Alternate Reality von Newt ================================================================================ Kapitel 7: Level 7 ------------------ „Du schaffst das. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Du hast absolut keine Erwartungen, also kannst du es ganz locker angehen.“ „Mit wem redest du eigentlich?“   Erschrocken zuckte Honey zusammen und wirbelte zu seiner Zimmertür herum. Er war so sehr in sein eigenes Spiegelbild und seine gemurmelte Motivationsrede vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass Kazuki anscheinend bereits vor einiger Zeit den Raum betreten hatte. Verlegen grinsend kratzte sich Honey über die Wange und machte erst gar nicht den Versuch, sich aus dieser etwas peinlichen Situation herauszureden. „Ich dachte, wenn ich‘s nur oft genug wiederhole, fange ich irgendwann an, es zu glauben…“, gestand er und rief damit bei Kazuki ein leises, erschöpft klingendes Seufzen hervor. „Du wirst es ohnehin durchziehen. Egal, was ich oder dein Verstand dazu sagen, oder?“, fragte der junge Japaner mit leiser, emotionsloser Stimme, doch in seinem Blick lag eine Besorgnis, die Honey unweigerlich zum Lächeln brachte. „Du kennst mich doch. Wenn irgendwo ein potentielles Fettnäpfchen erscheint, muss ich einfach mit Anlauf hineinspringen“, erwiderte er scherzhaft und vielleicht eine Spur lockerer, als er sich tatsächlich fühlte. Es war zwar nicht gesagt, dass seine Verabredung tatsächlich in einem Desaster enden würde, aber es erschien ihm irgendwie gesünder, das Ganze kleinzureden und die Erwartungen so niedrig wie möglich zu halten.   Er hatte erwartet, von Kazuki mit einem ganzen Katalog von Warnungen und gutgemeinten Ratschlägen losgeschickt zu werden, doch wieder einmal überraschte sein Freund ihn, indem er Honey nur musterte und dann schließlich ruhig sagte: „Es wird schon gut gehen. Und wenn nicht…“ Ein Schulterzucken schloss die kurze Rede ab, doch Honey verstand auch so, was Kazuki ihm versuchte zu sagen. Mit einem breiten Lächeln machte er einen Schritt vorwärts und drückte den kleineren Japaner, gefolgt von einem tiefen und dankbaren Seufzen. „Ja, ich weiß. Dann muss ich wohl leider dich heiraten.“ Kazuki versteifte sich unweigerlich unwohl in der unnachgiebigen Umarmung und murmelte irgendetwas Unverständliches, sodass Honey ihn mit einem ausgelassenen Lachen wieder losließ. Die kleine Episode hatte dazu beigetragen, seine flatternden Nerven wieder zu beruhigen, sodass er sich gestärkt genug fühlte, seinem Blind-Date entgegenzutreten.   „Gut, ich bin dann unterwegs“, kündigte er an und schnappte sich seine Jacke von der Garderobe. Kazuki, der ihm in den Flur gefolgt war, lehnte mit leicht verschränkten Armen an der Wand und sah seinem Freund einen Moment lang stumm beim Überstreifen der Schuhe zu, bevor er beiläufig fragte: „Wann, denkst du, wirst du wieder da sein?“   Ein wenig verwundert angesichts dieses plötzlichen Interesses an den Details seines Dates blickte Honey von seinen Schnürsenkeln auf und zuckte leicht grinsend mit den Schultern. „Weiß nicht. Wenn es gut läuft, könnte es eventuell später werden?“ Void hatte zwar angekündigt, dass er wegen der Arbeit und der noch am selben Tag geplanten Rückreise wenig Zeit haben würde, aber man wusste schließlich nie. „Wieso?“   Kazuki zuckte nur betont desinteressiert mit den Schultern und wandte sich dann ab, um sich in sein eigenes Zimmer zurückzuziehen. „Nur so. Viel Spaß dann.“ Die Tür schloss sich hinter ihm und Honey blieb etwas irritiert mit dem Kopf schüttelnd zurück. Huh. Entweder machte sich Kazuki doch mehr Sorgen um ihn, als er nach außen hin durchscheinen ließ, oder er wurde langsam wunderlich.   Wie dem auch war, er hatte später sicherlich noch ausgiebig Zeit, sich um den Geisteszustand seines besten Freundes Gedanken zu machen. Immerhin stand gerade sein eigener auf dem Spiel, sodass Honey schließlich tief seufzend nach seinem Schlüssel griff und die Wohnung verließ, um sich auf den Weg zu seiner Verabredung zu machen.   ***   Eine Stunde später war Honey sich nicht mehr ganz sicher, ob seine zittrigen Hände von der Aufgeregtheit oder den zwei Espresso Con Panna herrührten, die er bereits mehr in sich hineingeschüttet als wirklich zivilisiert getrunken hatte. Normalerweise nahm er sich immer genüsslich Zeit, die Sahnehaube seines Lieblingsgetränks abzutragen, doch heute hätte man ihm genauso gut eine Tasse Klärwasser vorsetzen können, denn seine angespannte Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die Eingangstür des einschlägigen Coffeeshops gerichtet, den er und Void als ihren Verabredungsort auserkoren hatten.   Nun, eigentlich war es Honey gewesen, der diesen Ort vorgeschlagen hatte. Das Café lag ganz in der Nähe des Campus und wurde hauptsächlich von Studenten frequentiert. Kein schickes Nobellokal, aber auch nichts, was allzu deutlich ‚Ich muss noch meinen Studienkredit abbezahlen‘ schrie. Was ein Blick in die Karte und auf die Kaffeepreise durchaus beeindruckend demonstrierte, wenn man ehrlich war.   Nein, Honey mochte diesen Ort und war bereits unzählige Male hier eingekehrt, wenn er seine Ruhe und einen gewissen Koffeinpegel haben wollte. Es war der ideale Treffpunkt für eine Verabredung. Nur, dass seine Verabredung sich gerade gewaltig verspätete.   Gewaltsam riss Honey seinen Blick von der Eingangstür fort und richtete ihn stattdessen auf den belebten Bürgersteig vor der Fensterfront des Cafés. Es hatte wieder begonnen zu schneien. „Wo bleibst du bloß, Idiot…?“, murmelte er leise und frustriert zu sich selber, während er in seine Hosentasche griff, um zum fünften Mal innerhalb der letzten zwei Minuten sein Handy zu checken. Es war bereits eine halbe Stunde nach ihrer verabredeten Zeit. Keine Nachricht von Void. So langsam begann Honey tatsächlich die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass er versetzt worden war, aber er zwang sich selbst, nicht zu voreiligen Schlüssen zu springen. Dennoch.   Verdrießlich starrte er auf seinen Handybildschirm und nahm sich gedanklich vor, Void nicht mehr als weitere zwanzig Minuten zu geben. Oder war das unfair? Immerhin schneite es da draußen ziemlich stark und Void war mit dem Auto unterwegs. Was, wenn er einen Unfall gehabt hatte? Oder die Wegbeschreibung zum Café nicht genau genug gewesen war? Oder… Honey musste leicht schlucken, als ihn ein spontaner panischer Gedanke überkam. Was, wenn er schon hier gewesen ist, aber wir uns nicht erkannt haben?   Das war ein nicht gerade unwahrscheinliches Szenario, denn sie hatten niemals Fotos miteinander ausgetauscht. Was, wenn Honey jetzt im Nachhinein so darüber nachdachte, ziemlich idiotisch gewesen war. Void war zwar in den vergangenen Wochen des Öfteren zu Besuch in seinen unlauteren Tag- und Nachtträumen gewesen, allerdings hatte Honey dabei irgendwie immer unbewusst von dem Spieleavatar des anderen Mannes auf dessen reales Äußeres geschlossen. Nun, was sollte er sagen, er hatte nun einmal eine blühende Fantasie und vielleicht den klitzekleinen Ansatz eines dezenten Cowboy-Fetisches. Eine gefährliche Sache, wenn man bedachte, dass solche unrealistischen Erwartungen eigentlich nur enttäuscht werden konnten.   Oder vielleicht auch nicht, wenn Void wirklich nicht mehr auftauchen würde. Der Gedanke hatte etwas Erleichterndes und gleichzeitig irgendwie ziemlich Trauriges an sich.   Mit ersticktem Seufzen ließ Honey seine Schläfe gegen die angenehm kühle Fensterscheibe sinken und nahm nur entfernt wahr, wie die mechanische Ladentürklingel im Hintergrund in unregelmäßigen Abständen einen sanften Bimmelton von sich gab, wann immer jemand das Café betrat.   Es war eigentlich mehr Zufall als bewusste Tat, als Honey den Blick schließlich irgendwann genau in dem Moment wieder in Richtung Tür schweifen ließ, als die Klingel erneut ertönte, und irgendwie wusste er sofort, dass der Mann, der gerade das Café betrat, Void war.   Fluchtreflex war die erste, vollkommen irrationale Regung, die Honey erfasste. Stattdessen erstarrte er stocksteif auf seinem Sitz, während sich die große, breitschultrige Gestalt im Eingangsbereich mit ungeduldigen Bewegungen den Schnee vom Mantel wischte und sich suchend im Innenraum des Cafés umsah. Holla die Waldfee war die zweite Reaktion, die ihn durchfuhr, und es war peinlicherweise bei weitem nicht nur eine emotionale Regung, weswegen er auch ertappt zusammenzuckte, als sich der Blick des Fremden unweigerlich mit seinem traf und er Anstalten machte, sich seinem Tisch zu nähern. Oh Gott. Das hier passierte jetzt also wirklich.   „Verdammter Drecksschnee auf den Straßen“, waren die ersten, auf surreale Art und Weise furchtbar typischen Worte, die Void nonchalant an ihn richtete. Als ob sie schon seit einer Ewigkeit gute Freunde wären, die sich nur mal eben wie immer auf einen Kaffee träfen. „Sorry wegen der Verspätung.“   „Nein, ähm. Kein Problem, ich…“ Honey schreckte verspätet aus seiner peinlichen Starre hoch und machte eine konfuse, abwehrende Handbewegung, bevor er etwas lahm hinterher setzte: „…ich bin auch gerade erst gekommen.“ Eine glatte Lüge, und eine ziemlich durchschaubare noch dazu, da seine geleerten Kaffeetassen noch immer auf dem Tisch standen und davon zeugten, dass er bereits mehr Koffein intus hatte, als vermutlich in einer Situation wie dieser gut war.   Void jedoch schien den kleinen Fauxpas nicht wirklich bemerkt zu haben, denn er gab nur ein leises, unbestimmtes Brummen von sich und kämpfte damit, seinen feuchten, abgewetzten Mantel von den Schultern zu streifen.   Honey überlegte, ob es wohl angebracht wäre, sich per Handschlag ganz förmlich vorzustellen, doch alleine der Gedanke daran kam ihm so albern vor, dass er letztlich nur schweigend sitzen blieb, bis Void sich von seinem Kleidungsstück befreit und sich mit unterdrücktem Ächzen auf dem zierlichen Caféstuhl ihm gegenüber fallen gelassen hatte. Das gab ihm zumindest einen kurzen Augenblick Aufschub, um seine flatternden Nerven wieder zu beruhigen und den anderen Mann neugierig zu mustern.   Er schätzte Void auf Anfang oder Mitte Dreißig, was sich in etwa mit dem deckte, was er ohnehin schon vermutet hatte. Eventuell wirkte er durch die harten Linien im Gesicht und seine durch den Schnee vollkommen durchweichte Erscheinung auch älter, als er in Wirklichkeit war. Sein dunkles Haar war lang und in einem nachlässigen Zopf im Nacken zusammengefasst, und der Schatten eines Dreitagebarts lag über seiner unteren Gesichtshälfte. Insgesamt wirkte Void nicht wie jemand, der gesteigerten Wert auf sein Äußeres legte, und doch besaß er eine mühelose Art von rauer und nachlässiger Attraktivität. Kurz gesagt war er nur einen Cowboyhut von Honeys nächtlicher Fantasievorstellung entfernt. Gar nicht gut. Absolut nicht gut.   Honey räusperte sich leise, woraufhin Voids Blick sich wieder direkt auf ihn richtete. Die ganze Situation war so surreal, und er fragte sich insgeheim, ob Void es wohl genauso ging. Ob dieser auch gerade überlegte, wie man ein Gespräch mit jemandem anfangen sollte, dem man zum allerersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Ob man der Höflichkeit halber noch einmal so etwas wie ‚Hallo‘ oder ‚Schön, dich kennenzulernen‘ sagen sollte, obwohl sie über diese Phase der leeren Phrasen und des hirnlosen Smalltalk eigentlich schon längst hinweg sein sollten. Stattdessen platzte Honey schließlich mit dem Erstbesten heraus, was ihm in den Sinn kam: „Woher wusstest du, dass ich es bin? Eben, beim Reinkommen?“   Void schien einen Moment über die Frage nachzudenken, zumindest antwortete er nicht sofort, sondern musterte sein Gegenüber zunächst einen Moment lang unverhohlen. Honey war bei weitem nicht befangen, was sein Aussehen betraf, aber dennoch hätte er in diesem Augenblick gerne gewusst, was Void sah, wenn er ihn anblickte. Schließlich zuckte der breitschultrige Mann nur leicht mit den Achseln und erwiderte schlicht: „Ich wusste es.“   Bevor Honey genauer nachfragen konnte, wurden sie von der Bedienung unterbrochen, die an ihren Tisch getreten war, um die Bestellung des neu eingetroffenen Gastes aufzunehmen. Void orderte einen Kaffee, schwarz, und Honey seinen mittlerweile dritten Espresso. Schlaf wurde ja ohnehin überbewertet. Nachdem die Kellnerin sie wieder verlassen hatte, kam sein Gegenüber überraschenderweise nahtlos wieder auf das Thema von eben zurück: „Ich habe einfach nach jemandem Ausschau gehalten, den ich mir mit Katzenohren vorstellen kann."   „Du...was?", entkam es Honey mit einem leisen, überrumpelten Husten. Er konnte nicht anders, als Void perplex anzustarren, während er sich versuchte vorzustellen, wie dieser große, übellaunig aussehende Mann das Cafe betrat und den anderen Besuchern in Gedanken Katzenohren aufsetzte. Die Vorstellung war gleichzeitig zum Brüllen komisch und vollkommen bescheuert, doch Void schien die Diskrepanz nicht einmal aufzufallen, denn er fuhr fort: „Außerdem wäre dann ja jetzt auch das Rätsel gelöst, warum man dich 'Honey' nennt, obwohl du glücklicherweise kein minderjähriges Mädchen bist." Er ließ seinen Blick vielsagend über Honeys namensprägende, honigblonde Haare schweifen, stutzte kurz und runzelte dann mit plötzlich aufkommendem Misstrauen die Augenbrauen: „Du bist doch nicht mehr minderjährig, oder?"   „Man nennt dich wohl Void, weil dein Kopf komplett leer ist, was?" Honey wusste nicht genau, ob er sich mehr über diese plötzliche anfallartige Frage oder über sich selbst ärgern sollte, weil die damit verbundene und von seiner Seite aus vermutlich komplett eingebildete Implikation einen Nerv bei ihm traf. Nun, zumindest war es beruhigend zu wissen, dass Void auch in Fleisch und Blut noch immer genau derselbe taktlose Blödmann war, als den er ihn kennengelernt hatte. Und irgendwie war es diese Realisation, die die dunklen Wolken in seinem Blick aufklaren und ein schiefes, aber ehrliches Grinsen auf seinen Lippen erschienen ließ.   Void auf der anderen Seite des Tisches schien deswegen kurz zu stutzen, aber kurz darauf verzogen sich auch seine Mundwinkel auf eine Art und Weise, die spätestens jetzt Honeys Wut komplett aufgelöst hätte. „Also alle Mysterien gelöst, was?" "Nicht alle", widersprach Honey schmunzelnd, und sein Gegenüber antwortete mit einem schnaubenden Auflachen, das ein angenehmes Kribbeln über seinen Rücken schickte und ihm in diesem Moment erst wirklich bewusst machte, dass das hier wirklich gerade passierte. Sie trafen sich, tranken zwanglos Kaffee miteinander und konnten theoretisch über alles sprechen und sich dabei direkt in die Augen sehen. Es war verrückt, weil das im Kontext von normaler sozialer Interaktion eigentlich ganz einfach und selbstverständlich sein sollte, aber dennoch war es, hier und jetzt, etwas Besonderes.   „Danke, dass du gekommen bist", entkam es Honey daher auch ein paar Minuten später, nachdem die Kellnerin ihnen ihre Getränke gebracht hatte, und er meinte es so. Void hob nur leicht eine Augenbraue an. „Okay. Hast du einen Knigge verschluckt, oder wo kam das plötzlich her?" „Pft. Ich wollte es einfach nur mal sagen, okay? Du bist unausstehlich." Der genervte Tonfall war allerdings zum größten Teil gespielt, und ein Blick in Voids Gesicht bestätigte Honey, dass der andere Mann ihn genauso verstand, wie er es beabsichtigt hatte.   "Und jetzt erzähl mir lieber, was dich so lange aufgehalten hat."   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)