Studienfahrt der etwas anderen Art von WeißeWölfinLarka (YuKa-Zirkel Wichtelaktion 2016) ================================================================================ One ---   „Euer Arbeitsauftrag ist folgender: Untersucht, worin Perikles die Vorteile der Staatsform Demokratie sieht. Wenn ihr damit fertig seid, tauscht ihr euch mit eurem Sitznachbarn darüber aus. Und als dritten Schritt interpretiert ihr die Intention des Redners Perikles, indem ihr den historischen Kontext berücksichtigt! Noch Fragen? Keine? Gut. Dann legt los!“ Es wurde ruhig im Klassenzimmer. Auch das letzte Getuschel erstarb bald nach einem mahnenden Blick. Erst nach etwa zehn Minuten fingen die ersten Schüler wieder an, sich gedämpft über den Inhalt der historischen Quelle zu unterhalten. Es war keine Intervention der Lehrkraft notwendig. Diese Aufgabenstellung war bereits methodisch ritualisiert. Dennoch hatten noch nicht alle Schüler ihre Interpretation beendet, als es schellte. Ratzfatz wurden die Bücher zu geklappt, die Taschen gepackt und die ersten rannten schon aus dem Klassenraum, während andere noch trödelten. „Herr Ivanov, was ist heteronormativ?“ Skeptisch blickte Yuriy Ivanov eine kleine Gruppe von Schülern an. „Ich kann mich nicht erinnern, dass das im Text stand.“ „Nein, wir ... wollen das gern so wissen.“ Yuriy unterdrückte ein Seufzen. Seit Neuestem löcherten ihn seine Schüler ständig mit solchen merkwürdigen Begrifflichkeiten. Gut, sie waren in einem Alter, in dem sie sich für das ganze Thema zu interessieren beganen. Aber war er denn der einzige, den sie fragen konnten? Seines Wissens hatten sie an der Schule schließlich auch einen ganz frischen, sprachlich sehr versierten Lehrer – auch wenn er selbst ihn außer bei der Kurzvorstellung durch den Direktor noch nicht viel gesehen hatte. Warum frugen sie nicht ihn? Aber Yuriy Ivanov war – zwar erst seit kurzem, aber immerhin – Vollblutlehrer, und erklärte ihnen bereitwillig: „Unsere gesamte Gesellschaft ist heteronormativ geprägt, das heißt, die Grundannahme unserer Gesellschaft besteht darin, dass in romantischer und sexueller Hinsicht jeder Mann mit einer Frau zusammenkommt und umgekehrt. Dies ist die einzig anerkannte Norm. In dieser Grundannahme werden aber homosexuelle, asexuelle, bisexuelle, transsexuelle oder pansexuelle Menschen ausgeklammert bzw. negiert.“ Es sah nicht so aus, als hätte sich die Handvoll Schüler vor ihm auf einen solchen Minivortrag nicht vorbereitet. „Schlagt das vielleicht noch mal zuhause nach, wenn ihr das unbedingt wissen wollt. Ich muss jetzt zur Konferenz. Und ihr in die Pause, also husch!“ Mit einer ausladenden Armbewegung scheuchte er die Kinder aus dem Klassenraum und hoffentlich auch auf den Schulhof hinaus.     Wenn es nur endlich zur Pause klingeln würde… Die Lautstärke war mal wieder unerträglich, aber er hatte Kopfschmerzen und keine Lust, eine seiner gefürchteten Wuttiraden loszulassen. Dann würde sein Schädel ganz mit Sicherheit platzen. Endlich, der Pausengong! Jetzt konnte er die Quälgeister endlich loswerden! „Herr Hiwatari, was ist homörotisch?“ Kai Hiwatari rieb sich die Nasenwurzel, indem er seine Brille nach oben schob. Nicht schon wieder so eine merkwürdige Frage. Warum wurde er eigentlich immer damit belästigt? Weil er der Neue im Kollegium war? Weil sie ihn testen wollten? Neulich hatten sie ihn nach Pansexualität gefragt. Wurden die Schüler an dieser Schule denn nicht aufgeklärt? Außerdem gab es doch das Internet, sollten sie sich da doch bei Professor Google schlau fragen. Aber nicht bei ihm! Allein das Wort, da fühlte er sich schon fast beleidigt. Es war ja nun nicht so, als würde er mit seiner Sexualität hausieren gehen, da niemanden anging, was er fühlte. Solche Fragen empfand er schnell als persönlichen Angriff, es ging ihm zu nahe und deswegen wurde er schnell bissig. Die Vergangenheit hatte ihm gezeigt, dass Angriff die beste Verteidigung war. „Das braucht ihr nicht zu wissen“, meinte Kai schließlich nur kurz angebunden und verließ, fast fluchtartig, das Klassenzimmer.   - - -   Mehrere Wochen waren vergangen. Kai hatte sich, was die Orientierung betraf, gut an der neuen Schule eingewöhnt. Mit den Kollegen verstand er sich auf beruflicher Ebene ganz gut. Er hatte vier weitere Fachkollegen für sein sprachliches Unterrichtsfach, Englisch, und zwei weitere für Informatik. Mit diesen verlief die Zusammenarbeit sehr gut, wie Kai fand, und gerade in Englisch waren es junge Kollegen, die, entgegen der Kollegen an seiner alten Schule, wo er sein Referendariat gemacht hatte, neue Methoden verwanden, um die Schüler zu motivieren. Allerdings, das musste Kai zugeben, spürte er auch manche Blicke innerhalb des Kollegiums, die ihn merkwürdig musterten. Und er glaubte auch, dass getuschelt wurde. Dabei kannte er gerade von denen nicht einmal die Namen. Er glaubte aber auch zu wissen, worum es dabei ging: Die Schüler waren nicht sondernlich gut auf ihn zu sprechen. Das hatte man ihm bereits zu Anfang seiner Ausbildung gesagt, und das war auch im Abschlussgespräch des Examen thematisiert worden: Seine Art, mit Schülern zu kommunizieren, war… nun, salopp gesprochen, sie ließ zu wünschen übrig. Fachlich machte er guten Unterricht, aber seine mürrische Art und Strenge führten dazu, dass er bei Schülern nicht sonderlich beliebt war. Das war aber nun seine Lehrerpersönlichkeit. Warum sollte er sich verstellen und mit den Schülern einen auf Kumpel machen? Er kannte seine Rolle – er war zugleich Berater, aber auch Richter. Er musste Noten vergeben und spätestens da half jede Kumpelei nichts mehr. Und auf diesen Spagat ließ er sich gar nicht erst ein. Kai wusste auch nicht so recht, ob er überhaupt beliebt sein wollte. Wenn er sich das an seinen beliebteren Kollegen ansah, dann hatte er gar keine Lust darauf. Viele der Lehrer und Lehrerinnen, die von den Schülern regelrecht geliebt wurden, hechteten regelmäßig aus der (wohlverdienten, wohlgemerkt!) Pause, das Butterbrot noch in der Hand, weil irgendwelche Schüler vor der Tür des Lehrerzimmers standen und weiß Gott welche Anliegen hatten. Besonders der junge Kunstlehrer mit den roten Haaren war ein perfektes Beispiel dafür, wie nachteilig die Beliebtheit war. Kai hatte ihn innerhalb der ersten großen Pause fünfmal aufstehen und zu Schülern gehen sehen. Und dass, obwohl in der Schule die interne Regelung galt, dass die erste große Pause den Lehrern zur Erholung vorbehalten war. Nicht ohne Grund hing an der Tür zum Lehrerzimmer ein Schild mit einem schlafenden Igel am Schreibtisch und der Bildunterschrift „1. große Pause – auch für Lehrer!“. Kai fand das Bild albern, aber sicher hatte sich ein Kunstlehrer das ausgedacht. Apropos Kunstlehrer. Jetzt in der zweiten Pause war er schon zweimal rausgerannt. Der Rothaarige, mit den vielen bunten Taschen. Kai wäre das ja viel zu anstrengend. Aber seinem Kollegen schien das nichts auszumachen. Woher nahm er bloß die Energie? Und immer diese gute Laune… furchtbar. Wie konnte man früh morgens und über den ganzen Tag verteilt so gut gelaunt sein? Ekelhaft. Wirklich. „Gibt es ein Problem?“ Erschrocken sah Kai auf. Wie war der Rothaarige so schnell zu ihm gekommen? Heute trug er einen so genannten man-bun. Früher nannte man das einfach Dutt, dachte Kai bei sich und schüttelte schnell den Kopf. „Sie sehen mich so böse an.“ „Nein, das hat nichts mit Ihnen zu tun, ich … war in Gedanken.“ Kai wandte sich ab und wieder seinem Kaffee zu.     Wow… Yuriy war sprachlos. Dieser Hammermörderblick – er hatte schon fieberhaft überlegt, wie er seinen Kollegen, Herrn… Hiwatari?...  Ja, so hieß er, soweit sich Yuriy richtig erinnerte - wie er Herrn Hiwatari dermaßen verärgert haben könnte, dass ihm ein solcher Blick galt. Wenn er diesen Blick bei seinen Schülern anwandte, dann war das eine sehr effektive „Waffe“, um für Ruhe zu sorgen. Yuriy war beeindruckt und ein wenig eingeschüchtert zugleich. Dennoch machte er sich nichts aus der kalten Abfuhr, die er gerade erfahren hatte. Herr Hiwatari schien eigenbrötlerisch zu sein, und vermutlich auch sehr introvertiert. Er war immer gefasst und um Professionalität bemüht. Yuriy hätte ihn aufgrund seines Auftretens eher in der Wirtschaft vermutet. Als Broker, oder Boss einer großen Firma oder… Na ja, Herr Hiwatari war jedenfalls jetzt Lehrer. Eigentlich bemühte Yuriy sich immer darum, mit jedem Kollegen ein wenig ins Gespräch zu kommen und jeden etwas kennen zu lernen, aber mit Herrn Hiwatari hatte das bisher noch nicht geklappt. Ihre Unterrichtszeiten waren zu unterschiedlich. War er im EG im Kunstraum, hielt sich Herr Hiwatari im 2. OG im Informatikraum auf. Und unterrichtete er Geschichte, war Herr Hiwatari… nicht da. Vermutlich hatte er dann Freistunden, in denen er sich in den Vorbereitungsraum zurückzog. Wie dem auch sei, er würde sicherlich noch genügend Zeit haben, Herrn Hiwatari einmal näher kennen zu lernen. Die nächste Lehrerkonferenz stand ja schon vor der Tür.   - - -   „Herr Nitrowski hat sich bei Übungskursen für die Skifahrt leider das Bein gebrochen“, verkündete der Schuldirektor auf der Lehrerkonferenz mit ruhiger Stimme. Jetzt musste ein Ersatz für den Sportlehrer her. „Gibt es jemanden unter Ihnen, der die Reisegruppe der Schüler begleiten will? Sonst müssten wir die Jahrgangsfahrt ins Skigebiet absagen. Das würde aber einen finanziellen Verlust für die begleitenden Lehrer als auch für die Schüler bedeuten, da die Buchung jetzt nicht mehr stornier werden kann, da der Unfall so kurzfristig passierte und das kein ausreichender Grund ist, die Buchung außerordentlich zu stornieren.“ Leises Gemurmel ging durch den Raum. Die Reaktion der Lehrer stand denen der Schüler, wenn in ähnlicher Situation, in nichts nach. „Wer von Ihnen kann denn zufälligerweise Skifahren? Oder kennt sich zumindest theoretisch damit aus?“ Wieder ein Raunen. „Wir könnten das ausnasen!“, rief plötzlich einer der Sportreferendare, die ohnehin mitfuhren. Und wie die Kinder tiipten sich mehrere Lehrer mit dem Zeigefinger an die Nase und riefen „Bin’s nicht!“ Das erntete Gelächter, wurde aber von einer Handgeste des Schuldirektors unterbunden. „Ich bitte um eine ernsthafte Gesprächskultur, liebe Kollegen. … Herr Hiwatari?“ Kai hatte nur zögerlich die Hand gehoben. Schulfahrten waren nichts für ihn. Auch aufgrund der Tatsache, dass die Schüler ihn sicher nicht dabei haben wollten. Und dass viele der Lehrer, die diese Schüler begleiteten, eben die beliebten waren, und er mit ihnen kaum ein Wort gewechselt hatte. Das Kollegium war einfach insgesamt zu groß. Kai musste sich aber auch eingestehen, dass er nicht der Typ war, der großartig Freundschaften unter Kollegen suchte, und deshalb mit nur wenigen gesprochen hatte. Mit denen nämlich, mit denen er zusammenarbeiten musste oder wollte. „Nun… in Anbetracht der… Notlage… biete ich an, mitzufahren? Wenn die Herren und Damen Kollegen einverstanden sind. Mein Ersthelferschein ist noch nicht allzu lange her, und… ich kann ganz gut… snowboarden.“ Das letzte sagte er etwas leiser. Er war zwar nicht schüchtern, aber das von sich preiszugeben war schon ein bisschen … neu für ihn. Seine Hobbies behielt er sonst lieber für sich. Auch wieder ein Negativpunkt für die Beliebtheitsskala. „Wirklich? Na das ist doch ganz hervorragend. Dann zeigen Sie mir doch mal ein paar Tricks, wenn die Kinder im Bett sind!“ Yuriys Stimme klang federnd und lebensfroh, so wie er selbst. Kais Blick fiel sofort auf ihn und blieb auf ihm ruhen. „Sie fahren auch mit?“ „In der Tat. Herr Nitrowski und ich haben uns ein Zimmer geteilt. Wir können die Einzelheiten später gemeinsam besprechen.“ Kai nickte nur. Sein eigener Wagemut hatten ihn gerade in Teufels Küche gebracht…   - - -   Es ging auf Weihnachten zu; die Fahrt war so angesetzt, dass Schüler und Lehrer nur noch 3 Tage zur Schule mussten, bevor es in die Winterferien ging. „Hinsetzen! Jetzt wird durchgezählt!“ Die Schüler setzten sich im Bus auf ihre Plätze. Es war kalt geworden, und auch in ihrem anvisierten Skihort hatte es sehr oft sehr viel geschneit in den letzten Wochen, so dass dort die optimalen Bedinungen für Pistenfahrer, Langläufer und Snowboarder herrschten. Kai freute sich insgeheim doch ein bisschen auf die Fahrt. Er mochte den Schnee. Der Winter war seine liebste Jahreszeit. Dann senkt sich immer eine Stille auf die Welt, alles ruht und Mensch und Tier kommen zur Ruhe. Momentan herrschte aber gar keine Ruhe. Zwar saßen die Schüler, schrien aber dennoch wild durcheinander. Kai quetschte sich durch den Schmalen Gang und zählte seine Schüler. „24, 87, 49, 51…!“, rief ihm ein Witzbold entgegen und seine Umgebung lachte. Aber mit einem Blick hatte Kai ihn zum schweigen gebracht. Beinahe hätte der freche Schüler ihn in seiner Zählung verwirrt, aber er hatte schon immer gut mit Zahlen jonglieren können. „48 Schüler…“, murmelte Kai und stiefelte wieder nach vorn zur Fahrertür des Busses. In dem Moment kam Yuriy nach oben in den Bus und strahlte ihn an. „Fehlt noch jemand?“ „Mit Ihnen nicht. .. Nur noch der Busfahrer.“ Yuriy grinste Kai ob des lahmen Witzes an. Der Versuch zählte ja. „Na dann wollen wir mal sehen, wo der ist!“ Beide Junglehrer verließen den Bus. „Ich bin übrigens Yuriy. Wenn wir schon das Abenteuer gemeinsam auf uns nehmen, und uns ein Zimmer teilen, können wir uns ja wenigstens duzen.“ „So lange es nicht ein Bett ist..“, meinte Kai. Yuriy stutzte und hob eine Augenbraue. Sofort liefen Kais Ohren rot an und er wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen. Das hatte er eigentlich denken, nicht sagen wollen! Aber Yuriy lachte auf. Kai fiel auf, wie sehr seine Augen leuchteten, wenn er sich freute. Heute trug er einen schlichten Pferdeschwanz. Der Man-Bun gefiel Kai irgendwie besser… Und der komische Kinnbart passten auch nicht wirklich zu Yuriy… „Kai!“, meinte er und streckte dem Rothaarigen die Hand entgegen. Dieser nahm sie, schüttelte sie und nickte. „Auf gute Zusammenarbeit!“   Die Fahrt dauerte lange. Die meisten Schüler waren eingeschlafen, als die Dunkelheit einsetzte. Yuriy und Kai hatten die beiden ersten Doppelsitze hinter dem Busfahrer für sich gebunkert. Zeitweilig hatte neben Yuriy das ein oder andere Mädchen gesessen, weil es über Reiseübelkeit geklagt hatte. Bei manchen hatte Kai mehr das Gefühl gehabt, dass sie einfach nur neben Yuriy sitzen wollten. Im Moment hatte Kai neben sich und auf seinem Schoß einige Bücher ausgebreitet und machte sich Notizen. Auch Yuriy war in Arbeit vertieft. Aber er hatte aufgehört, weil er müde geworden war und seine Konzentration nachließ. Stattdessen beobachtete er Kai, wie dieser konzentriert Seite für Seite studierte. „Planst du Unterricht, oder was machst du?“ Aufgeschreckt aus seinen Gedanken blickte Kai zu Yuriy herüber. Yuriy fiel auf, dass Kai viel jünger aussah, wenn er nicht immer so verbissen dreinschaute. Es juckte ihm in den Fingern. Während Kai zu einer Antwort ansetzte, holte Yuriy seinen Zeichenblock hervor. „… Auch. Ich bin das Programm noch einmal durchgegangen, und ich wollte noch mal die Theorie zum Langlauf und den Skiern lesen. Ich bin da nicht so firm, muss ich zugeben…“ Yuriy legte den Kopf schief. Da schien jemand zum Perfektionismus zu neigen. Gut, das konnte er verstehen, schließlich war er in seinen Kunstwerken auch sehr oft davon besessen. Aber in den meisten Fällen war er eher vom Typ „Egal. Ich lass das jetzt so“. „Learning by doing, würde ich sagen“, meinte er, während er die Konturen von Kais Gesicht festhielt. Mit raschen Zeichenstrichen nahm das Portrait, das er im Halbdunkeln anfertigte, Gestalt an. „Schon. Aber wenn sich ein Schüler verletzt… Ich habe mir noch das Prozedere in einem solchen Fall von unserer Homepage geladen und ausgedruckt. Für den Fall der Fälle. Wer macht eigentlich die Sicherheitsanweisung?“ „Frau Liewschenko. Das ist deine erste Studienfahrt, oder?“ „Ja“, gab Kai zu, und drehte sich zu Yuriy um, indem er sich an der Rückenlehne aufstützte. „Merkt man.“ „Als ob du schon so erfahren wärst, du bist doch kaum älter als ich!“ Das kam bissiger rüber als Kai es gemeint hatte. Yuriy schien gelassen. „Kommt drauf an, welches Erfahrungsgebiet du meinst….“, grinste er schließlich leicht anzüglich und zwinkerte ihm zu. Kais Magen machte einen Hüpfer. Er schluckte, brummte und wandte sich wieder ab. Yuriy schmunzelte. „Ich hab ein Praxisjahr vor dem Ref gemacht. Da hab ich zwei Klassenfahrten begleitet“, antwortete Yuriy auf die ungestellte Frage. Es machte ihm Spaß, Kai zu provozieren. Aber er wollte ihn auch nicht verärgern. Es gefiel ihm, mit dem Dunkelhaarigen zu reden. Die Unterhaltungen mit ihm hatten eine ganz eigene Dynamik, fand Yuriy. Er war mit seiner Skizze fertig. „Was hast du gemalt?“, fragte Kai und nickte auf den Zeichenblock. „Ach… nur Handübungen.“ Kai war zu sehr von dem verschmitzten Lächeln gefangen, als dass er die Antwort weiter hinterfragte.   - - -   Das Feuer im Kamin knisterte. Sie hatten alle einen langen, aufregenden und anstrengenden Tag hinter sich. Gestern, am ersten Morgen, hatten sie eine ausgiebige Winterwanderung durch die Schneelandschaft gemacht. Trotz der Minusgrade gefiel es den Jugendlichen. Einige hatten Schneeballschlachten angefangen, die von den Lehrern letztlich untersagt werden mussten ( - den Sportlehrern fiel das besonders schwer, und auch Yuriy hätte gerne an einer Schneeballschlacht teilgenommen). Da aber das Verletzungsrisiko durch versteckte Steinchen im Eis und Schnee ziemlich hoch war, stand Schneeballwerfen unter Strafe. Besonders Kai pochte auf Einhaltung des Verbots. Heute hatten vereinzelte Lehrer die Skier in einem Selbstversuch angeschnallt – und den Schülern einerseits bewiesen, wie mutig sie waren, andererseits, wie man NICHT Ski fuhr. Gegen Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, hatte sich der Jahrgang mit den Betreuungs- und Aufsichtspersonen im Gemeinschaftsraum zusammengefunden. Sie hatten Tische, Stühle, Sofas und Sessel aus dem Weg geräumt, um sich in einem Sitzkreis vor dem Kamin einzufinden. Die Gastwirtin verteilte heißen Kakao an alle. Kai nippte an seinem und wünschte sich, er könnte wenigstens einen „Schuss“ bekommen. So ein Zusammentreffen war nichts für ihn. Er saß neben seinem besten Schüler und Frau Liewschenko, die das morgige Tagesprogramm vorstellte. Als sie damit fertig war, sah sie Yuriy an. „Herr Ivanov, Sie als Künstler, Sie möchten doch sicher einen kulturellen Beitrag leisten und die Schüler zum Denken anregen, oder nicht? In dieser gemütlichen Runde?“ Yuriy verschluckte sich fast an seinem Kakao. „Uhmmmm…“ Er sah in die Runde. Hier verdrehten drei die Augen, andere wärmten sich fast apathisch an ihrer Tasse auf, wieder andere waren drauf und dran aufzuspringen und sich zur Toilette zu retten, um diesem schulischen Aspekt der Reise zu entkommen. „Es ist ja bald Weihnachten… Wie wäre es, wenn jeder von uns… etwas Weihnachtliches vorträgt… Ein Gedicht oder … ein Beitrag, was zur Stimmung passt? Wir haben es uns jetzt gerade so gemütlich gemacht, da wäre es doch schade, aufzuspringen und die Geselligkeit zu zersprengen.“ Bei seinen letzten Worten ruhte sein Blick auf den drei Schülern aus seinem Geschichtskurs, von denen er wusste, dass sie bei der nächsten Gelegenheit zur Wodkaflasche griffen. Apropos Wodka… Sein Zimmergenosse sah auch so aus, als könnte er einen guten Schluck vertragen. Yuriy unterdruckte ein Auflachen. Kurz trafen sich seine und Kais Blicke, und es war Yuriy, der den Blickkontakt abbrach, weil er sonst wirklich gelacht hätte. Kais aufkeimende Verwirrung stand ihm wirklich ins Gesicht geschrieben! „Und ich finde, Theresa beginnt“, beendete Yuriy seinen Vorschlag. Reihum wurden nun Gedichte vorgetragen. Meist waren es Vierzeiler. Das Gedächtnis der Jugend hatte stark nachgelassen. Ein paar Schüler berichteten auch nur, wie sie dieses Jahr Weihnachten feiern würden. Kai rutschte etwas unruhig von einem aufs andere Knie. Er hörte den Kindern aufmerksam zu, aber bei den albernen Gedichten, teils selbst ausgedachten Blödsinn, konnte er nichts Schönes finden. Neidvoll beobachtete er Yuriy dabei, wie der sich auf jeden Schüler einließ, und seine Herzlichkeit und Authentizität war allgegenwärtig. Und plötzlich war Kai selbst an der Reihe. Die Augen der Schüler ruhten auf ihm, teils neugierig, teils herausfordernd, teils gelangweilt. Vermutlich erwarteten sie wieder eine kurze, schroffe Antwort oder eine Abweisung des albernen Spektakels. Allerdings war Weihnachten Kais weicher Kern, immerhin fand das „Fest der Liebe“ in seiner Lieblingsjahreszeit statt. „Von einem deutschen Dichter…“, fing er an und erntete dafür verwunderte Blicke. Leise, aber betont, drang seine Stimme durch den Raum: „Draußen ziehen weiße Flocken Durch die Nacht, der Sturm ist laut; Hier im Stübchen ist es trocken, Warm und einsam, stillvertraut.   Sinnend sitz ich auf dem Sessel, An dem knisternden Kamin, Kochend summt der Wasserkessel Längst verklungne Melodien.   Und ein Kätzchen sitzt daneben, Wärmt die Pfötchen an der Glut; Und die Flammen schweben, weben, Wundersam wird mir zu Mut.   Dämmernd kommt heraufgestiegen Manche längst vergeßne Zeit, Wie mit bunten Maskenzügen Und verblichner Herrlichkeit.   Schöne Fraun, mit kluger Miene, Winken süßgeheimnisvoll, Und dazwischen Harlekine Springen, lachen, lustigtoll.   Ferne grüßen Marmorgötter, Traumhaft neben ihnen stehn Märchenblumen, deren Blätter In dem Mondenlichte wehn.   Wackelnd kommt herbeigeschwommen Manches alte Zauberschloß; Hintendrein geritten kommen Blanke Ritter, Knappentroß.   Und das alles zieht vorüber, Schattenhastig übereilt – Ach! da kocht der Kessel über, Und das nasse Kätzchen heult.“[1]*   Seine Zuhörer hatten gebannt gelauscht. Das letzte Verspaar erntete ihm einige Lacher. Kai drehte die Tasse mit dem nun mehr lauwarmen Kakao in seinen Händen. Er mochte dieses Gedicht. Und es war schön, es weitergeben zu können, vor allem, da er merkte, dass sein Vortrag auf angenehmes Interesse stieß. Das fühlte sich gut an. Frau Liewschenko erklärte die Runde für beendet. Kais Gedicht war ein schöner Abschluss gewesen. Die Schüler wurden auf ihre Zimmer geschickt. Aufgrund der Anstrengung des Tages gelang dies auch ohne große Mühe. Kai hatte sich von der Gastwirtin einen weiteren heißen Kakao eingießen lassen. Er stand auf der Veranda des Blockhauses, in dem sie übernachteten, und sah hinaus in das Schneetreiben. „Draußen ziehen weiße Flocken durch die Nacht…“, kam es plötzlich von links neben ihm. „Hm.“ Wieder hatte Yuriy sich angeschlichen und ihn erschreckt, was Kai sich aber nicht anmerken ließ. Der Rothaarige kramte in seiner Jackentasche, schraubte den Verschluss eines Flachmanns ab und goss Kai ungefragt einen gutgemeinten Schuss ein. „Du siehst aus, als könntest du einen Schluck vertragen.“ Dankbar nickte Kai und nahm einen kräftigen Schluck von dem mit Wodka, wie er feststellte, verfeinertem Kakaotrunk. Yuriy lehnte sich über den dicken Holzbalken, der die Veranda abschloss, und drehte sich auf den Rücken, um in den dunklen Himmel zu sehen. Kai beobachtete ihn dabei, sah, wie die Schneeflocken auf seiner weichen… bleichen, meinte er natürlich, bleichen… Haut schmolzen, wie sie sich in seinem fuchsrotem Haar verfingen. Er merkte gar nicht, dass er starrte, biss er sich selbst angestarrt fühlte. Yuriys Blick war sehr intensiv. Kai fröstelte. „Warum eigentlich das Gedicht?“ Kai nahm einen erneuten Schluck und sah wieder in die Nacht hinaus. Morgen würden sie sicher noch einmal 10-20 Zentimeter Neuschnee haben. „Es ist… gemütlich. Es hat etwas von dieser ursprünglichen Ruhe der Weihnachtszeit, es zeigt das Schwelgen in Erinnerung, verbunden mit kindlicher Fantasie, welche dem Tanz der Schneeflocken folgt“, erklärte er Yuriy dann bereitwillig. Yuriy nickte. Er wollte gerade antworten, als Kai noch etwas los wurde: „Und eine Katze kommt drin vor.“ Verwirrt sah der Rotschopf Kai an. „… Ich mag Katzen…“, murmelte Kai leise in seinen Kakaobecher, bevor er dessen Inhalt komplett leerte. Er wollte schon gehen, aber Yuriy hielt ihn auf, indem er eine Hand auf Kais Arm legte. „Die letzten drei Tage haben wir mehr Worte miteinander gewechselt, als in den letzten Drei Monaten zusammen. Ich fänds schade, wenn das aufhörte.“ Yuriy ließ ihn wieder los, aber Kai spürte noch immer die Schwere und Wärme dessen Hand auf seinem Arm. „… Ich auch.“     Sie machten es zu einem Ritual: für die restlichen Abende trafen sie sich nach der letzten Kontrolle der Betten und deren zugehörigen Schüler auf der Veranda. Yuriy hatte immer etwas Alkohol dabei, Kai fragte lieber nicht, woher er den hatte, und Kai brachte immer zwei Becher und entweder Kaffee, Tee oder Kakao mit, den er von der lieben Gastwirtin bekam, weil er sie nett darum bat. Sie saßen dann da, manchmal bis weit nach Mitternacht, genossen gemeinsam die Stille der Nacht oder redeten im gedämpften Ton über alles, was ihnen gerade durch den Sinn kam. Yuriy spürte, dass Kai in seiner Gegenwart auftaute. Zugegeben, vielleicht lag es auch ein bisschen am Wodka, der die Auflockerung begünstigte. Aber Kai war gar nicht so der Typ „Stock im Arsch“, wie einige ihrer Kollegen ihn bezeichneten. Er war witzig, von der trockenen Sorte, und Yuriy könnte schwören, dass Kai auch sehr derb werden konnte, wenn er wollte. Aber soweit waren sie in ihrer Bekanntschaft noch nicht. In seinen Augen befanden sie sich erst am Anfang einer sehr guten Freundschaft, und Yuriy freute sich schon sehr darauf, noch mehr von und über Kai zu erfahren. „Jetzt mal ehrlich, warum hast du dich entschlossen, die Fahrt hier mitzumachen? Doch wohl nicht, weil Not am Mann war. Das war doch nicht der einzige Grund, oder?“ Kai nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse, goss sich Tee nach und bedeutete ihm mit einer kurzen Geste, ihm Wodka-Nachschub zu gewähren. „Ehrlich gesagt… Wollte ich mal wieder raus in den Schnee. `S klang ganz verlockend… und die Gegend ist schön… und ich wollte mal wieder snowboarden.“ „Du hast dich aber bis jetzt noch kein Mal auf ein Brett gestellt“, stellte Yuriy fest. „`S war ja auch immer was zu tun! Schüler beaufsichtigen, den weiteren Verlauf der Fahrt planen, und Schüler beaufsichtigen…“ „Den letzten Punkt hattest du bereits.“ „`s ja auch n wichtiger Punkt!“ An dieser Stelle entschied Yuriy, dass sie genug Alkohol getrunken hatten. „Schnee hat was Tolles an sich“, fing Kai dann an, „weil er alles so leise macht. Wenn Schnee liegt, also lockerer Schnee, dann ist die Winterstille greifbar, als ob die Zeit still steht, weil alles ruht und sich erholt… real und metaphorisch. Darum ist der Winter… die schönste Jahreszeit.“ „Der Winter ist auch meine Lieblingsjahreszeit“, gestand Yuriy und lächelte ihn an. „Dann haben wir ja was gemeinsam!“, freute sich Kai aufrichtig, worüber Yuriy leise lachen musste. „Wir haben sogar noch was gemeinsam: Wir können beide snowboarden! Und morgen zeigen wir den Kiddies, dass man auch mit einem Brett viel Spaß haben kann. Die haben lang genug an Skiern geübt!“ Entschlossen stand Yuriy auf und hielt ihm die Hand hin. „Deal?“ Kai starrte ihn einen Moment nachdenklich an, dann ergriff er Yuriys Hand. „Deal!“   - - - „Wow, das war so … Wuuuusch, und dann hat Herr Hiwatari so –Wiuuuummm! gemacht und dann … voll krass!“ „Ja, und dann hat der das voll gut erklärt!“ „Sogar Herr Ivanov hat was gelernt!“ Yuriy lauschte den Gesprächsfetzen, die während des Abendessens durch den Speisesaal zu ihm ans Ohr drangen. Er grinste insgeheim und freute sich. Für ihn stand fest, dass Kai, auch wenn dieser selbst es nicht einsah, darunter litt, dass er auf der Beliebtheitsskala eher im unteren Drittel anzutreffen war. Das hatte sich nach dem heutigen Tag sicherlich sehr verbessert. „Mandarine?“ Er legte Kai das Obst aufs Tablett und setzte sich ihm gegenüber. Kai sah erschöpft aus, was weniger von der sportlichen Betätigung herrührte als davon, von so vielen Schülern mit Fragen bombardiert zu werden. Der plötzliche „Promiflash“ war wohl doch etwas zu viel für ihn gewesen. Stumm fing er an, die Mandarine abzupellen. Die Anspannung schien etwas nachzulassen. Kai war zwar immer noch alarmiert, aber nachdem sich Yuriy zu ihm gesetzt hatte, wurde er allmählich ruhiger. Als wäre der Kunstlehrer, der in seiner gesamten Art das totale Gegenstück von ihm selbst war, irgendwie sein Ruhepol, sein Anker. Ein sehr attraktiver, intelligenter, talentierter Anker… „Fuck.“ „Was?!“ Irritiert starrte ebenjener Anker Kai an. Hastig blicke er sich um, ob noch andere außer Yuriy seinen verbalen Klogriff mitbekommen hatten. Schien nicht der Fall zu sein. „Entschuldige mich. Ich… war noch nicht duschen.“ Fluchtartig verließ er den Speisesaal und ließ einen verwirrten Kunst- und Geschichtslehrer zurück.   Für Kai stand spätestens jetzt fest, dass er einen „Crush“ für seinen Kollegen entwickelt hatte. Und er hasste sich dafür. Das würde alles kaputt machen. Er würde schon wieder umziehen müssen, sich eine neue Arbeitsstelle suchen müssen, weil Yuriy sicher alle anderen Kollegen auf seine Seite zog, wenn Kai es wieder vermasselte… so, wie es mit Takao gewesen war… Fuck, er wollte doch nicht an seinen Ex denken! Und vor allem wollte er nicht die Freundschaft riskieren, die sich zwischen ihm und Yuriy anzubahnen schien. Er war einfach nicht beziehungsfähig. Außerdem wusste er auch nicht, ob Yuriy überhaupt auf die Art an ihm interessiert war, wie Kai an ihm. Mit diesen Gedankenstrudeln trat Kai in die Dusche ein und versuchte sich selbst den Kopf gehörig zu waschen – wortwörtlich als auch metaphorisch. Als er dampfend aus der Duschkabine stieg, war er mit sich selbst wieder soweit ins Reine gekommen, dass er sich befähigt fühlte, Yuriy gegenüberzutreten und sich „ganz normal“ zu verhalten. Er musste ja nur noch heute Abend überstehen, dann würden sie morgen Nachmittag abreisen. Heute Abend war nur noch eine interne kleine Feier der Lehrkräfte und Betreuer, sobald die Schüler alle sicher auf ihren Zimmern waren. Kai hielt sich ein wenig zu lange mit der Zimmerkontrolle auf. Er zögerte ein Zusammentreffen unbeabsichtigt beabsichtigt hinaus. Auch, weil ihm derlei Festivitäten eher unangenehm waren. Er hatte sich nie dazugehörig gefühlt. Meistens, weil er nie irgendwo dazugehörte. Als ewiger Außenseiter lernt man, sich abzukapseln… „Da sind Sie, Herr Hiwatari! Nun kommen Sie, kommen Sie, wir fangen doch nicht ohne Sie an!“ Herr Atou, ein Sportlehrer, zog ihn in den Gemeinschaftsraum, der erfüllt war von Stimmengewirr und mehr oder weniger gedämpften Unterhaltungen und Gelächter. Hier angekommen, vielmehr verschleppt, wurde er auch schon wieder stehen gelassen. Wie üblich. Dennoch sondierten seine Augen den Raum in der Hoffnung, einen vertrauten Rotschopf zu entdecken. Yuriy schien aber nicht da zu sein. Also machte Kai das in seinen Augen einzig Richtige: Er schlug den direktesten Weg zum Punschstand ein. Nach dem zweiten Glas war es bereits erträglicher. Er stellte sich in einen Kreis dazu und gab nur hin und wieder zustimmende Laute von sich. So schien er wenigstens ansatzweise in der Runde akzeptiert. Aber Kai war erschöpft. Der Tag dauerte schon zu lange. Die Gespräche machten ihn schwummrig. Er wollte nur noch ins Bett, nichts mehr sehen und schon gar nichts mehr hören. Aber wenn er sich jetzt als erster verabschiedete, würde das wieder Gerede geben… und er hatte gehofft, durch die Teilnahme an der Fahrt wenigstens etwas an Gerüchten eingedämmt zu haben. Was auch immer für Gerüchte im Umlauf waren. Zumindest hatte er bewiesen, dass er ein Teamplayer war und auch einen fürs Team einstecken konnte. „MISTELZWEIG!!!“, schrie plötzlich irgendjemand und plötzlich waren alle Augenpaare amüsiert auf ihn gerichtet. Und auf die Person neben ihm. Er drehte seinen Kopf leicht. Neben ihm stand Frau Liewschenko, mit geröteten Wangen, ob vor Freude, Scham, oder Alkohol gerötet, konnte er nicht sagen. Jemand hatte mit einem Stock oder einer Angel wahllos Mistelzweige über verschiedene Kollegen gehalten, und jetzt war auch er Opfer dieses Späßchens geworden. Kai wurde ganz anders. Er klammerte sich an seinen Punsch und suchte fieberhaft nach einer plausiblen Ausrede, an der Tradition nicht teilzunehmen, die ihn aber nicht als Aussätzigen stigmatisierte. Ringsum ertönten Singchöre, die „Küssen, Küssen!“ proklamierten. Kai wollte nicht. Er wollte weder seine Kollegin noch sonst jemanden küssen, nicht vor so vielen Menschen, nicht hier, nicht so. „Hey… hört mal… das ist nicht fair, ja? Offensichtlich ist Herr Hiwatari mehr als unbehaglich zumute und möchte das nicht. Wie wäre ein anders Mistelpärchen?!“, schlug Yuriy vor. Kai war für einen Moment unendlich erleichtert. Doch dem Vorschlag folgten Buhrufe und scherzhaft gemeinte Seitenhiebe. Also ergriff Yuriy die Initiative, griff seine Kollegin um die Hüfte und drückte ihr einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Lippen. Kai sah beschämt zur Seite und auf den Boden, während die übrigen Feiernden Yuriy und den Mistelzweigkuss feierten. Schließlich löste sich der Pulk um Kai auf. „Hey.. Alles okay?“ Kai wandte sich ab, drehte Yuriy den Rücken zu, weil er nicht wollte, dass Yuriy die wütenden und ohnmächtigen Tränen sah, die er nicht länger zurückhalten konnte. Die Art, wie er sich dabei verkrümmte, erweckten Yuriys Beschützerinstinkte ein weiteres Mal. Kai spürte nur, wie jemand ihm eine Jacke über die Schulter legte und ihn am Arm nach draußen führte. Er war einer Panikattacke nahe. Mittelpunkt peinlicher Eskapaden zu sein war nicht seine Stärke. Dass außerdem unbegründete Eifersucht in ihm aufgeflammt war, als Yuriy ihre Kollegin geküsst hatte, trugen ebenfalls nicht dazu bei, dass Kai rational denken konnte. „Hier.“ Wortlos trank Kai von dem ihm dargereichten Getränk. „Das ist ja nur Tee!“ Er hörte Yuriy schnaubend lachen. „Du scheinst mir genug Alkohol gehabt zu haben. … Was war da eben los?“ Kai zuckte mit den Schultern und zog die Jacke wieder enger an sich. „…bin nicht so der Partyknutscher…“ „Hätte ich jetzt gar nicht vermutet.“ Der Sarkasmus lauerte breit auf Yuriys Aussage. Das machte Kai irgendwie wütend. „Ich küsse nur Menschen, die ich liebe, okay? Mag für deinen künstlerischen Freigeist schwer zu begreifen sein, ist aber so!“ „Wow. Direkt da, wo’s weh tut“, bemerkte Yuriy nur trocken. Er musste das jetzt aus Kai herauskitzeln, musste ihn provozieren, denn Yuriy wusste, dass Kai das sonst nur in sich hineinfressen würde. Und das war für keinen von ihnen gut. Also stellte Yuriy sich Kai. „Mein künstlerischer Freigeist ist also für dich… ein Flittchen? Because I kiss and don’t tell?!“ „… So war das nicht gemeint…“ Kai rückte ein Stück von Yuriy weg. Sie saßen zu nah nebeneinander. Aber Yuriy rückte immer wieder auf, bis Kai am Ender der Holzbank angekommen war. Jetzt aufzustehen kam ihm aber auch albern vor. Trotzig hielt er schließlich Yuriys Blick stand. Sie hatten das Aufrückspiel mehrere Minuten schweigend gespielt. Kais Herz klopfte laut. Er war aufgeregt. Einerseits wütend, auf sich, und auf Yuriy wegen dessen Dreistigkeit, andererseits war Yuriy ihm so nahe, dass er seine Körperwärme spürte. Und sein alkoholvernebeltes Hirn war insofern lahmgelegt, dass es sich, Hand in Hand mit seinem Herzen, nach Berührung und körperlicher Nähe sehnte. Eben all jenem, dem er in der Dusche noch abgeschworen hatte. Yuriy suchte indes in Kais Gesicht Anhaltspunkte nach Ablehnung, fand aber nur leichte Verwirrung. Er spürte die sexuelle Anspannung, die sich zwischen ihnen immer weiter aufzuladen schien. Beinahe zeitgleich packten sie einander, Kai Yuriy am Kragen, Yuriy umfasste mit seinen großen Händen Kais Gesicht. Ihre Lippen krachten hart aufeinander, mussten sich erst finden. Ihr erstes Zusammentreffen war stürmisch, kraftvoll und unnachgiebig von beiden Seiten. Sie lösten sich für einen kurzen Moment, sahen einander in die Augen – und begannen von vorn, diesmal sanfter, dennoch voller Verlangen. Kai glaubte, noch nie in seinem Leben so geküsst worden zu sein. Yuriy war sich dessen sicher, dass Kai für ihn der erste mit solcher Leidenschaft war. „Heißt das etwa, du liebst mich?“, fragte Yuriy atemlos. „Halt die Klappe und küss mich noch mal, dann überleg ich mir das vielleicht!“ In dem dritten Kuss lag ein Versprechen. Und Schnee fiel leise auf die Welt herab, hüllte die Natur in Schweigen.   [1] Heinrich Heine – Altes Kaminstück Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)