Paper Lilies von karlach (【 Rundum-Wichteln 】) ================================================================================ Kapitel 3: #o3 | Albatros Cliff ------------------------------- Der Winter ist dann vorbei, wenn die Albatrosse an der Küste landen. Papa war schon eine Weile lang nicht mehr hier und langsam fragen Ben und ich uns, ob er wohl je zurückkommen wird. Das kleine Haus an der Klippe ist so viel leerer, wenn seine breite Silhouette nicht beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllt. Aber ich habe ihn schon lange nicht mehr in meinen Träumen gesehen. Er ist letzten Oktober los, in die Stadt. Arbeit suchen, hiess es. Aber bisher kam noch kein Wort. Unsere Fernsehverbindung ist schlecht, deshalb wissen wir auch gar nicht, was vor sich gehen könnte. Manchmal, wenn wir Glück haben, schaffe ich es, die Satellitenschüssel so zu positionieren, dass wir klaren Empfang haben. Dann sitzt Ben auf dem Teppich vor dem Bildschirm und schaut, während ich oben auf dem Dach von den Welten in Büchern träume. Von grünen Wiesen, nicht den Dünen die unsere Landschaft dominieren. Sie sagen, die Epidemien sind Schuld daran. Irgendwann verloren die Antibiotika ihre Wirksamkeit, irgendwann reichten die Arbeiter nicht mehr, um die Deiche zu bauen, die das Meerwasser und all die Keime von uns fernhielten. Die Klippe war mal ein Hügel. Nur ein Hügel, mit Land drumherum. Heute muss man eine Brücke überqueren, weil die Strasse bei Flut nicht mehr passierbar ist. Mama sagte immer, wir sollten das Meer nie betreten, es sei so verseucht, dass wir auf der Stelle sterben würden. Und dann, nach einem Besuch bei Tante Mae, bekam sie Husten. Mama hatte nie Immunsystem, der Grossteil der Bevölkerung hat das nicht. Irgendwann, als es nicht besser werden wollte, nahm Papa uns auf einen Trip ins nächste Dorf ein, einkaufen, hiess es. Der Mann, der den Lebensmitteltruck fährt war angeblich krank. Und als wir zurückkamen und die Sicherheitsmasken vom Gesicht genommen hatten, fiel uns auf, dass Mama weg war. Ben fand ihr blau geblümtes Kleid am Strand. Ihre Fussspuren waren zum grossen Teil vom Wasser verwischt. Es gab vor langer Zeit mal einen AIDS-Stopp. Einen der gesamtheitlichen Sorte. Wie der sich aufgehoben hat, weiss ich nicht, dazu steht nichts in Papas Papieren, die er unter dem Bett versteckt. Ben denkt nie daran, sich dort zu schaffen zu machen aber ich habe weniger Skrupel. Zwei Monate nachdem er weg war, wurde ich neugierig. Ich habe sein Zimmer durchsucht und mich kein Bisschen dafür geschämt – was wäre wenn er sich in der Stadt Fieber holt? Oder wenn er nicht mehr zwei Kinder ernähren wollte, nicht konnte? Ich arbeite montags bis samstags in der Grundschule im Dorf, putze im Sicherheitsanzug die Fasssade. Manchmal ist sie so salzverkrustet, dass sie grün leuchtet, dann müssen wir oft Nachtschichten schieben und sie blitzeblank kratzen. Sonst könnte es die radiationssicheren Vorrichtungen im Zimmer gefährden. Ben sitzt nach Schulschluss meistens auf einer Bank in meiner Nähe und wartet auf mich. Er findet keine Arbeit, vielleicht weil er zu dürr oder zu faul ist. Ich bin drei Jahre älter aber Ben überragt mich jetzt schon um zwei Kopflängen. Papa war nicht besonders gross, aber Mama war es. Ben kommt ganz nach ihr, lange Gliedmassen, feine Gesichtszüge, denen die Mädchen im Dorf nachschwärmen. Dunkles Haar, helle grüne Augen. Und lesen, schreiben und rechnen hat er schon mit drei gelernt. Dumm ist er nicht, nur faul. Wenn wir abends zu Hause auf dem Teppich vor dem Fernseher sitzen und dem Rauschen der nicht vorhandenen Verbindung lauschen, träumt er lieber, anstatt die Nase in die Bücher zu stecken. ‚Träumen kannst du später’, sagen sie ihm. Aber nur meine Träume werden wahr. Diese Nacht sehe ich Papa, wie er winkt und dann ins Meer steigt. Und ich sehe Ben, wie er die Lippen fest zusammenpresst und die neongrünen Augen schliesst. „Papa kommt nicht zurück.“ Ich ernte schweigen, nur die Albatrosse hört man. Sie nisten genau vor dem Haus und ein vorwitzigeres Jungtier hat sich gestern sogar auf die Veranda gewagt. Es war richtig hässlich, mit einem vor Öl schwarz schimmernden Federkleid und einem dritten Auge auf der Stirn. Sehervögel seien das, hatte Mama uns immer gesagt. Aber ich glaube nicht mehr daran. Die Albatrosse werden unser Tod sein. Deswegen wollte niemand auf dem Haus auf der Klippe wohnen, bis wir kamen. Wovor Mama und Papa geflüchtet sind, weiss ich nicht. Aber sie waren verzweifelt genug, das Haus für drei Dollar zu kaufen. Ben beisst in sein Stück Pumpernickel, wirft mir einen giftigen Blick zu. Aber er sagt nichts. Meine Träume werden wahr. Auch die, die mir Angst machen. Sie geben Ben zwei Wochen nach dem Traum einen Job in der Stadt, und einen Umschlag mit einem Zehndollarschein. Der Poststempel ist von Dezember. Papa schreibt, er habe uns lieb und wolle zurück sein, wenn die Albatrosse Küken bekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)