The Longest Journey - Beyond the Veil von abgemeldet (Das Ende einer langen Reise steht bevor) ================================================================================ 1.2: Raven ---------- Im ähnlichen Maße wie Kara für die Politik ist sie für die militärischen Aktionen der Bewegung verantwortlich. Sie ist eine ihrer erfahrensten Kriegerinnen, berühmt und gefürchtet wegen ihrer Leidenschaft und wilden Unerschrockenheit im Kampf, und ihre Gruppe von Kämpfern hat den Ruf, auch ausweglose Situationen nahezu unbeschadet zu überstehen. In erster Linie ist es ihr zu verdanken, dass die Azadi einen Teil ihres alten Fortschrittsglaubens eingebüßt haben und in ihrer Eroberung des Nordlandes inzwischen erheblich vorsichtiger geworden sind. Sie ist das, was eine Bewegung in Zeiten wie dieser am meisten braucht – eine Heldin… Doch Kara kennt sie besser, oder glaubt es zumindest. Sie weiß, dass in Ravens Herz nicht der Mut regiert, sondern die Verzweiflung, denn der Kampf ist das Einzige, was ihr noch geblieben ist in ihrem Leben. Ungeachtet aller Konsequenzen wirft sie sich unerschrocken in die Schlacht… allein der Hoffnung wegen, endlich den Tod zu finden und ihre Schuld zu tilgen. Für einen Außenstehenden ist nicht zu ermessen, mit welchen Dämonen sie in ihrem Inneren zu kämpfen hat, aber die Zeichen, die Gefühle, die immer wieder in ihren kalten, blauen Augen zutage treten, sind unmissverständlich. Und nun sucht sie erneut die Schlacht… Erst vor wenigen Minuten hatte sie Kara um ein Dutzend Männer gebeten, die ihr bei einer wichtigen, aber scheinbar völlig halsbrecherischen Mission helfen sollten: die Gefangene, eine Wirtin namens Benrime Salmin, aus den Händen der Azadi zu befreien. Unfähig, noch länger auszuharren und Stärke zu sammeln, hatte sie zudem vorgeschlagen, den Krieg gegen die Azadi in das Herz ihres Nördlichen Imperiums hineinzutragen und einen vernichtenden Anschlag auf das am besten gesicherte Gebäude Marcurias auszuführen: den Weißen Turm. Sollten sie dies nicht wagen, wären alle ihre Mühen umsonst gewesen… Doch Kara hatte abgelehnt. Sie wusste – weiß - nur zu gut, dass ein solches Vorgehen ein nicht zu rechtfertigendes Maß an Dummheit und Egoismus verrät, und dies hatte sie Raven auch in aller Deutlichkeit gesagt. Sicher war Benrime eine gute Freundin von ihr gewesen, und sicher hatte sie der Bewegung unglaubliche Dienste erwiesen. Doch kleinere Opfer mussten nun einmal gebracht werden. Einzelne mussten sterben, damit die Bewegung und ihre Anhänger in Sicherheit leben können… unerkannt… unangreifbar… versteckt vor der unbarmherzigen Justiz der Westländer… In einer derzeitigen Situation war es unklug, Aufsehen auf sich zu lenken und das Leben weiterer Leute zu riskieren. Die Bewegung brauchte jeden Mann und jede Frau, und Kara wollte nun einmal nicht dulden, dass irgendeiner von ihnen in einem Himmelfahrtskommando zu Tode kommen würde, nur weil Raven es sich so dringend herbei sehnte. Der große Schlag würde noch kommen, eines Tages, aber nicht durch Ravens Handeln… Unwirsch schüttelt Kara die penetranten Gedanken an die Vergangenheit ab und konzentriert sich wieder auf die Kisten, die vor ihr abgeladen werden. Jiran, einer ihrer Assistenten, nennt ihr Sorte und Menge der darin enthaltenen Güter, und hält ihr eine Karte der Stadt hin. Ihr Finger zittert ein bisschen, als sie ihn ausstreckt und auf Snapjake’s Cove als Bestimmungsort weist. Seit langem schon hat sie das wahre Ziel ihrer Bemühungen nicht mehr so deutlich vor Augen gehabt. Die Wut, die sie einst zur Rebellion getrieben hatte, brennt noch immer, wie das Magische Feuer von Oldtown, aber sie hat es all die Jahre unter Kontrolle gehalten, es flackern und schrumpfen lassen, ohne noch einmal einen Gedanken daran zu verschwenden. Vielleicht hätte sie in jungen Jahren dasselbe getan wie Raven. Aber das Alter macht bekanntlich klüger… und nachdenklicher… … Und vielleicht auch teilnahmloser… Was auch immer man hätte tun können, nun ist es zu spät dazu. Die nächste Fuhre wird vorbereitet, und so langsam gewinnt Kara ihre alte Ruhe zurück… … da steigt plötzlich ein Zischen aus den Tiefen des Urwaldes hinter dem Dorf empor. Augenblicklich fährt Kara herum, sucht mit ihren Augen zuerst die Schwärze des Dickichts und dann die samtblauen Weiten des Himmels ab. Ein Leuchtfeuer fliegt vom Horizont auf und explodiert knapp unter dem Zenit mit einem lauten Knall, der in der ganzen Bucht zu hören ist. Schnell werden auch die Arbeiter darauf aufmerksam. Einige von ihnen vermuten eine spontane Freudenfeier, andere vermuten Sabotage. Kara teilt diese Auffassung: sie weist Jiran an, eine Patrouille in die Richtung zu schicken, aus der das Feuer gekommen zu sein scheint. Bange Minuten vergehen. Kara ist zwar bemüht, sich ganz auf ihre Karte zu konzentrieren, doch nichtsdestotrotz zwingt die Nervosität sie dazu, die Finger in das Leder verkrallen. Die Zeit verstreicht unaufhaltsam, und noch immer ist die Patrouille nicht zurückgekehrt... Aber der Dschungel ist dicht… es braucht also nichts zu bedeuten! Dennoch – die Stimmung bleibt weiterhin angespannt. Die Arbeiter verrichten auffällig laut polternd ihr Werk, als wollten sie damit gegen die verdächtige Friedlichkeit des Abends ankämpfen, und Kara sperrt verbissen die Ohren auf nach einem Geräusch, das sie eigentlich gar nicht wahr haben will. Halb meint sie es zu hören, als ein Schwingen im hintersten Winkel ihres Trommelfells, doch gleich darauf schwindet es wieder, wie das sonore Brummen eines Moskitos. Ein letztes Mal steigt es auf, lauter und drängender denn je, und dennoch fast unhörbar… …dann verebbt es endlich. Die Abendruhe ist wieder eingekehrt. Kara schließt die Augen und lässt die Schultern sinken. Sie genießt diesen Moment der Erholung. Dann reißt sie blitzartig die Augen wieder auf und schaut auf den unteren Rand ihrer Karte. Ein schwacher Schatten ist dort aufgetaucht, der immer dichter und schwärzer wird und bald ihre ganze rechte Seite einhüllt. Auch das Brummen setzt wieder ein und baut sich zu einem unvergleichlichen Lärm auf. Kara merkt, wie sich ihre Kiefer verkrampfen und ihre Miene versteinert. Sie erkennt die Geräusche dutzender Luftschrauben… Wie betäubt dreht sie sich nach Westen und starrt in die dichte Wolkendecke, die sich nur für einen kleinen Fetzen Abendblau öffnet, damit jedoch das volle Ausmaß des Schreckens offenbart: Wolkenschiffe! Eine ganze Flotte! Zwei von ihnen fliegen als Vorhut voraus, während mehrere andere, lediglich als Schemen erkennbar, im Nebel zurück bleiben. Nur das Leitschiff, ein gigantischer Koloss mit einer gewaltigen Transportkabine, gleitet im Sinkflug nach Norden über den Uferwald hinaus und dreht bei. Seile werden herabgelassen, und ein gutes Dutzend Soldaten schwingt sich daran zu den Holzbauten hinab, nicht weit entfernt von dem Ort, an dem die Hafenarbeiter stehen. Schon laufen Rebellenkrieger herbei und legen kampfbereit die Hände an ihre Waffen. Andere stehen regungslos an der Seite, drücken sich in die Schatten der Hauseingänge, wagen es aber nicht, sich in die trügerische Sicherheit ihrer vier Wände zu begeben. Kara, die an die Überwältigung der Tyren zurückdenkt, untersagt jedoch den geordneten Angriff. Vielmehr gebietet sie den Leuten mit einigen knappen Worten, sich nur möglichst weiträumig zu verstreuen und ja nichts zu überstürzen. Einige protestieren zwar und bleiben in ihrer Nähe, doch der überwiegende Teil gehorcht der Weisung. Währenddessen beobachtet Kara weiter den Himmel. Der Rest der Luftschiffflotte hat jetzt den Waldrand erreicht und beginnt ebenfalls, sich aufzuteilen. Eines der Geschwader fliegt nach Nordosten, Richtung Boldterre, das andere nach Snapjake’s Cove und Bunnvik im Südwesten. Für Kara bleibt nur zu hoffen, dass diese Stadtteile den Angriff nicht zu spät bemerken, denn sie kann ihnen im Moment nicht zur Hilfe eilen. In der Zwischenzeit sind die ersten Soldaten bereits auf dem Boden angekommen. Überraschenderweise aber wenden sich sie nicht den Rebellen zu, sondern marschieren mit einem Hauptmann an der Spitze zum nördlichen Ende des Stadtbezirks, in Richtung einer kleinen Anlegestelle. Kara überlegt, ob sie ihnen folgen soll, doch da gleiten bereits weitere Soldaten an den Seilen herab. Und sie sind durchaus kampfbereit. Mit unheilvoll gesenkten Lanzen bewegen sie sich auf die Streitkräfte von Candredville zu. Einige Milizionäre ziehen Keulen und Äxte hervor, doch Kara hindert sie weiterhin am offenen Gefecht und drängt sie stattdessen in den Innenring des Dorfplatzes, von dem sie sich mehr Aktionsfreiheit und sicheren Untergrund verspricht. Dort angekommen erwartet sie die Angreifer mit eisiger Ruhe. Aber die Azadi folgen ihr nicht nach. Sie halten die Lanzen weiterhin unten, lassen sie nur gelegentlich reflexartig vorstoßen, doch ein richtiger Angriff lässt auf sich warten. Stattdessen holen die Westländer kleine Holzstäbe unter ihren Umhängen hervor. Was mag das nun wieder bedeuten? Und warum verlassen nicht mehr von ihnen die Luftschiffe? Eine Kriegerin wie Raven würde diese Chance nutzen, ohne lange Fragen zu stellen, aber Kara ist misstrauisch, und ihr gesunder Menschenverstand lässt sich nicht zum Schweigen bringen. Während sie prüfend ihr Gewicht verlagert, eine Hand auf dem Schwertgriff ruhend, schaut sie der Reihe nach in die Augen der ihr am nächsten stehenden Fremdlinge. Dunkle Augen im Schatten von unförmigen Helmen. Hasserfüllte Augen… Ängstliche Augen… Tote Augen. Keiner von ihnen hat die Rebellenkämpfer aus dem Schatten heraus treten sehen, und erst zu spät hören sie die Geräusche von Füßen, die über das trockene Sumpfholz schaben. Was dann geschieht, kann nicht einmal der schärfste Verstand erfassen: Lanzen schwenken herum; dunkle Messer mit matten Klingen schimmern kurzzeitig auf; tote Leiber mit durchgeschnittenen Kehlen oder durchbohrten Herzen sinken geräuschvoll zu Boden; ein Poltern ertönt; Feuer schwirrt durch die Luft… In wenigen Sekunden haben sich auf dem Steg mehrere Lachen aus Blut gebildet, und aus dem feindseligen Mustern ist eine handfeste Schlacht geworden. Die Rebellenkämpfer im Ring eilen ihren Verbündeten mit gezogenen Waffen zur Hilfe. Sie versuchen nicht einmal, ihre Gegner zu entwaffnen, sondern töten in ihrer Angst und ihrem Hass, schlagen zu und kämpfen weiter, bis alle Stimmen erloschen sein werden. Die Azadi ihrerseits geben ihr Bestes, um die Angriffe von allen Seiten abzufangen und zu erwidern. Unaufhörlich sirren ihre Schwerter, sausen ihre Speere, reißen ihre Umhänge. Bald haben sie die Rebellen brutal auseinander getrieben und können dem Ring, der sich um sie gebildet hat, entkommen. Die blutige Schlächterei löst sich auf, zerfällt in mehrere voneinander unabhängige Zweikämpfe, die jeder für sich mehr Raum beanspruchen, als auf den Planken eigentlich vorhanden ist, und die Verteidiger in die Reserve treiben. Ehe sie sich versieht, steht Kara einem großen, hellhäutigen Offizier gegenüber: ein Mitglied der zweithöchsten Kriegerkaste, soweit sie das beurteilen kann – schlank, groß und kräftig, mit einem krummen Säbel an der Seite und einer massiven Hellebarde als Hauptwaffe. Nervös lässt Kara das Schwert in ihren Fingerspitzen rotieren. Sie merkt, wie ihre Zunge gegen die fest zusammengepressten Zähne stößt, spürt den Schweiß, der über ihr Gesicht herab läuft… Dann kommt ihr auf Bauchhöhe ein langer, schwertförmiger Dorn entgegen – nur knapp gelingt es ihr, ihn mit der Klingenspitze weg zu schlagen und beiseite zu treten, denn der Azadi reißt die Waffe noch im selben Atemzug wieder zurück. Er tänzelt kurz auf der Stelle, einen Gegenangriff seiner Gegnerin erwartend, und sticht dann von neuem zu. Diesmal saust der Dorn von links heran und sucht sich den direkten Weg zu ihrem Rücken. Kara kann sich weg drehen und damit auch diesem Stoß ausweichen – doch dann kommt ihr langer Mantel ihr in die Quere, wickelt sich mühelos um Haken und Beil und wird so beim Zurückreißen der Waffe mitgezogen. Wirbelnd und stolpernd geht die Rebellenführerin zu Boden und fällt direkt vor die Füße des Azadi-Offiziers. Das Stangenbeil wirbelt kurz durch die Luft… und wird dann mit einem satten Krachen in den Stoff ihres Mantels gerammt. Ohne weiteres Zögern zieht der Krieger den Säbel aus der Scheide und richtet ihn auf seine vermeintlich wehrlose Gegnerin… die sich aber rasch von dem Mantel befreit hat und nun doch zur Attacke übergeht. Noch einmal entbrennt der Kampf, und Kara muss bald feststellen, dass ihre Schwertkampffähigkeiten sowohl in Kunstfertigkeit wie in Ausdauer hinter denen des Westländers zurückbleiben: immer öfter muss sie ihre Position aufgeben, und ihre Paraden gelingen meist nur knapp, so schnell saust der Säbel des Angreifers um sie herum. Wieder und wieder werden ihrer Rüstung tiefe Scharten geschlagen, und nur zu gefährlich sind manche davon. Schließlich passiert das Unvermeidliche: ihre Ferse trifft beim Zurücktreten auf Widerstand. Der Azadi hat sie in die Enge getrieben. Rechts und links von ihr haben sich die Zweikämpfe inzwischen dermaßen zugespitzt, dass an ein Ausweichen nicht mehr zu denken ist, und in ihrem Rücken befindet sich die Türschwelle eines Hauses. Neben ihr erstrahlt ein Fenster in rötlichem Lichtschein. Kara wirft einen kurzen Blick hinein und sieht dunkle Gesichter vor den Scheiben sitzen: einen kahlköpfigen Greis mit wässrigen Augen, einen etwa zwölfjährigen Jungen mit blutender Nase und ein beinahe erwachsenes Mädchen, dessen Augen voller Furcht auf dem riesenhaften Mann ruhen, der vor ihrer Haustür den Säbel schwingt. Kara dreht sich kurz ab, um einen Hieb wegzuleiten, kann sich in ihrer Aufregung aber nicht zurückhalten und klatscht die Faust gegen das Glas. Augenblicklich zucken die Köpfe zusammen und verschwinden. Das Licht erlischt. Leider hat ihrem Gegner diese eine Ablenkung gereicht. Als Kara ihm das Gesicht wieder zuwendet, ist es bereits fast geschehen: der Säbel schießt herab, das Holz neben ihr knarrt, und Kara spürt einen kurzen, dumpfen Druck an der linken Seite ihres Kopfes … blankes, scharfes Metall, welches von oben durch das Fleisch schneidet, dann wieder heraustritt und knapp über ihrer Schulter weg gezogen wird. Der Schlag an sich ist fließend und schnell vorbei, er zieht nicht viel an Schmerz nach sich. Nur der Druck ist es, der Kara nach unten zwingt, doch auch er verschwindet fast augenblicklich wieder. Tatsächlich meint Kara sogar, dass ein bisschen zuviel davon verschwunden ist… Sie kann sich nicht lange darauf konzentrieren, der Azadi hat den Schwung seines letzten Hiebes genutzt und den Angriff schon wieder aufgenommen. Trotz ihrer Überraschung vermag Kara den Arm hochzureißen und den Schlag abzuwehren, doch geht ihr allein die Konfrontation der Klingen so durch Mark und Bein, dass ihr der Arm fast wegrutscht und schon wenige Sekunden später wieder auf Hüfthöhe ist. Wie durch den Geist eines Anderen hindurch spürt Kara den Schmerz ihrer Ellenbogen, gedämpft und gleichzeitig beunruhigend heftig. Es ist, als hätte eine seltsame Art von Lähmung ihre linke Körperhälfte befallen, und die kühle, schwere Abendluft bewirkt, dass ihre Gesichtshaut wie unter Feuer brennt. Der Lärm der Schlacht dringt nur noch leise und in verzerrter Weise zu ihr vor, so dass sie bald schon nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Ihre Bewegungen werden unpräziser, manche Schläge gehen sogar gänzlich ins Leere. Schon bald trifft der Säbel das zweite Mal sein Ziel: mehrere Hiebe sausen nacheinander mit roher Gewalt auf Karas Schulterplatten nieder; danach dringt die Schneide in ihren Knochen. Ein unkontrolliertes Knirschen und Gurgeln dringt aus dem Mund der Rebellenführerin. Sie spürt, dass ihr Ende gekommen ist. Schwankend fällt sie zu Boden, packt dabei noch den pelzverbrämten Umhang des Offiziers, kann ihn aber nicht mehr mit sich reißen. Der Westländer geht zwar gemeinsam mit ihr in die Knie, allerdings nur, um den Säbel noch fester in ihren Oberarm zu pressen. Kara kann ihm dabei direkt in die Augen sehen. Es ist keine Befriedigung in ihnen, nur eine würdevolle, ernste Entschlossenheit. Diese Augen kennen den Anblick des Todes und begrüßen ihn wie im Gebet, als einen freundlichen Diener, der nur die Schlechten und Fehlgeleiteten zu sich holt. …‚Das typische Denken eines Azadi!’ So denkt Kara und fühlt dabei nicht einmal Gram ihm gegenüber. Ihr wirklicher Hass gilt Raven. War es das gewesen… was sie gewollt hatte? … Der Tod? Die willkommene Erlösung für die Schwachen, zu denen sie selbst gehörte, weil sie sich ihre eigene Torheit nicht eingestehen wollte…? Was hatte sie mit ihrer Kampflust bezweckt,… wenn nicht den Tod… in der Gewissheit, dass sie nur damit ihrem Leben einen Sinn zu geben vermochte? Es war doch nicht… der Sinn des Lebens… zu sterben! Karas Augen verschleiern sich. Sie spürt überdeutlich, geradezu krampfhaft, wie ihr Körper auf die Wunde reagiert, aber sie schließt die Augen, um es nicht mit ansehen zu müssen. Hoffend, bangend wartet sie darauf, dass der Azadi die Waffe herauszieht und sie sterben lässt. Erst spät hört sie das Knistern und Knacken von Holz, wie es sich dehnt und verzerrt, bevor es zerbricht und zu flammenden Balken wird. Überall um sie herum breitet sich ein flackernder Schein über die Dächer der Häuser aus, und das Lodern und Tosen des Feuers zieht ihm voraus, gleich einer waffenstarrenden Heerschar. Über all dem erhebt sich noch einmal ein Krachen, ein Fauchen wie aus dem Maule eines Jèrgas, vermischt mit dem Quietschen beim Ausfahren metallener Bahnen. Die Rebellenführerin hebt leicht den Kopf, nicht weiter als ein paar Zentimeter, und sieht das Chaos über ihre Heimstatt hereinbrechen. Blankes Feuer regnet vom Himmel herab, in riesigen Ballen. Es explodiert, wandert, tobt, frisst… Irgendwo mitten im Gedränge ist der Kampfschrei des jungen Brynn zu hören… Der Riese Chawan bahnt sich seinen Weg durch die kämpfenden Massen, wild brüllend… Überall ringsumher werfen die Azadi ihre Körper gegen die Türen der Häuser… Die Planken beben unter dem Trampeln vieler Füße… Und unter ihnen, im düsteren Wasser der Lagune, treibt ein einzelner menschlicher Körper dahin… alleine, denn bis jetzt ist keiner der anderen Streiter im Wasser zu Tode gekommen. Aus einem Schnitt über seinen Rippen tritt Blut aus und versickert im Wasser. Auch dieser Körper lebt noch… gerade noch so. Kara sieht ihn in den letzten Momenten ihres Lebens unter sich vorbeiziehen. Zuletzt erblickt sie ein schmales Gesicht, bleich und hager, von halblangen, haselnussbraunen Haarsträhnen umrahmt, darunter blau gefrorene Lippen, eine rote Stupsnase voller Sommersprossen, und kobaltblaue Iriden hinter dunklen Lidern. Die Pupillen bewegen sich noch immer in den dünnen Augenschlitzen, suchen das Umfeld nach Licht ab. Doch das einzige Licht kommt durch die schmalen Spalte über ihrem Kopf, und es ist nichts weiter als das unstete Leuchten des Feuers. Es spiegelt sich noch einmal in ihren Augen, bevor diese endgültig zufallen. Der Mund öffnet sich zu einem letzten Seufzer, schließt sich jedoch nicht mehr, als die Kriegerin, einst unter dem Namen Raven bekannt, in die Tiefen des Sumpfwassers absinkt… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)