Penumbra: Solitudo von Ange_de_la_Mort ================================================================================ Penumbra: Solitudo ------------------ Verzeih, mein Freund. Verzeih, dass ich nur über eMail mit dir in Kontakt trete, aber ich wage es nicht, dich persönlich zu treffen. Du musst verstehen, wie viel sich seit damals geändert hat. Du musst von meiner Einsamkeit wissen, von meiner Schuld … und von meiner Angst. Du musst verstehen, wie es ist, alles verloren zu haben. Ich brach auf, um meinen Vater zu finden; einen Mann, den ich nie gekannt hatte und nie kennenlernen sollte. Ich brach auf, um Antworten zu finden. Alles, was ich fand, waren Verluste. „Verluste?“ Ich presse die Lippen aufeinander und atme tief durch, als ich die Stimme vernehme – seine Stimme. Und so sehr ich mich auch bemühe, ihn zu ignorieren … es ist schwer, einer Stimme nicht zuzuhören, die direkt in dem eigenen Geiste mit einem redet. „Spiel nicht den Märtyrer, Affenjunge! Du hast doch mich gefunden! Das ist doch ein toller Gewinn, oder?“ Immense Verluste, schreibe ich, weil ich weiß, dass ihn das ärgert. Zumindest hoffe ich, dass es das tut. Möglicherweise amüsiert es ihn auch, bei ihm bin ich mir da nie so sicher. Er kichert in meinem Geist und ich seufze leise auf. Natürlich amüsiert es ihn. Das hätte ich mir denken müssen. In Grönland angekommen, tippe ich weiter und gebe meinem Freund einen kurzen Überblick über mein Abenteuer. Über die Mine, über die Monster, über … ich stocke kurz … Und dann schreibe ich über Red, den einzigen Freund in meiner Einsamkeit. Er sagte zu mir, das, was jenseits der Mine läge, wäre eine tausendmal schlimmere Qual als das, was ich bereits durchgestanden hatte. Leider begriff ich erst nach und nach, was er damit meinte und wie Recht er doch hatte. Ich betrachte den Satz lange und schüttelte den Kopf über mich selbst. Wie hatte ich nur denken können, das Dasein in der Mine wäre das Schlimmste, das mir zustoßen könnte. Vor allem, wenn man meine momentane Lage bedenkt: vereinsamt, versteckt, verwundbar. Zwar ist mir bewusst, was ich zu tun habe, doch ich wage mich nicht weiter. Zu groß ist die Angst vor dem Versagen. „Gib doch einfach zu, dass du mich vermissen würdest!“, raunt er mir zu und ich schüttele den Kopf, obwohl ich genau weiß, dass ihn das nicht dazu bringen wird, Ruhe zu geben. Auch schüttele ich den Kopf, um vor mir selbst zu verleugnen, dass er auf eine gewisse Art und Weise Recht hat. Die Furcht, die an meinem Innersten nagt, die mir grausige Visionen von dem zeigt, was mir zustoßen könnte, lähmt mich. Und das, obgleich ich doch selbst weiß, dass ein Teil dieser Furcht überhaupt nicht mir gehört, sondern nur eine Illusion ist, mit der er mich zum Stillstand zwingen will. Doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist die Angst vor der Einsamkeit größer als die Angst vor dem Wahnsinn. Denn dass ich niemals wieder nach Hause komme, dass ich nie wieder in den Genuss der Anwesenheit meiner Studenten, Kollegen und Freunde kommen werde, das ist für mich so unausweichlich wie … Meine Gedanken stocken abrupt und ich schlucke hart, richte den Blick wieder auf den Computerbildschirm, dessen flackerndes Licht das einzige ist, das diesen Raum erhellt. So unausweichlich wie der Tod, der mich hier erwartet … „Ich will nicht sterben.“ Obwohl ich flüstere, kommt mir meine eigene Stimme in der Stille unerträglich laut vor und ich zucke zusammen, weil ich schon damit rechne, dass diese Sammlung an Tönen meinen Standort verrät und sie mich finden. „Mach dir mal nicht ins Hemd.“ Er lacht über meine Angst und ich weiß, er würde mich überheblich anlächeln, wenn er nur könnte. Und dann kann ich spüren, wie sich seine Stimmung wandelt, wie er – wäre er dazu in der Lage – am liebsten die Stirn in Falten legen und nachdenklich drein blicken würde. „Ich will auch nicht sterben“, sagt er dann leise. „Und deshalb wirst du wohl leben müssen. Also“, spricht er weiter, diesmal mit gut gelaunter, heiterer Stimme, „sieh mich einfach als deine Zombiealarmanlage, ja, Äffchen?“ Ich kann mich seiner Begeisterung leider nicht anschließen und wende mich wieder dem Bildschirm zu. Du musst wissen, dass es hier eine Frau gab, die mir helfen wollte. Amabel. Das war ihr Name. Wie du wohl an der Vergangenheitsform erkennen kannst, weilt sie nicht mehr unter uns. Ich senke den Blick, einen Moment von Trauer und Selbsthass übermannt, als ich ihre geschundene Gestalt vor meinem geistigen Auge sehe und ihre Schreie noch immer in meinen Ohren hallen. Das Blut von zwei Menschen klebt an meinen Händen. „Na ja, in Reds Fall ist es wohl eher Asche, findest du nicht?“ „Sei still!“, fauche ich ihn an und balle die Hände zu Fäusten. „Hör auf, dich über mich lustig zu machen!“ „Aber ich finde dich nunmal lustig.“ Er kichert wieder. „Wollen wir uns jetzt wirklich streiten, Professor Affe?“ Ich öffne den Mund, um ihn anzuschreien, um ihm zu sagen, dass er mich nicht so nennen soll, dass ich einen Namen habe. Kein Laut kommt über meine Lippen, denn die Erkenntnis meines Leidens trifft mich nur noch härter. Es ist Wochen her – Wochen, die mir wie Monate erscheinen –, seit mich jemand mit Namen angesprochen hat. „Als ob ein Name so wichtig wäre.“ Wieder balle ich die Fäuste, bemerke selbst, wie sehr meine Hände zittern – vor Furcht und Wut und Hass. Wer war es denn bitte, der sich unbedingt einen Namen aussuchen wollte und so viel Wert darauf legte? „Ah“, beginnt er und schnalzt mit der Zunge, die er eigentlich überhaupt nicht hat. „Das ist etwas ganz anderes, mein Äffchen. Dass jemand wie ich, der sein ganzes Leben lang Teil eines Ganzen war, nach ein wenig Individualität strebt, wenn sich schon einmal die Gelegenheit bietet, sollte selbst dein verkümmertes Gehirn begreifen.“ Ich hasse ihn. Ich hasse ihn mit jeder Faser meines Herzens. Und da ich weiß, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht, schweige ich und konzentriere mich auf Wichtigeres, starre auf den Bildschirm, während meine Finger über die Tastatur fliegen, während ich meinem Freund letzte Abschiedsworte ausrichte. „Warum verschwendest du deine Zeit mit so banalen Dingen?“ „Warum hältst du nicht einmal für fünf Minuten den Mund?“ Seltsamerweise tut er das und ist still, was mich sehr verwundert, aber natürlich nicht stört, ganz im Gegenteil. Ich atme noch einmal tief durch und sammle all die Gedanken, die mir seit Tagen im Kopf herumspuken, die ich aber nie in Worte fassen konnte, weil er mich immer daran gehindert hat. Es überrascht mich, dass er zu diesem Gedanken nichts zu sagen hat, aber wahrscheinlich ist er schon damit beschäftigt, irgendetwas aus meinem Geist auszugraben, mit dem er sich für meine Missstimmung rächen und mich foltern kann. Wahrscheinlich werde ich nicht zurückkehren, schreibe ich und erst jetzt, da ich die Worte … nun, nicht ausspreche, aber dennoch äußere, wird mir überhaupt bewusst, wie elend meine Chancen stehen und wie miserabel meine Zukunft aussieht. Ich werde hier sterben. Und meine einzige Gesellschaft ist ein Mörder, der nur auf meinen Tod wartet, um meinen Körper zu übernehmen. Doch ich möchte, dass du etwas für mich tust. Du verstehst meine Worte sicher nicht, willst sie nicht verstehen, und das macht nichts. Ich bin mir nicht einmal selbst sicher, ob all das hier wirklich geschieht oder ob mein zerrütteter Verstand meine Wahrnehmung und meine Erinnerungen bereits zerfrisst. Aber ich habe einen Wunsch, eine letzte Bitte an dich. Noch einmal atme ich tief durch, atme die abgestandene Luft des Shelters ein, in der ich den Tod schmecken und die Verwesung riechen kann, spüren kann, dass sie mich erwarten. Ich möchte nicht, dass meine Leiche hierbleibt, dass sie ihnen in die Hände fällt. Hol mich nach Hause, mein Freund, begrabe mich in englischer Erde. Ich gönne mir nicht die Zeit, noch einmal über den Text zu schauen, weil ich mich davor fürchte, meine Worte zu überdenken, an dem zu zweifeln, was ich geschrieben und erlebt habe. Erst als das Piepsen ertönt, das besagt, dass die eMail verschickt wurde, erlaube ich es mir, kurz die Augen zu schließen und resigniert mein Ende abzuwarten. Und als er triumphierend lacht und sich über meine Schwäche mokiert, verstehe ich erst, dass er das ganz zurecht tut. Denn obwohl ich weiß, dass es in der menschlichen Natur liegt, Schwäche zu zeigen – gerade in einer solchen Situation –, weiß ich doch auch, dass es so nicht sein kann, nicht sein darf. Ich habe nicht das Recht, mich im Selbstmitleid versinken zu lassen. Ich habe nicht das Recht, ihrer beider Opfer einfach so zu verschwenden. Und unter seinem verwirrten Gezetere richte ich mich auf und schiebe die Kiste beiseite, mit der ich die Tür verbarrikadiert hatte, um unliebsame Gäste fernzuhalten, nehme allen Mut, den ich nicht besitze, zusammen – und gehe weiter. Weil ich keine andere Wahl habe. Weil es richtig ist. Weil selbst nach dieser scheinbar ewig andauernden Nacht irgendwann auch für mich die Sonne aufgehen und die Dunkelheit wenigstens in einen Halbschatten verwandeln muss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)