Living In A Toy Box von cleo-- ================================================================================ Kapitel 26: Von Vögeln, die fliegen lernen ------------------------------------------ Die Nacht war klar. Klar und hell erleuchtet. Der Mond leuchtete wie eine gigantische Lampe vom Himmelszelt auf die Erde hinab. Er schien so groß, als würde er jeden Moment Jazmin auf das Köpfchen fallen. Sie schritt langsam über das riesige Dach hin zur schmalen Brüstung. Es erinnerte sie an das jenige, auf dem sie einst eine unglaublich große Explosion auf der anderen Straßenseite beobachtet hatte. Beobachtet. Nicht verursacht, beobachtet. Doch anders als jener trübe Tag war diese Nacht still, es waren keine ohrenbetäubenden, panischen Hilfeschreie zuhören, die schrillen Sirenen der Feuerwehrautos kehrten nicht die Straßen leer und es flogen keine Glassplitter durch die Luft. Nein, diese Nacht war klar und vollkommen. Jazmin traute sich kaum, die frische, saubere Luft einzuatmen, die auf ihrer in Dunkelheit geschonten Haut brannte. Sie versuchte zu vergessen, wo sie war, wer sie war und vor allem, was sie getan hatte. Nur einmal wollte sie wissen, wie es sich anfühlt normal zu sein. Seine Gedanken nicht in surreale Welten zu drängen, seine schlechten Taten nicht mit Rache zu rechtfertigen. Sie wollte mit der Luft verschmelzen, wegfliegen, sich auflösen, egal was, Hauptsache nicht mehr sie sein. Sie räumte ihren Kopf leer von Dingen, die sie angerichtet hatte, von Erinnerungen, die sie eigentlich ihren Kopf kosten müssten. Sie schloss die Augen und schlich behutsam, als laufe sie auf einem Drahtseil, hinüber zu der Brüstung, die den sicheren Boden von der schier unendlichen Tiefe trennte. Sie streckte die Hände aus und versuchte, die Mauer zu erfühlen. Als sie den kalten Stein entdeckt hatte, legte sie beide Hände flach darauf und öffnete langsam wieder ihre hellgrauen Äuglein, deren Blick sie sofort in das dunkle Nichts zog. Sie hatte Dinge getan, von deren schwerwiegenden Bedeutung sie erst jetzt mitbekam. Nicht das Menschen starben, nicht das grundlos Dinge in die Luft gejagt worden sind. Eher das, was unmittelbar mit ihr zu tun hatte, ihre verschwendete Zeit, ihr sinnloses Leben. Sie bekam eine Welt versprochen, in der sie erblühen konnte, in der ganz allein sie bestimmte, was geschah. „Ohne jeden, der dir sagt was du tun sollst. Du kannst machen. Was. Du Willst“ Die Erinnerung an diese Worten trafen sie wie einen Blitz. In sie steckte sie steckte soviel Hoffnung, so viel Vertrauen. Ja, fast zog die Erinnerung an die vertrauensselige, sanfte Stimme sie wieder in ihren Bann. Schnell schüttelte sie den Kopf, um den aufkommenden Schauer zu überwinden. „Du hast etwas besseres verdient, Püppchen. Ein Chaos, das ganz allein dir gehört“ Das war eine Lüge. Ein Köder. Doch anstatt Wut überkam sie lediglich Schwäche und Schmerz. Sie hätte es wissen müssen. Warum zur Hölle hatte sie nichts geahnt? Ihr Gesicht war starr, kein Gefühl, nicht einmal der stechende Schmerz bahnte sich einen Weg in ihre Mimik. Sie war einfach eingefroren. Sie ertrug ihr Selbstmitleid nicht, sie ertrug überhaupt nichts mehr. Diese Welt war schön, so wunderschön, ohne Zweifel, doch sie hatte sich verändert. Aus dem Wunderland ist die Hölle geworden. Und die Hölle war wahrlich kein rechter Platz für ein Püppchen. Sie musste fast lachen, als ihr diese Zeilen durch den Kopf gingen. Aber nun ist es zu spät. Diese Entscheidung würde sie selbst treffen und vertreten müssen. Keiner, der ihr rein redete, der dachte, er wüsste es besser. Das musste sie jetzt ganz allein mit ihrem Gewissen ausmachen. Sie bückte sich und begann die Schnüren ihrer alten Schuhe zu lösen, die sie einst in einer Mülltonne fand. Sie hätte ja nicht ewig in Socken durch die Gegend rennen können. Behutsam zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie auf die Mauer. Dann stützte sie die Hände auf der Brüstung auf, hopste elegant auf den kalten Stein und stellte sich leicht wankend auf die schmale Mauer an der es mindestens hundert Meter senkrecht nach unten ging. Hier oben wehte ein eisiger Wind und ihr kurzes Röckchen wurde von der derben Böe aufgewirbelt und entblößte kurzzeitig ihre Spitzenunterwäsche. Die goldenen Löckchen wehten ihr ins Gesicht, sie strich sie sich beiseite und wagte den Blick in die unendliche Dunkelheit. Gut, dass es Nacht war, dachte sie, dann blieb ihr die Sicht bis ins bittere Ende vorerst verwehrt. Sie blickte noch einmal kurz nach oben in den leuchtenden Vollmond und atmete tief ein. Es ist zu spät, predigte sie nun immer wieder gedanklich und versuchte ihrem Vorhaben etwas Sinn anzudichten. Es ist zu spät. Zu spät. Zu spät. Zu spät. Zu spät. Sie ballte die Finger zur Faust und öffnete sie wieder. Diese Welt war nicht für sie geschaffen. Es sollte eben nicht gewesen sein. Nicht in dieser Zeit, nicht an diesem Ort. Sie hatte einfach Pech gehabt. Kein Grund zur Sorge. Pech hat jeder Mal. Was soll's. Verlierer sein war sie ja gewohnt. Und Immerhin hatte sie es bis hierhin geschafft. Waren ja nur ein paar Jahre, die sie in Qualen verbrachte. Ist ja schon fast wieder vergessen. Es wird sie sowieso niemand vermissen. Ihr Gesicht war nunmehr ein Schatten, unbekannt und anonym. Das war der Moment, auf den sie seit einer Ewigkeit gewartet hatte, und nun war er da. Endlich. Sie breitete sie Arme aus. Der Wind umhüllte sie wie ein Kokon, ließ sie sich sicher fühlen, nahm ihr jegliche Furcht, jegliches Unbehagen. Dies war einfach das Ende, das keinen Anfang verbarg. Es war einfach Schluss. Bis hier hin und nicht weiter. Wer weiß, vielleicht würde sie ja etwas besseres erwarten? Irgendwann musste sie doch mal Glück haben. Vielleicht war genau das der Moment. Vielleicht war das das einzige, was sie für Glück zu erwarten hatte. Das Ende. Das wohlverdiente Ende. Sie versuchte zu lächeln, zufrieden zu sein, doch es gelang ihr nur mühsam. Sie trat vor bis ihre Fußzehen den Rand spüren konnten. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. Endlich. „Du willst gehen, ohne dich vorher zu verabschieden?“, beleidigt schüttelte der Joker den Kopf, doch das war nur schwer zu sehen, denn er hielt sich im pechschwarzen Schatten versteckt. Jazmin schreckte hoch und verlor fast das Gleichgewicht, so dass aus dieser Sache fast fahrlässige Tötung wurde. Doch im letzten Moment fing sie sich noch. Jazmin versuchte seine Gestalt auszumachen, doch beschloss ihn zu ignorieren, schließlich wollte sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Hätte dir nicht zugetraut, dass du den Mumm hast, das durchzuziehen. Andererseits ist es ganz schön feige wegzurennen, schäm' dich“, sagte er mit ruhiger Stimme und trat einen Schritt aus der Dunkelheit hervor, doch sein Gesicht war immer noch vom tiefen Schatten verdeckt. Jazmin wollte etwas sagen, doch sie wusste nicht was. Sprachlosigkeit war ja nichts neues. Stattdessen zuckte sie nur die Schultern und zog ihre Mundwinkel leicht nach oben, so dass man ein Lächeln hätte vermuten können. Und selbst wenn es Feige gewesen wäre, sie würde es tun. „Ich fliehe nicht, ich verreise nur“, ihr Blick war gesenkt und auf die Straße unter ihr gerichtet. „Für immer, hm?“ Dieses Gespräch klang so locker, als träfe man sich beim Einkaufen. Smalltalk. Geplauder. Nichts tiefsinniges. Jazmin nickte nur. Sie wollte nicht aufgehalten werden, hatte aber auch nicht das Gefühl, dass der Joker dies versuchte. Wahrscheinlich war er nur enttäuscht, dass sie selbst erledigte, was er hätte tun wollen. „Na dann“, es klang belanglos, fast nebensächlich, „Tu nur, was du nicht lassen kannst. Hättest sowieso nichts ändern können. Vielleicht kann ich auch nichts ändern, aber ich will es noch mit eigenen Augen, was ich angerichtet hab. Geh nur, nichts hält dich hier. Der Welt wird’s an nichts fehlen. Mach dir keine Gedanken, mit dir geht niemand verloren. Denk nur an dich, ist mein Rat, denn es denkt auch niemand an dich. Die Welt ist schlecht. Du hättest sie sowieso keinen Deut besser machen können. Spar' dir deine Kräfte für den Kampf, der dir noch bevor steht“ Jazmin wollte, nein, sie konnte nicht über die Phrasen des Jokers nachdenken. Ihr Kopf war ein Vakuum, das darauf wartete zu zerplatzten. Trotzdem versuchte sie zu nicken. Sie nahm die letzten Worte, die sie aus dem Narbengesicht hört als ein Abschiedsgeschenk. Und irgendwie, auch wenn diese Sätze weder liebe Worte noch guten Mut mit sich brachten, sie war dankbar dafür. Sie drehte den Kopf zur Seite und öffnete die roten Lippen: „Bye“ „Mach's gut, Püppchen“ Sie hörte die letzten Buchstaben kaum noch, denn schon ließ sie sich von der kühlen, sanften Luft hinaus tragen. Hinaus in eine andere Welt, nach der sie sich sehnte, nach der ihre tote Seele lechzte. Es war das wunderschönste Gefühl, dass sie je gespürt hatte. Freiheit. Es war die unbegrenzte, unendliche Freiheit. Sie fiel, fiel hinab ihrem Glück, ihrer Bestimmung entgegen. Ja, das, genau das war der Moment. Sie dachte an nichts, wollte einfach nur diese wenigen Sekunden des Glücks genießen und wiegte sich selig in den schützenden Armen des Todesengels. Endlich. Das Püppchen fiel wie eine Feder, wurde vom Winde verweht. Es sah nicht aus, wie ein Sprung, eher als zöge die Dunkelheit sie magisch an. Als sie verschwand, zuckte es dem Joker in den Fingern, nur kurz, die einzige Reaktion auf das, was geschah. Er trat nun ganz aus dem Schatten und lugte vorsichtig über die Brüstung, doch alles was er sah, war das schwarze Nichts. Ihm ging durch den Kopf, ob es unmittelbar etwas mit ihm zu tun hatte, dass seine Anzahl von Freunden sich regelmäßig auf ein Minimum reduzierte. Er zuckte mit den Schultern. War halt Berufsrisiko... Er entdeckte Jazmins Schühchen, die ordentlich neben einander gestellt auf der Brüstung verweilten. Er packte sie an den Schnüren und ging pfeifend davon. I could listen to a babbling brook And hear a song that I could understand I keep wishing it could be that way Because my world would be a wonderland* * In A World Of My Own Lyrics by Bob Hilliard Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)