack attestiert.“ Erst möchte ich ja trotz des sanften Tonfalls empört sein, doch dann grinse ich.   „Ach ja?“, meine ich spielerisch erstaunt und kräusele die Lippen. „Warum ist er dann nicht mitgekommen, um mir das selber zu sagen.“   Brunos Mundwinkel zucken. „Er konnte nicht.“   Ich spüre sein Lachen mehr, als das ich es höre. Es fühlt sich an wie ein unterirdischer Bach. Verborgen und kraftvoll. Unwillkürlich rücke ich näher. „Und warum nicht?“   Eigentlich interessiert mich Gustav ja nicht wirklich, aber da er ja nun einer von den Mitwissern ist, werde ich mich wohl mit ihm arrangieren müssen.   Bruno gluckst amüsiert. „Weil er krank ist. Windpocken. Sieht aus wie ein Streuselkuchen, aber kein leckerer.“   Bei der Vorstellung entstehen Bilder in meinem Kopf. Das ist wirklich zu …   „Windpocken?“, frage ich und ringe nun ebenfalls mit meinen Mundwinkeln. „Wird man dagegen nicht geimpft?“   Bruno macht ein ernstes Gesicht. „Gustavs Mutter glaubt nicht an Impfungen“, erklärt er mit Grabesstimme. „Sie behandelt Krankheiten lieber mit der Kraft der Natur.“   Ich bin kurz davor loszuprusten.   „Mit Windkraft sozusagen“, bringe ich noch heraus, bevor meine Selbstbeherrschung sich endgültig verabschiedet. Die Vorstellung von Gustav, dessen Mutter in wallenden Gewändern mit Räucherstäbchen in der Hand um ihn herumtanzt, ist einfach zu komisch.   Auch Bruno beginnt zu lachen. Dabei zieht er mich noch näher zu sich heran. Eigentlich sollte das nicht gehen, aber Bruno schafft es trotzdem. Er hält mich ganz fest. „Ich mag es, wenn du lachst.“   Seine Stimme ist zärtlich und da ist wieder dieser Glanz in seinen Augen. Ich fühle, wie er mich ansieht. Sieht. So ganz und vollkommen.   „Ich mag das auch“, antworte ich und bevor ich mir noch Gedanken darüber machen kann, dass die Antwort erstens nicht sinnvoll und zweitens zweideutig ist, lehne ich mich einfach vor und küsse ihn. Erst sanft, doch dann, als sich unsere Blicke zwischendurch kurz treffen und mir bewusst wird, wie sehr ich ihn vermisst habe, wie sehr ich das hier vermisst habe, gibt es kein Halten mehr. Ich falle über Bruno her und küsse ihm förmlich die Seele aus dem Leib. Doch auch Bruno lässt sich nicht lumpen. Ehe ich mich versehe, hat er mich gepackt, hochgehoben und gegen einen Baum gedrückt. Sein Gewicht presst mich gegen das raue Holz und ich befürchte wirklich, gleich keine Luft mehr zu bekommen, als er sich wieder von mir löst. Mit fiebrigen Augen sieht er mich an. „Ich wünschte …“   Er schluckt. Ich glaube, er muss erst mal zu Atem kommen. „Ich wünschte, wir wären jetzt nicht im Wald.“   Ich höre die Worte und verstehe die implizierte Frage. Und die Frage dahinter. Die, ob er seine zweite Chance nun bekommt. Oder dritte. Je nachdem. „Dann lass uns zu mir gehen.“   Immerhin wird er den Schlüssel zu seiner Wohnung noch nicht haben. Außerdem hab ich zwar keine Ahnung, wo Seelheim liegt, aber alles, was weiter als zehn Minuten entfernt ist, ist gerade viel zu weit weg. So lange kann ich nicht warten.   Bruno leckt sich über die Lippen. Ich kann sehen, wie er überlegt. Daran hat sich nichts geändert. „Ist deine Mutter zu Hause?“   Ach ja, da war ja was. Der Teil meiner Forderungen.   „Nein, sie arbeitet.“   Bruno entspannt sich.   „Aber heute Abend könnte sie … also … sie könnte was für uns kochen. Oder wenigstens was aufwärmen. Ja, ich denke, das kriegt sie hin. Du könntest zum Essen bleiben.“   Für einen Augenblick schweigt Bruno. Ich beobachte, wie die Gedanken hinter seiner Stirn vorbeihuschen. Irgendwann nickt er zögerlich. „Ja, ich … ich glaube, das wäre schön.“   Ich weiß, dass er aufgeregt ist. Ich kann sein Herz klopfen hören. Oder vielleicht ist es auch meines. Denn da ist noch etwas, das ich ihm nicht erzählt habe. Aber ich glaube, das kann warten.   „Na los!“, meine ich und wackele ungeduldig mit den Beinen. „Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen. Ich will dich endlich auf meinem Bett. Nackt. Und schwitzend. Und sexy. Sehr, sehr sexy.“   Bruno lacht. Und nickt. Und dann küsst er mich noch einmal, so als wüsste er, dass das hier der Anfang von etwas Großem ist. Etwas sehr, sehr Großem. No pun intended.   Kapitel 22: Für immer --------------------- „Ich kann’s nicht fassen“, murmelt Pascal und nimmt zur Sicherheit noch einen Schluck aus seinem bereits mehr als halbleeren Glas. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fällt gelbliches Licht aus den Fenstern des „Ochsen“, Veranstaltungsort unseres wunderbaren Abiballs. Ursprünglich war zwar mal angedacht, das Ganze in der Turnhalle der Schule stattfinden zu lassen, aber nachdem jemand dort beim Abistreich mehrere Töpfe Fingerfarbe verschüttet hat, war unser Direx nicht geneigt, dieser Idee Folge zu leisten. Also hoppeln die Schüler unseres Jahrgangs nebst Eltern, Tanten, Onkeln und Verwandten in feiner Abendgarderobe über das Parkett der altbekannten Gaststätte und wir sitzen gegenüber im Rinnstein und finden es scheiße. Zumindest teilweise. Der Form halber. „Was genau?“, will Michelle wissen. Sie struggelt ziemlich damit, in ihrem kurzen Kleid eine bequeme Sitzposition zu finden. Besonders ihre Füße, die in feinen Absatzsandalen stecken, unterzubringen, ohne jedem, der vorbeiläuft, einen Blick auf ihr Höschen zu gewähren, ist wohl gar nicht so einfach. Am besten wäre wohl, wenn sie die Dinger einfach auszöge, aber ich glaube, das verstößt gegen irgendeinen geheimen Kodex. Immerhin hat sie sich ja auch genau wie alle anderen Mädchen eine mit ungefähr drei Tonnen Haarspray festzementierte Hochsteckfrisur machen lassen und sieht damit fünf Jahre älter aus, als sie eigentlich ist. Wir Typen eher weniger. Die meisten von uns wirken, als hätten sie irgendeinen größeren Verwandten aus seinem Anzug geprügelt. Ich auch, selbst wenn die Ärmel meines lichtblauen Sakkos dieses Mal vorzüglich gekrempelt sind. Pascal trägt dunkelblau und Fliege. Wie spießig!   „Na … alles!“, gibt mein glatt lackierter Freund höchst philosophisch zurück und schließt mit einer ausholenden Geste den „Ochsen“, uns und die halbe Straße mit ein. Ich persönlich denke ja, dass die mangelnde Genauigkeit von Bewegung und Aussprache im Inhalt des erwähnten Glases begründet liegt. Cola-Rum ist halt nicht für jedermann.   „Oder hättest du gedacht, dass wir heute hier alle so sitzen?“   Michelle, die vermutlich ebenfalls bemerkt hat, dass ihr Freund schon ziemlich weit auf dem Weg zu „stockbesoffen“ ist, grinst. „Nein, alle sicherlich nicht“, sagt sie und schickt mir einen vielsagenden Blick. Ich verstehe natürlich sofort, worauf sie anspielt, und strecke ihr, höchst erwachsen, die Zunge raus. Du mich auch, bitch! Ich hab das Abi gerockt. Klar, zwei Punkte über Durchfallen ist jetzt nicht so der Schnitt, aber hey: Bestanden ist bestanden. Danach kräht doch in ein paar Jahren kein Hahn mehr. Außerdem habe ich mich in den mündlichen Prüfungen echt angestrengt. Hab sogar vorher gelernt. Dass ich dann, statt, wie gehofft, Fragen zu Faust zu beantworten, auf einmal so ein blödes Sonett interpretieren musste, war ja nun wirklich nicht meine Schuld. Ich hab die Kurve zwar noch gekriegt, aber … ach egal. Reden wir nicht drüber. Lyrik ist eben einfach nicht mein Ding. „Achtung! Feind im Anmarsch!“, ruft Pascal plötzlich und deutet – dieses Mal relativ zielgerichtet – in Richtung Ochsen. Von dort ist tatsächlich jemand in unsere Richtung unterwegs. Jemand ziemlich Großes. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen.   Bruno.   Seine Schritte sind beschwingt und er sieht ziemlich gut aus in dem dunklen Anzug mit dem schneeweißen Hemd. Sein eigenes, wie er mir erzählt hat. Sein Onkel hat ihm ein bisschen Vorschuss gegeben. Eigentlich für die Renovierung der Einliegerwohnung – das Ding ist wirklich winzig; nur ein Zimmer, eine spartanische Küchenzeile und ein Bad, bei dem man sich bereits die Hände waschen kann, während man noch auf dem Klo sitzt, mit einer winzigen Duschkabine, die beim nächsten Windhauch auseinanderzufallen droht und in die definitiv keine zwei Leute passen. Da jedoch der Herd noch seinen Dienst tut, die Tapeten noch an Wänden halten, für eine größere Dusche ohnehin kein Platz war und Bruno fand, dass es Wichtigeres gäbe als Gardinen und Teppichböden, hat er sich lieber ein Hemd gekauft. Ein richtig edles zu einem Preis, den er in den nächsten Wochen sicher noch bereuen wird. Sein Vater hat ihm nämlich verkündet, dass er von seinen Eltern keinen Cent Unterhalt bekommt. In meinen Augen ja ein Unding, aber meine Mutter hat gemeint, dass er da wohl das Recht auf seiner Seite hat. Solange sie Bruno weiterhin die Möglichkeit geben, zu Hause zu wohnen, müssen sie ihn nicht finanzieren.   „Aber Bruno kann dort nicht wohnen. Der Typ macht ihn fertig.“   Meine Mutter lächelt schmal.   „Das müsste Bruno aber beweisen und glaubst du wirklich, dass er das will?“   Natürlich ist mir ebenso klar wie ihr, dass er das nicht will. Oder nicht kann. Dieses hinterfotzige Arschloch hat ihn eiskalt ausgetrickst und kommt auch noch damit durch. Wobei meine Mutter Bruno wenigstens dabei geholfen hat, das Kindergeld umzumelden. Mehr war leider nicht drin, aber ich glaube, er kommt damit klar. Wenigstens wirkt er so, wie er da über die Straße geschlendert kommt, in der Hand seine eigene Fliege. Ebenfalls neu. Er sieht gut aus. „Hey Schönheit“, begrüße ich ihn und sehe, wie er die Lippen kräuselt. Eigentlich ist es ein bisschen leichtsinnig, dass er jetzt hier einfach so auftaucht. Wenn ihn jemand bei uns entdeckt, könnte er Verdacht schöpfen. Trotzdem kann ich mir nicht helfen. Ich freue mich, dass er da ist und rutsche ein symbolisches Stück beiseite, damit er sich neben mich setzen kann. „Hallo Honigschnäuzchen.“   Ich verziehe das Gesicht, weil er weiß, dass ich diesen Namen hasse. Den und alle weiteren, die er mir in den letzten Wochen verpasst hat, ebenso wie ich ihm. Es ist, als müssten wir uns selbst dran erinnern, dass wir so natürlich nicht sind. Außerdem regt es Pascal so herrlich auf, was er natürlich auch gleich wieder klarstellen muss. „Oh man, könnt ihr mal mit der Süßholzraspelei aufhören? Da kriegt man ja einen Zuckerschock.“   „Sprach der Mann, der sich mit Cola zusäuft“, kontert Bruno prompt und lässt sich ohne große Umschweife neben mir nieder. Dass er mich dabei nicht ansieht, sollte mich wohl stören, aber auch das kenne ich schon. Solche Intimitäten geben wir uns nicht in der Öffentlichkeit. Allein dass er hier ist, mitten auf der Straße, grenzt an ein Wunder.   „Gustav steht Schmiere“, erklärt er mir deswegen wohl auch, bevor ich fragen kann, wie ich zu der Ehre komme. „Er ruft an, wenn was ist.“   Ich nicke und denke, dass Bruno das wohl aus den Augenwinkeln heraus sehen wird. Dass Gustav uns hilft, ist ein feiner Zug von ihm. Auch wenn er sonst nicht so unbedingt einen Hehl daraus macht, dass er mich nicht leiden kann. Aber er akzeptiert, dass Bruno und ich zusammen sind. Und er hält dicht. Mehr kann ich wohl nicht verlangen.   „Kommst du nachher noch mit zu mir?“ Die Frage wird ja wohl immerhin erlaubt sein. Schließlich haben wir uns schon wieder fast drei Tage nicht mehr gesehen. Bruno musste arbeiten und ich …   „Ist deine Mutter nicht zu Hause?“   Ich mach ein unschuldiges Gesicht und ziehe eine Schnute. Denn in der Tat hat meine Mutter die Feier bereits in Richtung ihres Bettes verlassen. Ist ja auch schon nach Mitternacht. Allerdings …   „Ich hab den Schlüssel von der Wiesestraße mit.“ Wiesestraße. Die Straße, in der Herr Häberle gewohnt hat und somit die Straße, in der unser neues Haus steht. Weil meine Mutter nämlich geerbt hat. Ein ganzes Haus mit allem, was darin steht. Erst wollte sie das Ding ja gar nicht haben, zumal da offenbar ein ganzer Arsch an Erbschaftssteuer fällig wird, aber dann hat sie sich doch dafür entschieden. Weil ein Haus mit Garten halt schon immer ihr Traum war. Und vielleicht auch ein bisschen, weil sie das Gefühl hatte, es Herrn Häberle schuldig zu sein. Immerhin war es sein Wunsch, dass sie seinen Wohnsitz bekommt. Da wäre es wohl schlecht fürs Karma, das abzulehnen.   „Dein Ernst?“   Bruno schaut mich nun doch an, allerdings ein bisschen so, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Liegt vielleicht daran, dass das Haus immer noch bis zum Rand vollgestellt ist mit Alte-Männer-Kram und es auch nur ein Alte-Männer-Bett gibt. Das ich, wohlgemerkt, heute Morgen frisch bezogen habe. Man weiß schließlich nie.   „Ihr seid echt abartig“, meldet sich Pascal noch einmal zu Wort. „Denkt ihr eigentlich nur an das Eine?“ „Nein, manchmal denken wir auch an das Andere“, gebe ich grinsend zurück und sehe zu, wie Pascal rosa um die Nase wird und Michelle den Kopf schüttelt. Als wenn die beiden nicht froh wären, wenn sie öfter ungestört sein könnten. Aber es stimmt schon. Wenn Bruno und ich alleine sind, tun wir kaum etwas anderes. Danach kuscheln wir. Und manchmal reden wir auch. Oder kochen zusammen. Bruno hat es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, mir wenigstens die Grundlagen beizubringen. Was ich ja vollkommen unnötig finde, aber …   „Also, was ist nun?“, frage ich und lehne mich ein bisschen zu Bruno rüber. Meine Hand legt sich auf den warmen Asphalt und es dauert nicht lange, bis sich Brunos darüber schiebt. Von Weitem ist das nicht zu sehen, aber ich könnte seufzen, als sich unsere Finger miteinander verflechten. So gut!   „Kommst du nun mit?“   Bruno zögert. Höchstwahrscheinlich hat er sich zum Übernachten irgendwo anders einquartiert, weil es ihm immer noch unangenehm ist, bei mir zu schlafen, wenn meine Mutter zu Hause ist. Dabei hab ich ihr Oropax besorgt. Und Kopfhörer! „Wir könnten morgen gleich noch mit dem Einreißen der Wände weitermachen. Meine Mutter würde sich bestimmt freuen. Ich hol auch Brötchen zum Frühstück.“   So, das müsste jetzt aber endlich ziehen, denn mal abgesehen davon, dass Bruno sich vor meiner Mutter immer noch geniert wie ein kleines Mädchen, ist ziemlich schnell klar geworden, dass die beiden sich echt gut leiden können. Ich glaube, wenn es nach ihr ginge, würde sie Bruno an meiner statt adoptieren und mich an den nächsten Laternenpfahl binden. Endlich ein Mann im Haus, der keine zwei linken Hände hat. Der Möbel verrückt und Lampen anbringt und Getränkekisten in den Keller schleppt. Zum meinem Glück kann sie keine Seemannsknoten, sonst wäre ich echt verloren. „Ich muss morgen arbeiten“, wirft Bruno ein und mir gleichzeitig einen kurzen Seitenblick zu. Und natürlich weiß ich, was das heißt. Er will wissen, ob ich mich entschieden habe. Ich seufze lautlos und kämpfe gegen den Wunsch an, meine Hand zurückzuziehen. Denn nein, natürlich habe ich mich noch nicht entschieden, ob ich den Sommer über bei seinem Onkel arbeiten möchte. Obwohl er mir gesagt hat, dass er mir den Platz nicht ewig freihalten kann. Es gibt ne Menge Bewerber, die sich den Sommer über was mit Kellnern dazuverdienen wollen. „Er hat jetzt übrigens den Ausbildungsschein. Und er hat gemeint, dass er … vielleicht noch einen zweiten Azubi gebrauchen kann. Für den Service.“ Service. Allein bei dem Wort rollen sich mir die Fußnägel hoch. Denn im Grunde bedeutet das nichts anderes, als den lieben langen Tag Leuten ihren Scheiß hinterherzuräumen und ihnen dabei auch noch in den Arsch zu kriechen, ganz egal, wie der aussieht. Also der Arsch, meine ich. Aber andererseits …   „Ich weiß nicht“, sage ich und schicke nun doch noch ein hörbares Seufzen hinterher. „Meinst du wirklich, ich wäre gut darin, Leute zu bedienen?“   Die Tatsache, dass ich aus den Augenwinkeln sehe, wie Brunos Mundwinkel zucken, macht mir klar, dass ich die Frage vielleicht falsch formuliert habe. Denn immerhin bediene ich ihn schon manchmal ganz gerne. Versaute Socke! „Ich meinte, weil ich alles fallen lasse“, ergänze ich leicht genervt. Brunos Finger schließen sich enger um meine.   „Ich glaube schon, dass das was für dich wäre“, meldet sich jetzt Michelle zu Wort. Sie hat sich inzwischen mit ihrem Kleid arrangiert und sitzt auf dem Straßenrand wie Barbie in einem Damensattel. „Immerhin kannst du gut mit Menschen umgehen, hast ein gepflegtes Erscheinungsbild und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Da wird es selbst dem ärgerlichsten Gast schwerfallen, dir zu widerstehen.“   Ich blinzele. Und blinzele gleich nochmal. War das gerade etwa ein Lob? Von Michelle?! „Ja, Mann! Du wärst bestimmt ein toller Kellner“, bestätigt jetzt auch Pascal und sieht mich treuherzig an. Eigentlich denke ich mir ja, dass er es nur auf Freigetränke abgesehen hat, aber wenn sie mich jetzt alle so anpreisen.   Ich seufze noch einmal. „Ach ich weiß nicht“, sage ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass mich der Zuspruch schon irgendwie freut. „Wie soll ich denn da eigentlich hinkommen?   Ist ja nicht so, dass hier ständig Busse fahren. Und wenn halten die an jeder Milchkanne. Da bin ich locker ne Dreiviertelstunde unterwegs. Einfache Strecke!   „Du könntest deinen Führerschein machen. Herr Mehner ist wieder zurück.“   Weiß ich. Und die Kohle von meiner Mutter hab ich ja auch noch, es hält mich also nichts.   „Und was ist mit Studium?“ So ganz aufgeben will ich ja noch nicht. Immerhin hab ich jetzt mein Abi in der Tasche. Das soll ja nun nicht für umsonst sein.   Michelle stöhnt. „Na selbst wenn du dich mal für was entscheiden würdest, fängt das Wintersemester doch erst im Oktober an. Bis dahin kannst du locker noch ein bisschen arbeiten gehen und Geld verdienen. Oder willst du dich lieber bei Rossmann an die Kasse setzen. Immerhin scheinst du da jetzt ja öfter rumzuhängen.“   Ich grummele und verkneife mir einen Kommentar darüber, dass sie das ja nur weiß, weil sie auch da war, als ich ganz sehr zufälligerweise dort was besorgen musste. Ich kann doch nichts dafür, dass die Postfrau mich hasst und die Lieferung mit dem guten Gleitgel einfach in die Filiale verschleppt hat. An einem Mittwoch! An dem ich mit Bruno verabredet war!! Verdammt nochmal!!!   „Ich glaube, du würdest das toll machen“, sagt jetzt auch Bruno sanft. Ein treuherziger Blick begleitet diese Aussage und ich kann einfach nicht anders. „Was? Das mit dem Rossmann?“ frage ich und brülle im nächsten Augenblick:   „Tiiiiinaaaa! Was kosten die Kondooomeeeee?“   Bruno schreckt zusammen und ein paar Tauben fliegen auf. Wilde Laute von sich gebend verschwinden sie in der Dunkelheit, bis man kein Flügelschlagen mehr hören kann, und ich schaue bedröppelt. War vielleicht doch etwas übertrieben. Schnell setze ich eine entschuldigende Miene auf. „Tut mit leid, ist mir so rausgerutscht.“   Bruno schnauft und ich merke, dass es mir wirklich leidtut. Das hätte nicht sein müssen. Aber was …   „Und was ist, wenn wir zusammen arbeiten?“, fasse ich meine Bedenken in Worte. „Wirkt das nicht … verdächtig?“   Ich weiß nämlich nicht, ob ich dieses Theater wirklich den ganzen Tag lang durchziehen kann. So tun, als wenn wir uns nicht kennen. Oder nicht leiden können.   Bruno senkt den Blick.   „Vielleicht müssen wir das ja gar nicht.“   Oh, was sind das denn jetzt für Töne? Er wird doch nicht … „Ich meine damit nicht, dass wir es meinem Onkel gleich sagen sollen“, wirft Bruno, der offenbar mein überraschtes Gesicht gesehen hat, ein. „Aber vielleicht … mit der Zeit …“   Mit der Zeit. Eigentlich sollte ich mich darauf gar nicht erst einlassen, weil das ja nun wirklich alles heißen kann. Einen Monat, ein Jahr, ein Jahrzehnt. Doch noch während ich das denke, frage ich mich, ob ich Bruno damit nicht unrecht tue. Er hat sich doch schon so viel bewegt.   „Vielleicht fragen wir deinen Onkel einfach mal, ob er sein Hotel nicht LGBTQ-freundlich machen will“, schlage ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus vor. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, warum nun ausgerechnet hier jemand Urlaub machen wollen sollte, aber …“   Bruno guckt. Und guckt und guckt und auf einmal wird mir klar, dass sein Blick genau auf die Stelle gerichtet ist, an der er mir das erste Mal seinen Schwanz gezeigt hat. Die Preiszucchini. Damals hätte wohl keiner von uns beiden gedacht, dass wir kein halbes Jahr später wieder hier zusammen sitzen würden. Noch dazu unter diesen Umständen. Verrückt. „Aber wir müssen das auch nicht machen“, lenke ich auf einmal lieber ein, als er nach einer wie eine Ewigkeit erscheinenden, halben Minute immer noch nicht geantwortet hat. „Weißt du was? Vergiss es einfach. Es war nur …“   „Also eigentlich finde ich die Idee ganz gut.“   Bruno, der jetzt endlich seinen Blick vom gegenüberliegenden Bürgersteig gelöst hat, dreht seinen Kopf langsam zu mir. Seine Augen richten sich auf mich und blicken direkt in meine. Ich kann fühlen, wie sich mein Magen zusammenzieht. „Wirklich?“, frage ich und kann echt nicht glauben, dass er das ernst genommen hat. Aber Bruno lächelt. „Na ja … ja! Warum nicht? Ich meine, wir sollten vorher vielleicht nochmal ein bisschen abchecken, wie er zu dem Thema steht, und außerdem, ob du überhaupt ein Tablett tragen kannst, aber …“ „Dann machen wir das zusammen?“   Ich weiß nicht, woher die Aufregung kommt. Oder die Zuversicht in meiner Stimme. Irgendeines meiner inneren Arschlöcher möchte mir auch noch zurufen, dass das bestimmt eine ganz blöde Idee ist, aber ich lasse ihn nicht. Das hier ist zu wichtig.   Bruno lächelt immer noch.   „Wenn du willst.“   Und auf einmal weiß ich: Ja, ich will. Ich will Bruno, ich will das hier und ich will sogar diesen Kellnerjob. Weil vielleicht mache ich mich da ja doch gar nicht so schlecht. Und wer weiß, was in ein paar Jahren ist. Brunos Onkel hat keine Kinder und irgendwer muss ja später schließlich mal den Hof übernehmen. Den Gasthof, wohlgemerkt. Und dann könnten wir …   „Und ich bau euch dann ne Website“, wirft Pascal lockerflockig dazwischen und reißt mich damit zurück in die Realität. „Ja und ich … äh … ich besorge euch Zutaten aus nachhaltiger Landwirtschaft. Dann könnt ihr euch gleich noch ein Ökolabel an die Brust heften. Mit Auszeichnung.“   Auch Michelle guckt jetzt begeistert und in mir drin wird es ganz warm. Es fängt irgendwo dort an, wo mein Zwerchfell sitzt, und breitet sich von dort über meinen ganzen Körper aus. Es fühlt sich an wie … heimkommen.   Home is wherer your heart is.   Der Spruch steht auf irgendsoeinem kitschigen Stehrumsel, das meine Mutter mal gekauft hat. Eigentlich ja total abgegriffen, aber jetzt gerade habe ich wirklich das Gefühl, dass da was dran sein könnte.   Zuhause ist dort, wo dein Herz wohnt.   Und meines, so unwahrscheinlich mir das vor gar nicht allzu langer Zeit noch vorgekommen ist, wohnt anscheinend bei Bruno. Und in Hintertupfingen oder Seelheim oder wo auch immer sonst Bruno und ich vielleicht irgendwann mal zusammen einen Gasthof haben werden. Weil es sich gut anfühlt. Und richtig. Und vielleicht bleibt das ja sogar so. Für immer.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)