Herzschmerzhelden von Maginisha ================================================================================ Kapitel 11: Was du willst ------------------------- „Was soll das heißen, ich muss etwas kaufen?“   Vollkommen entgeistert starre ich die Tante auf der anderen Seite des Tresens an. Sie ist eine von diesen strengen, älteren Damen mit grauem Dutt (na gut, eigentlich hat sie nur einen Kurzhaarschnitt) Brille (trägt sie auch nicht, aber sie könnte) und einer hochgeschlossenen Bluse, die leider nicht ansatzweise hochgeschlossen genug ist, um die Altersflecken auf ihrem schrumpeligen Hals und dem noch schrumpeligeren Dekolletee-Ansatz zu verdecken. Ich schwöre, ich sage nie wieder etwas über Michelles tiefe Ausschnitte. Das hier ist viel schrecklicher! „Unsere Tragetaschen sind nur für unsere Kunden bestimmt“, antwortet mir Methusalenta reichlich pikiert und ich unterdrücke ein Schnauben. Tragetaschen. Ha! Als wenn die flimsigen Tüten des Modehauses Bräuer diesen Namen überhaupt verdient hätten. Wenn ich sie nicht so dringend bräuchte, würde ich mich jetzt ja glatt umdrehen und hoch erhobenen Hauptes den Laden verlassen. Leider geht das nicht, also verlege ich mich notgedrungenermaßen aufs Betteln. „Aber es ist wichtig“, beteuere ich mit weit aufgerissenen Augenbrauen und bebender Stimme. „Es geht um Leben und Tod.“   Na gut, nicht ganz. Eigentlich geht es nur darum, dass ich mich bei meinem … Klassenkameraden entschuldigen möchte und ihn dafür auf ein Treffen in eine etwas positiv besetztere Umgebung einladen will. Und weil ich ihm ja schlecht einen Brief schreiben kann – oder eine SMS; schließlich habe ich seine Nummer nicht – brauche ich halt eine Tüte. Dummerweise lässt die Schreckschraube mit der verkniffenen Miene mich eiskalt auflaufen.   „Tut mir leid, aber so sind die Regeln“, säuselt sie fadenscheinig und grinst dabei mit Sicherheit heimlich in sich hinein. Als wenn sie nicht genau wüsste, das ich mir hier drinnen nicht einmal ein Paar Socken leisten kann. Neben schlechtem Geschmack zeichnet dieses Geschäft nämlich vor allem eines aus: exorbitant hohe Preise. Ich frage mich echt, warum Brunos Familie hier einkauft. Immerhin scheint bei denen das Geld ja auch nicht gerade locker zu sitzen.   Vielleicht war es ein Geschenk.   Tja, keine Ahnung. Fest steht jedenfalls, dass ich mir anscheinend an dieser alten Schabracke die Zähne ausbeiße. Sie kann, oder besser gesagt will, mir einfach nicht helfen. Wahrscheinlich hat sie zu Hause auch Netze über ihren Kirschbäumen. Und Gartenzwerge! „Ich würde die Tüte auch bezahlen“, starte ich einen letzten Versuch, dem Drachen seinen Schatz zu entreißen. Vielleicht lässt er sich ja mit klingender Münze locken.   „Die sind nicht käuflich zu erwerben“, schmettert das Monstrum mir jedoch entgegen und ich bin mir jetzt sicher, dass das hier ein ganz klarer Fall von Diskriminierung ist. Die blöde Gans verweigert mir die Tüte doch nur, weil ich nicht in ihre kleine Welt aus sauber aufgereihten Maßanzügen und farblich sortierten Krawatten passe. Dabei hat meine Jeans keinen einzigen Riss und mein T-Shirt ist absolut fleckenfrei. Gut, es ist knallviolett und das Motiv ist ein Baum aus Lausprecherkabeln, an dem alle möglichen Dinge wachsen. Nicht zuletzt ein Kopf mit dicken Kopfhörern und einer von diesen alten, zweifarbigen 3D-Brillen. Aber das ist doch nun wirklich kein Grund, mir nichts verkaufen zu wollen. Oder zu schenken.   „Bitte.“ Ein allerletztes Mal versuche ich das Herz der eisernen Lady zu erwärmen. Kann doch nicht sein, dass die wirklich so verbohrt ist. Und schließlich ist es nur eine Tüte.   „Gibt es ein Problem, Frau Schneider?“   Ein Mann ist von uns beiden unbemerkt aus dem Hintergrund getreten. Er ist groß, gut aussehend und sein Anzug sitzt absolut tadellos. Ein dunkler Drei-Tage-Bart und lustig blitzende Augen unterstreichen seinen gebräunten Teint und geben ihm das Aussehen eines Mannes von Welt. Ich starre und habe nur noch zwei Fragen: 'Wieso habe ich den hier noch nie gesehen?' und 'Möchte er mich heiraten?'   „Dieser junge Mann möchte eine unserer Tüten, aber ich habe ihm bereits gesagt, dass das nicht möglich ist.“ Der Blick des Halbgottes im Zweireiher richtet sich zuerst auf mich und dann auf die Schrapnelle hinter der Kasse. „Und warum nicht?“, fragt er in warmen Timbre, das mir glatt eine Gänsehaut verpasst. Heilig’s Blechle, wenn der Pornos synchronisieren würde, würde ich glatt das Bild abschalten und mir nur auf seine Stimme einen runterholen. Der Wahnsinn! „Na weil …“ Die Dame kommt deutlich ins Stottern. Ich kombiniere haarscharf, dass der heiße Typ so was wie ihr Chef, wenn nicht gar der Besitzer des Ladens sein muss. Na, jetzt erklär das mal schön, du homophobe Kuh. Erklär mal.   Hecktische rote Flecken kündigen an, dass anscheinend gerade das Klimakterium zuschlägt oder ihr die Sache höchstpeinlich ist.   „Nun ja, ich dachte mir, dass er damit womöglich irgendeinen Schabernack treiben wollte. Und schließlich steht der gute Ruf unseres Hauses auf dem Spiel.“ Während sie sich das zusammenstammelt, schaut mich der gut aussehende Fremde immer wieder an. Man, wenn der so weitermacht, wird mir auch gleich ganz heiß. „Und?“, fragte er mich bedächtig. „Hast du vor, mit unserem guten Namen Schabernack zu treiben.“ Treiben? Ja bitte, lass es uns treiben. Meinetwegen gleich hier und jetzt. „Äh … nein. Natürlich nicht. Ich will nur …“   Der prüfende Blick bringt mich vollkommen aus dem Konzept. Ihm würde ich wirklich alles verraten. Sogar, dass ich in der vierten Klasse mal eine Packung Kondome geklaut habe oder auf welche Stellungen ich besonders stehe.   „Ich möchte jemanden einladen. Und dazu brauche ich die Tüte. Als Erkennungszeichen.“   Uff, jetzt ist es heraus. Und es klingt absolut dämlich. Das wird er mir niemals abkaufen.   Jetzt fängt der Sex on Legs an zu grinsen. „Ah, ein Date also? Wer ist denn die Glückliche?“   Mhm, okay, das ist jetzt ein ziemlicher Abturner. Denn erstens ist das mit Bruno natürlich kein Date und zweitens hätte ich gedacht, dass er weiß, was Sache ist. Ich hätte es ehrlich gedacht.   „Sie, äh … geht in meine Klasse“, lüge ich mit einem Kloß im Hals. Wäre ja auch zu schön gewesen. Vonwegen 'all the handsome man are gay'. Da kann ich ja nur drüber lachen! Der Smartie hingegen grient immer noch.   „Na, Frau Schneider, dann wollen wir mal nicht so sein. Geben sie unserem Kunden von morgen doch bitte eine von unseren größten Tragetaschen.“   Frau Schneider verzieht das Gesicht und ich kann es ihr nicht mal verdenken. Wenn es nicht für Bruno wäre …   „Ich brauch nur ne normale“, informiere ich den Schleimer und die Verkäuferin gleichermaßen. Ist ja nicht so, dass ich mir daraus einen Schlafsack basteln will. Ich will nur eine Einladung an Bruno darin verpacken und sie im Klo deponieren, damit er sie findet. Was mir jetzt, da ich draußen vor dem Geschäft stehe, doch reichlich albern vorkommt. Aber was Besseres hab ich grad nicht. Ansprechen ist unmöglich und nochmal bei ihm vorbeigehen ebenfalls. Aber ich muss es versuchen. Ich muss einfach.     Der nächste Klausurtag rückt an und ich bin denkbar schlecht vorbereitet. Alles, was ich mir am Wochenende noch eingeprägt habe, ist wie weggeblasen. Außerdem brennt mir die Tüte ein Loch in die Tasche. Ich muss es schaffen, dass Bruno mich mit dem Ding sieht. Was gar nicht so einfach ist, weil er heute ein anderes Fach schreibt und somit irgendwo am entgegengesetzten Ende der Schule sitzt. Und zu allem Überfluss ist heute die letzte schriftliche Prüfung. Danach stehen dann nur noch die mündlichen an. Entweder ich erwische ihn also heute oder ich kann das Ganze vergessen.   Was vermutlich auch schlauer wäre, unkt da schon wieder ein gewisser Jemand, aber ich ignoriere ihn. Immerhin habe ich extra die Tüte besorgt, da werde ich doch jetzt nicht kneifen.   Ich rate mich also durch meine Klausur, schmücke mein rudimentäres Wissen noch etwas mit klug klingenden Floskeln aus und gebe meine leidlich gefüllten Bögen unserem Lehrer mit den Worten „Seien Sie gnädig oder Sie müssen mich noch ein Jahr ertragen“ in die Hand. Anschließend bin ich frei und kann tun und lassen, was ich will. Na ja, fast wenigstens. Immerhin ist da noch die Sache mit Bruno, aber wie der Zufall es will, ist der offenbar auch schon mit seiner Prüfung durch. Wenigstens hängt er mit ein paar anderen aus seinem Kurs auf dem Pausenhof ab, als ich kurz darauf aus dem Schultor trete und gegen das grelle Sonnenlicht anblinzele. Oha, jetzt hat er mich gesehen. Mich und die Tüte in meiner Hand. Ich kann quasi fühlen, wie seine Augen schmal werden.   Ja, genau. Feiner Bruno. Komm, putt-putt-putt. Ich hab was Schönes für dich.   Als hätte er mich gehört, sehe ich, wie er den Kopf zu den anderen dreht und irgendwas sagt. Dann löst er sich aus der Gruppe. Oh fuck, scheiße, er kommt direkt auf mich zu.   So schnell ich kann, flüchte ich wieder nach drinnen. Das hat jetzt ja mal viel zu gut geklappt. Was mache ich nur?   Wie der Wind eile ich in Richtung des Klos, stürme durch die Tür und bis zum Ende des Ganges zur Fensternische.   Schnell doch. Schnell!   Mit zitternden Fingern öffne ich meinen Rucksack und nestele eine Rolle Klebeband hervor, die darin steckt. Ich versuche den Anfang zu finden, aber es klappt nicht. Scheiße, warum klappt das nicht? Meine Hände sind schwitzig. Ich hab höchstens noch eine Minute, dann wird er hier sein. Scheiße, Scheiße, Scheiße!   Irgendwann habe ich es doch geschafft, den Anfang des klebenden Fiaskos zu finden. Ich ziehe und natürlich reißt der Scheiß mittendurch. Mal ehrlich, für einen Euro kann ich doch wohl erwarten, dass das bekloppte Paketband tut, was es soll. Aber nein, es zickt, und ich hab doch keine Zeit. Egal jetzt.   Ich pappe mit dem Mut der Verzweiflung die Tüte an die Klowand und hoffe, dass das Klebeband sie wenigstens so lange an Ort und Stelle hält, bis Bruno sie findet. Danach pfeffere ich alles in Rekordtempo wieder in meinen Rucksack und will abhauen, als ich die Tür im vorderen Teil quietschen höre.   Scheiße!   In meiner Panik tue ich das Nächstbeste, das mir einfällt. Ich flüchte in eine der Kabinen, hocke mich auf den Klodeckel, ziehe die Füße nach oben und halte den Atem an. Natürlich besteht immer noch die Möglichkeit, dass einfach irgendwer anders hier gerade ein dringendes Bedürfnis absolvieren muss, aber irgendwie glaube ich nicht daran. Immerhin ist gerade für die anderen Klassen noch Unterricht und irgendwie … Es ist, als würde Bruno unsichtbare Schwingungen aussenden. Wie so ein Hai, der unter der Oberfläche näher kommt.   Scheiße!   Das mit dem Hai war jetzt keine gute Assoziation. Vor allem nicht, wenn gerade Schuhe in Größe 50 unter dem Rand der Kabine auftauchen.   Scheiße!   Mein Kopf ist gerade anscheinend nicht in der Lage, mehr als das eine Wort auszuspucken. Im Gegenzug merke ich, wie Bruno draußen vor der Kabine zögert. Vermutlich ahnt er, dass ich hier drin bin. Die anderen beiden Kabinen sind nur angelehnt, während meine Tür ordnungsgemäß verschlossen ist. Ich habe sogar den Riegel vorgelegt. Trotzdem muss ich mir auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuschreien bei der Vorstellung, dass er gleich einfach die Tür aus den Angeln reißt oder wenigstens den Griff aus dem Holz. Meine Fingernägel bohren sich in meine Schienbeine. Ich hab Angst. Vor der Tür scheint Bruno sich überlegt zu haben, dass er mich vorerst doch nicht behelligen wird. Seine Füße setzen sich wieder in Bewegung und der bedrohliche Schatten, der mit ihnen gekommen ist, zieht vorbei. Mein Herz ist schon versucht, den Taktschlag ein wenig runterzuregeln, als ich höre, wie Bruno stehenbleibt. Fuck, jetzt muss er meine Klebekonstruktion entdeckt haben. Ich muss hier weg. Ich muss hier ganz dringend weg.   Bitte lass ihn nicht sauer sein. Bitte lass ihn nicht sauer sein.   Ich weiß nicht, zu wem ich gerade bete, aber irgendwer wird mich doch sicher erhören. Immerhin habe ich mich noch nie mit irgendwelchen Anliegen an himmlische Instanzen gewandt, da muss auf meinem Wunschkonto doch noch ein Guthaben sein. Oder? ODER?   Es raschelt und ratscht. Bruno hat die Tüte von der Wand gepflückt. Ich höre, wie er sie öffnet. Auf dem weißen Fliesenboden wackelnde Umrisse, die mich nur undeutlich seine Bewegungen erahnen lassen. Andererseits ist ja nicht viel in der Tüte drin. Nur ein Zettel. 'Donnerstag 16 Uhr?' steht darauf. Mehr habe ich mich nicht getraut zu schreiben für den Fall, dass jemand anderer ihn findet. Allerdings hatte ich auch gedacht, dass ich weit, weit weg sein würde, wenn er ihn liest. Ob er mir wohl antwortet?   Ich warte. Brunos Gehirn scheint noch Sinn und Zweck meiner Botschaft zu erkunden. 'Bitte warten Sie, Ihre Anfrage wird bearbeitet.' Dabei ist das doch nun wirklich nicht so schwer zu verstehen. Willst du dich nun nochmal mit mir treffen oder nicht?   Vielleicht muss er ja erst überlegen, ob er das will. Der Gedanke ist nicht gerade angenehm. Denn wenn nicht, habe ich es wohl endgültig verkackt. Dementsprechend halte ich den Atem an, als er sich wieder bewegt. Seine Schritte nähern sich der Kabinentür, die Schuhe werden wieder sichtbar. Ich beiße mir auf die Lippen. Ich will schreien. Ihn anspringen wie ein kleiner Hund. Und? Und? Treffen wir uns? Nun sag schon. Sag es! Aber er sagt nichts. Er geht einfach. Ungläubig blinzele ich, als ich wenige Augenblicke später die Tür vom Waschraum sich öffnen und schließen höre. Danach bin ich allein. Niemand mehr da. Nur ich und mein beschissener, dämlicher Plan, der alles nur noch schlimmer gemacht hat. Ich könnte heulen.   Nach einer gefühlten Ewigkeit, kriege ich es hin, die Beine wieder auszustrecken und meine Füßen auf den Boden zu stellen. Es fühlt sich lächerlich banal an. Ich schnaufe, seufze, ziehe mich hoch und öffne die Tür. Es war eben doch kein guter Plan. So gar nicht. Wie, um mich davon zu überzeugen, biege ich um die Ecke zum Fenster. Da liegt die Tüte auf dem Boden. Ich hab nicht mal mitgekriegt, dass er sie fallengelassen hat. Frau Schneider wäre sicherlich entsetzt, wenn sie das wüsste.   Mit einem weiteren, gottergebenen Seufzen bücke ich mich, um sie aufzuheben, als ich plötzlich stocke. Moment mal. Da fehlt etwas. Der Zettel ist weg!   Suchend drehe ich mich um, doch ich kann ihn nirgends entdecken. Weder auf dem Boden noch auf der Fensterbank. Da das Fenster geschlossen ist, kann Bruno ihn auch nicht rausgeworfen haben, das hätte ich gehört. Ob er ihn in den Müll …? Wie von der Tarantel gestochen rase ich in den Vorraum. Dort klemmt an der Wand ein abgenutzter, weißer Drahtkorb mit einer blauen Tüte darin. Der Inhalt besteht aus zusammengeknüllten Papierhandtüchern, die meisten nass, einige aber auch nur weggeworfen oder vielleicht schon wieder getrocknet. Ob mein Zettel darin liegt?   Nein, auf gar keinen Fall werde ich den jetzt ausräumen. Das ist ja eklig. Außerdem, so rekombiniere ich Brunos Schritte, ist er nicht nochmal zum Papierkorb gegangen. Er hat die Toilette direkt verlassen. Aber das würde ja bedeuten …   … dass er den Zettel mitgenommen hat.   Und das wiederum bedeutet doch wohl, dass er sich mit mir treffen will. Oder? Vielleicht wollte er das nur nicht so direkt sagen. Oder er war sich noch nicht sicher. Aber wenn er den Zettel hat, dann …   Oh, ich hoffe es. Ich hoffe es so sehr.   Jetzt muss ich nur noch warten.     Der verabredete Tag kommt. Wie genau ich die letzten zwei Tage und vor allem Nächte überlebt habe, weiß ich nicht. Oder was in der Zeit passiert ist. Ich erinnere mich dunkel an ein Treffen bei Pascal, bei dem wir dankenswerterweise nicht miteinander geredet haben. Nur Pizza gegessen und Filme geguckt. Es hat sich gut angefühlt, aber irgendwie auch seltsam, da ich ja wusste, dass er von Bruno weiß, aber nichts gesagt hat. Irgendwann werden wir da vielleicht nochmal drüber reden müssen. Vielleicht aber auch nicht, wenn ich es schaffe, das heute endlich abzuschließen. Zu wünschen wäre es mir.   Um mich herum ist alles grün. Der Sommer ist nicht mehr zu leugnen. Die Tage werden länger, die Nächte kürzer, und das Thermometer klettert um die Mittagszeit in ungeahnte Höhen. In den Nachrichten stöhnen sie schon wieder über schlechte Ernten und Bauernsterben, aber ich habe heute ganz andere Sorgen. Das Holzhaus ist in Sichtweite gekommen und mein Herzschlag beschleunigt sich mit jedem Schritt.   Heute wird es enden, hämmert es in meinem Kopf. Die Empfindung dazu ist nicht ganz so eindeutig. Einerseits bin ich aufgeregt. Ich werde Bruno wiedersehen. Wie es ihm wohl geht? Ob er sich auf das Treffen freut? Ob wir noch mal … na ja? So als Abschluss? Ich hab auf jeden Fall zur Sicherheit was eingepackt. Nicht, dass ich das wirklich planen würde, aber besser vorbereitet sein, als hinterher mit leeren Händen dazustehen. Außerdem hatte ich so wenigstens was zu tun. Ist ja nicht so, als wenn ich morgens um sieben aufgewacht wäre, aber der Tag war trotzdem noch viel zu lang. Doch jetzt ist es endlich soweit. Juhu!   Die Hütte ist immer noch verlassen. Drinnen ist es dunkel, die hölzernen Fensterläden vorgelegt und die Tür ist zu. Anscheinend bin ich heute der Erste. Na gut, dann warte ich eben. Kann ja nicht mehr lange dauern.     Ich warte. Die Minutenanzeige, die ich mir ca. alle 30 Sekunden auf meinem Handy angucke, dehnt sich zu Stunden. Also nicht wirklich, aber es fühlt sich so an. Ich versuche, mich mit Videos oder einem Spiel abzulenken, aber es klappt nicht. Immer wieder zuckt mein Finger zum Bildschirmrand, um die Uhrzeit einzublenden. Schon 20 nach vier und immer noch kein Bruno. Ob er wirklich kommt?   Weitere zehn Minuten später, beginne ich zu zweifeln. Er ist jetzt schon eine halbe Stunde zu spät und irgendwie sieht das Bruno so überhaupt nicht ähnlich. Ob er mich versetzt hat? Oder es sich im letzten Moment anders überlegt?   Noch einmal 20 Minuten später bin ich mir sicher, dass er nicht kommen wird. Immerhin haben wir inzwischen fast fünf und es ist nicht einmal eine Nasenspitze von Bruno zu sehen, geschweige denn der Rest von ihm. Ich habe mir also vollkommen umsonst Hoffnungen gemacht. Bruno hat mich versetzt und das gründlich.   Mit einem leisen Seufzen erhebe ich mich. Um mich herum ist immer noch Sommer, aber ich fühle mich nicht mehr besonders beschwingt. Ich weiß, dass ich eigentlich nicht enttäuscht sein sollte, aber trotzdem. Die Niederlage nagt an mir. Ich hätte wirklich gedacht, dass er …   Ein Geräusch lässt mich aufhorchen. Es war so etwas wie ein Rumpeln. Oder Kratzen? Keine Ahnung. Auf jeden Fall kann ich mich nicht erinnern, das in der letzten Dreiviertelstunde schon mal gehört zu haben. Zumal es von drinnen kam. Aus der Hütte. WT…   Die Tür öffnet sich. Ganz langsam geht sie auf und ich kann mich nicht bewegen. Wie erstarrt sehe ich Bruno entgegen, der jetzt langsam aus der Tür tritt. Auch er sagt nichts. Er sieht mich nur an.   „DU?“, bringe ich irgendwann heraus. Damit hatte ich nicht gerechnet. Er war also die ganze Zeit in der Hütte? Was hat er da gemacht? Und warum? Und …   „Du hattest geschrieben.“   Okay, okay. Ganz langsam jetzt. Er ist also hier. Kein Grund zur Panik. Darauf habe ich doch die ganze Zeit gewartet. Irgendwie klopft mir mein Herz aber trotzdem bis zum Hals und ich kann nicht atmen. Verdammt, was fällt dem eigentlich ein? „Musst du mich so erschrecken?“   Brunos Reaktion auf meine Frage besteht aus … nichts. Er verzieht keine Miene. Wartet nur darauf, dass ich etwas sage. Oder tue. Verdammt, was soll das? Wollte er mich aus dem Konzept bringen? Wenn ja, hat er das geschafft. Herzlichen Glückwunsch. Und jetzt? Willst du ne Urkunde?   Ich schnaufe und versuche es erst einmal mit Atmen. Mehr Sauerstoff ist ja angeblich gut für die grauen Zellen. Und außerdem muss ich mir meinen Plan wieder zusammenkratzen, den ich mir so mühsam zurechtgelegt hatte. Der Plan hieß: Sich bei Bruno entschuldigen. Für die Sache mit dem Kuss und für den Überfall bei ihm zu Hause. Und dann vielleicht noch Sex mit ihm haben. Letzteres kann ich aber wohl von der Liste streichen, denn irgendwie sieht er nicht so aus, als würde er mich heute an sich heranlassen. Oder auch nur in die Hütte. Soll ich jetzt etwas hier draußen mein Geständnis ablegen? Na gut, kann er haben.   „Es tut mir leid“, sage ich so aufrichtig, wie ich nur kann. Dabei schaue ich ihm genau in die Augen und bemühe mich, nicht zu blinzeln. Angeblich wirkt das ja ehrlich. Hab ich mal gehört. Oder gelesen. Ich weiß nicht mehr so genau. Bruno hingegen scheint das Memo nicht bekommen zu haben, denn sein Gesicht verdunkelt sich. Dummerweise sagt er immer noch kein Wort. Er dreht sich einfach nur um und geht zurück in die Hütte. Für einen Augenblick bleibe ich noch draußen stehen, dann folge ich ihm nach drinnen. Als ich reinkomme, lässt er sich gerade auf der Bank nieder. Es ist mehr oder weniger genau die gleiche Stelle, an der er gesessen hat, als ich … und er … Ach Scheiße!   Langsam schließe ich die Tür hinter mir. Es wird merklich dunkler, aber durch die Läden dringt immer noch genug Licht, um alles erkennen zu können. Vorsichtig, weil ich mir nicht sicher bin, wie Bruno das findet, trete ich näher. Er sitzt immer noch da, den Kopf gesenkt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Könnte er vielleicht auch mal was sagen? Nein? Okay, dann ich nochmal.   „Weißt du, ich … ich hab nicht damit gerechnet, dass du … versuchen würdest mich zu küssen., beginne ich stotternd . „Weil das für mich einfach was Besonderes ist. Also zumindest seit … seit mein Ex gesagt hat, dass das so sein sollte. Er hat gesagt, wenn man jemanden küsst, dann …. sollte man etwas für ihn empfinden. Zumindest dann, wenn es ein richtiger Kuss ist. Und ich hab … hab das wohl übernommen. Deswegen hat es mich auch so … geschockt, als du das tun wolltest. Weil ich einfach nicht damit gerechnet hatte. Aber wahrscheinlich hast du dir gar nichts dabei gedacht, also war es wohl übertrieben, dass ich …“   „Er hat recht.“   Brunos Unterbrechung meines merkwürdigen Redeschwalls kommt leise aber bestimmt. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Als ich nicht zu verstehen scheine, präzisiert er seine Antwort. „Dein Ex, meine ich. Ich finde, er hat recht.“   Natürlich höre ich die Worte. Und ich begreife sie auch irgendwo, aber die wirkliche Bedeutung trifft mich erst mit deutlicher Verspätung, dann aber wie ein Hammerschlag.   HAT BRUNO ETWA GERADE GESAGT, DASS ER ETWAS FÜR MICH EMPFINDET???   „Was?“, krächze ich und kann es immer noch nicht glauben. Meint er das ernst? So richtig ernst? Honto ni? „Aber du kannst nicht …“, plappere ich los und verhaspele mich in meinem eigenen Satz. Also weil, natürlich kann er. Eine Menge Kerle müssten mir eigentlich zu Füßen liegen und den Boden anbeten, auf dem ich dahinschreite. Aber das hier ist Bruno. Bruno hasst mich!   „Du hasst mich“, entfährt es mir dementsprechend auch und ich bin mir nicht sicher, ob ich nur in hektische Schnappatmung ausbrechen oder lieber gleich komplett in Ohnmacht fallen sollte. Letzteres wäre praktisch, weil ich dann nicht mehr reden könnte. Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, dass das das Beste für alle Beteiligten wäre. Bruno, der den Kopf zur Seite gedreht hat, brummt unzufrieden. „Ich hasse dich nicht.“   Jaaa, genau. Deswegen machst du mir auch seit zwei Jahren das Leben zur Hölle. Oder, na ja, Hölle ist vielleicht übertrieben. Du nervst rum und lässt keine Gelegenheit aus, mir auf den Zeiger zu gehen. Ist das etwa so ein Negative-Aufmerksamkeit-Ding? Ernsthaft jetzt? „Und weil du mich nicht hasst, hast du seit meinem ersten Tag hier nichts Besseres zu tun, als mich blöde anzumachen?“   Jetzt hebt Bruno seinen Kopf und sein Blick wird beunruhigend finster. „Und du?“, blafft er mich an. „Du hast seit dem ersten Tag hier nichts Besseres zu tun, als an allem herumzunörgeln und dich für was Besseres zu halten. Du scheißt auf uns, du scheißt auf unsere Gemeinschaft, du scheißt auf alles, was wir hier … haben.“   Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. „Und was soll das sein? Eine homophobe, bis zum Arsch zugeknöpfte, intolerante, keine Ausnahmen duldende …“ „Warum willst du denn auch unbedingt anders sein?“   Brunos Ausbruch ist so heftig, dass es mir für einen Moment den Atem verschlägt. Ernsthaft jetzt? Das fragt er mich? „Na weil ich anders bin“, fauche ich zurück. „Und niemand in diesem ganzen gottverdammten Kaff wird je müde, mir genau das klarzumachen. Ich passe nicht hierher. Ich gehöre nicht hierher. Es gab sogar eine Petition, um mich von der Schule zu entfernen.“   „Nur aus den Umkleideräumen“, wirft Bruno ein und ist dabei zum Glück so kleinlaut, dass ich ihm nicht an die Gurgel gehe. Trotzdem sprühen meine Augen tonnenweise Funken. „Und wie würdest du dich fühlen, wenn man das mit dir machen würde?“   So, jetzt ist es heraus. Der Elefant ist aus dem Sack und endlich reden wir darüber. Denn das ist doch das eigentliche Problem. Dass Bruno verdammt nochmal auch anders ist und er eine Scheißangst hat, dass jemand das mitbekommt. Und weil er sich ja schlecht selbst verprügeln kann, drangsaliert er eben mich. Aber ich hab keinen Bock mehr darauf, mich stellvertretend für seine eigene ungeliebte Seite blöd anmachen zu lassen. Vor allem nicht, wenn er jetzt auch noch mit diesem Gefühlsmist anfängt. Denn wie soll das gehen? Wie soll das funktionieren? Selbst wenn ich das wollte, könnten wir doch nie … wir könnten nie …   Ach Scheiße!   Immer noch stehe ich da und versuche, wütend auf Bruno zu sein, aber es klappt einfach nicht. Stattdessen habe ich jetzt Mitleid mit ihm. Dieser große, starke Kerl, der innendrin so ein erbärmlicher Hasenfuß ist. Andererseits habe ich ja gesehen, wie es hier abgeht. Und, wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich wohl auch Schiss gehabt. Riesenschiss sogar. Es anderen zu sagen ist immer ein Risiko. Selbst ich musste zusehen, wie Leute, von denen ich dachte, dass sie cool damit wären, mir den Rücken zukehrten, als sie es erfuhren. Wie oft habe ich dumme Sprüche kassiert. Absichtlich und unabsichtlich. Wie viele nervige Fragen sind mir gestellt worden. Über Sachen, die keine Sau was angehen. Ich bin inzwischen darüber hinweg, aber Bruno? Der steht noch ganz am Anfang. Allein, dass er es mir gesagt hat, muss ein Riesenschritt für ihn gewesen sein. Und ich reagiere so bescheuert.   Ich schnaufe. Einfach, weil es gerade das Einzige ist, was mir einfällt. Man, was für eine beschissene Situation. Für mich und für Bruno. „Rück mal.“   Mit dem Spruch trete ich zu ihn und lasse mich, nachdem er ein Stückchen mehr Platz gemacht hat, einfach neben ihn fallen. Unsere Oberschenkel pressen sich aneinander und auch der Rest von mir hat nicht unbedingt Platz auf der Bank. Als er es merkt, will Bruno noch weiter nach rechts rutschen, aber ich komme ihm zuvor. „Lass mal, geht schon“, sage ich und gebe ihm nun meinerseits ein bisschen mehr Raum. Als wir uns endlich arrangiert haben, gibt es immer noch Berührungspunkte, aber es ist nicht so eng, dass es unangenehm wäre.   Und was machen wir jetzt?   Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Ich meine, Bruno hat mir quasi gerade seine Liebe gestanden. Was merkwürdig genug ist, wenn man bedenkt, dass wir uns vor ein paar Wochen quasi noch spinnefeind waren. Oder wenigstens dachte ich das. Vielleicht hätte ich ein bisschen genauer hingucken sollen. Eventuell hätte ich dann die Zeichen erkannt.   Eine Weile lang sitzen wir einfach nur da, bis ich es schließlich nicht mehr aushalte. Ich muss jetzt etwas sagen. „Michelle hat mir von dem Hamster erzählt.“   Okay, das war jetzt unerwartet. Wer von euch hat da oben die Kontrolle übernommen und an den Hebeln rumgespielt? Na? Hä? Wer war das?   „Welcher Hamster?“   Na prima. Nicht einmal Bruno weiß, wovon ich rede. Oder tut er nur so? „Na der, den ihr in der Schule mal hattet. Den du begraben wolltest.“   Neben mir höre ich ein kurzes Schnauben, dann ein tiefes Durchatmen. „Ach der. Ja, das war … ein Hamster.“   Für einen Moment kommt es mir vor, als hätte er etwas anderes sagen wollen. Aber was? Und warum rückt er nicht einfach damit heraus. Er weiß doch, dass er mir vertrauen kann.   Weiß er das?   Na gut. Ich gebe ja zu, dass ich mich vielleicht nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert habe, was das angeht. Aber sein Geheimnis habe ich für mich behalten. Mehr oder weniger.   „Was hast du mit ihm gemacht?“   Bruno schreckt aus seinen Gedanken auf.   „Was?“, fragt er nach und wirkt ziemlich entrückt. „Der Hamster“, beginne ich noch einmal von vorne. „Ich habe gefragt, was du mit ihm gemacht hast.“ Wenn er jetzt sagt, er hat ihn aufgeschnitten oder gegessen, laufe ich. Ganz schnell.   Bruno schweigt noch eine Weile, aber dann, als ich schon denke, dass das heute nichts mehr wird, bekomme ich doch noch meine Antwort. „Mein Vater hat ihn … er hat ihn auf den Mist geworfen. Hat gemeint, Tiere bräuchte man nicht zu begraben. Erst recht nicht solches Ungeziefer. Also hat er ihn weggeworfen. Wie ein Stück Müll.“ Wow, das ist hart. Zumal ich mir gerade vorstelle, dass den Hamster doch dann bestimmt irgendwelche Krähen mitgenommen und aufgefressen haben. Ich meine, wenn er ihn wenigstens in die Mülltonne …   „Und dann?“, frage ich, mehr um von diesem Bild loszukommen. In meinem Kopf hat die Krähe dem Hamster nämlich gerade den Kopf abgehackt. „Was ist dann passiert?“   „Nichts“, erklärt Bruno. „Er hat nur gesagt, dass ich aufhören sollte, so ein Gesicht zu machen. Und dass er mir eine Tracht Prügel verabreichen würde, dass ich drei Tage nicht sitzen kann, wenn ich es wagen sollte, noch einmal wegen dem Drecksvieh zu flennen. Ein Junge weint nicht.“   Oh WOW. Also das toppt jetzt wirklich alles. Nicht, dass mich das wirklich wundert, aber so ein Spruch ist ja wohl ultradaneben. Junge. Mädchen. Er war ein Kind, verdammt. Und sein Haustier war gestorben. Da darf man sehr wohl weinen. Da darf man immer weinen. So ein Schwachsinn!   „Hätte deine Schwester auch so einen Spruch kassiert?“   Die Spitze ist heraus, bevor ich es mir verkneifen kann. Als hätte ich geahnt, dass ich damit das nächste Thema anschneide. Es ist wie ein Fluch. „Katie? Vermutlich nicht. Sie hätte er wohl einfach ignoriert, schätze ich. So, wie er es immer tut.“   Während er das sagt, schwingt eine Bitterkeit in Brunos Stimme mit, die ich mir nicht so ganz erklären kann. Ignorieren klingt irgendwie besser als verhauen. Obwohl das auf seine Art natürlich ebenso falsch ist. Was läuft nur schief mit diesem Mann? „Und deine Mutter?“   Ich weiß, es ist dämlich, aber ich muss einfach nach ihr fragen. Immerhin scheint Bruno gerade nicht drauf und dran, mir den Kopf abzureißen, nur weil ich ihn auf seine Familie anspreche.   Doch dieses Mal schweigt Bruno. Ich vermute mal, dass das jetzt doch irgendwie kein gutes Thema war. Und so wirklich geklärt haben wir das mit uns eigentlich auch nicht. „Tut mir leid“, sage ich noch einmal. „Dass ich letztens so aus heiterem Himmel bei dir aufgetaucht bin. Ich hab mir Sorgen gemacht, weil du an dem Abend einfach so im Wald verschwunden bist.“   Bruno schweigt noch eine Weile, aber ich sehe, dass sich sein Gesichtsausdruck geändert hat. An was er denkt, kann ich daran nicht erkennen. Vielleicht an den Abend. Oder an meinen Besuch. „War vielleicht auch nicht die beste Idee von mir“, sagt Bruno plötzlich und beantwortet mir damit immerhin diese Frage. „Ich war einfach nur so …“ „Aufgewühlt?“, biete ich an. Nicht, dass ich Michelle irgendwas nachplappern würde. Mir erschien das Wort nur gerade so passend.   Bruno sieht mich an und lächelt ein winziges Lächeln, nicht mehr als ein kurzes Verziehen seines Mundwinkels, bevor er den Blick wieder abwendet und zu Boden starrt. „Ja“, sagt er leise. „So kann man das wohl nennen.“ Er presst die Lippen aufeinander und aus irgendeinem Grund fängt mein Herz plötzlich wieder an zu pochen. Dabei ist doch jetzt alles wieder in Ordnung. Ich hab mich entschuldigt, er hat sich entschuldigt. Jetzt müssen wir uns nur noch die Hand reichen.   Ich bewege mich. Kaum merklich aber irgendwie habe ich das Gefühl, das Bruno es trotzdem registriert. Er schluckt und ich könnte das eigentlich ebenfalls mal tun. Nur so, um überhaupt was zu machen. Was anderes jedenfalls, als meine Finger langsam auf seine zuzuschieben. Jetzt berühren sie sich auch noch. Himmel, was mache ich da? So wird das ganz bestimmt kein Handschlag. Mehr so ein … Händchenhalten. Nur dass wir uns nicht wirklich anfassen. Es ist mehr wie ein … ach, ich weiß auch nicht, wie man das nennen soll. Seine Hand liegt neben meiner und sie berühren sich. Ganz leicht, so als hätten wir beide Angst davor, was passiert, wenn wir weitergehen. Dabei ist das so albern. Immerhin haben wir schon … na ja. Gefickt halt. Ist ja nicht so, als wenn ich plötzlich prüde geworden wäre. Und ich bin auch keine 12 mehr. Willst du mit mir gehen. Ja, Nein, Bitte ankreuzen.' Und immer hat irgendein Depp dann noch ein 'Vielleicht' druntergequetscht, als wenn das irgendwie hilfreich wäre. Oder weniger peinlich. Dabei stellt sich doch die Frage hier bei uns überhaupt gar nicht. Weil: Das ist Bruno. Und Bruno …   „Ich mag dich.“ Der Satz kommt so unvermittelt, dass ich beinahe glaube, mich verhört zu haben. Erst im zweiten Anlauf, begreife ich, dass er das wirklich gerade gesagt hat. Zu mir! Das ist so irre, dass ich nicht anders kann, als zu lachen. Bruno guckt, als fände er das gar nicht komisch.   „Warum lachst du?“   „Na weil …“, beginne ich und kann es doch nicht richtig erklären. Immerhin habe ich zwei Jahre mit der Vorstellung gelebt, dass Bruno mich auf den Tod nicht ausstehen kann. Aber jetzt … jetzt ist alles so ganz anders und das macht irgendwas mit mir. Und ich weiß nicht, ob ich das gut finde. Oder finden sollte.   Aber du magst ihn doch auch.   Die Erkenntnis ist eigenartig und fast noch schockierender als die Tatsache, dass er mich mag. Ich meine, ich bin ja immerhin nicht derjenige, der …   Ach nein?   Die gehässige Stimme in meinem Kopf stemmt die Hände in die Hüften und funkelt mich herausfordernd an. Denn, wenn wir mal ehrlich sind, war ich auch nicht gerade nett zu Bruno. Ich habe mich über ihn und seine Freunde lustig gemacht, wo immer es ging. Was nicht entschuldigt, was sie gemacht haben. Immerhin waren sie zu fünft und ich ganz alleine. Aber trotzdem bin ich vielleicht, eventuell, ganz am Rande nicht so ganz unschuldig daran, dass die Sache zwischen uns sich immer weiter zugespitzt hat. Aber trotzdem. „Und wann ist dir das aufgefallen?“ Das wüsste ich nun wirklich gerne. Denn, wenn man jemanden mag, hackt man doch nicht dauernd auf ihm herum. Man stellt ihm kein Bein oder so was, wenn man sich nicht gerade auf dem Niveau der fünften Klasse bewegt.   Bruno schweigt und nimmt seine Hand wieder zu sich. Ich lasse meine noch einen Augenblick liegen, bevor ich sie auch zurückziehe. Das hier ist nicht richtig. Es sollte nicht sein.   „Weißt du noch damals bei diesem Sportfest? Als wir dich in den Schuppen eingesperrt haben?“   Ich tue, als müsste ich überlegen, aber natürlich weiß ich sofort, wovon er spricht. „Klar. Ihr hattet ganz schön die Hosen voll, als ich rausgelassen wurde, oder?“   Bruno lächelt kurz, bevor er wieder ernst wird. „Ja, hatten wir. Paul hat zwar vorgeschlagen, dass wir behaupten, dass es keine Absicht war, aber dass sich ein Vorhängeschloss von selbst wieder einhängt, war halt irgendwie …“   Bruno schweigt kurz und ich erinnere mich, dass da tatsächlich ein ziemlich massiver Balken vor der Tür gewesen ist. Und ein Stahlriegel. Und dass es ziemlich Lärm gemacht hatte, als sie ihn vorgelegt hatten. Die Story, die sie unserem Lehrer hatten auftischen wollen, war also wohl wirklich ziemlich hanebüchen. „Aber dann hast du gesagt, dass es nicht so schlimm war und wir dich wohl nur aus Versehen eingesperrt haben, weil du nicht aufgepasst hast. Und ich weiß noch, wie ich in dem Moment dachte: 'Fuck, er verrät uns ja gar nicht. Warum verrät er uns nicht?' Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Gustav meinte später, dass das echt anständig von dir gewesen sei. Jakob hatte zwar gleich wieder irgendwas dagegen anzumeckern, aber ich fand, dass Gustav recht hatte. Und dass es verdammt stark von dir war, uns nicht zu verraten.“   Für einen Moment lasse ich die Nachwehen meines Heldenruhms noch nachwirken, dann seufze ich, denn es ist wohl an der Zeit, dass ich Bruno aufkläre. „Ich war eigentlich nur froh, dass ich nicht an dem Scheiß-Sportfest teilnehmen musste. Und ich hatte keine Bock, auf ewige Befragungen und Elterngespräche und den ganzen Kack, der nachgekommen wäre, wenn ich euch verpfiffen hätte. Also hab ich gesagt, dass es ein Versehen war. Ganz einfach.“   Bruno schweigt. Eine ganze Weile schweigt er, dann beginnt er plötzlich zu lachen. Ich ziehe eine Schnute und frage beleidigt, was das jetzt soll. Er kann jedoch gar nicht aufhören, sich zu beömmeln. „Meine Liebe beruht auf einer Lüge“, kichert er und sieht mich an, als wäre das wirklich witzig. Und, wenn ich ehrlich bin, ist es das irgendwie auch.   Ohne mein Zutun fange ich an zu grinsen. Bruno lachen zu sehen, ist schön. Viel schöner, als immer so ernst. Oder wütend.   „Wenn du lachst, siehst du eigentlich ganz gut aus“, informiere ich ihn daher und stoße ihn mit dem Ellenbogen an. Er stupst zurück und im nächsten Augenblick balgen wir uns auf der Bank. Es ist gut und befreiend und, wenn ich ehrlich bin, liebe ich es, ihn anzufassen. Muskeln, Arme, Beine. Und ich liebe es, wie er mich anfasst. Stark und kräftig, aber gleichzeitig so sanft, dass er mir nicht wehtut. Ich kann jedoch nicht verhindern, dass er mich irgendwann niederringt und ich auf dem Rücken unter ihm liege und nach Luft schnappe. Sein Gesicht ist direkt über mir und ich sehe, was ihm durch den Kopf geht.   Na los, nun mach schon, feuere ich ihn in Gedanken an. Küss mich endlich.   Aber er tut es nicht. Er schaut mich einfach nur an.   „Weißt du, ich kann dich wirklich gut leiden“, sagt er und lächelt dabei so ganz leicht.   „Ich dich auch“, sage ich sehr zu meiner Verwunderung, denn eigentlich hatte ich ja beschlossen, dass Bruno nicht geht. Dass er tabu ist. Eine persona non grata. Ein echtes No-No. Aber trotzdem liege ich hier und würde diesen Platz um nichts auf der Welt mit jemandem tauschen. „Und wenn wir es niemandem sagen?“ Da ist Hoffnung in Brunos Stimme. Eine Hoffnung auf etwas, das ich ihm nicht geben kann. Denn wie sollte das funktionieren? Heimliche Sex-Treffen im Wald? Händchenhalten auf dem Klo? Knutschen, wenn keiner hinsieht? Es würde maximal eine Woche dauern, bis Pascal und Michelle von der Sache Wind bekämen. Und ein ungeschriebenes Gesetzt sagt, dass es nur umso schneller herauskommt, je mehr Leute davon wissen. Das muss auch Bruno klar sein und doch will er es versuchen. Er will es unbedingt.   „Okay“, sage ich und weiß, dass es ein Fehler ist. Es muss einer sein, doch die Art, wie er mich ansieht, lässt mich vergessen, was alles dagegen spricht. Denn während er das tut, kann ich nur noch daran denken, wie es sich anfühlt, ihn auf mir zu spüren. An mir. In mir. Ich weiß, dass meine Pupillen sich mit Sicherheit gerade ziemlich erweitern und auch in Brunos Blick ist plötzlich etwas, das vorher noch nicht da war. „Ficken?“, frage ich und genieße, wie er bei dem Wort zusammenzuckt. Aber es ist kein Schreck. Mehr ein ertapptes Aufbäumen. Ein wohliger Schauer, der ihm ebenso wie mir tief zwischen die Beine fährt. „Aber … ich hab nichts mit“, stößt er hervor und ich spüre die riesige Härte an meinem Bein mehr und mehr anschwellen. Scheiße, Bruno, als wenn mir das nicht egal wäre.   „Na und? Machen wir es eben ohne“, sage ich grinsend und weiß, dass ich damit eine ganz klare Regel breche. Auch Bruno sieht mich zweifelnd an. „Wird das nicht … wehtun?“   Ich grinse noch ein bisschen breiter.   „Ich hab nicht vom Gleitgel gesprochen.“ Er zuckt erneut. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er gerade gekommen ist. In seiner Hose. Scheiße, das wäre heiß. Aber die Latte, die sich da immer noch steinhart und bombenfest gegen meinen Oberschenkel drückt, spricht eine andere Sprache.   „Und … darf ich dich dann auch küssen?“   Die Frage ist irgendwie niedlich. Immerhin habe ich ihm gerade angeboten, mich bare zu ficken, und er fragt, ob er mich küssen darf? Was für ein Trottel. „Klar darfst du“, antworte ich jedoch und hebe meinen Kopf ein wenig an, sodass wir uns noch näher sind. „Du darfst alles, Süßer. Alles, was du willst.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)