Studienfahrt der etwas anderen Art von WeißeWölfinLarka (YuKa-Zirkel Wichtelaktion 2016) ================================================================================ Bonus ----- Es war kalt geworden. Sehr kalt. Die Schneeflocken rieselten unablässig aus dem dunklen Himmeln herab. Wind kam auf, ließ Äste knacken. Unter der Last des Schnees bogen sich die Zweige. Mit einem lauten Knacken brach ein faustdicker Ast durch und landete mit einem dumpfen Geräusch in die mittlerweile meterhohe Schneedecke. Erschrocken fuhren Kai und Yuriy auseinander. Ihre Lippen waren rau und brannten, ihre Wangen waren, wie ihre Nasen, gerötet vor Kälte. Ihre Finger waren steif gefroren, was sie in der Hitze des Gefechts nicht bemerkt hatten. Yuriys Atem ging flach, sein Herz pochte schnell und hart gegen seine Brust. Kai ging es nicht anders. Atemlos starrte er in Yuriys eisblauen Augen, die in der sie umgebenden Dunkelheit und dem flackernden Licht der Außenlaternen hell schimmerten. „Lass uns reingehen…“, schlug Yuriy vor. Kai nickte. Sein ganzer Körper kribbelte, so sehr fühlte er sich von Yuriy angezogen. Etwas ungelenk stand er auf. Jetzt erst bemerkte er seine kalten Füße und den eisigen Wind, der ihnen den Schnee ins Gesicht wehte. Er zog die Jacke – offensichtlich Yuriys, sie war ihm zu groß – enger um sich und hielt sich nicht damit auf, sie ordentlich anzuziehen. Stattdessen drängte er Yuriy voran, endlich ins Warme zu kommen. Gemeinsam stolperten ins Innere der Blockhütte und schlossen die Tür hinter sich. Kai rieb sich die Hände. Durch die plötzliche Wärme prickelte seine Haut. Wie lange waren sie draußen gewesen? Er musterte Yuriy. Der zitterte mit dem ganzen Körper. Entsetzt stellte Kai fest, dass er keine Jacke trug. „Komm.“ Er nahm den Rothaarigen bei der Hand. Wie automatisch verschränkten sich ihre Finger, auch wenn sie noch taub vor Kälte waren. Schnell eilte er in ihr gemeinsames Zimmer. Dort angekommen, parkte er Yuriy auf dessen Bett und legte ihm dessen Jacke um. Dass sie dafür einander loslassen mussten, quittierte Yuriy mit einem leisen empörten Laut, der Kai nicht entgangen war und ihn lächeln ließ. Rasch legte er ihm auch noch eine Wolldecke über die Beine. Während er sich so um den Kunstlehrer kümmerte, wurde ihm selbst schon wieder wärmer. Kai nutzte den überaus praktischen Wasserkocher, der in allen Zimmern der Lehrkräfte obligatorisch installiert war, und kochte ihnen einen heißen Tee. Während die Kräuter im Wasser zogen, setzte Kai sich neben Yuriy und drückte ihm eine Tasse in die Hand. Schweigend saßen sie da und starrten jeweils in die dunkle Flüssigkeit. Draußen vor dem Fenster wurde der Wind immer stärker. Er jaulte um die Ecken und trieb das Schneegestöber voran. „Ich-“, fingen beide zeitgleich an, stoppten und lachten peinlich berührt auf. Wieder Schweigen. Yuriy überlegte fieberhaft, was er sagen sollte. Das war schon immer sein Problem gewesen: erst zu handeln und dann zu denken. Aber hatte nicht auch Kai den Kuss – oder die Küsse – mitinitiiert? Wie dem auch sei, irgendwie mussten sie darüber reden. Immerhin zitterte er nicht mehr. Er nahm einen großen Schluck Tee und fühlte, wie die heiße Flüssigkeit ihn von innen erwärmte. Auch in Kais Zehe war das Gefühl zurückgekehrt. Der Dunkelhaarige stellte seine Tasse auf dem Nachtschränkchen ab und zog einen Fuß hoch aufs Bett, um sich Yuriy zuwenden zu können. „Danke Yuriy. Für vorhin.“ Angesprochener hob beide Augenbrauen fragend in die Höhe und nippte von seinem Tee. „Ich … hab’s nicht so mit Mistelzweigen, ausgelassenen Vorweihnachtsfeiern… und so.“ Yuriy nickte verstehend. Weil er schwieg, fuhr Kai fort: „Meistens bin ich lieber allein zuhause. Wo es ruhig ist und friedlich, wo mein Partner ist, und meine Katze…“ Yuriys Stimmung kippte. Sein Kiefer spannte sich an und seine Lippen pressten sich fest aufeinander. Das konnte nicht sein Ernst sein! „Aber meine Wohnung ist leer, einen Partner habe ich schon länger nicht mehr und meine Katze ist tot…“ Als diese Worte draußen waren, fühlte Kai sich einfach nur elend. Weil er Yuriy, einem Fast-Fremden sein Innerstes offenbart hatte – und weil er sich jetzt selbst an seine bisher furchtbarste Zeit erinnert hatte, die er eigentlich vergraben hatte wollen. Takao hatte ihn tief verletzt. Kai hatte gedacht, Takao würde ihn verstehen, könnte hinter seine Fassade blicken und ihn wirklich verstehen. Stattdessen hatte Takao versucht, ihn, Kai, zu „reparieren“, ihn gesellschaftsfähig zu machen, und hatte ihn als „Trophy-Wife“ überall herumgeführt, weil Kai mit einem super Abschluss von der Uni abgegangen war und hervorragende Leistungen vorweisen konnte. Jedenfalls hatte Kai sich so gefühlt. Das war auch einer der vielen Streitpunkte in ihrer Beziehung gewesen. Und zu allem Überfluss war, während seine Beziehung mit Takao in die Brüche gegangen war, seine Katze, die er als kleines Kätzchen bekommen hatte, schwer erkrankt und er hatte sie einschläfern lassen müssen. Er spürte, dass ihn dieser Verlust immer noch tief traf, obwohl das alles schon über ein halbes Jahr her war, und die Trauer über den Verlust seines verschmusten Fellfreundes sehr viel unerträglicher war als das Beziehungsende mit seinem Ex. Yuriy sah ihm diesen Schmerz an. Sein vorheriger Ärger war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Er stellte seine Tasse ab, rutschte näher an Kai heran und ohne zu fragen breitete er seine Arme aus und zog ihn an sich. Überrascht über Yuriys Handeln spannte Kai sich unwohl an und beide verharrten in einer für beide irgendwie sehr unbeholfenen Umarmung. Bis Kai schließlich leicht hilflos lachte, weil er sich so lächerlich vorkam. „So geht das nicht“, murmelte er. „Du hast Recht.“ Es gab Geraschel, das Bett wackelte und knarzte und Kai fand sich plötzlich auf dem Rücken liegend auf dem Federbett wieder, den Kopf auf Yuriys Oberarm gebettet, und über sie beide hatte der Rothaarige die Wolldecke ausgebreitet. Er kam sich immer noch komisch vor, aber von seiner jetzigen Position konnte er Yuriys Herz klopfen hören. Das beruhigte ihn, weil es ihm sagte, dass der andere ebenso aufgeregt und verwirrt war wie er selbst. Also drehte er sich, um in eine bequeme Position zu gelangen, bis seine Wange vorsichtig auf Yuriys Brust landete. Dessen Atem ging jetzt auch wieder schneller. Kai spürte ihn zögern, aber kurz darauf lag eine warme Hand auf seinem Rücken. Dadurch ermutigt, schlang auch Kai den Arm um Yuriys Oberkörper. Das fühlte sich jetzt für beide viel besser an. Sie lagen eine Weile so da, lauschten dem Atem und dem Herzschlag des jeweils anderen. „Bist du eingeschlafen?“, wisperte Yuriy etwas später. „Nh-nh…“, murmelte Kai, indem er seine Worte mit einem leichten Kopfschütteln unterstrich. Schließlich hob er den Kopf und sah Yuriy wieder an. In dessen fragenden Blick verlor er sich ein weiteres Mal: Seine Iris hatte die Farbe des klaren Himmels eines Wintertages, und obwohl es eigentlich eine kalte Farbe war, wirkte Yuriy warm. Langsam näherte Kai seine Hand Yuriy, der es stumm geschehen ließ, und strich ihm einige Strähnen aus dem Gesicht, um im Anschluss sanft über seine Wange zu streicheln. Beiden war klar, dass sie eine besondere Verbindung hatten. Allerdings wussten sie beide nicht so recht, ob diese Verbindung auch über die Studienfahrt hinaus bestehen würde. Ob es nur eine Laune war, die sie beide hier zusammengebracht hatte… Wortlos brachen beide den Blickkontakt ab. Plötzlich zerstörte eine ohrenbetäubende Sirene ihren trauten Frieden. Sie zuckten zusammen. Eine Durchsage teilte den gesamten Gästen mit, dass es sich um keine Übung hielt: „Aufgrund des andauernden Schneefalls besteht ein erhöhtes Risiko, von der Hauptverkehrsstraße abgeschnitten zu werden. Die Lehrkräfte werden gebeten, sich mit der Herbergsleitung in Verbindung zu setzen. Die Schüler verbleiben bitte in ihren Zimmern!“ Beide Junglehrer richteten sich auf und anschließend ihre Kleider. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Bei der Herbergsleitung angekommen, trafen sie auch auf die anderen Betreuer. Ihnen wurde mitgeteilt, dass die Schüler besser jetzt noch in das tiefer gelegene Tal gebracht werden sollten, da die meteorologische Situation sich voraussichtlich verschlimmern würde und die Busse sehr wahrscheinlich nicht mehr fahren könnten, wenn sie noch länger warteten. Man entschied, eine weitere Durchsage zu tätigen, in der die Schüler aufgefordert wurden, ihre Koffer zu packen. Die Lehrer und Lehrerinnen teilten sich auf und sorgten für einen möglichst reibungslosen Ablauf der Evakuierung der Schüler. Die Busse standen auf dem Parkplatz. Sie waren eingeschneit worden, aber der Herbergsvater hatte mit einigen Helfern und einem Schneepflug deren Fahrtwege soweit freigeräumt, dass sie zumindest die nächste größere Straße erreichten und auf der Talfahrt weitestehend risikoarm fahren konnten. Aufgrund der Witterungsbedingungen mussten aber die Lehrkräfte und die Herbergsleitung trotz bester Bemühungen die Abfahrtsvorbereitungen einstellen. Nur drei von vier Bussen hatten es geschafft, rechtzeitig abzufahren. Zurück blieben 35 Schüler und Schülerinnen und mit ihnen vier Lehrer, darunter Yuriy und Kai. Als erfahrene Winterurlauber hatten sie die Organisation der Abtransporte unterstützend geleitet. Zum Glück bedeutete das aber noch nicht den Abschnitt von jeglicher Zivilisation, da sie jetzt die Schulleitung informiert werden musste, die wiederum die Eltern der betreffenden Schüler von der Angelegenheit in Kenntnis setzen musste. „Es ist wirklich kein Grund zur Sorge, ihr müsst jetzt nicht weinen. Wir kommen schon wieder weg. Wenn es weniger schneit, können wir fahren. Das passiert manchmal in den Bergen“, tröstete Yuriy eine Gruppe weinender Mädchen, die, aus dem Schlaf gerissen und von dem allgemeinen Durcheinander verwirrt, verängstigt waren. Auch die anderen beiden Betreuer kümmerten sich um die Schüler, die zurückgeblieben waren, und halfen bei der Ausgabe von Kakao und zusätzlicher Decken. Kai dagegen hatte die Aufgabe übernommen, mit der Schulleitung in Kontakt zu treten. Das lag ihm näher als das Trocknen von Tränen. „Und?“ Yuriy stellte sich zu ihm. Alle Schüler waren wieder auf ihren Zimmern. Auch ihre Kollegen hatten sich verzogen, sie waren übermüdet. „Sie kümmern sich um alles. Aber die meteorologische Lage hat sich nicht gebessert. Wir sind eingeschneit. Vor übermorgen ändert sich das Wetter auch nicht.“ Kai sah Yuriy an. Zum ersten Mal erkannte er Erschöpfung an ihm. „Vorräte?“ „Ausreichend. Noch besteht kein Grund zur Sorge, dass wir Kannibalen werden müssen“, scherzte Kai müde. Yuriy stieß ihn in die Seite. „Sag das nicht so laut, sonst heulen die Mädels wieder!“ Kai grinste. „Und DU kannst sie dann trösten, ich mach das kein zweites Mal!“, drohte Yuriy ihm, was ihm das Grinsen sofort aus dem Gesicht wischte. Das wiederum brachte Yuriy zum Lachen.       - - -     „Ist euch aufgefallen, dass Herr Ivanov und Herr Hiwatari ständig zusammen stehen?“ „Ja, und dann lacht Herr Ivanov sogar über Sachen, die Herr Hiwatari sagt.“ „Bestimmt nur, weil Herr Ivanov höflich sein will.“ Dennoch staunten eine Handvoll Schüler über das offensichtlich gute Verhältnis ihrer beiden Lehrer zueinander.     Sie waren bereits den zweiten Tag lang eingeschneit. Langsam stellte sich unter den Schülern Hüttenkoller ein, nachdem sich die Aufregung über die verlängerte Klassenfahrt gelegt hatte. Sie wollten doch gerne nach Hause, da sich auch nicht voraussagen ließ, wann genau das geschehen konnte. Auch die Lehrer wurden durch die unfreiwillige Verlängerung der Klassenfahrt ihren Schülern gegenüber zunehmend gereizter. Yuriy konnte das von den vieren aber am besten unterdrücken. Er animierte die Lehrer dazu, möglichst noch viel von der Landschaft hier zu nutzen. Denn wenn sie schon einmal hier waren, konnten sie den Aufenthalt auch genießen. Und solange die Kinder beschäftigt waren, konnte sich keine Meuterei einstellen. So sah er das zumindest. „Heute teilen wir uns in vier Gruppen auf. Leute mit Bock auf Winterwanderung gehen zu Frau Kuzew, Skilanglauf zu Herrn Atou, das Bilden eines Iglus lernt ihr bei mir, und wer noch mal Lust auf Snowboarden hat, findet sich bei Herrn Hiwatari ein.“ Bei der Einteilung der Schüler achtete Yuriy darauf, dass alle gerecht verteilt waren. Als er an Kai vorbei ging, zwinkerte er ihm kurz zu. Kai verdrehte die Augen, lächelte aber. Doch kurz darauf war er schon wieder der gestrenge Herr Hiwatari: „Jeder nimmt sich jetzt gesittet ein Board! Und wer sich nicht an die Abmachungen hält, geht auf sein Zimmer. Verstanden?!“       Am dritten Morgen war den Schülern frei gestellt, was sie taten, solange sie sich in der Nähe der Blockhütte aufhielten. Die meisten blieben im Innern. Wenigstens hatte der Schneefall aufgehört, und wenn jetzt noch leichtes Tauwetter einsetzte, würden sie am nächsten Tag fahren können. Kai hatte vor Yuriy heute das Zimmer verlassen und einen ausgiebigen Spaziergang in der näheren Umgebung ihrer Unterkunft unternommen. Seit dem Abend mit dem ungelenken Versuch einer Umarmung waren er und Yuriy sich nicht wieder näher gekommen. Allerdings hatte Yuriy ihn ständig verbal zu einem schlagfertigen Austausch herausgefordert. Selbst die anderen beiden Lehrkräfte wunderten sich darüber, wie aufgeweckt ihr Kollege „Stock-im-Arsch“ sein konnte. „Zeigst du mir heute den Butternose Roll?“ Yuriy hatte zwei Boards im Arm und kam auf Kai zugestapft. „Den kannst du doch. Den muss ich dir nicht mehr zeigen.“ Kai rieb seine Arme. Er war durchgefroren. „Awww, komm schon. Oder diesen einen da, den du gemacht hast, als keiner geguckt hat!“ „Aber du hast das naütrlich gesehen.“ „Natürlich!“ Grinsend erwartete er Kais Zustimmung. Kai nahm ihm die Bretter ab und steckte sie in den Schnee. „Wenn du mir einen heißen Kaffee rausbringst… zeig ich dir alles, was ich kann.“ Yuriys Grinsen breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. „Pass auf mit dem, was du mir anbietest.“ „Wa-?! Yuriy!!“ Aber Yuriy war schon lachend wieder in der Herberge verschwunden. Dass er aber auch jede Aussage irgendwie zweideutig drehen konnte!, fluchte Kai innerlich. Kurz darauf kehrte der rothaarige Witzbold mit zwei dampfenden Bechern Kaffee zurück. Dankend nahm Kai einen von Yuriy im Empfang. „Was du meinst, ist der Backside 180 Manual Backside 180 Nosetap Revert. Am besten fährst du mit ordentlich Speed an, einerseits, um den Manual richtig halten zu können, andererseits, um noch genügend Power für den Backside 180 Nosetap zu haben. Also, erst mal Gas geben, dann den Backside 180 pullen, auf dem Tail landen, die Nose hochziehen und den Tailpress durchziehen. Soweit, so gut. Was jetzt kommt ist eine Oberkörperverdreherei erster Güte. Du poppst einen Backside 180 vom Tail weg, aber da das ja schon ein bisschen zu einfach wäre, "tapst" du im Flug mit der Nose den Boden, bevor du komplett landest. Für den gelungenen Abschluss mit einem Revert solltest du eher auf der Zehenkante landen. Danach mit den Armen kräftig gegenrotieren, sprich im Uhrzeigersinn bewegen, während die Beine die Nose wieder nach vorne bringen.“ Yuriy hatte aufmerksam zugehört, aber in der Theorie klang das alles doch sehr kompliziert. „Wenn deine Schüler dich jetzt hätten hören können“, murmelte er leise, aber von Kai ungehört, da dieser seinen Becher leerte und auf die Fensterbank stellte. „Also, wenn du den stehst, kannste dich getrost als Dude bezeichnen und die Hose eine Kante tiefer tragen!“ Jetzt war es an Yuriy, verdutzt und sprachlos Kai anzustarren. Diesmal grinste Kai ihn breit an. Dann nahm er sich ein Board und stapfte zur Piste, dicht gefolgt von Yuriy, der nun wirklich von Kais Witz und Schlagfertigkeit beeindruckt war.       „Habt ihr Herrn Ivanov gesehen?“ „Der ist mit Herrn Hiwatari auf der Skipiste.“. Allein diese Tatsache hatte die Neugier der Schüler geweckt. In Grüppchen gesellten sie sich ebenfalls zur Abfahrt. Einige schnallten sich sogar wieder Skier um. Sie kannten Herrn Hiwatari nur als den grummeligen, miesepetrigen Englischlehrer. Daher konnten sie sich nicht vorstellen, warum jemand freiwillig mit ihm abhängen wollte. „Nein, vom Tail weg, und dann die Nose tappen!“, rief Kai Yuriy zu, der schon wieder etwas weiter unten fuhr. Kai kurvte auf seine Höhe. „Zeigs mir noch mal“, bat der Rotschopf. Kai nickte und legte ein weiteres Mal los. Die Schüler staunten nicht schlecht. Herr Hiwatari war ja doch ein bisschen cool! Selbiger sah nun hoch zu Yuriy, der den Trick ein weiteres Mal ausprobieren wollte. Er fuhr an, nahm an Geschwindigkeit zu, zog das Board an, ruderte mit den Arm, drehte seinen Oberkörper – ein gellender Schrei zerriss die gebannte Atmosphäre. Eine Skianfängerin war vom Weg abgekommen und mit ihm zusammengestoßen. Die Zeit schien still zu stehen. Starr vor Schreck sahen die Schüler zur einzigen Bezugs- und Autoritätsperson, Kai. Dessen Miene war eine starre Maske. Er setzte sich in Bewegung, schnallte das Snowboard ab und erklomm die Abfahrt durch den tiefen Schnee. „Ruft die Herbergsleitung! Holt den Erste-Hilfe-Koffer!“, bellte er seinen Schülern zu, die sofort den Befehl befolgten. Endlich hatte er Yuriy und das Kind erreicht. Skier und Snowboard waren miteinander verheddert, und das Mädchen weinte bitterlich. Yuriy stöhnte nur und versuchte sich aufzurichten, was ihm nicht ganz so gelang. „Shhh, bleib liegen.“ Kai öffnete die Ösen an den Schneeschuhen und befreite beide von den Wintersportgeräten. „Herr Hiwatari-iii…“, schluchzte das Mädchen, „m-mein Arm steht-steht so komisch ab… Muss das so?!“ Kai schluckte und entwirrte den Haufen an Gliedmaßen, bis jeder Körper wieder für sich lag. „Nein, Emilia, das muss nicht so. Aber wir bringen dich zu einem Arzt, der bringt deinen Arm wieder in Ordnung.“ Es sah so aus, als hätte sie sich etwas ausgerenkt oder gebrochen. Kai konnte das nicht beurteilen. Zum Glück kam der Herbergsleiter, der die Notrettung schon informiert hatte. Kai hob das Mädchen aus dem Schnee und übergab sie in dessen Obhut. „Bei mir steht nichts ab… glaube ich“, meldete sich Yuriy zu Wort. Sofort war Kai wieder an seiner Seite. „Warte, bevor du aufstehst.“ Kai nahm ihm die Schneebrille und den Helm ab. Vorsichtig ertastete er Yuriys Kopf, dann seine Gliedmaßen. Schließlich hielt er ihm die Hand zum Aufstehen hin und half ihm auf die Beine. Durch die schnelle Bewegung wurde Yuriy wieder schwindelig. Kai fing ihn auf und sackte ein bisschen im Schnee ein. „Du musst dich von den Sanitätern untersuchen lassen.“ Kai stützte ihn auf dem gesamten Weg zurück zur Blockhütte. „Ich will nicht.“ „Du musst.“ „Die sind aber immer so garstig!“, jammerte Yuriy. „Die wollen dir nur helfen!“ „Jetzt bist du auch noch garstig!“ Kai seufzte. Sie wurden begleitet von Herrn Ivanovs Fanclub, und Kai hoffte, dass Yuriys Kopf nicht so viel abbekommen hatte, wie es schien. „Du bist schwer, hilf mal ein bisschen mehr mit!“ „Sag ich doch, garstig….“     - - -     Dem Herr-Ivanov-Fanclub war nicht entgangen, wie sorgenvoll Kais Miene war, während er sich um Yuriy gekümmert hatte, oder wie umsichtig er mit ihm umgegangen war, oder wie nachsichtig er in Bezug auf Yuriys verbale Ausfälle reagiert hatte. „Und deshalb postulieren wir: We ship them! OTP und so! Die bringen wir zusammen!“ Spätestens auf der Rückfahrt würden sie das in ihre Fanclub-Agenda aufnehmen. Vielleicht war Herr Hiwatari ja doch nicht so strikt und miesepetrig, wer er immer tat…   - - -   Der letzte Bus war abgefahren. Die Straßen waren geräumt worden, und die Studienreisenden traten nun ihren Heimweg an. Das Kind, mit dem Yuriy zusammengestoßen war, hatte sich den Arm gebrochen und war noch mit dem Hubschrauber ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht worden. Yuriy hatte sich außer einigen blauen Flecken nichts getan. Der Notarzt vermutete eine leichte Gehirnerschütterung und hatte daher Bettruhe verordnet. „Danke, dass du dich für mich eingesetzt hast…“ Kai hatte den Rest des Tages damit verbracht, es durchzuboxen, dass sie beide nicht mit zurückfahren mussten. Er hatte sich schließlich mit dem Verweis der Reiseübelkeit durch die Gehirnerschütterung durchsetzen können, mit der zusätzlichen Verpflichtung, dass er als Aufsichtsperson bei Yuriy bliebe. Es war Abend, und es schneite wieder. „Manus manum lavat…“ „Bitte?!“ „Eine Hand wäscht die andere.“ „Du kannst meinem lädierten Kopf doch nicht mit Latein kommen.“ „So lädiert kann der gar nicht sein.“ Yuriy grinste und klopfte neben sich. Kai schüttelte den Kopf. Statt zu Yuriy zu gehen, ging er um sein eigenes Bett herum und schob es unter dem Quietschen der Bettpfosten an Yuriys Bett heran, bis sie eine Art Doppelbett hatten. Dann erst kletterte er zu Yuriy unter die Decke. „Du hast mich erwischt. So schlimm ist es wirklich nicht. Ich hab ein bisschen simuliert.“ „Hmhmmmm… hab ich gemerkt.“ „Mir ist kalt…“ Kai rückte näher an Yuriy heran und stützte sich auf einem angewinkelten Arm ab. Mit einem strengen Blick bedachte er ihn. „Den Nosetap Revert üben wir noch mal. Das kannst du besser. Aber erst, wenn du wieder gesund bist.“ Sein strenger Blick löste sich auf und er neigte sich vor, näselte sanft mit ihm und seiner kalten Nase, bevor er ihm sachte die Lippen aufdrückte. Yuriy lächelte ein bisschen liebestrunken und kuschelte sich tiefer in die Bettdecke und näher an Kai, bevor er wieder zu ihm aufsah. „Bist du denn wenigstens jetzt ein bisschen in mich verliebt?“ Kai rollte mit den Augen, lächelte aber und gab ihm einen weiteren, langen Kuss. „Mit oder ohne Mistelzweig… ich küsse NUR Menschen, die ich liebe…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)