Alternate Reality von Newt ================================================================================ Kapitel 5: Level 5 ------------------ Nachdem der Herbst seine letzten Momente ausgehaucht hatte und die ersten Dezembertage mit klirrender Kälte und den ersten, zaghaft vom Himmel schwebenden Schneeflocken vorüberzogen, geriet das Spielen für Honey immer mehr zur Nebensache.   Nach ihrer Versöhnung, die eigentlich genau genommen gar keine Versöhnung gewesen war, sondern lediglich die Auslösung eines dämlichen Missverständnisses, war er wieder mit Void in die Welt von Jibrile Online losgezogen, um endlich gemeinsam das Maximallevel zu erreichen. Manchmal hatte sich ihnen Kazuki angeschlossen und manchmal unternahmen sie auch gemeinsame Instanzen mit der Gilde, aber die meiste Zeit über waren sie nur zu zweit. Den Tag über brütete Honey über seinen Büchern, um bei den Prüfungen am Herbstende nicht komplett zu versagen, doch die Nächte gehört voll und ganz Void und ihren virtuellen Unternehmungen. Zeitweise kam sich Honey vor, als ob er ein Doppelleben führen würde, und zugegebenermaßen zehrte dieser Zustand an seinen Kräften. Zwei Realitäten nebeneinander, und in einer von ihnen lief er mit tiefen Augenringen und permanent übernächtigt durch die Gegend. Und doch hätte er die andere, alternative Realität um nichts in der Welt gegen diejenige eingetauscht, in der Erfolg und Misserfolg sich tatsächlich auf sein späteres Leben auswirken würde. Schlaf war ohnehin überbewertet.   Dennoch war Honey heilfroh, als er endlich auch die letzte Prüfung des Semesters überstanden hatte. An diesem Tag kippte er wie besinnungslos ins Bett und schlief beinahe 24 Stunden lang durch. Danach ging es wieder bergauf. Kurz darauf erreichten seine und Voids Spielfigur ihr Maximallevel und die Möglichkeiten, sich innerhalb des Spiels zu beschäftigen, wurden eingeschränkter. Weder Honey noch Void waren der Typ dafür, einem Spiel seine letzten Geheimnisse zu entlocken und jede kleine Nebenquest zu lösen, die sie irgendwann einmal übersprungen hatten, und ehe es irgendeiner von ihnen bewusst wahrnahm, geriet das Einloggen in Jibrile Online mehr und mehr zum reinen Vorwand, um miteinander Zeit zu verbringen.   Eines Abends saß Honey wieder einmal vor seinem Rechner, vor sich einen riesigen Teller mit Thunfischpizza, von der Void steif und fest behauptete, ihr widerlicher Gestank könne bis zu ihm durchdringen. Sie waren mittlerweile die meiste Zeit in einem privaten Channel, anstatt den Gildenchannel zu benutzen, weil Void es nach eigener Aussage nicht leiden konnte, wenn neben ihren eigenen noch zig andere Stimmen dazwischen quatschten. Honey war dies durchaus recht, und irgendwie gefiel ihm der Gedanke, dass er selbst die einzige Ausnahme von der gelebten Misanthropie seines Gesprächspartners darstellte. Void war ihm in vieler Hinsicht noch immer ein Rätsel, auch wenn er mittlerweile einiges über den anderen Mann gelernt hatte. Er wusste, dass Void mit dem Onlinespielen angefangen hatte, als er noch beim Militär gewesen war und oft tagelang in irgendwelchen tristen Bungalows mitten im Nirgendwo gesessen hatte, während er darauf wartete, dass sein Wachdienst anfing. Er wusste, dass Void einen gewissen Hang zum unflätigen Fluchen und Negativismus hatte, aber hinter dieser harten Schale selten wirklich ernsthafte Geringschätzung lag. Dass er eigentlich ein ziemlich guter und geduldiger Zuhörer war, dessen sarkastische Bemerkungen es immer irgendwie schafften, Honey an jedem noch so anstrengenden und beschissenen Tag ein Grinsen zu entlocken.  Ja, er wusste wirklich mittlerweile eine Menge über Void. Was ihm allerdings fehlte, waren komplett profane Informationen, die bei jeder anderen normalen Bekanntschaft schon in den ersten paar Minuten ausgetauscht worden wären, und die ihn, zugegebenermaßen, mittlerweile brennend interessierten.   „Sag mal… wie heißt du eigentlich?“, fragte Honey möglichst locker in die Stille des Voicechats hinein, nachdem er ein besonders großes Stück Pizza verschlungen hatte. „Warum willst du das wissen?“ „Komm schon! Du kennst meinen Namen immerhin auch!“ „Ja, weil du ein unvorsichtiger Bengel bist, der Fremden im Internet einfach so seine privaten Daten verrät.“   Honey verdrehte leicht die Augen. Als ob sein Name so ein großes Geheimnis gewesen wäre. Immerhin nutzte er seinen verdammten Rufnamen auch als Nickname, und obwohl Void auch mittlerweile seinen echten Namen kannte und sich ausgiebig darüber lustig gemacht hatte, dass ein volljähriger Typ sich freiwillig „Honey“ nennen ließ, war er niemals auch nur ein einziges Mal „Tama“ für Void gewesen.   „Sei kein Spielverderber. Also?“ Stille am anderen Ende der Leitung. Honey war schon drauf und dran, seinem Gesprächspartner einfach damit zu drohen, solange zu raten, bis er recht hatte, doch Voids knirschende Stimme kam ihm zuvor. „Ryder.“ „Ryder?“ „Ryder.“ „Du trägst einen verdammten Cowboyhut und heißt Ryder…?“, prustete Honey hervor und musste sich stark zusammenreißen, um angesichts dieses Klischees nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Tausend und ein dämlicher Wortwitz fiel ihm zu diesem Thema ein.  „Und? Du kicherst wie ein Mädchen und nennst dich Honey.“ „Penner“, fauchte Honey, konnte das Lachen aber nicht ganz aus seiner Stimme verbannen, „Einigen wir uns doch darauf, uns weiterhin bei unseren Spitznamen zu nennen.“ „Meinetwegen“, murrte Void, offenbar noch immer ein wenig in seinem Stolz gekränkt, aber zumindest kompromissbereit. Honey lehnte sich leicht in seinem Stuhl zurück, ein hartnäckiges Lächeln in seinen Mundwinkeln und die Pizzareste auf seinem Teller komplett vergessen. „Und jetzt… hätte ich noch ein paar weitere Fragen.“   ***   Die Vorstellungskraft war schon eine seltsame Angelegenheit. Honey rühmte sich gerne damit, eine ausgeprägte Fantasie zu besitzen, aber alles hatte seine Grenzen. Oder vielmehr… es gab Grenzen, die eigentlich nicht überschritten werden sollte, und gewisse Fantasien, die eigentlich eher in den Kopf eines vierzehnjährigen Jungen im Klammergriff der hormonalen Entwicklung gehörten. Als er dann also an einem frühen Dezembermorgen mit beschleunigtem Atem aufwachte, Schweiß auf der Stirn und die Vorderseite seiner Shorts mit warmer Feuchte benetzt, wäre Honey am liebsten vor Scham im Boden versunken. „Das ist doch jetzt nicht wahr…“, murmelte er kläglich, während er sein glühendes Gesicht mit seinen Händen bedeckte. Irgendwie schaffte er es, das angrenzende Badezimmer zu erreichen, ohne Kazuki über den Weg zu laufen, auch wenn er fast schon erwartet hatte, dass das Universum ihm diese Peinlichkeit ebenfalls nicht vorenthalten würde. Unbehaglich und linkisch wie zuletzt in der zehnten Klasse säuberte er sich von den Spuren seines feuchten Traums und versuchte die ganze Zeit über krampfhaft, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, wovon dieser gehandelt hatte. Denn bedauerlicherweise konnte er sich sehr gut daran erinnern.   ***   „Ich muss für einige Tage geschäftlich weg“, kündigte Void aus dem Zusammenhang gerissen an. Honey, der bislang den ganzen Abend über während ihres Gesprächs eher abwesend gewesen war, schreckte ein wenig hoch und erwiderte wenig artikuliert: „Oh?“   Void fuhr fort, ihm mit knappen Worten zu erläutern, dass er in Devas Auftrag die Renovierungsarbeiten eines Firmengebäudes in einer anderen Stadt überwachen sollte, was einige Tage in Anspruch nehmen würde. „Ich werde vor Ort kein Internet haben, also…“   Honey nahm die Neuigkeit mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits war er der Meinung, dass es seinem Verstand durchaus zugutekommen würde, für ein paar Tage etwas Abstand von Void und seiner bescheuerten, rauchigen Stimme zu bekommen, die ihn mittlerweile ganz offensichtlich bis in seinen Schlaf verfolgte und ihm dort Dinge ins Ohr flüsterte, von denen sich alleine in Erinnerung daran seine Wangen röteten. Auf der anderen Seite spürte er eine leise Enttäuschung, denn Voids Abwesenheit würde bedeuten, dass sie vorerst keine Möglichkeit mehr haben würden, miteinander zu sprechen. Er hatte sich mittlerweile an ihre täglichen Voicechat-Séancen gewöhnt, und selbst, wenn sie nicht immer dabei miteinander sprachen, war selbst die stille Präsenz des anderen Mannes etwas geworden, das so fest zu seinen Abenden gehörte, dass es sich mit Sicherheit seltsam anfühlen würde, auf einmal darauf zu verzichten.   „Okay“, raffte sich Honey schließlich zu einer gespielt unbekümmerten Antwort auf, „Dann lass dir aber bitte keinen Stahlträger auf den Kopf fallen oder sowas.“ „Du solltest mir deine Nummer geben.“ „…was?“ Honey konnte hören, wie Void sich am anderen Ende der Leitung leicht räusperte, und er spürte, wie sich sein Puls idiotischerweise um ein paar Takte beschleunigte.   „Deine Nummer, Flohbeutel. Für den Notfall.“ „…für den Notfall, dass dir ein Stahlträger den Schädel einschlägt?“ „Zum Beispiel.“   Konfus fuhr sich Honey durch die Haare und konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines, hartnäckiges Lächeln in seinen Mundwinkeln festsetzte. „Okay, ähm… Warte kurz, okay?“, erwiderte er und hätte sich beinahe im Kabel seines Headsets verheddert, als er hastig aufsprang, um sein Handy vom Nachttisch zu klauben. Er gehörte zu den Menschen, die ihre eigene Nummer nicht auswendig kannten, aber Void blieb geduldig, auch, als sich Honey vor Aufregung einmal verhaspelte, während er die zwölfstellige Nummer durchgab.   „Gut. Sekunde…“, bat Void ihn daraufhin einen Moment um Geduld, und keine Minute später gab Honeys Mobiltelefon ein leises Piepsen von sich, das die Ankunft einer Kurznachricht ankündigte. Der Student ließ das Gerät aufschnappen und musste grinsen, als er die SMS las.   Unknown Number (23:31): hey   Er beeilte sich, Voids Nummer abzuspeichern und schickte dann, um seinen Gesprächspartner ein wenig aufzuziehen, ein schnelles „Hi“ samt eines hässlichen gelben Smileys zurück. „Gut, dann…“, fuhr er schließlich fort, als er sich wieder daran erinnerte, dass sie ja noch immer über den Voicechat verbunden waren, „…melde dich, falls irgendwelche Dinge mit deinem Kopf passieren.“   Später, als Honey bereits im Bett lag, schnappte er sich noch einmal sein Handy und betrachtete die beiden ausgetauschten Nachrichten im Verlauf seines SMS-Menüs mit einem kleinen, bescheuerten Lächeln im Gesicht. Er zögerte für einen Moment, konnte sich dann aber doch nicht zurückhalten und tippte eine kurze, schnelle Nachricht an Void ein:   Honey (00:23): Gute Nacht.   Es folgte keine Antwort, vermutlich schlief Void also schon, aber alleine die Möglichkeit, ihn ab jetzt von überall einfach so kontaktieren zu können, schickte ein kleines, angenehmes Kribbeln in Honeys Magen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)