Herzschmerzhelden von Maginisha ================================================================================ Kapitel 17: Verdammte Scheiße ----------------------------- „Du hast ihm seine Kekse geklaut?“   Michelle lacht und mustert mich im Rückspiegel, als könne sie es nicht glauben. Ich blase die Backen auf und lasse geräuschvoll die Luft entweichen. „Nicht geklaut“, schwäche ich ihre Anschuldigung ab. „Ich hab sie ihm nur nicht gegeben.“   „Aber das ist ein alter Mann!“ „Na und? Wer ficken will, muss freundlich sein.“   Ein weiterer Blick aus blitzblauen Augen verrät mir, was die Freundin meines besten Freundes von dem Spruch hält. Zu meiner Überraschung schlägt sich Pascal jedoch auf meine Seite. „Ich finde, Fabian hat recht. Ich mein, er kennt den Kerl doch kaum. Warum sollte er ihm was schuldig sein, so arschig, wie der zu ihm war?“   Michelle verzieht den Mund und erwägt offenbar, uns beiden einen Vortrag über Moral und Anstand und „so was tut man einfach nicht“ zu halten, aber dann seufzt sie einfach nur. „Ich find’s trotzdem nicht gut“, sagt sie und belässt es dann dabei. Misstrauisch warte ich darauf, dass da noch was kommt, aber anscheinend hat Michelle heute Abend beschlossen, nett zu mir zu sein. Warum und weshalb ist mir zwar immer noch schleierhaft, aber einem geschenkten Gaul schaut man ja angeblich nicht ins Maul. Außerdem gibt mir ihr Schweigen Zeit, mich von der Tatsache zu erholen, dass sie einen Führerschein hat. Einen Führerschein. Heimlich still und leise hat sie einfach die Prüfung abgelegt, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Ich meine, ich wusste natürlich, dass sie auch Fahrstunden nimmt – wir sind uns mal bei einer der Theoriestunden begegnet, die ich nicht geschwänzt habe – aber dass sie offenbar eine der Auserwählten ist, die Herr Mehner noch durch die Prüfung geschleust hat? Gemein. Absolut gemein! Die nächste Ungerechtigkeit betrifft das Gefährt, in dem wir sitzen. Es ist ein kleiner, gammeliger, roter Fiat der eigentlich Michelles Oma gehört, den sie sich aber ausleihen kann, wann immer sie möchte. Was im Klartext heißt, dass sie quasi auch noch ein Auto besitzt. Gut, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich momentan wohl eher Pascals Whirlpool wählen, aber ein Auto. AUTO?? Gah, ich bin so was von gefickt.   Eigentlich nicht, merkt meine innere Meckertante an und hat damit natürlich recht. Denn Bruno hat sich immer noch nicht gemeldet und ich hab mir natürlich auf die Finger gebissen, ihm nochmal zu schreiben. Das wäre ja nun echt jämmerlich gewesen. Trotzdem bin ich nicht drumherum gekommen, ab und zu an ihn zu denken. Zumal ich zu Hause eh mal wieder nur mein Handy zur Belustigung hatte. Meine werte Erzeugerin hat natürlich vorgeschlagen, ich könnte aufräumen oder etwas in der Art, aber mal ehrlich: Wer verbringt denn damit seinen Samstagabend? Also bin ich geflohen, direkt in Pascals und Michelles Arme. Und ich gebe zu, dass sich das Ganze bis jetzt echt lustig anlässt. Zumindest konnte ich mich schon dreimal darüber beömmeln, wie Michelle das altersschwache Gefährt unter unseren Hintern abgewürgt hat. Zu komisch. Es macht einen Teil des Schmerzes über ihren heimtückischen Verrat, Brunos Taubnussigkeit und die allgemeine Ungerechtigkeit des Seins wieder wett. Den Rest meiner Problem plane ich, gleich in jeder Menge Alkohol zu ertränken. Denn auch wenn die Dinger ja angeblich schwimmen können, habe ich beschlossen, es mal auf einen Versuch ankommen zu lassen. Man kann ja nie wissen.     Das Stadtfest des Nachbarortes präsentiert sich, wie sich diese Veranstaltungen in der Gegend hier meistens präsentieren. Alle möglichen Vereine kommen aus ihren Ecken gekrochen und halten die Hand auf, während ihre Mitglieder mehr oder weniger gekonnt zum Besten geben, was sie so im letzten Jahr gelernt haben. Dazwischen gibt es Bratwurst, Bier und Ponyreiten, untermalt von Blasmusik, Tanzmusik und „das will doch keiner hören“-Musik. Und natürlich bekommt man überall Wein in allen möglichen Sorten und die verschiedensten Bowlen, was mir sehr entgegenkommt. Sich zu betrinken sollte daher kein Problem darstellen. Einen Parkplatz zu finden schon eher. „Da ist was frei“, ruft Pascal und deutet auf eine Lücke am Straßenrand. Michelle hebt die blonden Brauen. „Ich soll rückwärts-seitwärts einparken?“ meint sie spitz.   „Ist doch Teil der Prüfung“ stichele ich von hinten und weiß genau, das ich in diese Winzlücke niemals reinkommen würde. Aber ich hab ja auch keinen Führerschein. „Wir können ja auch noch weiter suchen“, meint Pascal gutmütig, aber mich hat jetzt der Schalk am Nacken gepackt. Soll Michelle doch mal zeigen, was sie gelernt hat.   „Nee, dass schaffst du“, feuere ich sie an und zaubere ein aufmunterndes Lächeln auf mein Gesicht. „Na los. Für unsere Füße!“   Michelle schnauft. Und stöhnt. Und setzt den Blinker, nur um wenige Minuten und endlose Meter Kurbelei später fast schon heulend hinter dem Steuer zu sitzen. Der Fiat steht immer noch nicht in der Parklücke, dafür versammelt sich eine zunehmend größer werdende Menschentraube um uns und betrachtet kopfschüttelnd die erfolglosen Versuche. Ich glaube, ich hab es mit dem Spaß etwas übertrieben. Blöde Gaffer.   „Vielleicht fährst du doch nochmal weiter“, biete ich versöhnlich an. „Ein bisschen Fußmarsch wird uns schon nicht umbringen.“   Michelle schluckt und nickt und kurbelt und fährt dann beim Zurücksetzen beinahe eine Oma über den Haufen. Aber wenigstens scheint sie sich so weit wieder gefangen zu haben, dass sie den richtigen Blinker bedienen und uns gute 20 Minuten später doch einigermaßen manierlich in einer riesigen Parklücke unterbringen kann, in der vorher ein dicker Familienvan stand. Ich sehe zu, wie der Wagen mit den Eis- und Zuckerwatte-verschmierten Gören am Heckfenster in der Ferne verschwindet und sage ausnahmsweise mal gar nichts dazu, dass wir nun endlich aussteigen können. Weiß der Himmel, wo das auf einmal herkommt. Wahrscheinlich saß ich zu lange im Pool.   „So“, sage ich stattdessen und reibe mir tatendurstig die Hände. „Wo fangen wir an?“   Auf dem Marktplatz haben sich bereits lustige Runden gebildet. Ein Menschenmeer wogt um die endlosen Reihen aus Bierzeltgarnituren herum und ich frage mich, wo die Leute wohl alle herkommen. So, wie das hier aussieht, müssen die mindestens fünf umliegende Orte mit Bus-Shuttles komplett eingesackt und hierher verladen haben. Oder anders gesagt: Es steppt der Bär, es fliegt die Kuh. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn über der Bühne, auf der eine Live-Band ihre Stücke zum Besten gibt, seilt sich gerade ein kuhförmiger Ballon in den Abendhimmel ab. Ich wette, irgendein Gör plärrt seinen Eltern deswegen jetzt die Ohren voll. Da das aber nicht mein Problem ist, steuere ich zielstrebig den nächsten Getränkestand an und ordere erst einmal eine Runde für uns drei. Michelle bekommt natürlich alkoholfrei, wir sind ja verantwortungsbewusst.   „Auf uns“, rufe ich und stoße mit den beiden auf einen gelungenen Abend an. Endlich kann das Besäufnis beginnen.     „Noch ne Runde?“   Fragend hebe ich mein Glas, doch meine beiden Begleiter wehren entschieden ab. „Ich hab noch“, meint Michelle und deutet auf ihr halbvolles Spezi. Auch Pascal, der zwar leer hat, aber offenbar schon ein bisschen beduselt ist, schüttelt den Kopf. „Ich mach mal ne Pause“, meint er, aber das lasse ich nicht gelten. „Ach komm schon. Einer geht noch. Ich lad dich ein.“   Ich sehe, dass er nicht will, aber alleine trinken geht gar nicht. Also wähle ich einen Umweg. „Ich bring dir ne Cola mit.“   Das zieht endlich und ich sammle mein und Pascals Glas ein, um mich auf den Weg zur nächsten Zapfstelle zu begeben. Als ich aufstehe, merke ich, dass auch bei mir die Maibowle schon ziemlich reingehauen hat. Der Boden schwankt etwas, aber nicht so sehr, dass ich nicht zielsicher die nächste Bude ansteuern könnte. Leider herrscht da so ein Andrang, dass ich mir mindestens ne halbe Stunde die Beine in den Bauch stehen müsste, um auch nur in die Nähe des Tresens zu kommen. „Scheißsäufer“, murmele ich und sehe mich nach einer Alternative um. Mein Blick fällt auf einen anderen Stand ein bisschen weiter weg. Von dort hat sich gerade eine größere Gruppe gelöst und ich sehe meine Chance, schneller zum Zug zu kommen.   „Ich guck mal, was die da drüben haben.“   Pascal und Michelle, die nebeneinander auf eine Bank sitzen, nicken und geben mir je einen Daumen hoch. Natürlich weiß ich, dass sie die Gelegenheit nutzen werden um rumzuknutschen, sobald ich außer Sichtweite bin. Obwohl romantisch trotz der Lampions und so sicherlich anders geht, kann ich es ihnen nicht so recht verdenken. Inmitten dieser Menschenmassen jemanden an seiner Seite zu haben, von dem klar ist, dass er zu einem gehört, hat schon was. Dafür müsste ich nicht mal Knutschen. Händchenhalten würde ja reichen. Oder wenigstens eng nebeneinandersitzen und sich ab und an mal unauffällig anlehnen. Leider ist mir ja nicht einmal das vergönnt und die Einzigen, die mir auf die Pelle rücken, sind meine Mitbewerber auf den frei gewordenen Thekenplatz. Aber das können sie mal gepflegt vergessen. Das hier ist meiner!   „Hallo! Bedienung?“, rufe ich gleich, als ich die Front erreicht habe. Natürlich weiß ich, dass das nicht gerade die feine englische Art ist, aber zu meiner Verteidigung spricht da auch ein Gutteil Bowle aus mir. Meine Augen werden jedoch groß, als sich die Tresenkraft mit der engen, schwarzen Jeans zu mir umdreht. Vor mir steht ein echt schnuckeliger Typ, dessen Poloshirt einen gar nicht mal so uninteressanten Körperbau erahnen lässt. Er scheint ein paar Jahre älter zu sein, aber definitiv nicht viele. Seine Haare sind am Oberkopf länger und mit Gel in eine windzerzauste Form gebracht, was ihm zusammen mit seinem nachlässig rasierten, dunklen Bart irgendwie etwas Verwegenes gibt. Als er mich sieht, spannen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Na, aber hallo. Was darf’s denn sein, schöner Mann?“   Auch wenn ich schon einiges intus habe, merke ich sofort, dass er mich abcheckt. Es kribbelt, als sich unsere Blicke begegnen, und zwar an ziemlich guten Stellen. Automatisch fange ich auch an zu grinsen. „Weiß nicht“, gebe ich in spielerischem Tonfall zurück. „Was hast du denn anzubieten?   Wie von selbst gleitet mein Blick bei der Frage an ihm runter und bleibt wohl einen Tick zu lange an seinem Schritt hängen. Dass er nen ziemlich knackigen Hintern hat, konnte ich ja vorhin schon feststellen. Wie es wohl vornerum aussieht? Immerhin bin ich da momentan ziemlich verwöhnt.   Das solltest du bleiben lassen, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich glaube, wenn sie könnte, würde sie mir mit einem Bild von Bruno vor der Nase rumwedeln.   Nur mal gucken, nuschelt eine andere und will ja gar nicht wirklich was mit dem Kerl anfangen. Nur ein paar Streicheleinheiten fürs Ego abholen. Das wird ja noch erlaubt sein.   Ach was! Scheiß drauf und schnapp ihn dir, grölt eine dritte. Immerhin sind die Gelegenheiten nicht gerade üppig gesät und man muss nehmen, was man kriegen kann. „Tja, kommt darauf an, wonach dir der Sinn steht“, meint der schnucklige Don Juan und grinst eindeutig zweideutig. Mir ist klar, dass wir beide uns gesucht und gefunden haben. Andernfalls hätte er wohl nicht so auf mich reagiert. Ganz automatisch lecke ich mir über die Lippen. Ich weiß, wie das aussieht. Ich hab es vor dem Spiegel geübt. Bevor ich jedoch etwas bestellen oder auch nur sagen kann, werde ich von hinten unterbrochen.   „Oh Scheiße, jetzt schaut euch die zwei Schwucken an.“ „Ieh! Ist ja ekelhaft.“ „Verpisst euch, Homos!“   Ich fahre unwillkürlich zusammen und auch der Typ hinter der Bar bringt binnen Sekunden Abstand zwischen uns. Doch wo er nur ein paar besoffene Pöbler sieht, weiß ich, dass mich mehr erwartet. Viel mehr. Denn im Gegensatz zu ihm kenne ich die Stimmen, die da gerufen haben, leider viel zu gut. Mit einem mulmigen Gefühl, einem regelrechten Knoten im Bauch, drehe ich mich herum, um zu sehen, ob ich recht habe.   In weniger als zwei Meter Abstand, kann ich sie stehen sehen. Allen voran Jakob, von dem auch der erste blöde Spruch gekommen ist. Sein Frettchengesicht ist zu einer Maske unübersehbarer Abscheu verformt, aber auch der Rest der Truppe scheint nicht gerade begeistert zu sein. Doch so sehr ich mich ja auch darüber ärgern will, dass Gregor, Paul und die anderen ausgerechnet jetzt und hier aufgetaucht sind, kann ich doch nicht anders, als Bruno anzusehen. Bruno, der aufgrund der Masse an Leuten heute eigentlich gar nicht mal so hervorstechen sollte, es für mich aber trotzdem tut. Bruno, der mich ansieht, als hätte ihm gerade jemand seinen Sack mit einem rostigen Brotmesser abgeschnitten. Bruno, der jetzt die Miene zu einer wütenden Grimasse verzieht, als könne er mich allein damit schon aus den Latschen hauen. Was er auch tut, aber nicht im guten Sinne. Mir rutscht das Herz in die Hose und pocht dabei doch so laut, dass es beinahe die Hasseröther Spatzen, oder wer sich auch immer auf der Bühne gerade die Seele aus dem Leib singt, übertönt. Fuck! Absoluter Oberfuck!   Nur nichts anmerken lassen. Cool bleiben!   „Hey, hey, hey!“, rufe ich und ordne meine Gesichtszüge so weit, dass sie nicht mehr ertappt sondern vielmehr überrascht-gelangweilt aussehen.   „Sieht aus, als hätten die Jungs aus der Anstalt mal wieder Ausgang bekommen. Leider scheinen sie die Zwangsjacken und Maulkörbe vergessen zu haben. Tzz. Ich glaube, ich sollte da mal nen Beschwerdebrief schreiben. Das ist ja unverantwortlich.“   Lacher bleiben natürlich aus, denn die meisten um uns herum tun wohl lieber so, als würden sie nichts mitkriegen. Typisch. Wenn es darum geht, mal Eier in der Hose zu haben, sehen sie alle lieber weg. Wieder huschen meine Augen zu Bruno. Er sieht immer noch so aus, als würde er mir am liebsten eine reinhauen. Dabei hab ich doch gar nichts gemacht.   Ach, hast du nicht?, nörgelt die Stimme in meinem Kopf. Ich glaube, es ist die erste. Der Rest hat sich zusammen mit der fröhlich-erheiternden Wirkung meiner fünf Gläser Bowle irgendwohin verkrümelt, wo sie mehr Spaß haben können. Auch die Bedienung ist abgetaucht. Ich bin auf mich allein gestellt.   „Werd bloß nicht frech“, droht mir Jakob und hebt herausfordernd das Kinn. Auch Paul und Gregor gehen in Position. Das einzig Gute daran ist, dass sie Bruno so den Weg zu mir versperren. Wenn er an mich ranwill, muss er seine Freunde schon aus dem Weg boxen. Leider sieht er fast so aus, als wolle er genau das tun. Ich will mich schon nach einer Fluchtmöglichkeit umsehen, als ich plötzlich Hilfe erhalte von so ziemlich der letzten Person, von der ich es erwartet hätte. „Man Leute, jetzt chillt mal.“ Gustav, der neben Bruno in der letzten Reihe steht, macht ein genervtes Gesicht.   „Ich denk, wir sind hier, um zu feiern.“   So wirklich überzeugend klingt er ja nicht und auch seine Freunde reagieren so gar nicht. Also wird der Blondschopf energischer.   „Hallo? Jakob! Duuu~huuurst!“ Das scheint endlich zu wirken. Der Rädelsführer der kleinen Bande dreht sich um, nicht jedoch ohne mir einen gehässigen Blick zuzuwerfen. „Ja, du hast recht, geh’n wir woanders hin. Hier ist die Luft zu schwul.“   Mit diesen Worten dreht er sich um und will wohl hoheitsvoll von dannen reiten, aber ich lass ihn nicht. Irgendwo zwischen Mai- und Erdbeerbowle muss sich wohl doch noch ein bisschen Red Bull oder was auch immer versteckt haben, denn genau wie ebendieses Hornvieh schnaube ich jetzt und irgendetwas verleiht mir Flügel. „Ja, lauf nur“, rufe ich ihm hinterher und grinse breit. „Aber du kannst dich nicht verstecken. Wir sind überall.“   Klar ist das ein ganz blöder Spruch. Und noch klarer ist auch, dass genau der Richtige ihn in den falschen Hals kriegt. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, war bei dieser Drohung nicht Jakob der Vater des Gedanken. „Halt deine Fresse!“ Schneller, als ich es ihm zugetraut habe, steht Bruno auf einmal vor mir. Und er schubst mich, ebenfalls nicht gerade sanft, sodass ich rückwärts gegen die Theke fliege. Da der Platz noch nicht wieder besetzt ist, rettet mich kein weicher Körper vor irgendwelchen Blessuren und ich knalle volle Kanne mit dem Rücken gegen das Holz. „Aua!“, rufe ich. „Scheiße! Sag mal, tickst du noch ganz richtig?“   Die Leute um uns herum kommen jetzt wohl leider nicht mehr daran vorbei, uns einige Aufmerksamkeit zu schenken. Leider verteilen sie diese gleichmäßig, sodass ich auch was abkriege.   „Pass doch auf!“ „Herrgott nomol.“ „Saubagasch, dreckigsche.“ „Schleichts euch!“   Bruno beeindruckt das wenig und auch ich habe nicht vor, jetzt einfach klein beizugeben. Jetzt erst recht nicht. „Was?“, rufe ich und hebe doch glatt die Hände, um Bruno zurückzuschubsen. „Was willst du?“   Die Frage ist nicht fair und nicht schlau und sowieso sind wir ja hier nicht alleine. Aber ich will es wissen. Ich will jetzt endlich wissen, was los ist.   „Nimm deine Finger von mir.“ Bruno schlägt meine Hand weg, aber in meinem Kopf scheint irgendwas ausgehakt zu haben. Bevor ich mich zurückhalten kann, hab ich sie wieder oben und ihn vor die Brust gestoßen. Er ist so überrascht, dass er glatt einen Schritt nach hinten macht. Oh Scheiße!, kann ich gerade noch denken, bevor er ausholt und seine Faust direkt auf mein Gesicht zurast. „Bruno!“   Ich kann nicht reagieren, kann mich nicht bewegen. Ich kann nur zusehen, wie wieder ausgerechnet Gustav Bruno in den Arm fällt und so verhindert, dass er mir eine reinhaut. „Man, lass es. Der ist es nicht wert.“   Gustav hält seinen Freund fest, zieht an ihm. Redet beruhigend auf ihn ein. Ich jedoch kann Bruno nur anstarren. Kein Wort kommt über meine Lippen, während es in meinem Kopf widerhallt.   Er ist es nicht wert.   Tatenlos muss ich zusehen, wie Bruno weggezogen wird. Wie er den Blick abwendet, den Kopf senkt. An seiner Seite Gustav, der nicht einmal zu mir zurückblickt, sondern Bruno nur immer weiter von mir weg durch die Menge lotst. Der Rest der Truppe ist längst verschwunden. Wahrscheinlich haben sie nicht mal mitgekriegt, was passiert ist. Es war vollkommen umsonst. „Willst du noch was bestellen?“   Der Typ ist wieder da, jetzt, wo die Luft rein ist. Oder vielleicht ist es auch seine Kollegin, die mich fragt. Ich schaue mich nicht um. Stattdessen setze ich mich in Bewegung. Wie betäubt drängele ich mich durch die Menge. Ich werde geschubst, angerempelt, achte nicht darauf, wo ich hintrete. In meinem Kopf summt weiterhin dieser eine böse Satz. Wütend, wie eine Biene. Eine Hornisse. Ein Wespennest. Wie in Trance stolpere ich weiter und komme schließlich am Tisch an, wo Pascal und Michelle sitzen. „Hey, du warst ja lange weg.“   Die beiden haben offenbar nichts von der Szene am Bierwagen mitbekommen. Wie auch? Sie waren bestimmt mit sich selbst beschäftigt. „Was ist los? Du guckst ja so.“   Ach, wie gucke ich denn? Als wäre gerade eine ganze Herde vollgefressene Elefanten über mich hinweg getrampelt? Wenn ja: Herzlichen Glückwunsch! Denn genau so fühle ich mich auch. Einfach nur platt und beschissen. „Ich will nach Hause.“   Meine Ankündigung hat einiges an Unruhe zur Folge. Nicht zuletzt bei Pascal, der Michelle augenblicklich loslässt und mich besorgt ansieht. „Was ist passiert?“, will er wissen, doch ich schüttele nur den Kopf. Ich kann das grad nicht erklären. Ich will nicht. Ich will einfach nur weg von hier, von diesen Menschenmassen, der lauten Musik und vor allem der Gefahr, Bruno noch einmal über den Weg zu laufen. Das würde ich nicht ertragen.   Warum zum Teufel hat er das gemacht? Warum?   Die Frage hämmert in meinem Kopf und mischt sich da oben mit Wut, Enttäuschung und Bowle. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß es nicht. „Komm, wir bringen dich heim.“   Die Hand an meiner Schulter ist weich und warm und definitiv schmaler als es Pascals wäre. Eigentlich will ich nicht, dass Michelle mich anfasst, aber ich lasse es trotzdem zu. Lasse geschehen, dass sie mich durch die Menge schiebt. Ebenso wie Gustav Bruno geschoben hat. Scheiße.   Während der Fahrt nach Hause sage ich gar nichts. Mir ist ein bisschen schlecht und ich bin bei jeder Kurve kurz davor, das Fenster runterzukurbeln, aber ich tue es nicht. Ich halte aus, bis wir vor unserem Haus halten und Pascal aussteigt, um mich rauszulassen. „Ist wirklich alles in Ordnung? Soll ich dich noch hochbringen?“   Ich weiß, dass er es gut meint. Dass er was tun will. Trotzdem schüttele ich wieder den Kopf. „Ist schon gut“, murmele ich. „Hab nur zu viel getrunken.“   Das Mondlicht und die Straßenlaternen zeigen mir, dass Pascal nicht überzeugt ist. Wenn ich raten müsste, würde ich denken, dass ich gerade ziemlich blass um die Nase bin. Vielleicht sollte ich ihm doch noch vor die Füße kotzen, damit er mir glaubt. Leider geht es mir dafür dann doch zu gut und auf Kommando reihern kann ich nicht. „Ich ruf dich morgen an.“   Mit dem Versprechen bin ich endlich aus dem Schneider. Pascal zieht mich noch in eine letzte Umarmung, bevor er mir auf den Rücken klopft und mich stehen lässt, um wieder zu seiner Freundin ins Auto zu steigen. Michelle lässt den Motor an, die Lichter flammen auf und ich winke und sehe ihnen nach, bis sie um die nächste Ecke verschwinden, Dann erst kriege ich es fertig, mich von dem Anblick der leeren Straße loszureißen und mich dem Haus zuzuwenden. Ohne irgendwas zu fühlen, schließe ich die Tür auf, gehe hinein und lasse sie wieder ins Schloss fallen. Es rumst ein bisschen, danach ist es still. Viel zu still und dunkel. Aber ich mache kein Licht. Stattdessen mache ich mich daran, die ersten Stufen zu erklimmen, bis mir auch dafür die Kraft ausgeht. Mutlos, kraftlos, willenlos lasse ich mich, so wie ich bin, auf die Stufen zwischen sinken, lehne meinen Kopf gegen das Geländer und schließe die Augen. Das ist doch alles scheiße, denke ich und versinke in einem leichten Dösen. Alles ist besser, als weiter nachzudenken. So dämmere ich vor mich hin, bis ein leises Piepsen mich aus dem Halbschlaf reißt. Ich nestele mein Handy hervor und entsperre den Bildschirm. Es ist eine Nachricht von Pascal.   'Ist wirklich alles in Ordnung?'   Ich schnaufe und denke nur, dass ja wohl offensichtlich war, dass es das nicht war. Was also soll ich darauf antworten? Bevor ich mir darüber jedoch weiter Gedanken machen kann, kommt noch eine Nachricht. 'Hast du deinen Typ mit nem anderen gesehen?'   Ich blinzele und will mich gerade fragen, wie Pascal nur auf so was kommt, als es mich plötzlich heißkalt überkommt. Scheiße. Was, wenn Bruno genau das gedacht hat. Wenn er gesehen hat, wie ich mit der Bedienung … oh fuck!   'Nein', schreibe ich schnell und überlege, ob ich noch 'Aber er mich' hinzusetzen soll, aber dann beschließe ich, dass das jetzt zu viel Info wäre. Ich muss das mit Bruno klären.   'Ich ruf dich morgen an' schreibe ich deswegen nur noch einmal und schließe den Messenger. Vielleicht glaubt Pascal dann, dass ich ins Bett gegangen bin. Dabei ist an Schlaf jetzt definitiv nicht mehr zu denken.   Ob Bruno wirklich was gesehen hat? Immerhin hat Jakob ja so was angedeutet. Aber da war doch nichts. Also fast nichts. Aber vielleicht …   Und was, wenn er gar nicht eifersüchtig war. Wenn er einfach nur ein feiges Arschloch ist, dass es sich anders überlegt hat?   Der Gedanke ist irgendwie gar nicht gut und lässt den Stein in meinem Magen zurückkehren. Klar, die Situation war nicht ideal und er hätte mir ja auch nicht gleich seinen Freunden um den Hals fallen müssen, aber das, was er abgezogen hat, war ja nun auch übertrieben. Reichlich übertrieben. Ich versteh das einfach nicht. Was ist nur mit ihm los?   Wie um mich selbst abzulenken, nehme ich erneut mein Handy zur Hand und öffne den Messenger. Der Chat mit Bruno ist schnell gefunden, auch wenn das Bild immer noch anonym ist. Ich tippe darauf und lese zum 375. Mal die wenigen Nachrichten. Eine wirkliche Konversation ist das nicht. So gar nicht. Vielleicht heißt das ja, dass er wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben will. Aber warum auf einmal? Es war doch alles gut.   Wenigstens zwischen uns, denke ich und könnte mich im nächsten Moment ohrfeigen, weil mir klar wird, dass ich genau das wohl gerade zunichte gemacht habe. Bruno muss sich echt verarscht vorgekommen sein nach all der Scheiße, die er meinetwegen schon am Hals hat.   Na ja, nicht nur meinetwegen, denke ich trotzig und starre weiterhin auf die Nachrichten, als sich plötzlich oben am Bildschirmrand was bewegt. Die Statusanzeige neben Brunos Namen hat sich geändert. Er ist online. Wah!   BS schreibt …   Meine Hände beginnen zu zittern. Okay, das bedeutet wohl, dass ich gleich eine Erklärung kriege. Vielleicht sogar eine Entschuldigung. Ja, ich finde, ich habe eine Entschuldigung verdient. Immerhin ist er derjenige, der hier einen auf Schweigen im Walde macht.   BS schreibt …   Ja nun, das hatten wir ja schon. Die Frage ist, was er schreibt. Und warum er es nicht abschickt. Wird das ein Roman? Eine Liebeserklärung? Eine Absage?   Mit wachsender Ungeduld beobachte ich die drei kleinen Pünktchen, die auftauchen und verschwinden, auftauchen und verschwinden. Maaan, wie lange braucht denn der? Ist ja nicht auszuhalten.   Irgendwann beschließe ich, dass ich genug von der Scheiße habe. Ohne lange zu überlegen, tippe ich auf meine Chatzeile und beginne zu schreiben.   'Wird das heute noch was?'   Schnell schicke ich die Nachricht ab, bevor ich es mir noch anders überlege. Sofort stoppen die drei Pünktchen am Bildschirmrand. Man kann förmlich fühlen, wie Bruno ertappt innehält und ihm fast die Augen rausfallen, als er meine Nachricht sieht. Vielleicht ist ihm ja sogar das Handy runtergefallen. Jedenfalls dauert es etwas, bis wieder Bewegung in die Statusanzeige kommt.   BS schreibt …   'Du bist online?'   Ich verdrehe die Augen. Nee, bin ich nicht. Das ist ne Geisternachricht.   'Hab ich nicht gesehen.' Scherzkeks. Mit einem Kopfschütteln tippe ich eine Antwort und drücke auf Senden.   'Das sieht man auch nur, wenn man die Nummer gespeichert hat.' Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob das stimmt, aber die Spitze musste jetzt einfach sein. Am anderen Ende herrscht Schweigen.   'Hab sie jetzt gespeichert.'   Mhm, okay, das sollte mir jetzt wohl irgendwas sagen. Immerhin, wenn er sie speichert, heißt das ja wohl, dass er weiter was mit mir zu tun haben will, oder nicht? Oder will er nur sichergehen, dass ich ihn nicht wieder kalt erwische. Mhmpf.   'Was war heute Abend los?'   Ich starre auf den Text, den ich gerade geschrieben habe, bevor ich ihn wieder lösche und durch einen neuen Satz ersetze. Ja, schon besser.   'Was sollte die Scheiße vorhin?'   Mhm, jetzt, da ich es abgeschickt habe, ist das vielleicht doch ein wenig zu unfreundlich? Aber zu spät, er hat es schon gelesen. Also egal jetzt. Mal sehen, was er antwortet.   BS schreibt …   Ungeduldig trommele ich mit den Fingern auf meinem Oberschenkel herum. Entweder hat Bruno echt Schwierigkeiten, seine Gedanken ins Schriftliche zu übertragen, oder er arbeitet an einer neuen Version von 'Krieg und Frieden'. Irgendwas davon muss es wohl sein, denn es dauert ewig, bis seine nächste Nachricht auftaucht.   'Es tut mir leid.' Was? Dafür hat er jetzt so lange gebraucht? Für ein lumpiges 'Es tut mir leid'. Sein fucking Ernst? Wütend hebe ich mein Handy und will anfangen zu tippen, aber dann halte ich inne. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Vielleicht, dass es mir auch leidtut? Immerhin war ich ja vielleicht doch auch ein winzig kleines bisschen mit Schuld an der Situation. Andererseits hab ich ihm keine reinhauen wollen. Das kam erst hinterher.   BS schreibt …   Grr, ich schwöre, dieser Satz weckt inzwischen bei mir echt Aggressionen. Vor allem, weil er schon wieder gefühlte hundert Stunden lang aufleuchtet, verschwindet, aufleuchtet, verschwindet. Man, sag doch einfach, was du zu sagen hast.   'Ich hatte nicht damit gerechnet, dich zu treffen.'   Tja, äh ja. Das ist jetzt irgendwie … enttäuschend. Also mit Sicherheit hatte er nicht damit gerechnet, so weit war mir die Sache auch klar. Aber das erklärt doch nicht den ganzen Mist drumherum.   Ich seufze und fahre mir mit der Hand über das Gesicht. Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Andererseits habe ich ein bisschen Schiss, dass er dann gleich wieder auflegt. Oder mich wegdrückt. Ich weiß ja nicht mal, wo er ist.   'Wo bist du?'   Wahrscheinlich ist es geschickter, wenn ich ihm einfache Fragen stelle. Damit kommt er besser zurecht. Außerdem will ich wirklich wissen, wo er ist.   'Unterwegs.'   Oh, prima. Jetzt sind wir also wieder zurück bei den Ein-Wort-Antworten. Na gut, neuer Versuch.   'Ist Gustav bei dir?'   Mhm, nein, nicht gut. Löschen. Neuer Versuch.   'Wohin?'   Nur ein Wort schreiben? Kann ich auch.   Dieses Mal dauert es länger, bis Bruno wieder anfängt zu schreiben. Dafür erscheint die Antwort prompt auf meinem Bildschirm.   'Nach Hause.'   WAS? Okay, halt Stopp. Was soll das denn jetzt werden? Ist der allen Ernstes auf den Weg zu seinen Eltern? But why?   'Zu deinen Eltern?'   Besser, ich gehe auf Nummer sicher.   'Ja.'   Okay, er ist bescheuert. Absolut. Es sei denn …   'Hat dein Vater dich nicht rausgeschmissen?'   Nachfragen kann man ja mal. Wer weiß, vielleicht habe ich seinen Aufenthalt bei Gustav ja auch völlig falsch interpretiert. Bruno schreibt.   'Doch hat er.'   Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, doch bevor ich noch dazu komme, weiter nachzuhaken, kommt noch eine Nachricht.   'Aber ich kann das nicht.'   'Was? Was kannst du nicht', will ich schreiben, aber ich komme nicht mehr dazu. Brunos Statusanzeige verändert sich und wechselt auf 'zuletzt online heute 23:53'. Scheiße, so spät ist es schon? Und was soll das überhaupt heißen?   Schnell tippe ich noch eine entsprechende Nachricht und schicke sie ab. Und dann noch eine. Und noch eine. Ich will unbedingt eine Antwort.   Mit wachsender Unruhe belauere ich das Display. Meine Augen switchen zwischen der Statusanzeige und den grauen Häkchen neben meinen Nachrichten hin und her. Doch bei beiden tut sich nichts. Im Gegenteil. Die Häkchen weigern sich nicht nur ihre Farbe zu ändern, die bleiben auch noch Single. Das heißt, die Nachricht wurde zwar abgeschickt aber nicht empfangen. Was ist da los? Was soll das?   Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich muss jetzt wissen, was da zu bedeuten hat. Ohne lange zu überlegen, drücke ich auf den kleinen grünen Hörer und wähle Brunos Nummer.   „Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar, wird aber per SMS über Ihren Anruf informiert.“   Aufgelegt. Wütend starre ich das Display an, aus dem mir gerade noch eine unpersönliche Frauenstimme die noch viel unpersönlichere Bandansage ins Ohr gesäuselt hat. Fuck! Entweder heißt das, er ist tatsächlich offline gegangen und hat das Handy ausgeschaltet oder aber er steckt in einem Funkloch. Beides wäre möglich, aber ein leises Stimmchen raunt mir zu, dass es vermutlich eher das Erste ist. Er hat mich ausgesperrt. Er will nicht mit mir reden. Und ich habe keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.   Scheiße!   Was anderes fällt mir dazu gerade wirklich nicht ein. Was soll ich denn jetzt machen? Abwarten, dass er sich meldet?   Und schlafen gehen, raunt mir eine Stimme zu. Ihr ist nämlich aufgefallen, dass die Treppe alles andere als bequem ist und mir in dem kurzärmligen Hemd, für das ich mich heute entschieden habe, langsam kalt wird. Dunkelbrauner, fester Stoff mit gelben Blättern und Blüten. Venusfliegenfallen. Wie passend.   Ich bin ihm voll auf den Leim gegangen.   Ich weiß nicht genau, wen ich damit meine. Ob Bruno oder mich oder den Unbekannten auf dem Stadtfest. Alles, was ich weiß, ist, dass von dem, was so gut begonnen hat, irgendwie nur noch halb verdaute Insektenteile übrig sind. Ein schmieriger Fleck irgendwo auf dem Asphalt. Ein Fliegenschiss.   Oh, wie dramatisch, höhne ich und möchte mir schon wieder selbst eine zimmern. Ich meine, was hab ich denn erwartet? Dass Bruno sich outet, bei seinen Eltern auszieht und alles ist Friede, Freude, Regenbogen? Einhornstaub und Zuckerwatte. Pastell und Flanell. Gay pride in Hintertupfingen. Mein Ernst?   Ich sollte echt schlafen gehen.   Im Bett komme ich ja mit Chance wenigstens irgendwann zur Ruhe und höre auf, mir über diesen Klotzkopf Gedanken zu machen. Vielleicht finde ich ja vorher noch ne halbe Flasche Wodka, die ich mir in den Kopf schrauben kann. Hilfreich wäre es.   Missmutig und vielleicht ein bisschen lauter als notwendig erhebe ich mich und beginne, die Treppenstufen hochzustapfen. Eine nach der anderen. Nur nicht runtergucken. Immer schön nach oben schauen. Und atmen. Niemals aufhören zu atmen. Die Wohnungstür stellt sich als Nächstes quer, aber ich ruckele solange, bis sie sich endlich ergibt und mich hineinlässt. Drinnen pfeffere ich meine Schuhe in die Ecke und will gerade in die Küche gehen, als ich sehe, dass dort noch Licht brennt. Ich runzele die Stirn und mache mich, leiser als ich eigentlich vorgehabt hatte, auf den Weg. Als ich die Tür öffne, sehe ich meine Mutter am Küchentisch sitzen. Neben ihr liegt das Telefon und eine Packung Taschentücher. Ein weiteres, bereits benutzt, hat sie zusammengeknüllt zwischen ihren Händen. In der Luft liegt der Duft von Kräutertee. Eine halbvolle Tasse steht auf dem Tisch, daneben ein kleiner Teller mit einem zermatschten Teebeutel.   Immerhin kein Wein, denke ich und verschiebe meine Besäufnispläne. Das hier ist wichtiger. „Hey, Mum“, mache ich vorsichtig. Sie hat mich offenbar noch nicht bemerkt, denn als ich sie jetzt anspreche, hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind traurig. Sofort ist mir klar, dass etwas passiert sein muss.   „Herr Häberle ist tot“, sagte sie und ich kann absolut gar nichts darauf erwidern. Verdammte Scheiße! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)