Extravaganza von Sengo-sun ([HolmesxWatson]) ================================================================================ Kapitel 23: Die Stille, die Lärm schafft ---------------------------------------- „Sie folgen mir, nicht wahr?“ Woyzeck drehte sich um, zu dem gebeugten Mann, der, seit er den Pub verlassen hatte, Woyzeck verfolgte – oder auch nicht. Erschrocken zuckte der Mann zurück. Dunkle Haare umrahmten ein gegrämtes Gesicht. „Wie kommen sie nur darauf?“, krächzend ertönte die Stimme des Mannes und Woyzeck verzog das Gesicht. Sie klang misstönend, störend, nahm ihm Konzentration. Eine Brille verdeckte die Augenpartie. Dann sah Woyzeck das Band mit den drei Punkten. „Hm…“ Woyzeck wollte sich umdrehen, als die Stimmen in seinem Kopf lauter wurden. Immer wieder rief der Choral seiner Seele: SPIEL, SPIEL, SPIEL… dann raunte es und er betrachtete den Blinden genauer. Kein Stock, tiefgezogene Mütze – aus altem, grauem Stoff-, schlanke Gestalt… seltsam vertraut. Er ignorierte es und wandte sich ab, war nur ein argloser, blinder Mann – nicht mehr nicht weniger… „Eine Frage hätte ich: wie kann es sein, dass ein Mann, wie sie einen potentiellen Zeugen davon kommen lässt?“ Dunkel, tief und sehr ruhig sprach der Mann. Woyzeck drehte sich um. Beide wussten sie, dass sie verkleidet waren und man sie schwer erkannte. Beide wussten sie, dass die zweite Runde im Spiel begonnen hatte und mit ihr neue Regeln Einzug erhielten. Woyzeck blickte sich um… es war eine gute Stelle… eine sehr gute Stelle… „Begreifen sie es mit ihrem brillanten Verstand nicht, oder wollen sie es von mir hören?“, sprach Woyzeck, trat einen Schritt auf den Mann zu… Ein wissendes Lächeln, zynisch und bitter, verzog das Gesicht des Mannes zu einer Maske. Dann brach Tumult aus. Während ich so durch die Straßen Londons umherwanderte, schien mich ein unsichtbarer Faden zu einem bestimmten Ort zu ziehen. Er leitete mich durch die Massen der Menschen, bis ich nicht mehr so recht wusste wo ich war. Autos rauschten an mir vorbei, während ich mir Gedanken über Mirco machte. Tief versunken lief ich weiter, bis jemand gegen mich prallte und ich stolpernd fiel. „Verflucht!“, ich riss die Augen auf als ich die mir wohl bekannte Stimme hörte: „Sherlock? Was tust du hier?“, doch ich verstummte abrupt. Sherlocks Gesicht war blutbesudelt, dunkle Tönungen stachen auf Wange und Stirn hervor und ein bösartiger Riss spaltete eine seiner Brauen. Er öffnete kurz die Lippen, ich sah, dass sie aufgesprungen waren und griff automatisch nach seinem Kinn. Blut verklebte die helle Haut, tropfte leicht auf meine Hand, während meine Finger mechanisch über die geschwungenen Lippen fuhren, auf der Suche nach dem Ursprung der Verletzung. Erstarrt und fast schon gebannt folgten mir graue Augen bei jedweder Bewegung, die ich tat. „Ist bei ihnen alles in Ordnung?“, ein junges Pärchen lief auf uns zu. Plötzlich veränderte sich Sherlock, sein Blick glitt in eine stetige Leere und er krümmte seinen Rücken, so dass auf einmal nicht mehr der großartige Detektiv über mir lag, sondern ein Mann mittleren Alters. Ein gelbes Band mit drei schwarzen Punkten untermalte seine Kostümierung, sie erhielt ihre Vollendung, als er anfing zu sprechen: „Da… ich wurde überfallen!... Ich war doch nur auf dem Heimweg, dann hörte ich verdächtige Schritte… oje, oje, oje… man hat mir meinen Stock genommen und zugeschlagen, ich fühle mich so wund… oh entschuldigen sie werter Herr…“ Während seine Augen stumpf im trüben Licht des verblassenden Tages dahinstarrten, fuhren seine kühlen Finger über mein Gesicht. Ich wusste, dass es ein Teil seiner Maskerade war, es gehörte zu seiner Figur, dem gegrämten Blinden, dass dieser mit den Fingern sah. Aber dennoch… Es war als würden kühle, aus zartem Samt bestehende Geisterwesen über mein Antlitz streifen, mitsamt ihrem frischen Atem jede Pore meiner Haut erfassten und eigenartige Reaktionen heraufbeschwören. Kurz stockte mein Atem, dann erinnerte ich mich daran, dass ich für seine Maskerade etwas beitragen musste. „A- alles in Ordnung… Ich wäre ihnen nur sehr dankbar wenn sie von mir runtergehen und ich nach ihren Wunden sehen kann, ich bin nämlich Arzt.“ Immer noch in der Gestalt eines frisch überfallenen Blinden rückte Sherlock von mir ab, den leeren Blick auf Augenhöhe. Flammte da etwas in der grauen Iris auf? Etwas Dunkles? Verstörend Intensives? Das junge Pärchen lauschte entsetzt Sherlocks imaginären Fakten eines Überfalles, während ich nach meinem Handy kramte und so tat als würde ich die Polizei verständigen. Irgendwann wurden mir die besorgten Fragen zu viel und auch Sherlocks ansteigende Anspannung, war wie ein Zeichen für den Aufbruch: so spielte ich die Rolle des erfahrenen, autoritären Arztes und machte den jungen Menschen klar, dass ich den Verletzten nun in ein Krankenhaus begleiten würde. Ich umfasste einen Arm meines Wohngenossen, spürte die Wärme, wie sie durch jegliche Stoffschichten sickerte, meine Haut erhitzte und mir eine unerklärliche Gänsehaut bescherte. Sobald wir aus der Sicht des Pärchens verschwunden waren, ließ ich ihn schlagartig los und begutachtete ihn erneut. Er schenkte mir jedoch nur einen spöttischen Blick. Sozial unterkühlt und fremd von interaktiver Menschlichkeit. „Was ist..“- „Ich hätte nie gedacht, dass du wirklich so leichtsinnig sein kannst! Er war hier, verdammt, er war hier, direkt vor unserer Nase und jetzt ist er wieder weg.“, unterbrach mich Sherlock schroff, während er sich die wilde Lockenmähne raufte, bis er umso mehr einem Wahnsinnigen glich, als zuvor. Verdattert öffnete ich den Mund: „Von wem sprichst du?“ – „Woyzeck, John! Dem netten Mann, der dich seit des Verlassens der Wohnung verfolgt hat und der Björn Hanson, sowie Eggie ermordet hat. Der Mann, der uns als Schwager des Barons vorgestellt worden ist… Obwohl ich sagen muss eine gewisse Gemeinsamkeit scheinen sie beide zu haben, aber keine Verwandtschaft, soweit konnte ich es deduzieren.“ – „Weißt du was? Bevor du weiterhin deine Genialität rausposaunst: gehen wir zurück in die Baker Street, damit ich…“ Mit einem leisen Seufzen und genervten Augenrollen unterbrach mich Sherlock: „Geprellte Rippen, untere beiden angeknackst, mehrere Schwellungen, offenkundig Blessuren im Gesicht sowie an meinen Knöcheln… Es ist nichts Besonderes.“ Abwinkend wollte er sich abwenden, doch da griff ich nach seinem Unterarm, umfasste mehr durch Zufall eine schmerzende Stelle, denn der Körper vor mir zuckte zusammen und ein halbunterdrücktes Keuchen entwich den bleichen Lippen, und ich hielt Sherlock fest. „Ob es dir nun gefällt oder nicht: wir gehen zurück zur Baker Street, ich untersuche deine Verletzungen und behandele sie. Du magst zwar das Genie sein, aber ich bin der Arzt, klar? Außerdem kannst du mir dann mal erklären, warum du mir gefolgt bist…“ Zischend entließ ich die Worte aus meinem Mund. Schillernd rot, beinahe grell wirkte das Blut auf Sherlocks Lippen, befand ich, während er diese öffnete, wieder schloss und irgendwie trotzig grummelte: „Ich bin dir nicht gefolgt, das war Zufall.“ „Ich dachte es gibt keine Zufälle, nur Wahrscheinlichkeiten?“, somit drehte ich mich um, rief nach einem Taxi und kurz darauf saßen wir in dem schwarzen Auto und fuhren zurück zu jenem Ort, an dem ich eigentlich nicht sein wollte, wie ich ebenso Auszeit von der Person direkt neben mir haben wollte, deswegen war ich auch überhaupt rausgegangen. Und nun? Nun saß Sherlock neben mir mit einem Gesicht, welches in allerhand farbenfrohen Hämatomen schillerte. Er schwieg und die Stille zwischen uns hätte man mit einem Messer zerschneiden können. Stille wurde immer mehr ein Synonym für den Lärm meiner Gedanken, für das Schreien, welches tief aus meiner Brust empor stieg und meine Lungen schmerzhaft zusammen ziehen ließ, doch kein Laut entkam meinen fest zusammen gebissenen Lippen. Es wäre unnötig verbrauchter Atem. Ein Räuspern riss mich aus meiner melancholischen Stimmung – ich war sogar geneigt sie depressiv zu bezeichnen-, aber ich sah nicht zu dem Verursacher des Geräuschs. Manchmal war es ein guter Trick Sherlock zu ignorieren, ich hatte festgestellt, dass er nur von wenigen die Ignoranz seiner Person verabscheute – ich gehörte zu jenen menschlichen Existenzen. „…“ Er schwieg, unterließ es auch nur ansatzweise etwas zu sagen. Einerseits war ich ihm dafür dankbar… Aber da gab es dieses elende ‚Andererseits‘, welches gar nicht dachte froh über die Stille im Taxi zu sein, welches am liebsten Sherlock geschüttelt hätte, ihm vorführen wollte wie es sich anfühlte solch verletzende Worte zu hören, doch dieses Andererseits hatte genauso seine Sprache verloren, wie ich. Nein, korrigierte ich, wie wir beide. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Sherlock nachdenklich die Fingerspitzen aneinander legte, sie vor seine Lippen drapierte, nicht bemerkte, wie er das Blut weiter auf seine helle, marmorhafte Haut verteilte. Seufzend streckte ich ihm ein Taschentuch entgegen. Wortlos starrte er zuerst mich, dann das Tuch an, provokativ hob er die Brauen, doch ich ging nicht darauf ein, hielt es ihm trotzig unter die Nase, bis er es mit einem leicht zu theatralischen Laut nahm und gegen seinen Mund presste. Dieses als kindlich zu bezeichnende Verhalten entlockte mir ein halbes Lächeln. Er registrierte es, denn seine Schultern sackten etwas entspannter nach unten, auch in seinen Mundwinkeln blitzte ein sanftes Lächeln auf, welches – und dies wurde mir auf einmal klar- nur mir bekannt war, nur in meiner Gegenwart auftauchte und sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Leichter Stolz erfüllte mich und lockerte meine verkrampfte Haltung. Dennoch hingen die Worte zwischen uns. Worte aus einer plötzlich so fern erscheinenden Zeitspanne. Worte, die ausgesprochen waren, geboren waren und nicht mehr zurück genommen werden konnten, weil sie nun existierten und das nicht nur in den jeweiligen Köpfen der Sprecher, sondern auch in denen der Zuhörer. Unglaublich wie mächtig Worte waren, seien sie nun aus Zorn oder aus freundschaftlichen Gefühlen ausgesprochen worden. Ihre bleierne Existenz verdarb das warme Gefühl in meinem Magen und schmeckte bitter auf meiner Zunge. Scham schlängelte sich durch meine Venen und veranlasste meinen Körper dazu zu schwitzen. Lautlos seufzte ich und lehnte meine Stirn gegen die kalte Glasscheibe. Draußen vermischte sich Londons Fassaden mit grauem Nebel, die vorbeirauschenden Bildfetzen schienen zu tanzen, vollführten berauschend Bewegungen in einer raschen Geschwindigkeit, so dass meine Augen irgendwann davon müde wurden, kurz schloss ich sie und lauschte dem fremden Atem neben mir. Die Stille fing an sich zurück zu ziehen, tappte einen Schritt von uns fort, zog ihren schweren Schleier zwischen uns langsam zurück und begann Schicht um Schicht etwas Neues aufzudecken. Etwas, das wir so noch nicht zwischen uns wahrgenommen hatten – bis zu diesem Fall, bis zu diesem Streit, bis zu diesem Augenblick, als wir aus dem Taxi stiegen, die Tür öffneten und ins Haus traten, die knarrenden Treppenstufen empor stiegen und wieder in der Wohnung waren. Wild hämmernd nahm ich plötzlich mein Herz gewahr. Noch nie hatte es einen so deutlichen, raschen Takt, einen fast schon wilden Rhythmus, wie jetzt. Kopfschüttelnd ging ich in die Küche. Das hier war die Baker Street, hier gab es nur Mrs. Hudson unter uns und Sherlock und mich. Nichts Neues – oder? Mit einem langgezogenen Seufzen stützte ich mich am Küchentisch ab und lehnte mich leicht nach vorne. Ich spürte wie die angespannten Muskeln in meinem Rücken sich dehnten. Mein Kinn sank auf meine Brust, während ich die Augen schloss. Alles begann zu entgleiten, um sich neu anzuordnen und ich merkte, wie ich allmählich überfordert war davon. Es war ähnlich, als würde man versuchen etwas wie Freiheit zu definieren: man scheiterte daran. „John…?“ Ich hob den Kopf beim Klang der vertrauten Stimme. O, wie vertraut sie mir war, fast schon schmerzhaft intensiv. Ich sah ihn an und Sherlock schaute zurück. Schweigend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)