Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 21: Ein niederschmetternder Pokédexeintrag (VIP und so) --------------------------------------------------------------- Ich lasse Ruths Freunde hinter mir und laufe so schnell es der weiche Untergrund zulässt an dem Flegmonbrunnen vorbei, den Weg entlang und biege schließlich zu den Wiesen vor der Höhle ein, die sich wie ein kleiner Berg im Hintergrund erhebt. Schwer atmend komme ich zum Stehen, während irgendwo in der Ferne der Donner rollt. Louis hat mich nicht gesehen. Er ist in einen Kampf vertieft und hat die Lippen zusammengepresst. Sein Gegner ist ein wildes Griffel, sein violettes Fell ist pitschnass und es hüpft auf seinem handförmigen Schwanz auf der Stelle. Keine Trainer weit und breit. „Sie hat mich reingelegt…“, murre ich leise, aber letztendlich hat sie sich selbst ins Fleisch geschnitten, also ist es mir egal. Ich will Louis schon etwas zurufen, aber er hat mich immer noch nicht gesehen und der immer stärker werdende Regen blendet die meisten Geräusche aus. „Los, Ethan!“, ruft Louis und wirft seinen Pokéball in die Höhe. Ich verstecke mich hinter einem Baum und schaue dem Vorgehen genau zu. Ich weiß schließlich immer noch nicht, was für Pokémon er hat. Der rote Lichtblitz verglüht und ich senke meinen Blick auf den Boden, wo sein Pokémon sich materialisiert hat.  Lidlose, weiße Augen schauen mir entgegen, als das Karpador hilflos mit den Flossen schlackert und sich dabei mit Schlamm bedeckt, bis seine roten Schuppen kaum noch sichtbar sind. Ich blinzele. Immerhin ist damit das Mysterium um seine vielen Niederlagen geklärt. Ethan platscht im Matsch herum und gibt röchelnde Laute von sich. „Ethan, Tackle!“, ruft Louis seinem Pokémon zu. Na, immerhin kann es Tackle. Das war nicht selbstverständlich. Karpador holt Schwung, indem es mit dem Schwanz mehrfach auf den Boden schlägt, dann drückt es sich ab, fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet in Griffels Gesicht. Griffel kreischt und schlägt mit den kleinen Händen nach Ethan, doch der ist schon längst wieder zu Boden gefallen. Dann keckert es und katapultiert sich in Richtung Karpador, das jetzt hilflos am Boden liegt. Seine Kratzfurie trifft Ethan mitten im Gesicht und Karpador heult verzweifelt auf. „Gut, komm zurück. Los, Winry!“, Karpador verschwindet in dem roten Lichtstrahl und statt ihm materialisiert sich ein extrem langes, extrem flauschiges Pokémon vor Louis´ Füßen. Auch wenn es mit der Flauschigkeit bald vorbei ist, denn der Regen drückt sein braun und beige gestreiftes Fell eng an den schlanken Körper. Das Wiesenior schüttelt sich und fiept leise, dann setzt es sich auf seine Hinterbeine und schaut aufgeregt zu Louis. Griffel betrachtet es belustigt, dann springt es wieder nach vorne und greift dieses Mal Wiesenior mit seiner Kratzfurie an. Winry winselt, fängt sich aber wieder genauso schnell wieder. „Winry, du auch Kratzfurie!“, ruft Louis und Wiesenior schießt nach vorne und kratzt Griffel mehrmals durch das kleine Affengesicht. Und so geht es weiter. Wieder und wieder attackieren sich die beiden mit ihren Kratzfurien, bis Griffel schließlich erschöpft zu Boden sinkt. Wiesenior wirkt noch relativ fit, aber Louis gibt ihr trotzdem sicherheitshalber einen Trank. Danach sieht sie wieder frisch aus und fiept glücklich. Dann klettert sie sein Hosenbein hoch und bleibt über seine Schulter guckend an seinem Rücken hängen, ihr langer Schweif mehrfach um seinen Bauch gewickelt. Längenmäßig ist sie größer als wir beide. Ich nutze den Moment, um aus meinem Versteck herauszukommen und gehe auf Louis zu. Als ich näher komme, dreht er sich überrascht um. „Abby! Seit wann bist du hier?“, fragt er misstrauisch und ich zucke die Achseln. „Seit ein paar Minuten“, sage ich vage und Louis schaut betreten zur Seite. „Tja, dann weißt du ja, wie es um mich und den Orden steht.“ „Ach was“, sage ich mit mehr Überzeugung als ich fühle. „Dein Karpador kann immerhin schon Tackle. Wenn du es weiter trainierst, hast du bald das coolste Garados überhaupt.“ „Das habe ich auch gedacht, als ich es gefangen habe, aber das Training ist so mühsam…“ Er schaut mich verzweifelt an und Winry legt den Kopf schief. „Ich trainiere ihn jetzt schon so lange, jeden Tag und er wird einfach nicht stärker! Als er Tackle gelernt hat, war ich total euphorisch, aber er ist immer noch genauso nutzlos wie vorher.“ „Hast du mal seinen Level überprüft?“, frage ich und er schüttelt den Kopf. „Ich habe nur das ganz alte Modell. Das zeigt dir den Level nicht an.“ „Soll ich mal?“, frage ich und Louis zuckt die Achseln, dann ruft er Ethan aus seinem Pokéball. Ethan landet platschend auf dem Boden, seine Glubschaugen wandern von Louis zu mir und wieder zurück. Dann nimmt er mit seinem Schwanz Schwung – und katapultiert sich genau in Louis´ Gesicht. Louis schreit und schlägt unbeholfen nach seinem Pokémon, doch Ethan liegt längst wieder auf dem Boden und keucht ihn wütend an. „Er wird mir nie vergeben…“, flüstert Louis und schaut Karpador mit offenkundigem Schmerz in der Stimme an. „Ich weiß nicht mal, ob ich ihn wirklich entwickeln soll. Als Karpador platscht er mir ins Gesicht, aber wenn er erst mal ein Garados ist, könnte er mich genauso gut aufessen.“ „Tja, da ist was dran“, sage ich ohne zu überlegen und Louis wirft mir einen wütenden Blick zu. „Danke auch. Sehr hilfreich.“ „Sorry.“ Wir betrachten Ethan für eine Weile, dann krame ich meinen Pokédex hervor und halte ihn auf Karpador. „Karpador, das Fisch-Pokémon“, schallt es aus dem Pokédex. „Typ Wasser. Die urzeitlichen Vorfahren dieses Pokémon waren sehr viel stärker als ihre heutigen Nachkommen. Es ist nutzlos, was Kraft und Geschwindigkeit angeht, deshalb ist es als das schwächste und erbärmlichste Pokémon der Welt bekannt. Man sollte niemals große Hoffnungen auf Karpador setzen, da es nur platschen kann. Level 19. Spezialfähigkeit: Wassertempo.“ „Tja“, sage ich und Louis lässt den Kopf hängen. „Das ist noch schlimmer, als ich erwartet hatte.“ „Aber hey, Level 19! Es könnte sich jeden Moment entwickeln“, sage ich aufmunternd und unsere Blicke wandern zu Karpador, das wild platschend im Schlamm liegt und uns mit seinen großen, lidlosen Augen anstarrt. „Naja, nicht jeden Moment“, verbessere ich mich und Louis seufzt, bevor er sein Pokémon zurückruft. „Ich bin fertig mit Trainieren für heute“, sagt er mürrisch und ruft auch Winry zurück, die protestierend fiept. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Es ist noch nicht mal vier Uhr und außer Trainieren fallen mir nicht viele Dinge ein, die man in Azalea unternehmen kann. Zumindest nicht bei diesem Wetter. Wie um meine Gedanken zu bestätigen, höre ich wieder das Donnergrollen, dieses Mal näher. „Wir können Schwester Joy fragen, ob sie uns ein Kartenspiel ausleihen kann“, schlage ich vor und Louis zuckt gleichgültig die Achseln. Ich hätte das mit dem Pokédex nicht vorschlagen sollen. Auf dem Weg zurück zum Pokécenter berichte ich Louis knapp von Ruths Herausforderung und Niederlage. Das zaubert immerhin ein Grinsen auf sein Gesicht. „Geschieht ihr Recht, dieser Zicke“, sagt er mit einem gehässigen Lächeln. Die ersten Häuser Azaleas kommen in Sicht und ich bin erleichtert, dass die übrigen Trainer verschwunden sind. „Da ist nur etwas, das mich beunruhigt…“, murmele ich und denke an die Warnung des Teenagers mit dem wölfischen Grinsen zurück. „Was meinst-“ „Himmel, Kinder, kommt schnell rein!“, ruft Schwester Joy uns wild winkend aus dem Pokécenter zu. Sie steht einige Schritte vor der Tür und ihre pinken Zopfe hängen schwer auf ihre Schultern. Sie ist völlig durchgeweicht. Louis und ich im Übrigen auch. Wir beginnen zu rennen, was in diesem Matsch keine leichte Angelegenheit ist und als Louis stolpert, schaffe ich es gerade so, ihn vor einem sehr schlammigen Sturz zu bewahren. Gemeinsam schlittern wir in Richtung Pokécenter. „Was ist denn?“, keuche ich, als wir endlich im Trockenen sind und Schwester Joy uns in Decken einwickelt. „Ihr müsst eure nassen Klamotten ausziehen“, befiehlt Joy streng und ich werfe einen schnellen Blick zu den Tischen. Ruth ist nirgends zu sehen, aber Markus und Nick sitzen dort in trockenen Kleidern und brüten über etwas, das von weitem wie Hausaufgaben aussieht, aber das wäre lächerlich. Kein Pokémontrainer macht Hausaufgaben. „Wir ziehen uns gleich oben um“, beruhige ich Joy und sie reibt uns über die Arme. „Was ist denn plötzlich los?“, fragt nun auch Louis, der immer wieder misstrauisch zu unseren beiden Zuhörern hinüber schaut. Meine Meinung. Der Regen war schließlich eben auch schon da. Er ist etwas stärker geworden, aber sonst? „Luna ist eben vorbei gekommen“, erwidert Joy und ich schaue sie überrascht an. „Sie hat vor einem schlimmen Sturm gewarnt, der in den nächsten Minuten hier sein wird.“ „Ist sie jetzt auch noch Wetterfrosch?“, frage ich und Louis setzt zu einer Antwort an, aber in genau dem Moment kracht es und das ganze Pokécenter wird in gleißendes Licht gehüllt. Ich drehe mich ruckartig zu einem der Fenster und sehe gerade noch den Blitz, der irgendwo in den Wäldern eingeschlagen hat. Gefährlich nahe der Stelle, an der Louis und ich noch vor wenigen Minuten standen. „Ich nehme alles zurück“, wispere ich voller Staunen und schaue dabei zu, wie der nächste Blitz etwas weiter links einschlägt, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Das Unwetter ist direkt über uns. „Ihr solltet euch umziehen“, sagt Schwester Joy und schiebt Louis und mich in Richtung Treppe. „Wenn ihr gleich runter kommt, gebe ich allen eine heiße Schokolade aus.“ Louis Augen beginnen zu glühen und er läuft die Treppe schneller hoch, als ich Pokémoncenter sagen kann. Ich schaue ihm einen Moment lang belustigt nach, dann folge ich. Als ich oben ankomme, steckt der Schlüssel noch immer im Schloss und ich trete mit zusammen gekniffenen Augen ein, um nichts zu sehen, was ich nicht sehen soll. Wie erwartet steht Louis halbnackt in unserem Zimmer und wühlt in seinem Rucksack nach frischen Klamotten. Er schaut nicht mal auf, als ich reinkomme, also mache ich mich ebenfalls auf die Suche nach frischen Kleidern. Ich ziehe mein einzelnes frisches Top hervor und begutachte es kritisch, dann lege ich es neben mir auf einen Stapel. Als nächstes suche ich nach meinem langärmligen Shirt – vergebens. Es ist ja noch in der Wäsche und als ich heute Mittag nachgeguckt habe, war es noch nicht mal ansatzweise trocken. Warum müssen die Bonzenkinder auch haufenweise Markenklamotten mitbringen, die ich dann waschen muss? „Ehm, Louis?“, frage ich, aber er schaut mich nicht an. Ich seufze, verschwinde im Bad und ziehe meine nassen Sachen aus. Die Hoodie ist komplett durchgeweicht, keine Chance. Der Pulli ebenfalls und meine Shorts… naja. Abgesehen davon ist alles schlammbespritzt. Ich ziehe schnell mein Top über, dann mache ich die Badezimmertür auf. „Louis“, sage ich mit aller Ernsthaftigkeit, die ich zustande bringen kann. „Ich brauche ein paar von deinen Klamotten.“ Das erweckt nun endlich sein Interesse. Er richtet sich auf, ohne sich umzudrehen. Als er schließlich zu mir schaut, grinst er mich mit diesem unverschämt perversen Zahnlücken-Grinsen an. „Geht doch auch so“, sagt er und ich verschränke die Arme vor der Brust. Wieso hab ich nur schon alle Sachen ausgezogen? Weil er dich eh schon in Unterwäsche gesehen hat, Abby, reg dich ab. Tief durchatmen und böse gucken. „Louis“, sage ich in lang gezogenem, drohenden Tonfall, aber Louis muss meine glühenden Wangen bemerkt haben, denn er presst die Lippen zusammen, um sich einen Lachanfall zu verkneifen und wendet sich ganz schnell wieder seinem Rucksack zu. Dann wirft er mir einen roten Strickpullover und eine Jeans zu und ich schlüpfe schnell hinein. Der Pulli passt gut, aber die Hose ist mir etwas zu lang. Macht nichts. Ich krempele die Hosenbeine ein paar Mal um, dann ziehe ich meinen Gürtel wieder an und so fest ich kann zu, damit die Jeans nicht rutscht. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigt meine Vermutung: Ich sehe ziemlich bescheuert aus. Aber immerhin sind die Sachen frisch und trocken, auch wenn sie nach Gras und Erde riechen. Als Louis sich zum zweiten Mal umdreht, hat er sich ebenfalls umgezogen. „Steht dir“, sagt er und zwinkert mir zu. Ich gehe zur Tür, schlage ihm im Vorbeigehen noch auf den Hinterkopf und drücke dann die Türklinke nach unten. Dann sehe ich ihn betont ungeduldig an und er hastet an mir vorbei und die Treppe runter. Ich seufze belustigt und folge ihm. Als wir unten ankommen, stehen bereits zwei dampfende Becher für uns bereit. Leider hat Joy sie zu den beiden Jungs gestellt. Nick stört mich nicht, aber Markus ist auf Ruths Seite und ich bezweifle, dass Nick sich so geben wird wie gestern Nacht, als wir alleine waren. Denn obwohl ich Ruth besiegt habe, ist er immer noch Teil ihrer Gruppe. Wir geben schnell noch unsere Pokébälle bei Joy ab und lassen sie heilen, dann wenden wir uns wieder dringlicheren Problemen zu. Louis zögert, aber die Anziehungskraft der Schokolade ist zu groß für ihn, denn er setzt sich kurzerhand zu den beiden Anderen auf die Bank und hebt die Tasse mit einer ehrfürchtigen Bewegung zu seinem Mund. Dann schließt er die Augen und schlürft vorsichtig an dem heißen Getränk. Ein Ausdruck purer Glückseligkeit breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich muss unwillkürlich schmunzeln. Ich habe Tee, er hat Schokolade. Ich werfe Joy noch einen flehenden Blick zu, doch sie nickt nur lächelnd in Richtung Tisch, auch wenn das Lächeln etwas Eisiges hat. Ich seufze und lasse mich neben Nick auf die Bank sinken, dann lege ich meine Hände auf beide Seiten der Tasse. Die Wärme zieht direkt durch meine Hände meine Arme hinauf und ich atme glücklich aus. Dann werfe ich einen neugierigen Blick auf die Unterlagen, über denen die beiden bis eben noch gebrütet haben. Jetzt schaut Markus demonstrativ aus dem Fenster und Nick schaut mich entschuldigend und dankbar zugleich an, wenn er glaubt, unbeobachtet zu sein. Bei den Unterlagen handelt es sich um Briefe oder Rechnungen wie es scheint, jedenfalls sind es haufenweise Text, Zahlen und Tabellen. Nichts für mich. Ich schaue zu Louis, aber der ist voll und ganz auf seine Tasse konzentriert und trinkt seine Schokolade in tiefen, regelmäßigen Schlucken. Mein Blick gleitet weiter zur Treppe. Wo ist Ruth? Verunsichert und gelangweilt nehme ich ebenfalls einen Schluck von meinem Tee. Er ist brühend heiß und ich verbrenne mir die Zunge, aber der feurige Schärfe ist absolut himmlisch. Wie die anderen beobachte ich das stürmische Treiben durch das Fenster neben unserer Sitzecke. Plötzlich höre ich Schritte. Ich bin nicht die einzige. Zeitgleich mit mir drehen Markus und Nick den Kopf in Richtung Treppe, deren Knarzen Ruths Ankunft verrät. Sie trägt jetzt einen dunkelblauen Rollkragenpullover, der ihre Figur stärker betont als das stylische T-Shirt von gestern und darunter eine ebenfalls knallenge Jeans. Ihre Füße stecken in gefütterten Stiefeletten und ihr kurzes Feuerhaar liegt in wohlgeordneten Strähnen auf ihrem Kopf. Als sie mich sieht, verfinstert sich ihr Blick und ihre schwach geröteten Augen huschen zu Joy hinüber. Als die Schwester ihr zulächelt, erwidert sie die Geste mit sichtlicher Mühe. Dann geht sie zu ihr an die Theke und bestellt sich einen Cappuccino. Nur nicht das gleiche Getränk wie das gemeine Volk, schon verstanden. Ich wende den Blick ab und schaue wieder aus dem Fenster. Ein Seufzen gleich neben mir schreckt mich hoch und ich schaue genervt zu Ruth hoch. Ihre Augen sind wirklich rot. Hat sie geweint? Sie schaut noch einmal zu Joy hinüber, die uns allesamt mit drohender Freundlichkeit beobachtet. „Würde es dir etwas ausmachen, den Platz mit mir zu tauschen, Abby?“, fragt sie mit kalter, rauer Stimme und lächelt mich steif an. Sie hätte mir genauso gut das Gesicht abbeißen können. „Ich würde gerne bei meinen Freunden sitzen.“ Ich stehe ohne ein Wort auf und nehme meine Tasse mit, während ich mit der anderen Louis von seinem Platz ziehe. Er scheint Ruths Ankunft kaum bemerkt zu haben. Dann gehen wir zu Schwester Joy, leihen uns ein Kartenspiel aus und verschwinden damit oben in unserem Zimmer. Ich schaue kurz auf mein Handy. Halb fünf. Noch knapp eine Stunde, bis meine Abendschicht beginnt. Fast freue ich mich auf die Arbeit, dann habe ich immerhin etwas zu tun. Den restlichen Nachmittag verbringen Louis und ich damit, unsere heißen Getränke zu schlürfen und Karten zu spielen. Louis verliert am laufenden Band, aber wenn er mich einmal schlägt, dann reißt er die Arme in überbordender Begeisterung in die Luft und vollführt kleine Freudentänze auf dem Bett. Irgendwie ist es niedlich. Pünktlich um halb sechs verschwinde ich nach unten, kümmere mich um die Wäsche, das Abendessen und wische das Erdgeschoss. Ruth wirft mir bei jeder Gelegenheit einen eisigen Blick zu, aber irgendwann scheint ihr selbst das zu doof zu werden und sie vertieft sich in leise Gespräche mit ihren beiden Begleitern. Nicks Gesichtsausdruck ist nur schwer zu deuten, aber was immer sie mit den beiden bespricht, es scheint ihm nicht zu gefallen. Ob es um mich geht, kann ich nicht erkennen, denn Ruth bedenkt mich zu diesem Zeitpunkt bereits mit weniger Beachtung als die Luft um sie herum und mir kann das nur Recht sein. Als ich den dreien ihr Abendessen serviere, eine herzhafte Käselauchsuppe mit dicken Scheiben Brot, schweigen sie so lange, wie ich anwesend bin. Und als ich mich mit meinem eigenen Teller zu Louis an den Tisch auf der anderen Seite des Centers setze, kann ich außer einzelnen Wortbrocken nichts mehr verstehen. Ich stecke mir gerade einen Löffel Suppe in den Mund, da kommt Schwester Joy vom Tisch der anderen drei zu uns hinüber und bedankt sich bei mir für meine Hilfe. Dann faltet sie die Hände vor ihrer weißen Schürze und lächelt uns mit schief gelegtem Kopf an. „Was habt ihr zwei denn morgen vor?“, fragt sie und ich kann Ruths Blick in meinem Nacken spüren. „Trainieren, vermutlich“, sagt Louis, wenn auch wenig begeistert. Dabei hat er es doch jetzt fast geschafft. Ein Level noch, und er ist bereit für Kai. Ein Garados wird seinem Team einen gewaltigen Pusch geben. „Und du?“, wendet Joy sich an mich und ich stecke mir ein Stück Brot in den Mund, um etwas mehr Nachdenkzeit zu gewinnen. „Vielleicht schaue ich mich mal in der Stadt um. Wenn das Wetter gut ist, kann ich ja den Flegmonbrunnen unter die Lupe nehmen.“ „Sei dann aber vorsichtig“, empfiehlt sie und zwinkert mir zu. „Du solltest wasserdichte Schuhe mitnehmen, das ist sicher.“ „Werde ich.“ Ich tunke noch etwas Brot in meine Suppe und schaue es Gedanken verloren an. Dann fällt mir etwas ein. „Schwester Joy?“ „Ja, Abby?“ „Haben sie eigentlich eins dieser Videotelefone? Ich würde gerne meine Schwester anrufen, ich habe sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.“ „Ich glaube, wir haben noch ein altes im Nebenraum“, überlegt Joy laut und legt nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Aber ich weiß nicht, ob es noch sehr zuverlässig ist.“ „Wir probieren es einfach aus.“ „Gut, ich schließe es schnell an. Gegen sieben Uhr sollte es laufen.“ Sie dreht sich um und geht. „Warum willst du deine Schwester anrufen?“, fragt Louis verwirrt und wischt mit seinem Brot den Rest Suppe aus seinem Teller. Dann stopft er es sich in den Mund und beginnt, zufrieden darauf zu kauen. „Ich muss sie da etwas fragen…“   Eine halbe Stunde und einige SMS später sitzen Louis und ich in dem kleinen Kommunikationsraum des Pokécenters vor einer geräuschvoll laufenden Maschine, die wie ein Spielautomat mit eigebautem Computerbildschirm und Telefontasten aussieht. Ich gebe die Nummer ein, die Maya mir in ihrer letzten SMS geschrieben hat, und rücke ein wenig auf meinem Stuhl hin und her. Dass ich sie so lange nicht gesehen habe stimmt, aber vermissen tue ich sie nicht wirklich. Nur weil sie jetzt in einer anderen Stadt wohnt, macht das noch keine Vorzeigeschwester aus ihr. Der Bildschirm flackert, dann taucht Mayas Gesicht auf und schaut mich griesgrämig an. Ihr langes, nussbraunes Haar fällt ihr in einem dichten Pony ins Gesicht und wird an den Seiten von zwei pinken Schleifen nach hinten gehalten. Sie trägt blassen Lipgloss und Mascara, ist aber sonst ungeschminkt und an ihren Ohren baumeln Ohrringe, die wie kleine Kiesel an einer Kette aussehen. Ihr Gesicht nimmt den größten Teil des Bildes ein, im Hintergrund erkenne ich nur jede Menge hochtechnologische Gerätschaften und ein Fenster. Im Gegensatz zu hier ist in Marmoria City noch strahlender Sonnenschein. In der unteren Bildschirmecke kann ich Louis und mich sehen, so wie wir für Maya sichtbar sind. Ich winke ihr zu und sie stützt ihr Kinn auf eine Hand, deren Nägel pink lackiert sind. „Was gibt’s?“, fragt sie brüsk und ich grinse innerlich. Sie hat sich kein Stück verändert. Nur der Pony und die Ohrringe sind neu. „Ich wollte mich nur kurz mit dir unterhalten“, erwidere ich und rutsche etwas zur Seite, damit Louis besser ins Bild passt. Mayas Augen blitzen. „Wer ist das denn? Dein Freund?“, fragt sie und ich spüre, wie Wärme in meine Wangen steigt. Komischerweise ist es nicht viel und Maya scheint mein Erröten nicht mal zu bemerken. Huh. Vielleicht bin ich langsam abgehärtet. „Das ist Louis, wir reisen derzeit zusammen.“ „Und wo, wenn ich fragen darf?“ „Darfst du, aber ich werde dir nichts sagen“, sage ich und strecke ihr die Zunge raus. „Meine Güte, du mit deiner Geheimniskrämerei“, mault Maya und bläst ihren Pony in die Höhe. „Mama ist krank vor Sorge und du spielst Verstecken. Sehr erwachsen.“ „Um dich hat sie sich auch Sorgen gemacht, Maya, tu nicht so.“ „Ich bin immerhin nicht mitten in der Nacht abgehauen“, kontert sie. „Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht in Schwierigkeiten geraten bist.“ Louis prustet los und ich schaue ihn wütend an. Wenn Maya erfährt, in was für einem Haufen von Schwierigkeiten wir schon gesteckt haben, erfährt Mama es ebenfalls und dann Gnade mir Gott. Maya schaut misstrauisch in Louis´ Richtung, fragt aber glücklicherweise nicht weiter nach. „Also, warum rufst du an? Du willst dich hoffentlich nicht nach meinem Wohlergehen erkundigen, dann lege ich nämlich sofort auf.“ Ja ja. Das ist Maya, wie sie leibt und lebt. Plötzlich höre ich wieder Donner, der direkt über unseren Köpfen davon rollt und Maya kneift die Augen zusammen. Dann wird der Bildschirm mit einem Mal schwarz, bevor weiße, flimmernde Linien darüber knistern. „Verdammt…“, murmele ich und schaue den Apparat wütend an. „Lass mich mal“, sagt Louis, steht auf und tritt mit voller Wucht dagegen. Ich unterdrücke einen Schrei und reiße ihn zurück auf seinen Stuhl. „Weißt du, wie teuer so ein Ding ist?!“ frage ich entsetzt, während der Bildschirm pechschwarz wird. „Was, wenn du ihn kaputt gemacht hast? Ich kann den nicht bezahlen!“ Louis will zu einer Antwort ansetzen, da flackert der Bildschirm und Maya schaut uns wieder an. „Alles in Ordnung bei euch?“, fragt sie und schaut mich mit hoch gezogenen Brauen an. „Ihr wart plötzlich weg.“ „Gewitter. Aber egal. Hör zu.“ Ich will nicht wieder von einer der Störungen unterbrochen werden. „Wie sieht es bei euch mit Team Rocket aus?“ „Deshalb rufst du an?“, fragt Maya und schaut mich jetzt genervt an. „Das wolltest du doch schon letzte Woche wissen!“ „Letzte Woche“, stimme ich ihr zu und sie seufzt energisch. „Ja, wir hatten einen kleinen Zwischenfall“, gibt sie schließlich zu und ich sehe sie triumphierend an. Sie bemerkt meine Aufregung und bedenkt mich mit einem kritischen Blick. „Du bist so sensationsgeil, weißt du das, Abby? Du freust dich regelrecht darüber. Da hätten Menschen sterben können, das ist dir klar, ja?“ Ihre Worte erzielen die gewünschte Wirkung. Ich schaue zerknirscht zur Seite. Sie meinte schließlich klein. Wenn jemand umgekommen wäre, hätte das Radio hundertprozentig davon berichtet. „Wie gesagt, kleiner Zwischenfall“, fährt Maya ungerührt fort. „Eins unserer Fossilbergungsteams hat drei ihrer Mitglieder im Mondberg gefunden. Sie waren wohl nicht die einzigen, aber selbst die drei Entdeckten sind entkommen, bevor jemand sie festnehmen konnte. Außer ein paar blauen Flecken gab es keine Verletzungen, aber was sie in der Höhle getrieben haben, weiß auch niemand.“ „Habt ihr die Polizei informiert?“, frage ich und sie schaut mich ungläubig an. „Natürlich, wir sind schließlich nicht blöd. Officer Rockey und Noah sind aufgetaucht, haben uns ausgefragt und sind dann durch die Höhle. Aber außer ein paar ungewöhnlichen Löchern in den Wänden und der Decke haben sie nichts gefunden. In ein paar Tagen kommt es wahrscheinlich in den Nachrichten, aber wie gesagt, es war nichts Großes.“ „Du hast Noah getroffen?“, frage ich ungläubig und starre sie mit großen Augen an. Sie bedenkt mich mit einem abschätzigen Blick. „Was glaubst du wohl. Nein, habe ich nicht. Ich war schließlich keiner von den Zeugen. Außerdem hatte ich zu tun. Ich weiß sowieso nicht, was du an all diesen Protrainern findest. Raphael ist cool, okay, aber Noah kennst du überhaupt nicht.“ Jetzt ist es an Louis, ungläubig zu gucken. Er packt mich an den Schultern und dreht mich, sodass ich ihn anschaue. „Du kennst Raphael Berni?“, fragt er, halb entsetzt, halb begeistert. Maya prustet. „Machst du Witze?“ fragt ihre Stimme aus dem Gerät und wir wenden uns beide in ihre Richtung. „Die beiden sind beste Freunde. Ich warte nur noch auf den Tag ihrer Verlobung.“ „Ach halt die Klappe, Maya!“ „Schon klar.“ Sie wendet sich Louis zu. „Sie kannte ihn, noch bevor er so berühmt wurde. Aber er ist schon wirklich ein cooler Typ.“ „Das reicht jetzt“, sage ich genervt. „Also hat Team Rocket sich bis nach Marmoria durchgeschlagen.“ „Himmel Herr Gott, ja, hat es. Zufrieden? Bald sind sie in Johto oder sonst wo und werden die Weltherrschaft an sich reißen, viel Spaß bei der Berichterstattung. Wenn es das war, ich hab zu tun.“ „Wie geht´s denn Ursula?“, frage ich noch schnell, bevor Maya mich wegdrücken kann. „Der geht es gut. U, hey! Komm mal her.“ Maya rutscht zur Seite und neben ihr taucht ein brauner Bauch mit beigem Ring auf. Dann bückt sich Ursula und ihr großer Kopf nimmt fast den ganzen Bildschirm ein. Als sie mich sieht, bleckt sie die Zähne zu einem fröhlichen Grinsen und knurrt leise. Ich winke ihr und sie winkt zurück. Dann richtet sie sich wieder auf und verschwindet. Maya rutscht zurück auf ihren Platz. „Dann viel Spaß noch.“ „Dir auch.“ Sie schaltet zuerst aus und ich folge ihrem Beispiel, dann fahre ich mir mit den Fingern durch mein Haar. Ich schaue zu Louis, der stur gerade aus guckt. „Was ist?“ frage ich. „Ich kann nicht fassen, dass du mit Raphael Berni befreundet bist.“ sagt er und ich grinse. Tja. VIP und so. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)