Alternate Reality von Newt ================================================================================ Kapitel 10: Level 10 -------------------- „Hast du auch deinen Schal nicht vergessen? Hier, zieh die Handschuhe an, die ich dir gestrickt habe…!“   „Mama, nein! Ich gehe auf eine Party, da kann ich nicht mit Kätzchenfäustlingen aufkreuzen“, brüllte Honey entnervt quer durch den Flur, um seine Mutter davon abzubringen, noch mehr uralte, peinliche Dinge aus dem Garderobenschrank zu zerren und ihm aufzudrücken. Er beeilte sich, seine Schuhe schnellstmöglich überzustreifen und dann aus diesem Irrenhaus zu verschwinden. Honey liebte seine Familie, wirklich, aber jeder von ihnen hatte irgendeinen Sockenschuss weg und das konnte er gerade nicht gebrauchen, wo seine Nerven ohnehin schon leicht am Flattern waren.   „Du wirst dir die Kätzchenfäustlinge noch herbeiwünschen, wenn du bei minus zehn Grad in der Kälte schlotterst, Honey-Schatz!“, tönte es auch wie auf Kommando aus dem Nebenraum. Der Angesprochene verdrehte nur vielsagend die Augen und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Überflüssig zu sagen, dass sein zuckersüßer Rufname ebenfalls auf dem Mist seiner Frau Mama gewachsen war. Sie war schon immer ganz vernarrt in sein namensgebendes honigblondes Haar gewesen, vermutlich, weil er damit wie eine jüngere Variante seines Vaters aussah, und war auch vollkommen schmerzbefreit, ihn vor aller Welt bei diesem Spitznamen zu rufen. Früher war es Honey unsagbar peinlich gewesen, wenn seine Mutter auf Elternabenden aufgekreuzt war und sich mit dem nächstbesten Lehrer anzulegen versuchte, der ihren süßen, braven Honey ihrer Meinung nach ungerecht benotet hatte. Das Schlimmste daran war allerdings, dass nach und nach seine komplette Umgebung angefangen hatte, ihn ebenfalls nur noch mit „Honey“ anzusprechen, bis hin zu einem ausgesprochen hochnotpeinlichen Moment, als der Direktor seiner Oberschule vor versammelter Mannschaft sein Abschlusszeugnis einbehalten wollte, um den vermeintlichen falschen Namen austauschen zu lassen.   Irgendwann hatte Honey sich allerdings daran gewöhnt, von aller Welt Honey gerufen zu werden. Zugegeben, der Name passte nun einmal zu seinem Äußeren und er hatte auf irgendwelchen Feiern oder langweiligen Dates immer eine lustige Geschichte parat, die er als Eisbrecher einsetzen konnte.   „Ich bin dann weg“, rief er den Flur hinauf und seine Mutter wünschte ihm in derselben Lautstärke viel Spaß. Es war draußen tatsächlich klirrend kalt, nachdem es die ganze Nacht über wieder einmal geschneit hatte. Glücklicherweise war der Weg von seinem Elternhaus bis zur nächstgelegenen Bushaltestelle kein allzu langer Fußmarsch und er erwischte den Bus, der ihn in die Nebenstadt bringen sollte, ohne Probleme.   Während der gut halbstündigen Fahrt ließ der den Blick nach innen gekehrt über die vorbeiziehende Landschaft gleiten und genoss das gespannte, leicht prickelnde Gefühl in seinem Inneren, das von der Vorfreude auf das herrührte, was ihn auf der Weihnachtsfeier erwarten würde. Sicher, er freute sich darauf, Void wiederzusehen, aber mittlerweile war er auch ein wenig neugierig auf den Rest der Gesellschaft. Void hatte ihm erzählt, dass neben Angestellten und Geschäftsfreunden auch einige Leute aus ihrer Gilde auf der Veranstaltung sein würden. Honey war unglaublich gespannt darauf, ein paar Gesichter zu den ganzen mehr oder weniger liebgewonnenen Gestalten kennenzulernen, mit denen er nun schon seit mehreren Monaten zusammen die virtuelle Realität unsicher machte.   Als der Bus schließlich an der von ihm angezielten Haltestelle hielt und er ausgestiegen war, schien die Temperatur noch einmal um einige Grade gesunken zu sein, und er stellte fröstelnd fest, dass seine Mutter wie immer recht behalten hatte. Er wünschte sich die hässlichen Kätzchenhandschuhe herbei. Trotz der Kälte zog er mit leicht steifen Fingern sein Handy aus der Jackentasche und tippte im Gehen eine Nachricht an Void ein:   Honey (17:27): Bin gleich da >:D Void (17:28): Ich komme raus.   Honey musste leicht grinsen. Anscheinend wollte Void ihn zuerst ein bisschen für das, was ihn erwartete, präparieren, bevor er ihn auf die Partygesellschaft losließ. Nicht, dass er sich darüber beschweren würde, dass der andere Mann für ihn das Empfangskomitee spielen wollte.   Das Gebäude, das zu der Adresse gehörte, die Void ihm durchgegeben hatte, war bereits von weitem zu erkennen und ließ Honey ein leises, anerkennendes Pfeifen ausstoßen. Als sie von einem Firmengebäude gesprochen hatten, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, eine verdammte Villa vorzufinden, die in ihrem verschnörkelten französischen Kolonialstil seltsam anachronistisch zwischen den schlichten Betonbauten der Nachbarschaft anmutete. Das Grundstück war von einem weißen, schmiedeeisernen Zaun umgeben, den irgendjemand mit Lichtergirlanden behängt hatte, und auf dem Bürgersteig parkten beinahe ausnahmslos teure, auf Hochglanz polierte Fahrzeuge. Honey musste ein wenig lachen, als er zwischen den ganzen Luxusschlitten unverkennbar Voids klapprigen Pickup erspähte, der wie ein hässliches Entlein schief und krumm gleich zwei Parklücken belegte. Der Anblick half ihm irgendwie, das aufkommende mulmige Gefühl der Deplatziertheit zu überwinden, welches sich in seinem Inneren breitzumachen drohte.   Wishmaker Corporation und Devas Name waren in geschwungenen Buchstaben auf einem Messingschild eingraviert, welches an dem Tor angebracht war, durch das er sich kurz darauf schob. Ein Lächeln schlich sich unweigerlich auf Honeys Lippen, als er schon von weitem die einsame Gestalt erkannte, die sich ohne Jacke in der Nähe des Hauseingangs herumdrückte und ihn anscheinend schon erwartete.   „Legst du es auf eine Grippe an oder wolltest du mir unbedingt gleich zeigen, wie schick du dich gemacht hast?“, begrüßte Honey den breitschultrigen Mann feixend, der sein Gesicht daraufhin nur zu einer schiefen Grimasse verzog. Es war beinahe rührend, dass Void anscheinend wirklich versucht hatte, seiner raubeinigen Erscheinung zur Feier des Tages ein wenig Schliff zu verpassen. Er hatte sich ein Hemd und eine neu aussehende Jeans angezogen und sich sogar eine etwas angeknitterte Krawatte umgebunden. Abgerundet wurde das ganze Ensemble durch die obligatorische Zigarettenkippe, die in seinem Mundwinkel vor sich hin qualmte.   „Bin ja kein Frostköttel wie du“, brummte Void mit minimal hochgezogener Augenbraue und steckte den leichten Schlag gegen seine Schulter, den Honey ihm daraufhin spielerisch verpasste, unbeeindruckt ein. „Ich freu mich auch, dich zu sehen, du Blödmann“, gab Honey mit einem leisen, nicht ganz ernsthaft gemeinten Grummeln zurück, zögerte einen Moment und jagte dann alle Vorbehalte zum Teufel, indem er sich in einer schnellen, begrüßenden Geste leicht gegen den größeren Mann lehnte. Sollte Void doch ruhig mitbekommen, dass seine Worte durchaus ernst gemeint waren. Wenn er wollte, dass aus diesem Jahrhundert noch einmal etwas aus dieser Sache wurde, musste er immerhin auch langsam etwas offensiver werden. Zu seiner Überraschung spürte er, wie Void diesmal ohne zu Zögern einen Arm um seinen Rücken legte und ihn in eine halbe, beiläufige Umarmung zog. Der Moment ging allerdings viel zu schnell wieder vorbei, bevor Honey ihn tatsächlich zu genießen beginnen konnte, denn unmittelbar darauf schob Void ihn auch schon in Richtung der messingbeschlagenen Eingangstür des Gebäudes. „Los, gehen wir rein. Deva fragt schon alle zwei Minuten nach dir.“   „Was macht Devas Firma eigentlich?“, fragte Honey leicht beeindruckt, als sie kurz darauf in der verwaisten Eingangshalle standen und er vor lauter Staunen beinahe vergaß, seine Jacke abzulegen. Void gab ein leises Schnauben von sich und zuckte mit den Schultern: „Frag lieber, was sie nicht macht.“   Nachdem Honey sich seiner Überbekleidung und seines Schals entledigt hatte, führte Void ihn durch die Halle auf eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe zu. Linker Hand befand sich eine Art Rezeptionsschalter, der an Werktagen vermutlich dem Empfang von Geschäftskunden diente, aber jetzt unbesetzt war, und aus der Ferne konnte Honey leise, gedämpfte Musik spielen hören. Nach einer Weile verlor er die Orientierung, denn das Haus schien wirklich alt zu sein und die Flure waren verwinkelt. Void erklärte ihm unterwegs, dass sich hinter den meisten verschlossenen Türen auf diesem Stockwerk Büros befanden, in denen tagsüber diejenigen Angestellten der Firma arbeiteten, die nicht wie Void selbst in einer der zahlreichen Aufgaben im Außendienst beschäftigt waren („Also bist du nicht der einzige Hausmeister hier, hm?“, zog Honey den anderen Mann ein wenig auf, doch bis auf einen verbiesterten Blick verzichtete Void darauf, ihn zu korrigieren).   Das Geräusch der Musik wurde mit der Zeit lauter, und schließlich fanden sie sich vor den geöffneten Flügeltüren eines großen, festlich geschmückten Saals wieder, in dessen Mitte ein lamettabehangener, funkelnder Christbaum aufgestellt war. Das Summen von zahlreichen Stimmen und das Klirren von Gläsern erfüllte die Luft, und angesichts der eleganten Garderobe, die die meisten anderen Gäste zur Schau stellten, wünschte sich Honey leicht unwohl, dass auch er zumindest seinen alten Konfirmandenanzug vom Dachboden geholt hätte. Damit stand es nun schon zwei zu null für seine Mutter. Wenigstens schien sich Void ebenso wenig in die elegante Gesellschaft einzufügen wie er selbst, und bei genauerem Hinsehen erspähte er auch ein paar andere normal gekleidete Leute, kam aber nicht weiter dazu, sich noch intensiver in dem bunten Trubel umzusehen, weil in diesem Moment ein erfreuter Laut hinter ihnen zu hören war und offensichtlich der Gastgeber persönlich sich seinen Weg zu ihnen bahnte.   „Da seid ihr beiden ja, wie schön.“ Deva war auf beinahe verblüffende Art und Weise genau so, wie Honey ihn sich vorgestellt hatte, denn er hatte frappierende Ähnlichkeit mit seinem Spieleavatar und wirkte erstaunlich jung. Er trat ihnen mit einem offenen, unglaublich einnehmenden Lächeln entgegen, das nicht nur sein ganzes Gesicht, sondern auch seine Augen erstrahlen ließ, und ehe Honey es sich versah, wurde er auch schon in eine kurze, warmherzige Umarmung gezogen. „Wie schön, dich endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Willkommen, Honey“, begrüßte Deva seinen Gast herzlich, und nach einen kurzen, perplexen Moment erwiderte Honey die Geste leicht grinsend: „Danke, ähm…“, er hielt kurz inne, denn er hatte kurz davor gestanden, den Anderen einfach der Gewohnheit halber mit seinem Nickname, der gleichzeitig auch sein Vorname war, anzusprechen, wusste aber nicht, ob das angebracht war. Anscheinend hatte Deva seine Bredouille jedoch mitbekommen, denn er zog sich mit leisem, nachsichtigen Lachen wieder zurück und schob sich eine lange, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht: „Sag ruhig Deva, bitte. Das tun hier alle.“   „Weil so oder so keiner seinen Nachnamen richtig aussprechen kann“, mischte sich Void leicht sarkastisch von der Seite ein, aber erntete nur ein liebes Lächeln von Seiten Devas. „Das ist doch auch viel netter und persönlicher so.“ Der Blonde wandte sich daraufhin wieder zu Honey um und machte eine einladende Geste in Richtung des Saals: „Nun, jedenfalls freue ich mich, dass du kommen konntest und hoffe, du hast Spaß. Ryder führt dich bestimmt gerne rum. Es gibt ein Buffet, Musik und später findet ein Überraschungswichteln statt.“ Bei Erwähnung des Letzteren leuchteten Devas Augen sichtlich heller auf, was ihm noch ein wenig mehr das Aussehen eines leibhaftigen Weihnachtselfen verlieh. „Wenn du mitmachen möchtest, schreib einfach deinen Namen auf einen der Zettel, die dort hinten ausliegen, und wirf ihn in die Lostrommel. In einer Stunde werden dann die Wichtelkinder gezogen.“   Hin- und hergerissen kratzt Honey sich über die Wange. Das Ganze klang schon ziemlich spaßig, aber letztlich kannte er ja so gut wie niemanden hier, ganz abgesehen von einer nicht ganz unerheblichen Schwierigkeit: „Ich hab doch aber gar kein Wichtelgeschenk oder sowas vorbereitet. Ist das nicht ein bisschen…doof?“ Sein Kommentar entlockte Deva ein leises Kichern und ein entschiedenes Kopfschütteln. „Nicht schlimm. Ich bin mir sicher, dir fällt etwas ein.“ Der Blonde legte den Kopf leicht schief, während mit einem mal wieder ein leicht träumerischer Ausdruck in seine Augen trat. „Es geht nicht darum, Geschenke auszutauschen. Nunja, jedenfalls nicht nur“, fuhr er leise schmunzelnd fort, „Es soll darum gehen, Menschen zusammenzuführen, die vielleicht vorher Fremde waren. Bindungen zu knüpfen, ins Gespräch zu kommen, jemandem ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Immerhin ist Weihnachten doch das Fest der Liebe, oder?“   Das Fest der Liebe. Nun, wenn es darum ging, Bindungen zu knüpfen, dann wusste Honey schon genau, wen er gerne als Wichtelkind haben würde. Aus irgendeinem vollkommen irrealen Grund heraus spürte er unweigerlich, wie sein Gesicht ein wenig warm wurde, und er wagte es nicht, den Blick auf den Mann neben sich zu wenden, der, wie nicht anders zu erwarten, für Devas Vortrag für ein leises, abfälliges Schnauben übrig hatte.   Deva machte sein Dilemma noch ein wenig schlimmer, indem er mit seinen nächsten Worten und einem beinahe wissenden Augenzwinkern die Gedanken in Honeys Kopf nur noch weiter befeuerte: „Wir haben natürlich auch überall in den Räumlichkeiten Mistelzweige aufgehängt, um dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen, wo es denn nötig sein sollte.“ Zum Glück blieb Honey eine Antwort erspart, denn in diesem Moment trat ein hochgewachsener, komplett in schwarz gekleideter Mann hinter ihren Gastgeber, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Devas Gesicht hellte sich daraufhin erfreut auf und er nickte dem größeren Mann warm lächelnd zu. „Danke, Nathanael. Ich komme sofort.“ Er wandte sich wieder seinen beiden Gästen zu und teilte Ihnen leicht bedauernd mit, dass er sie vorerst wieder allein lassen müsse, da eine andere Angelegenheit seine Anwesenheit forderte. „Habt viel Spaß, ihr zwei. Wir laufen uns sicherlich später noch einmal über den Weg.“ Deva winkte noch einmal kurz, bevor er sich an die Seite des schwarzgekleideten Mannes, offensichtlich ein Angestellter, heftete, der kurioserweise eine kurze, halbe Verbeugung andeutete und dem Blonden dann einen Weg durch die Menschen bahnte.   „Wow“, entfuhr es Honey nicht ganz unbeeindruckt, als das ungleiche Paar zwischen den Feiernden verschwunden war, „Deva muss wirklich viel Kohle verdienen, wenn er sich einen Butler leisten kann.“ Er blickte ein wenig irritiert auf, als von Void daraufhin ein unterdrücktes, schnaubendes Lachen zu hören war, aber er konnte nicht einschätzen, was an seiner Bemerkung so witzig gewesen war.  Sein fragender Blick schien Void zu amüsieren, und er erwiderte mit einem winzigen, leicht hämischen Grinsen: „Naja, Butler ist vielleicht näher an der Wahrheit dran, als ihm selber lieb ist. Wobei ich persönlich finde, dass Maskottchen noch besser passt. Immerhin nennt er sich ja auch selber so.“   Honey starrte sein Gegenüber einen Moment lang verständnislos an, bevor er in seinem Kopf klick machte: „Das war Mascot? Aus unserer Gilde? Ernsthaft?“ Spielte denn eigentlich jeder, dem Honey in letzter Zeit begegnete, Jibrile Online? Das war schon langsam fast nicht mehr witzig.   Void zuckte leicht mit den Schultern: „Er hat die Gilde zusammen mit Deva gegründet, aber wie du siehst, arbeiten sie auch im richtigen Leben zusammen. Mascot ist sein Handlanger. Pardon, Privatsekretär.“ An der Art, wie Void von dem schwarzhaarigen Anzugträger sprach, konnte Honey ablesen, dass die beiden sich anscheinend nicht besonders gut zu verstehen schienen. Andererseits schien Void sowieso mit seiner Art bei jedem anzuecken, der nicht schnell genug beiseite sprang, von daher verwunderte ihn das nicht übermäßig. Dennoch ließ die Erklärung ihn kurz grinsend den Kopf schütteln. „Deva spielt in seiner Freizeit zusammen mit seinem Sekretär Online-Rollenspiele? Das ist ein bisschen schräg.“ Honey hatte aufgrund der Art, wie Deva und sein stellvertretender Gildenleiter in Jibrile Online perfekt aufeinander eingespielt waren, eher darauf getippt, dass die beiden alte Freunde waren.   „Willkommen in meinem Leben“, erwiderte Void daraufhin nur trocken und deutete mit einer knappen Geste in Richtung des Buffets. „Hunger? Ich brauch jetzt einen Drink.“   Honey stutzte ein wenig, vielleicht, weil irgendein kleiner, unsicherer Teil von ihm fast erwartet hatte, dass Void ihn für den Rest des Abends stehen lassen und lieber mit seinen anderen sozialen Kontakten zusammenstehen würde. Aber entweder besaß Void als überzeugter Menschenhasser so etwas wie soziale Kontakte nicht oder er hatte aus freien Stücken beschlossen, dass er den Abend lieber mit Honey verbringen wollte. Es war nicht besonders schwer zu erraten, welche der beiden Varianten Honey bevorzugte, und er beschloss, dass er mit dieser Annahme sehr gut arbeiten konnte. „Klar“, erwiderte er auf Voids Angebot hin und setzte sich in Bewegung, „Aber ich muss vorher noch an diesem Tisch mit der Lostrommel vorbei.“ Zur Hölle mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die ihm so gut wie keine Chance einräumen würde, tatsächlich Void als Wichtelkind zu erwischen, aber er konnte es genauso gut versuchen. Und ansonsten…würde es sicherlich auch ganz witzig werden.   Void zog leicht skeptisch eine Augenbraue hoch, folgte Honey aber in gemächlichem Tempo. „Du machst bei diesem Quatsch mit?“ „Nicht nur ich. Wir.“ „Ich mache nicht bei diesem Kindergartenmist mit, das kannst du vergessen.“ „Ach komm schon, Grinch.“ Honey wandte sich dem anderen Mann impertinent grinsend zu und trat an den Tisch heran, auf dem zahlreiche kleine Blankozettel und mehrere Kugelschreiber neben einer großen, nach oben hin offenen Kugel aus Glas lagen. „Weihnachten ist fast vorbei und du kannst dich den Rest des Jahres in deiner kleinen Höhle verkriechen. Aber vorher…“ Er hielt Void demonstrativ einen Zettel und einen Stift hin. „…tust du noch ein gutes Werk.“   Void hatte seine Augen eng zusammengekniffen und machte nicht den Eindruck, als ob ihn der kleine Vortrag über Nächstenliebe überzeugt hätte, aber schließlich ließ er genervt seufzend die Schultern sinken. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass Honey ihn ohnehin so lange nerven würde, bis er bei diesem Spielchen mitmachte. „Gib schon her“, raunzte er, nahm Zettel und Stift an sich und kritzelte lieblos seinen Namen auf das Papier. Honey frohlockte innerlich, verkniff sich aber nach außen hin jedes sichtliche Zeichen von Triumph. Er übertrug seinerseits seinen Namen auf einen der Zettel, faltete diesen ordentlich zusammen und warf ihn feierlich in die Lostrommel. „Jetzt entscheidet das Schicksal“, raunte er theatralisch, was Void nur ein Kopfschütteln und ein Schnauben entlockte. „Glühwein. Jetzt.“ „Jawohl, Mr. Grinch.“   ***   Nachdem Void mit einem Glas dampfendem Glühwein versorgt war und Honey selbst sich die Hände an einem heißen Kakao wärmen konnte, liefen sie eine Weile im Festsaal und in den angrenzenden Räumlichkeiten herum, lästerten über die teilweise unfassbar überzogenen Klamotten der anderen Gäste und schlossen Wetten darüber ab, welcher Besucher am Ende des Abends als erster vom Eierpunsch benebelt über die Brüstung kippen und ein Bad in Devas zugefrorenem Pool nehmen würde. Void taute trotz der Ansage, solche Feiern wie die Pest zu hassen, zunehmend auf, was Honey mit einem innerlichen Schmunzeln, aber sehr zufrieden registrierte. Auf seine Bitte hin stellte der ältere Mann ihm sogar ein paar Leute aus ihrer Gilde vor, mit denen sie eine Weile entspannt plauderten und über das Spiel philosophierten. Das Ganze hatte beinahe ein bisschen was von einem Klassentreffen, und als auch noch Deva sich, begleitet von seinem Schatten, zu ihnen gesellte, war es fast so, als ob es ein typischer Samstagabend im Teamspeak-Channel wäre.   Ihre fröhliche Runde wurde unterbrochen, als Nathanael seinen Arbeitgeber dezent darauf aufmerksam machte, dass es nun Zeit für die Auslosung der Wichtelkinder sei, woraufhin Deva geschäftig davon wuselte und sich ihre Gesellschaft auflöste, um sich im Festsaal einzufinden.   „Bist du schon aufgeregt?“, flüsterte Honey seinem Begleiter grinsend zu, während sie sich in die Schlange derjenigen einreihten, die sich anstellten, um einen Zettel aus der Lostrommel zu ziehen, die Deva offiziell freigegeben hatte. „Und wenn du jetzt Humbug sagst, lache ich dich aus.“   Void, der bereits den Mund geöffnet hatte, um vermutlich genau das oder etwas ähnlich Abwertendes von sich zu geben, schloss diesen etwas konsterniert wieder, was Honey erst recht zum Lachen brachte. Um Voids Zorn nicht noch weiter auf sich zu ziehen, trat er schnell vor, um sich an der Lostrommel zu bedienen, hinter der sich Deva positioniert hatte, vermutlich, um zu überwachen, dass auch alles mit rechten Dingen vor sich ging. Erstaunlicherweise war Nathanael ausnahmsweise nirgendwo in seiner Nähe zu sehen, aber vermutlich konnte selbst er nicht ständig an seinem Boss kleben. Deva begrüßte Honey mit einem herzlichen, warmen Lächeln und machte eine einladende Geste hin zur Öffnung der großen Glaskugel, die die Zettel mit den Wichtel-Namen enthielt. „Wollen wir doch einmal sehen, welche Person das Schicksal für dich auserkoren hat, hm?“, schmunzelte er Honey entgegen und dieser konnte nicht anders, als das ansteckende Lächeln zu erwidern. Er streckte die Hand nach der Lostrommel aus und wollte gerade hineingreifen, als es plötzlich stockdunkel um ihn herum wurde.   Verdutzt blinzelte Honey in die komplette Dunkelheit, während um ihn herum die Stimmen zu einem verunsicherten Gemurmel anschwollen. „Stromausfall?“, hörte er Voids unverwechselbare, genervte Stimme hinter sich das Offensichtliche aussprechen, und er wollte automatisch einen Schritt zurück und auf ihn zu machen, als er plötzlich spürte, wie ihn jemand am Handgelenk festhielt. Ehe er auch nur ansatzweise reagieren konnte, spürte er, wie ihm etwas Kleines, Scharfkantiges in die Hand gedrückt wurde, und er war so überrumpelt, dass er automatisch zufasste.   Er musste die Augen zusammenkneifen, als keine zehn Sekunden später unvermittelt das Licht wieder anging. “Na sowas. Da muss ich im neuen Jahr wohl den Elektriker einbestellen”, hörte er Devas sanfte, unbekümmerte Stimme. Honey blinzelte den blonden Gastgeber für einen Moment orientierungslos an, doch Deva hatte seine Aufmerksamkeit bereits seinem Hintermann zugewandt, indem er ihm trällernd die Lostrommel entgegen streckte. Als Void ihn daraufhin mit einem unwilligen Grummeln zur Seite drängelte, stolperte Honey ein wenig abseits in eine ruhige Ecke neben einer festlich geschmückten Grünpflanze. Was zur Hölle war da gerade passiert…? Honey öffnete ratlos die Hand, in der sich noch immer der Gegenstand befand, der ihm während des Stromausfalls in die Hand gedrückt worden war. Es handelte sich dabei um einen kleinen, zusammengefalteten Loszettel. Neugierig geworden entfaltete Honey das mittlerweile etwas feuchte Papier und starrte für einen Moment ungläubig auf den Namen, der darauf geschrieben war. Es dauerte noch einen  kurzen Moment, dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinen Zügen aus. Anscheinend meinte es ein Weihnachtsengel heute besonders gut mit ihm.   “Und? Wen hast du gezogen?” Honey fuhr erschrocken zusammen, als Void ohne Vorwarnung wieder neben ihn trat. Er zerknüllte hastig den Zettel in seiner Hand und stopfte ihn, wie er hoffte, unauffällig in seine Hosentasche, bevor er frech grinsend zu Void aufsah: “Verrat ich nicht.”   Void hob nur skeptisch die Augenbraue, aber anscheinend war ihm die ganze Sache zu kindisch, als dass er weiter nachgebohrt hätte. “Dann los jetzt, ich verhungere.” Honey nickte und folgte dem älteren Mann durch die Menschenansammlung in Richtung des Buffets, nicht bevor er sich noch einmal in Richtung der Losstation umgewendet und Deva einen stummen Dank geschickt hatte. Den Zettel, auf dem in unordentlicher Handschrift Voids Name geschrieben stand, umfasste er in seiner Hosentasche dabei wie einen Schatz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)