Herzschmerzhelden von Maginisha ================================================================================ Kapitel 3: Keine große Sache ---------------------------- Scheiße.   Ich starre den Spiegel an und von dort starrt mir etwas zurück, das definitiv gar nicht geht. So überhaupt gar nicht. Am liebsten würde ich meine Zähne hineinschlagen und es zerfetzen wie so ein kleiner, durchgeknallter Terrier. Da mir das aber auch nicht helfen würde, mache ich lieber eine Bestandsaufnahme. Also …   Farbe: Check. Das Blau ist wunderbar leuchtend und ich seh aus wie ein swagger Beach Boy auf Urlaub, der sich dazu herabgelassen hat, die Schnecken oder vielmehr Schneckeriche – wie nennt man das noch, wenn die Viecher sich nicht entscheiden können, ob sie Männlein oder Weiblein sind? – vor Ort abzuchecken. Lässig, cool, abgefahren.   Material: Check! Es ist zwar kein hochwertiger Leinenanzug, nur ungefähr so knitterig, aber das wird meine Mutter mit dem Bügeleisen schon hinkriegen. Es kratzt nicht, es riecht nicht und fühlt sich einigermaßen angenehm an. Und es sieht nicht billig aus, was bei dem Preis schon fast verwunderlich ist.   Schnitt: Tja, da liegt dann der Hund begraben. Es ist jetzt nicht so, dass es wirklich zu groß wäre. Es sitzt … lässig. Lässiger, als es laut Produktbild sollte, was aber auch damit zusammenhängen könnte, dass die Models halt einen breiteren Brustkorb haben als ich. Natürlich hätte ich mir die Mühe machen können und mich ausmessen, aber hey, was soll schon schiefgehen, wenn man M bestellt. M geht immer, oder nicht? Tja, in dem Fall hätte ich mich vielleicht eher auf S einlassen sollen, denn irgendwie …   „Ach fuck!“   Ich hebe die Arme und lasse sie wieder fallen, denn man sieht von meinen Händen immer noch nicht mehr als meine Fingerspitzen. Außerdem hat das Ding Schulterpolster, die auf meinen Schultern nicht an den richtigen Stellen sitzen. Ich seh aus, als hätte ich das Teil einem Typen geklaut, der einen ganzen Kopf größer ist als ich. Und morgen ist der Ball. Double Fuck!     Ich hätte wissen müssen, dass das Ganze unter keinem guten Stern steht. Das fing schon damit an, als es hieß, dass das Teil Montag geliefert werden würde. Die anderen zwei Sachen aus meiner Bestellung waren bereits am Wochenende angekommen; ich hatte sie anprobiert und für gut befunden worden. Nur das blöde Jackett wollte einfach nicht auftauchen. Also klebte ich den ganzen Tag am Bildschirm meines Handys und aktualisierte alle paar Minuten den Sendungsverlauf, statt Mathe zu machen oder was wir sonst so hatten, und wartete darauf, dass da endlich ein „zugestellt“ am Ende dieses Lieferwegs erschien. Aber Pustekuchen. Am Abend verkündete die dämliche Webseite nur was von „Es tut uns leid, dass sich Ihre Sendung verspätet“. Das hätte ich auch einfacher haben können.   Am Dienstag wollte unsere liebe Postfrau dann angeblich einen Zustellungsversuch machen und angeblich wurde dabei kein einziger Hausbewohner angetroffen. Kein. Einziger. Was überhaupt nicht sein kann, da die alte Uffinger von gegenüber das Haus quasi nur noch zum Einkaufen und zur Kirche verlässt. Kirche ist dienstags nicht und einkaufen war sie schon Montag. Ich hab sie im Treppenhaus schnaufen hören, während ich auf mein Paket gewartet habe. Wenn sie also nicht den Gebissreiniger vergessen hat und ganz dringend neue Corega Tabs holen musste und deswegen ausgerechnet in der halben Stunde, in der die Post üblicherweise kommt, die zwei Stockwerke im Schweinsgalopp runtergeprescht und um die nächste Ecke verschwunden ist, war die zu Hause! Und die Posttante weiß das, die blöde Kuh!   Ich hatte somit also immer noch kein Paket, dafür aber eine formschöne gelb-weiß-rot gestaltete Benachrichtigungs-Karte, mit der ich dann am nächsten Nachmittag vor der Tür unseres schönen Postamtes stand. Rein kam ich nicht, weil diese offizielle Kundenverarschungsstelle nämlich am Mittwoch nur vormittags geöffnet hat, wie man auf der Rückseite der Karte hätte lesen können, wenn man denn sorgfältiger hingeschaut hätte. Ein Fakt, der mir am Donnerstag höchst süffisant durch die Ziege am Postamtsschalter mitgeteilt wurde, die im gleichen Atemzug obendrein auch noch verkündete, dass ich außerdem eine Unterschrift meiner Mutter bräuchte, weil die Sendung an sie adressiert wäre und ich sie daher nicht ohne ihre Erlaubnis in Empfang nehmen dürfte. Ja, leckt mich doch alle!   Somit ist heute dann schon Freitag und ich habe nun endlich ein Jackett, das nicht passt. Und bis morgen habe ich auch keine Möglichkeit, daran irgendetwas zu ändern. Es bleibt also nur das hier oder der Konfirmationsanzug. Ich möchte schreien und außerdem ein Eis.   Mitten in meine wehleidige Selbstbemitleidungsarie, zweiter Akt, platzt dann auch noch meine Frau Mama hinein, die natürlich nicht checkt, dass hier gerade der dritte Weltuntergang in the making ist. Mindestens. „Oh Schätzchen, du siehst ja hinreißend aus. Wie ein richtiger, kleiner Herzensbrecher.“   Ich rolle innerlich mit den Augen, weil das Einzige, was im Spiegel gut aussieht, nun wirklich nicht das blöde Sakko ist, und zetere los. „Hinreißend? Du meinst wohl oberpeinlich. So kann ich unmöglich aus dem Haus. Siehst du denn nicht, dass das viel zu groß ist?“   Sie legt den Schlüssel weg und zieht sich in alle Seelenruhe die Schuhe aus, bevor sie zu mir kommt und das Fiasko in Augenschein nimmt. „Ach“ meint sie und zupft und streicht an meinen Schultern und meinem verknitterten Rücken rum. „Ein bisschen vielleicht, aber du kannst das tragen.“   Ich fletsche die Zähne, wirbele herum und halte ihr knurrend meine Arme entgegen. „Ich kann das tragen?“, fauche ich. „Niemand kann das tragen. Niemand, der sich nicht total lächerlich machen will. Die Ärmel sind viel zu lang.“   Sie besieht sich das Desaster. „Na dann krempelst du die eben hoch“, meint sie immer noch lächelnd und scheint das Problem selbst jetzt nicht erfassen zu können. „Hochkrempeln?“, echoe ich und klinge dabei wie Spongebob kurz vor der Schnappatmung. „Wie alt bin ich? Fünf?“   „Benehmen tust du dich wie drei. Einhalb“, fügt sie auf meinen giftigen Blick hin hinzu. Bevor ich noch etwas dagegen tun kann, hat sie doch tatsächlich damit begonnen, meine Ärmel hochzukrempeln. Ich will ihr den Stoff entziehen und ihr sagen, dass sie sich ihre saublöden Ideen sonstwohin stecken soll, als sie schon zurücktritt und ihr Werk begutachtet. „Siehst du? Das ist doch gar nicht so schlecht.“   Ich mache einen auf Monobraue, gucke aber trotzdem gehorsam in den Spiegel. Was mir da entgegenglotzt, sieht immer noch lächerlich aus. Allerdings auf der einen Seite nicht mehr ganz so lächerlich. Ein bisschen cool vielleicht sogar irgendwie. „Hier, lass mich den anderen auch noch …“   Mein Muttertier macht sich auch noch am zweiten Ärmel zu schaffen und im nächsten Moment habe ich zwei nahezu gleichlange Ärmel. Okay, das üben wir dann nochmal.   „Und? Wie findest du es?“   Ich krause die Nase und überlege. Also eigentlich sehe ich aus, als würde ich gleich meinen Arm in ein halbes Schwein stecken. Oder eine Knarre ziehen. Ein bisschen wulstig ist die Krempelei obendrein, aber wenn man die Alternative bedenkt …   Ich drehe mich noch ein paar Mal vor dem Spiegel hin und her und auch, wenn ich den 80ern sonst nicht so sehr viel abgewinnen kann und es durchaus begrüße, das Schweißbänder und Aerobicanzüge nur ein sehr, sehr kurzes Revival hatten, muss ich zugeben, dass diese eigentlich unentschuldbare Modesünde an mir gar nicht mal so verkehrt aussieht. Ich wirke wie ein Macher. Unwillkürlich straffe ich meine Schultern und lächle. Ein ganz kleines bisschen. „Kann man so lassen.“   Mehr bekommt meine Mutter nicht. Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich nicht sowieso vollkommen verzweifelt wäre und das hier ja erst der Anfang ist. Meine Eintrittskarte. Die muss allen Umständen zum Trotz ein bisschen was hermachen und außerdem …   „Ich könnte dir noch ein Armband leihen.“   Ich schieße mit den Augen eine nonverbale Todesdrohung in Richtung meiner Mutter. Armband, okay. Aber doch keines von ihren. Wie peinlich ist das denn?   „Ich bin nochmal weg“, erkläre ich, ohne weiter zu erläutern, wo ich hingehe. Und natürlich auch ohne zu erwähnen, dass ich dabei noch einen Fuffi aus ihrem Portemonnaie nehme. Was im Grunde genommen stehlen ist, aber für die Diskussion, ob sie mir jetzt noch was leiht, hab ich keine Zeit. Die Läden in Wo-sich-Fuchs-und-Hase-gute-Nacht-sagen schließen pünktlich und ich will morgen ausschlafen. Schließlich habe ich eine lange Nacht vor mir und sie kriegt es auch ganz bestimmt zurück.       „Hot!“   Ich drehe mich noch einmal um mich selbst, damit Pascal das Kunstwerk in seiner Gesamtheit bewundern kann. Denn ja, ich sehe heiß aus. Und ich bin heilfroh, dass mein bester Freund mir das sagen kann, ohne dabei Erstickungsanfälle zu kriegen. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert!   „Und du siehst aus, als würdest du zu deiner eigenen Beerdigung gehen“, urteile ich, nachdem ich ihn im Gegenzug begutachtet habe. Schwarzer Anzug. Komplett mit Krawatte. Er grinst. „Könnte hinkommen. Immerhin bin ich mit dir unterwegs.“   Touché! Ich presse mir die Hand an die Brust und tue so, als hätte sein Kommentar mich tief getroffen. Dabei klackert mein neues Armband. Es war erstaunlich günstig und hat neben marmorgrauen Perlen auch noch einige Silberteile auf einer rustikalen, schwarzen Schnur zu bieten. Am Ende des Verschlusses baumeln zwei silberne Kugeln und erzeugen den erwähnten Effekt. Es erschien mir cool und lässig, als ich es gekauft habe, aber als Pascals Blick darauf fällt, entwickle ich den spontanen Drang, es mir vom Arm zu ziehen. „Ich dachte, du stehst nicht auf Schmuck.“   „Tu ich auch nicht“, versichere ich und beschließe, das Ding später unauffällig loszuwerden. Ich werde einfach behaupten, ich hätte es verloren oder es sei kaputtgegangen. Ist ja bei so einem billigen Teil nicht unwahrscheinlich. Ich hätte gleich wissen müssen, dass es ne dumme Idee war, es zu kaufen. Aber es passte zu dem kleinen Rucksack, den ich mir ebenfalls geleistet habe. Schließlich kann ich meinen Kram nicht in meinem Schulranzen mit zum Ball nehmen. Eigentlich ist es auch gar kein Rucksack. Mehr so ne Art Sling, also nur mit einem Riemen, den man quer über den Körper legt. Definitiv stylisch und sehr viel cooler als mein abgeranztes Teil zu Hause.   „’Nabend Mister und Misses S!“, rufe ich ins Wohnzimmer, wo Pascals Eltern vor dem Fernseher hocken. Also eigentlich hocken sie nicht. Sie sitzen höchst paarhaft aneinander gelehnt auf der edlen Couch und gucken besinnlich auf die riesige Mattscheibe, die an einer sandfarbenen Echtsteinwand hängt. Ich schwöre, auf dem Bildschirm sähe selbst „Endgame“ aus wie ein französisches Schwarz-Weiß-Drama. Und das ist nur eine der Ecken, an denen man sieht, dass Pascals Eltern nicht gerade am Hungertuch nagen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, das Pascals Vater das Haus höchstselbst entworfen hat. Macht man ja mal eben als erfolgreicher Architekt, wenn man nach sieben Jahren aus den Staaten wiederkommt. Man verkauft das alte Haus, das man wechselweise an seine Ami-Freunde vermietet hatte, an den nächstbesten Idioten, der sich nicht darum schert, das der Garten völlig verwildert und der Kellerschacht mit Grillkohle und Styroporabfällen zugemüllt ist, und kauft sich ein endgeiles Grundstück am Hang, um ein noch viel endgeileres Haus darauf zu setzen und dort dann zu residieren, als wäre man nie weg gewesen. Ich bin ja so was von neidisch.   „Hallo Fabian! Na? Bereit für den großen Ball?“   Pascal Vater erhebt sich und kommt tatsächlich zu uns in den Flur. Er ist übrigens das Zweite, auf das ich in diesem Haus total neidisch bin. Normalerweise stehe ich ja nicht so auf ältere Männer, aber er würde definitiv unter den ersten Drei meiner DILF-Liste kommen. Groß, sportlich, Drei-Tage-Bart und obendrein so eine „Ich weiß genau, was du brauchst“-Ausstrahlung gepaart mit einem dunklen Bariton, der mir die Haare bis zu den Fußnägeln hinunter zu Berge stehen lässt. Pascals Mum wirkt dagegen fast ein wenig unscheinbar. Eine aschblonde Mittvierzigerin mit einer Vorliebe für übergroße, graue Cardigans. Komischerweise steht ihr das und sie umgibt immer so ein Hauch von „Künstlerin“, obwohl sie eigentlich in irgendeiner langweiligen Behörde arbeitet.   „Oh, ihr zwei seht hinreißend aus. Mach doch mal ein Foto, Schatz.“   Schatz macht und Schatz zückt das neueste I-Phone, das vermutlich noch nicht mal auf dem deutschen Markt verfügbar ist. Auch da haben Pascals Eltern eindeutig Connections in die richtige Richtung. Was sie allerdings dazu bewogen hat, die große weite Welt mit Hintertupfingen zu tauschen, erschließt sich mir nicht, und ich glaube, auch Pascal wäre glücklicher gewesen, wenn sie einfach drüben geblieben wären. Mitten in der Pubertät in diesem kleinen Nest aufzuschlagen, wenn alle Cliquen schon gebildet sind, ist halt auch nicht gerade der Höhepunkt eines jugendlichen Teenagerlebens. Vermutlich haben sie ihm deswegen das größte Zimmer im Haus gegeben. Geld heilt bekanntlich alle Wunden.   „Dad, bitte“, nölt Pascal in dem Moment auch schon pflichtschuldig und ich kann ihm nur zustimmen. Fotos von Eltern sind immer lame und im schlimmsten Fall so peinlich, dass man die nicht mal seiner halbblinden Großmutter zeigen kann, die dann die Brille auf der Nase zurechtrückt und ohrenbetäubend krächzt „Bist du das, Karl-Heinz?“ „Keine Fotos“, wehre ich daher ebenfalls ab und strecke wie ein V.I.P. die Hand in Richtung der Kamera. Wobei es mich nicht wundern würde, wenn das Ding einen Filter hat, mit dem man auch das entfernen kann.   Pascals Vater lächelt sein unglaubliches Sexy-Dad-Lächeln. „Okay, okay, wie ihr meint. Dann macht keinen Unsinn und seid vor Mitternacht wieder zu Hause. „Warum? Weil wir uns sonst in Kürbisse verwandeln?“, frotzele ich und ernte noch ein weiteres Lachen. Oh man, wenn das nicht Pascals Vater wäre …   „Du sabberst“, kommentiert mein Freund mein grenzdebiles Grinsen und zieht mich nach draußen, bevor ich noch Schlimmeres anrichten kann. Ein weiterer, höchst unsanfter Rippenstoß zeigt mir, dass Pascal bemerkt hat, dass ich seinen Alten abgecheckt habe. Er kann das nicht leiden und ich verstehe, warum. Man stelle sich vor, er würde meiner Mutter hinterher hecheln. Widerlich! „Sorry“, murmele ich und hoffe, dass es das damit war. Ich will nicht, dass er sauer auf mich ist. Beste Freunde wachsen schließlich nicht auf Bäumen.   „Du brauchst echt nen Freund“, kommentiert er das nur und ich spare mir, ihn zu korrigieren, dass es mir lediglich an Sex fehlt. Den ganzen anderen Schmus brauch ich nicht. Nur mal wieder ein bisschen Bettgymnastik, dann bin ich auch weniger nervig. Ich schwör!         Weil’s so schön ist und weil sonst auch keinerlei Alternativen zur Verfügung stehen, findet unsere angestrebte Abendveranstaltung natürlich im Saal des „Ochsen“ statt, dem Hotel-Schrägstrich-Restaurant des Ortes. Irgendwer hat Tische und Stühle bis zum Gehtnichtmehr hineingeräumt, die holzgetäfelten Wände mit Vereinstrikots betackert und die Tischdekoration dazu passend in blau-weiß hingebiedert. Am Ende der längs-breit-quer gestreiften Tanzfläche gibt es dann noch die obligatorische Bühne, über der wiederum unheilvoll eine große Videoleinwand schwebt. Meine Vorahnung, dass uns darauf zu späterer Stunde ein Diavortrag mit schlechter Musikuntermalung erwartet, wird nur noch von der Erkenntnis übertroffen, dass „DJ Johnny“ heute Abend auflegt. Der Typ sieht aus wie eine Original-Kopie von Thomas Gottschalk in jungen Jahren und kündigt den nächsten Hit mit einem so flachen Kalauer an, das ich ihn schon wieder vergessen habe, als „I’ve been looking for Freedom“ dann endlich aus den Lautsprechern schallt. Ich hätte doch zu Hause bleiben sollen.   „Bitte sag mir, dass es hier Alkohol gibt“, zischele ich Pascal ins Ohr, der genauso verlassen wie ich inmitten der Menge aus Tischen, Stühlen und Gästen steht.   „Ja, gibt es. Aber nur Bier“, gibt er zur Auskunft. Ich stöhne pflichtschuldig und überlege, ob ich meinen Freigetränk-Gutschein, den ich zusammen mit dem Eintrittsbändsel erhalten habe, nun lieber in Apfelschorle oder eine Cola investiere, als zwei aufgebrezelte Schönheiten mit prickelnd schaumigen Sektgläsern in Richtung ihres Tisches vorbeistöckeln. Im nächsten Moment eilt ein Herr mit zwei beschirmten Gläsern nebst Obstbeilage an uns vorbei. Vorwurfsvoll sehe ich Pascal an. „Nur Bier, was?“, frage ich mit gezückten Augenbrauen. Er winkt lässig ab. „Vergiss es, wir bekommen keine Cocktails. Erst ab 18.“   Er weist auf ein entsprechendes Schild über der improvisierten Bar und ich fühle mich in meiner Ehre gepackt. Immerhin bin ich fast volljährig und werde bestimmt nicht diese bittere Weizenbrühe süffeln. Dann schon lieber Sekt, wenn es denn sein muss. Aber auch wenn ich mich jetzt natürlich halbwegs zivilisiert besaufen könnte, hat die Ansage mit der Altersbegrenzung meinen Ehrgeiz geweckt.   „Na dann pass mal auf“, erkläre ich mit Kampfeslust im Blick, streife meine bereits hochgekrempelten Ärmel noch ein Stück nach oben und sage der Cocktailtante den Kampf an.   Einige Minuten später bin ich dann mit einem Virgin Colada und einem Safer Sex on the Beach wieder zurück. Mein Charme ist an der Tresenperle abgetropft wie Wasser an einer Speckschwarte.   Wir prosten uns gegenseitig absolut alkoholfrei zu und ich bin ziemlich dankbar dafür, dass Pascal nicht darauf besteht, dass wir uns an einen der Tische setzen, denn wenn ich ehrlich bin, zieht es mich weder zu den Handballtussis, noch zu den Tennis-Fatzkes, selbst wenn Pascal einer von denen ist. Und natürlich sind die Tische der Fußball-Mannschaften völlig ausgeschlossen. Allein der Gedanke … Brr! „Komm schon, die Zeremonie fängt an“, sagt Pascal und dirigiert mich in eine ruhigere Ecke, von der aus wir den ach so pompösen Einmarsch der F-Jugend oder so beobachten können. Lauter kleine Steppkes mit ihren Mamis, die alle einen Fußball in ihren schwitzigen Händen tragen und zum Takt von „Conquest in paradise“ vor sich hin stolpern. Unter monotonem Geschwafel des Sportvereinsvorsitzenden oder wer immer der Specht im grauen Anzug auch ist, präsentieren die Gören dann das Gewehr … äh, den Ball und führen uns vor, wie sie mehr oder weniger im Takt der Musik mit ihren Sportgeräten hin und her werfen, dribbeln und am Ende ganz stolz posieren können. Was das Ganze mit Fußball zu tun hat, weiß ich zwar nicht, bin aber nichtsdestotrotz mehr als froh, als es endlich vorbei ist. Nicht vorbei ist allerdings die Parade an emsigen Vereinsmitgliedern, die ihr mehr oder weniger vorhandenes Können vorführen wollen und mir schwant, dass wir vielleicht doch erst hätten kommen sollen, wenn der gemütliche Teil anfängt. Einlass ab 20 Uhr. So ein Käse. „Ich brauch noch mehr Sex“, murmele ich und wage mich an einen zweiten Versuch, der netten Dame hinter dem Tresen etwas Hochprozentiges aus den Rippen zu leiern. Anders ertrage ich die Vorstellung der Kunstturnerinnen einfach nicht, die sich gerade auf der Freifläche die spindeldürren Körper verbiegen. Nicht, dass das nicht nett anzusehen wäre, aber spätestens in drei Jahren haben die Mädchen doch Rückenprobleme und/oder eine Essproblematik. Das kann ich unmöglich unterstützen.   Ich schiebe mich also durch die Menge zu dem verheißungsvollen Stand, werde auf dem Weg noch mein Glas auf irgendeinem mit Bettlaken auf schick getrimmten Stehtisch los und fläze mich gemütlich gegen die Bar.   „Einen Sex on the Beach, bitte“, ordere ich und tue dann so, als wenn meine Aufmerksamkeit einzig und allein der Show gilt. Leider habe ich die Rechnung ohne das phänomenale Personengedächtnis der Ausschankbeauftragten gemacht. „Das macht dann vier Euro“, sagt sie und stellt mir ein buntes Glas hin. „Oh, hab ich Rabatt gekriegt?“, frage ich schelmisch grinsend zurück und weise auf das Preisschild, auf dem klar steht, dass Cocktails 5,50 das Stück kommen. Die Lady lächelt breit.   „Das sind aber nur die für die großen Jungs. Und solange du mir keinen Ausweis vorlegen kannst, auf dem steht, dass du 18 bist, kriegst du hier nur Sachen ohne Schuss.“   Grollend und ein bisschen desillusioniert schiebe ich ihr einen Geldschein rüber und warte auf das Wechselgeld. Ich hätte mir meinen eigenen Schnaps mitbringen sollen. Die haben ja nicht mal die Taschen kontrolliert, als wir reingekommen sind. Vermutlich, weil die ganzen Spießer hier sich nicht mal vorstellen können, dass jemand versuchen könnte, sich nicht an die Regeln zu halten. Hohlköpfe, alle miteinander.   Immer noch ziemlich angesäuert nehme ich mein Getränk und will mich gerade wieder durch das Gedränge zurück zu Pascal schlängeln, als plötzlich eine Wand vor mir auftaucht und ich ungebremst dagegenrenne. Was folgt, ist die astreine Demonstration dessen, was mein Physiklehrer das Trägheitsgesetz nennt. Diese Bezeichnung bezieht sich jedoch nicht, wie man anhand des Namens vielleicht annehmen könnte, auf die exorbitante Geschwindigkeit, mit der sich ein durchschnittlicher Neuntklässler zur Tafel bewegt, wenn er die Antwort nicht weiß, sondern beschreibt vielmehr die Tatsache, dass ein Gegenstand, der sich in Bewegung befindet, auch in Bewegung bleibt, wenn keine äußere Kraft auf ihn einwirkt, die daran etwas ändert. Soll heißen, wenn ein Glas mit einem Cocktail darin sich in eine Richtung bewegt und das Glas plötzlich stoppt, weil die Hand, die es umklammert, durch einen fremden Körper zum Anhalten gezwungen wird, muss das für den im Glas befindlichen Cocktail noch lange nicht gelten. Der bleibt weiter auf seinem angestammten Kurs, bis er irgendwann auf ein Hindernis trifft, das die Bewegung der Flüssigkeit aufgrund seiner höheren molekularen Dichte entweder ablenkt oder sogar beendet. In manchen Fällen ist dieses Hindernis ein weißes Hemd.   „Ja, Herrschaftszeiten! Kannst du nicht aufpassen?“   Ich blinzele und weiß durch jahrelangen Drill, dass ich mich jetzt eigentlich entschuldigen sollte. Gesellschaftliche Zwänge und so, man kennt das ja. Aber nachdem ich gesehen habe, wem das Hemd gehört, auf das ich meinen Drink geschüttet habe, komme ich einfach nicht umhin, etwas völlig Anderes zu formulieren als eine höfliche Abbitte. Es ist wie ein Zwang. Ich vermute ja, dass ich wie ein Pawlowscher Hund auf gewisse Reize reagiere, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum ich anfange zu grinsen wie ein bedepperter Maikäfer und mein vollgekleckertes Gegenüber frage:   „Wieso denn aufpassen? Der war doch safe.“   Die Irritation in Brunos Gesicht ist köstlich. Natürlich hat er keine Ahnung, worauf ich anspiele, aber das muss er auch nicht. Hauptsache ich weiß, dass ich ihn gerade dumm gemacht habe. Bevor seine zwei Gehirnzellen jedoch wieder zueinanderfinden und ihnen obendrein auch noch einfällt, dass sie eigentlich Grund haben, sauer auf mich zu sein, tätschele ich meiner dumm dreinschauenden Nemesis kurzerhand den Arm und verabschiede mich mit einem fröhlichen und fast gar nicht zweideutigen „War nett dich zu treffen, Brunolein. Man sieht sich.“ zwischen den Leuten. Kaum, dass ich außer Sichtweite bin, beginne ich zu rennen. Oder ich versuche es wenigstens, indem ich mich unter Einsatz von viel zu viel Ellenbogen energisch durch die Zuschauer schubse, bis ich wieder in meiner sicheren Ecke ankomme. Prustend halte ich inne, in meiner Hand das nur mehr halbvolle Cocktailglas. „Was hast du angestellt?“, will Pascal natürlich sofort wissen und sieht sich nach möglichen Verfolgern um. „Nichts!“, entgegne ich mit gespielter Unschuldsmiene, bevor ich einschränkend hinzufüge: „Wobei ich ganz vielleicht eventuell den größeren Teil meines Cocktail über Spaichis Garderobe gekippt habe. Er sieht jetzt ein bisschen aus, als hätte er sich vollgekotzt.“   Pascal reißt die Augen auf.   „Ist nicht dein Ernst!“ „Ich fürchte schon.“   Während Pascal mich noch so entsetzt ansieht, als hätte ich gerade meine Großmutter abgemurkst, wird Whighfields Endlosschleife von „Saturday Night“ von einem Tusch unterbrochen. Der Specht hechtet auf die Bühne und kündigt mit vor Begeisterung schier überquellender Stimme die lang erwartete Ehrung der Sportler des Jahres an. Kurz darauf trappst eine Reihe von Gestalten auf die Bühne, unter denen ich doch glatt den eben noch so unrühmlich erwähnten Bruno erspähe. Dessen Vorderfront ziert immer noch ein riesiger, orangeroter Fleck, den selbst sein sorgfältig geschlossenes Jackett nicht zu kaschieren vermag. Da hilft es auch nichts, dass Bruno versucht, sich hinter der mehr als zierlichen Hupfdohle aus der Gymnastiksparte zu verstecken. Man sieht trotzdem alles. Und jetzt macht der Sport-Vorsitzende auch noch ein großes Gewese und röhrt ins Mikrofon:   „Und der Preis für seine herausragenden Leistungen im Bereich Schwerathletik geht aaaaaan … Bruno Spaich. Ihren Applaus bitte für Bruno Spaich!“   Mit bedröppeltem Gesicht tritt Bruno nach vorne und nimmt den Blumenstrauß entgegen, den der Specht ihm unter die Nase hält. Leider ist die Floristik nicht groß genug, um das Cocktail-Malheur zu bedecken, zumal er jetzt auch noch die Hand des Spechts schütteln muss, der ihm dabei fast den Arm abreißt und ihn schonungslos in Richtung Publikum dreht. Während Bruno also wie ein waidwundes Reh in die ungefähr eintausend gezückten Handykameras blickt und dabei aussieht, als würde er gleich losheulen, wird mir klar, dass ich offenbar gerade seinen großen Auftritt versaut habe. Aber so richtig mit Schmackes und Anlauf.   Ein bisschen peinlich berührt grinse ich Pascal an.   „Upsi?“   Pascal rollt erst mit den Augen, muss dann aber lachen und gemeinsam beschließen wir, dass der Abend von jetzt an nur noch besser werden kann. Viel, viel besser.     In der kleinen Kabine ist es saukalt und riecht obendrein nach abgestandenen Wasser und billigem Klostein. Der „Ochse“ könnte wirklich mal ein paar neue Sanitäranlagen gebrauchen. Und bessere Lufterfrischer. Während draußen die Spülung rauscht und der letzte Insasse die Örtlichkeit verlässt, konzentriere ich mich hier drinnen darauf, alle meine Kleidungsstücke in den winzigen Rucksack zu quetschen, der mit dieser Aufgabe definitiv überfordert ist. Mein Jackett habe ich zum Glück bei Pascal am Tisch gelassen, wo er sich schließlich doch dazu bequemt hat, ein Pläuschchen mit seinen Tenniskumpels zu starten. Und ich bin derweil aufs Klo geschlichen, um mich umzuziehen.     So ganz sicher bin ich mir ja nicht, ob ich das durchziehen will. Die Chance, dass ich mich total lächerlich mache, ist leider ziemlich hoch. Andererseits habe ich im Laufe des Abends schon den einen oder anderen schicken Hintern entdeckt, mit dem ich gerne mal auf Tuchfühlung gehen würde. Und zwei Gläser Sekt auf zugegebenermaßen recht nüchternen Magen später bin ich nun endlich auch soweit, meinen Plan in die Tat umzusetzen.   Ich verstaue meine Habseligkeiten auf dem Fensterbrett über den Kabinen in der Hoffnung, dass sich dort keiner daran vergreift, und checke noch ein letztes Mal mein Outfit. Ja, sitzt alles an Ort und Stelle. Dann mal los.     Die Leute starren. Natürlich starren sie. Ganz kurz überlege ich, ob ich die Armschienen hätte weglassen sollen, aber hey, erstens verdecken sie das peinliche Armband und zweitens waren sie Teil des Sets. Warum sollte ich sie also nicht anlegen? Zumal sie wunderbar zu dem silbernen Gürtel passen, der sich eng und sexy um meine Taille schmiegt. Dass der Stoff der weißen Toga dabei noch ein Stückchen höher rutscht als ohnehin schon, ist sogar vielleicht ein ganz kleines bisschen Absicht. „Was zum … was soll das denn?“   Selbst Pascal ist geschockt, als ich wieder bei ihm auftauche. Bis dahin habe ich schon eine ganze Runde um den Saal gedreht und bin mir des Getuschels um meine Erscheinung durchaus bewusst.   „Ich bin ein Olympionike“, kläre ich ihn auf und tue dabei ganz selbstbewusst. „Ein Teilnehmer der olympischen Spiele. Das ist doch eine Sportveranstaltung, oder nicht?“   Mein Freund starrt mich immer noch an, als hätte ich nicht mehr alle Latten im Schrank. Dabei kann er nun wirklich nicht meckern. Die bis zu den Knien geschnürten Ledersandalen geben dem ganzen noch den letzten Touch. War mein Outfit vorher schon „heiß“, nähere ich mich jetzt definitiv dem Vulkan-Level. Der Boden ist Lava. Nur bücken darf ich mich nicht, wenn ich nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belangt werden will. Aber das Problem haben einige der hier anwesenden Damen schließlich ebenfalls, also was soll’s?   „Du bist ja völlig durchgeknallt“, meint Pascal schließlich kopfschüttelnd, bevor er anfängt zu grinsen. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du jetzt tanzen willst?“   „Aber so was von.“   Das ist auch wieder eines der Dinge, die ich an Pascal absolut liebe. Er tanzt. Dass irgendwelche Vollpfosten meinen, es wäre unmännlich oder gar „schwul“, sich gerne zur Musik zu bewegen, ist ihm vollkommen schnuppe. „Die haben doch alle keine Ahnung“, sagt er dann immer und versucht sich an den nächsten coolen Moves. Die ich, zugegebenermaßen, nicht drauf habe. Aber ich hab ne Toga an. Ne ziemlich kurze Toga sogar. Und nichts darunter. Bazinga!     „Und du meinst, das bringt was?“, brüllt mir Pascal eine halbe Stunde später auf der Tanzfläche entgegen, weil DJ Vokuhila „Gangnam Style“ so laut aufgedreht hat, dass selbst die Fensterscheiben der Metzgerei drei Straßen weiter noch ins Schwanken geraten.   „Na klar!“, schreie ich gegen den Partylärm zurück. „Schon mal was von Gaydar gehört? Wenn es hier irgendwo einen interessierten Schwanz gibt, wird er mich finden und dann werden wir FICKÖÖÖÖN! YEAH!“ Weil es so schön ist und die Vorstellung mir gerade echt gute Laune macht und der Musikmacher auch noch irgendwas von „Wollt ihr feiern?“ in die Menge schmeißt, reiße ich die Arme hoch und wedele damit herum wie ein wild gewordener Hubschrauber. Das Leben ist schön, ich bin jung und sehe geil aus. Was soll schon passieren?   Das Nächste, was ich wahrnehme, ist Pascal, der die Augen aufreißt und mir irgendeine Warnung zurufen will, doch da werde ich bereits von einem zufällig vorbeifahrenden Güterzug getroffen. Der Fußboden und die nylonbestrumpften Beine der uns umgebenden Damen rasen auf mich zu und ich küsse höchst schwungvoll und obendrein ziemlich schmerzhaft das Parkett, auf dem ich noch ein Stück weiter schlittere und dann stöhnend mit der Nase im Dreck liegenbleibe. Unartikulierte Entsetzensrufe werden laut, man weicht vor mir zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser, bildet einen Kreis aus Schaulustigen und dann erfolgt unausweichlich und fast schon vorhersehbar der spitze Schrei: „Aber der hat ja gar nichts an!“   Ja, meine Güte, wo sind wir denn hier? Bei „Des Kaisers neue Kleider“? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Schnucki, aber auf unschuldiges Kindelein kannst du in deinem Alter dann leider auch nicht mehr machen. Trotzdem entspricht die Feststellung der fistelstimmigen Schnalze irgendwie der Wahrheit, denn in dem ganzen Tohuwabohu ist meine wundervolle Toga wohl ein ganzes Stückchen nach oben gerutscht und hat dabei enthüllt, was eigentlich nur ausgewählten Gästen vorgeführt werden sollte. Also einem von ihnen oder maximal zweien, aber ganz gewiss nicht allen. Und schon gar nicht gleichzeitig!   „Was zum …“ „Bruno!“ „Polizei!“   Irgendwas in meinem Kopf sagt mir, dass es jetzt eine verdammt gute Idee wäre, sich totzustellen. Was für Opossums funktioniert, kann für mich ja eigentlich nicht schlecht sein. Andererseits ist da dieser wirklich lästige Luftzug an meinem Gesäß und die Tatsache, dass hier gerade mehr im Freien baumelt, als ursprünglich geplant. Also raffe ich mich zusammen und gleichzeitig meine Glieder vom Boden auf. Eine der Sandalenschnallen hat ihren Geist aufgegeben und die Lederriemen hängen nur noch lose um meinen Knöchel. Auch die Tunika ist reichlich derangiert und eine der Armschienen fehlt. Ich entdecke sie unter dem Absatz eines Stöckelschuhs und würde sie vielleicht aufheben, wenn da nicht die gut 100 Kilogramm wütende Muskelmasse wären, die mich mit blutunterlaufenen Augen anstarren, als würden sie mir am liebsten gleich noch eine verpassen. Da sollte man Vorsicht walten lassen.   „Was ist denn hier los?“   Der Specht aka Vereinsleitermann kommt durch die Menge gedrängelt. Man lässt ihn durch, wenn auch nur widerwillig.   „Der da hat angefangen“, wird er sofort ins Bild gesetzt, als er uns endlich erreicht und sich mit einem hemdsärmeligen Bruno nebst Cocktailfleck konfrontiert sieht.   „Und der da ist nackert.“   Also das ist ja nun wirklich übertrieben. Ich bin maximal etwas unterbekleidet und davon kann man inzwischen fast nichts mehr erkennen. Leider interessiert das den Specht nicht die Bohne. „Mitkommen“, faucht er und packt gleich darauf mich am Genick und Bruno am Arm. Dass mir dabei allerdings mehr so die Rolle einer dekorativen, aber vollkommen nutzlosen Damenhandtasche zukommt, merke ich deutlich, als der Specht anfängt, Bruno vollzuzischen, während er mich einfach ignoriert. „Also wirklich, Herr Spaich, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Was sollen denn die Sponsoren denken, wenn Sie sich hier so aufführen? Ist Ihnen klar, was das bedeutet?“   Nicht auf eine Antwort wartend schleift uns der Sportler-Vorstand höchst eigenhändig zur Tür und darüber hinaus.   „Ich erwarte, dass Sie über Ihr Verhalten nachdenken“, informiert er uns, bevor er sich auf dem Absatz umdreht und schnurstracks wieder nach drinnen verschwindet. Langsam schwingt die doppelte Glastür hinter ihm zu und von da an hört man nur noch gedämpft, wie Oasis die Massen auffordert, nicht im Zorn zurückzublicken. Na, die haben leicht reden. Denen hat ja auch nicht gerade ein hohlbirniger Idiot die Tour vermasselt. Und zu allem Überfluss liegen auch noch meine ganzen Sachen drinnen. Handy, Hausschlüssel, Hose. Was für eine Scheiße!   „Kackdreckmist!“, fluche ich und lasse meinen Unmut an einem Stein aus, der bis dahin ganz unschuldig am Rand eines Blumenbeets gelegen hat. Leider ist das dumme Ding ebenso hart wie hartnäckig und ich stoße mir volle Kanne die große Zehe. Wie fucking passend.   „Konntest du dir nicht wen anders suchen, um mit ihm Streit anzufangen?“, fahre ich daher die milde Nachtluft an. Es ist wirklich erstaunlich, dass es hier draußen so viel wärmer ist als auf dem Ochsen-Klo. Muss an der Bauweise liegen.   „Was ist eigentlich dein Problem?“   Während ich das frage, drehe ich mich zu Bruno um. Der steht immer noch wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Schein der einzelnen Laterne vor dem Tore und stiert mich voll.   „Warum hast du keine Unterhose an?“   Im ersten Moment glaube ich, mich verhört zu haben. Wir sind gerade hochkant aus einer Veranstaltung geworfen worden, weil er die dusselige Idee hatte, sich mitten auf der Tanzfläche mit mir rollen zu wollen, und das ist das Einzige, was ihm dazu einfällt. Geht’s noch?   „Weil ich angeln wollte“, gifte ich ihn im ätzendsten Tonfall, den ich draufhabe, an. „Im Adamskostüm beißen die Fische besonders gut.“   Bruno blinzelt ein paar Mal.   „Ach echt?“   Ich kann es nicht fassen. Der ist wirklich zu blöd.   „Nein, natürlich nicht!“, schreie ich jetzt schon fast. „Meine Fresse, wie dämlich bist du eigentlich?“   Am liebsten würde ich ihn ja stehen lassen, aber das würde dem in mir brodelnden Zorn nicht annähernd genügend Tribut zollen. Also mache ich einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er doch glatt ein Stück zurückweicht.   „Ich hab nichts drunter, weil ich heute Abend jemand aufreißen wollte, du Dämlack!“, fauche ich ihm mitten ins Gesicht. „Einen geilen Typen mit einem dicken Dödel, du verstehst? Und dann wollte ich mich von ihm nach Strich und Faden durchvögeln lassen, weil ich nämlich echt Notstand habe und in dieser verfickten Stadt ja sonst kein Arsch dazu zu bewegen ist, sich endlich mal an mich ranzumachen. Und all das wird jetzt nicht stattfinden, nur weil du irgendein beschissenes Problem mit mir hast!“   Bruno schluckt. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel rauf und runter bewegt, schon allein deswegen, weil sich der ungefähr in meiner Augenhöhe befindet. Dann öffnet Bruno den Mund. „Du hast mein Hemd dreckig gemacht.“   Ganz ehrlich, am liebsten würde ich ihm gerade eine reinhauen. „NA UND?“, schreie ich jetzt wirklich und bin kurz davor, ihm an die Gurgel zu gehen. „Dann bring es halt in die Reinigung. Meine Güte! Ich werde deinetwegen mindestens ein weiteres halbes Jahr keinen Sex haben. Ist dir eigentlich klar, was das heißt?“   Bruno schluckt noch einmal. Irgendwelche Muskeln an seinem Körper zucken, aber ich habe keine Angst vor ihm. Ich bin einfach nur stinksauer.   „Ich könnte es machen.“   Der Satz verlässt seine Lippen, segelt von dort aus gegen mein Trommelfell und dann weiter durch mein Innenohr, wo er in irgendwelche Nervenimpulse umgewandelt und schließlich an mein Gehirn weitergeleitet wird. Leider weiß man dort oben mit den enthaltenen Infos nichts anzufangen. Also geht vom Gehirn der straighte Befehl raus, die Stirn zu krausen und die einzig mögliche Antwort zu formulieren. „Hä?“   Mister Quadratschädel schaut mich immer noch an und hat dabei merklich Mühe, seine Blickrichtung unter Kontrolle zu halten. Die will ihm dauernd nach unten abhauen. Dorthin, wo meine Tunika endet. „Ich könnte es machen“, wiederholt er daher auch nur stur. Als ich nicht reagiere, fügt er hinzu: „Das mit dem Sex. Ich könnte das für dich machen.“   Okay, okay, Erde an Bodenstation. Houston, wir haben hier ein ganz gewaltiges Problem. Anscheinend hat es eine Fehlschaltung in der Kommandozentrale gegeben, sodass wir hier gerade russische Fernsehsender empfangen oder sonst etwas in der Art. Ansonsten müsste ich nämlich annehmen, dass Bruno mir gerade angeboten hat, meine Durststrecke zu beenden, und das nicht, indem er mich auf ein Bier einlädt. „Was?“, mache ich deswegen und kann es immer noch nicht glauben. Denkt der echt, ich würde mich darauf einlassen?   „Das mit dem Se…“   „Ich hab dich verstanden“, unterbreche ich ihn schnell. Nicht, dass er den Blödsinn nochmal wiederholt. „Aber warum solltest du das tun? Und, was noch viel wichtiger ist, warum sollte ich das tun?“   Bruno atmet. Ich sehe es, weil sich sein riesiger Brustkorb hebt und senkt und dann … greift er plötzlich nach seinem Hosenbund, öffnet den Knopf und den Reißverschluss und zieht den Stoff nach unten.   „Heilige Scheiße!“   Das, was mich da anlächelt ist … wunderschön. Und riesig. Geradezu gigantisch. Dabei ist er nicht mal hart. Aber sooo groooß. Wowediwow!   Ich will ihn anfassen. Der Gedanke ist ganz plötzlich da und ihm folgen noch eine ganze Menge andere Dinge, die ich gerne mit diesem prächtigsten aller Schwänze auf Gottes schöner Erde tun würde. Leider entschwindet er viel zu schnell wieder meinem Blick, als Bruno ihn erneut hinter karierter Baumwolle verschwinden lässt, seine Hose schließt und mich fragend ansieht. „Und?“   Während ich immer noch damit kämpfe, den preiszucchiniförmigen Abdruck, der sich in meine Netzhäute gebrannt hat, zu verarbeiten, meldet ein kleines Stimmchen von ganz hinten in meinem Bewusstsein, dass das Ganze mit ziemlicher Sicherheit einen Haken hat. Und dass wir vielleicht eine entsprechende Frage stellen sollten, bevor wir uns auf den Rücken legen und winselnd darum betteln, bei der Aktion unten liegen zu dürfen. „Und was springt für dich dabei heraus?“, frage ich leicht krächzend, denn irgendwie ist mein Mund gerade unheimlich trocken geworden. „Du wäscht mein Hemd.“   Sein Hemd waschen. Ja klar. Wer bin ich? Die Putzfrau?   Aber der Schwanz, säuselt meine Libido. Der riesige, gottgleiche, unheimlich gut gebaute Schwanz. Den willst du dir doch nicht entgehen lassen. Na komm schon. Es ist nur ein Hemd. Sei kein Frosch und sag Ja.   „Okay.“   Ich weiß nicht, welcher Dämon da gerade die Kontrolle über mein Mundwerk übernommen hat, aber offensichtlich hält er es für eine wunderbare Idee, mich von Bruno ficken zu lassen. Halleluja!   „Wann und wo?“, kriege ich noch raus, obwohl ich ganz am Rande meines Bewusstseins mitbekomme, dass sich die Tür hinter uns wieder geöffnet hat und jemand meinen Namen ruft. Es ist Pascal. Er ist mich suchen gekommen, der Gute.   Bruno überlegt und ich würde ihn am liebsten anfeuern, um Himmelswillen schneller zu reden. Mein bester Freund und Stimme der Vernunft wird gleich hier sein und es mir ausreden wollen. Ganz sicher.   „Wir haben eine Hütte im Wald“, sagt Bruno so langsam, dass ich am liebsten seinen Mund aufreißen und die restlichen Worte eigenhändig herausziehen würde. Ich fürchte nur, der Schreiberling in seinem Gehirn käme dabei nicht hinterher und ich würde nur leere Papierstreifen ernten.   „Oben am Weg Richtung Schwalbtal. Sie ist …“   „Ja ja“, unterbreche ich ihn ungeduldig. „Wann?“   „16 Uhr?“   Ich sehe, dass er noch mehr sagen will, aber da ist schon mein bester Freund heran und fällt über mich her wie ein besorgter Hurrikan. „Mensch Fabi, geht es dir gut? Ich dachte, du bist verletzt? Was hat er gewollt?“ Die letzte Frage bezieht sich auf Bruno, der im Halbdunkel am Rand des Laternenscheins auf meine Antwort wartet. Ich fühle, seinen Blick auf mir. „Ach nichts“, meine ich leicht abgelenkt und nicke unmerklich, woraufhin Bruno sich umdreht und geht. Ich sehe, wie seine massige Gestalt in die Nacht gleitet und zu einem Schatten wird, nur um im Schein der nächsten Laterne kurz aufzutauchen und dann wieder zu verschwinden. Mit ein bisschen Gewalt zwinge ich mich, meine Augen auf Pascal zu richten und die Mundwinkel ein wenig zu heben. „Er hat sich nur entschuldigt. War keine große Sache.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)