Heilloser Romantiker von Pansy ================================================================================ Kapitel 51: Kapitel 51 ---------------------- Kapitel 51 Irgendwann konnte Joe den Blick auf die Uhr nicht mehr ertragen. Seit bereits fast einem Tag versuchte er, einen Elternteil von Rick zu erreichen. Bisher hatte er sich mit dem Gedanken partout nicht anfreunden können, dass Damon etwas mit der Entführung seines Freundes zu tun hatte. Obgleich einige Fakten dafür sprechen konnten, weigerte er sich strikt, diese Farce zu glauben. Selbst die Verstoßung konnte eine solche Tat nicht im Geringsten rechtfertigen und darum wollte der Blonde alle Hebel in Bewegung setzen, um Ricks Eltern ausfindig zu machen. Dies war auch der Grund dafür, dass er zurück nach Luminis gefahren war. Netterweise hatte Steven ihn chauffiert. Und nun stand er dort, wo alles begonnen hatte. Nein, das bezog er nicht auf das neue Rätsel, auch wenn es vielleicht nahe liegend gewesen wäre. Da der Schnee bereits geschmolzen war, sah er nun auf den nassen, grauen Gehsteig, der ohne Rick nichts Schönes aufzuzeigen hatte. Früher war er mit ihm so oft den schmalen Weg zum Haus entlanggerannt, doch heute hatte er nur ein trauriges, verlassenes Aussehen inne. Verlassen sah auch noch in der Tat Ricks Elternhaus aus. Wann Damon und Dea wohl heimkehrten? Ob sie wirklich etwas mit Ricks Verschwinden zu tun hatten? Mürbe lief Joe ein paar Schritte weiter. Steven hatte er zu seiner Mutter geschickt, um ihr wenigstens die Unruhe zu nehmen, die er sicher nicht ohne Ricks Befreiung loswerden konnte. Er betätigte die Klingel und sah sich alsbald Sarah gegenüber, die einerseits erfreut lächelte andererseits ein wenig überfahren wirkte. „Hallo Joe. Was für eine Überraschung.“ Mit einer Hand strich sie ihm über die Wange und zog ihn in eine flüchtige Umarmung. Trotz der Verkrampfung seines Körpers ließ sich der Blonde auf die Berührung ein. Außerdem musste er sich eingestehen, dass sie ihm gut tat. „Entschuldige mein unangekündigtes Erscheinen, aber hast du vielleicht einen Augenblick Zeit für mich?“ „Für dich immer.“ Sie zog ihn förmlich in ihre Wohnung und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. „Kaffee?“, fragte sie mit hochgezogener Braue. „Nein, danke.“ „Kann ich dir etwas anderes anbieten?“ „Dein Ohr.“ Aufreizend ließ sie sich ihm gegenüber nieder. „Du siehst aus wie Drei-Tage-Regenwetter, aber ich bin ganz Ohr.“ Da Joe Löcher in die Luft starrte, besser gesagt in den Tisch, legte Sarah ihm zwei Finger unters Kinn und zwang ihn aufzusehen. Pure Traurigkeit gepaart mit Verzweiflung blickte ihr entgegen. „Du hast ihn immer noch nicht gefunden“, meinte sie sanft und strich ihm durchs Haar. Eigentlich widerstrebte das Joe, doch er fand in diesem Moment einfach keine Kraft, sich zu wehren. Die Wärme, die von ihr ausging, vermittelte ihm das Gefühl von Geborgenheit und auf gewisse Art und Weise tat sie ihm gut, da er sich nach Zärtlichkeit sehnte. Er erwiderte nichts, sondern versuchte lediglich ihrem Blick standzuhalten. Ihre hellblauen Augen funkelten und sie erinnerten ihn an Ricks, was ihn ein leises Tosen des Meeres hören ließ. „Und du brauchst gerade eine Schulter zum Anlehnen, habe ich Recht?“ Während sie ihren Kopf ihm immer weiter näherte, verlor er augenblicklich seine Lethargie und stand abrupt auf. Gekränkt ließ sie sich zurück auf ihren Stuhl fallen. „Tut mir leid, falls meine Anwesenheit diese Geste erweckt haben sollte. Rick ist mein Freund und ich möchte ihm helfen. Darum…“, er wandte sich ihr zu und übersah gekonnt den Glanz über ihren Iriden, der eindeutig davon zeugte, dass sie ihn noch nicht abgeschrieben hatte. „… möchte ich dich fragen, ob du mir erneut eine Auskunft geben könntest. Ich weiß, dass ich schon wieder etwas von dir fordere und an sich keine Gegenleistung erbringe, dennoch bitte ich dich inständig um Unterstützung.“ „Wer sagt hier, dass du keine Gegenleistung erbringen kannst?“ „…“ Sie lachte. „Wenn du weiterhin so abweisend bist, fange ich noch an zu glauben, dass ich alt werde. Komm setz’ dich wieder hin. Ich verspreche dir auch, meine Finger bei mir zu lassen.“ Ergeben platzierte sich Joe wieder auf dem Stuhl, rückte ihn aber vorher ein wenig vom Tisch weg. Irgendwie kam er sich dabei vollkommen lächerlich vor, dennoch wollte er plötzlich Distanz zwischen ihr und sich wahren. Jede Facette seines Verstandes und insbesondere seines Herzens waren bei Rick und so sehr er sich auch nach Nähe sehnte, würde er diese nicht bei dieser Frau finden können, zumal das reines Hintergehen ihrer Beziehung wäre. Natürlich fand er weibliche Reize bisweilen anziehend, doch er musste sich zügeln, um nicht aus lauter Verzweiflung einen weiteren Fehler, womöglich den größten seines Lebens, zu begehen. „Jetzt übertreibst du aber“, neckte sie, konnte aber ein gewisses Maß an Enttäuschung nicht verbergen. „Nunja, was eine alte Schachtel wie ich möchte, ist nicht von Interesse, also rück schon raus mit der Sprache. Wie kann ich dir behilflich sein?“ „Du meintest, dass du in der Zeit, in der die Dafres verreist sind, für ihre Pflanzen verantwortlich bist. Weißt du vielleicht, wohin sie gefahren sind und wann sie wieder kommen?“ „Jetzt wo du es ansprichst…“ Sie überlegte eine kleine Weile lang und fuhr sich dabei mit einem Finger über die Lippen. „Sie meinten, sie seien ein paar Tage weg, aber den genauen Zeitpunkt ihrer Rückankunft haben sie mir nicht mitgeteilt. Ich glaube, ich hätte die Blumen einfach weiter gegossen, ohne mir darüber wirklich Gedanken zu machen. Ob sie nun eine Woche oder zwei weg wären.“ Während Sarah sich belustigt eine Tasse Kaffee einschenkte, versank Joe tief in Gedanken. Er dachte darüber nach, wann Ricks Eltern weggefahren waren, und so viel er wusste, war es der Tag vor der Entführung gewesen. Diese Tatsache fügte sich sehr zu seinem Leidwesen passend in das Bild ein, das er immer noch nicht wahrhaben wollte. Wie sollte er auch glauben können, dass der leibliche Vater seinem Sohn so etwas antun konnte? Das konnte und wollte er einfach immer noch nicht annehmen, obgleich es ein kompatibles Puzzlestück wäre. Doch warum hatten sie Sarah nicht gesagt, wann sie zurückkämen? Die Frage machte ihn nervös, zumal er dringend diese Information brauchte. Er wollte Kontakt zu Damon aufnehmen, um sich vergewissern zu können, dass Stevens Mutmaßung nur ein Hirngespinst war. Er wollte ihn vor der Polizei aufsuchen, um etwaigen Gesprächen mit Serrat zuvorzukommen. Nur dann hätte er doch den objektivsten Damon vor sich, oder nicht? Selbstverständlicherweise konnte man niemals von Objektivität sprechen, aber ein kleines Maß war davon dennoch mehr vorhanden, als wenn sich dieser Inspektor einmischte. Zumindest könnte Joe abwägen, wie Ricks Vater auf den Namen Serrat reagierte… Als er zwei Hände auf seinen Schultern vernahm, die ihn eindeutig massieren wollten, schreckte er auf. Mit einem Mal waren alle Bilder von Serrat und Damon vergessen. „Lass das.“ „Aber du bist total verspannt und ich versichere dir, mich zu zügeln, was alles weitere anbelangt.“ Die Finger, die sich in sein Fleisch gruben, verursachten richtiggehende Schmerzen, brachten anschließend aber Linderung mit sich. Eigentlich hätte er sie erneut zum Aufhören veranlassen sollen, doch er tat es nicht. „Kann es sein, dass du für ihn ein wenig mehr empfindest, als du mir gegenüber zugibst?“ „Was wäre, wenn es so wäre?“ Seine Stimme klang kühl. „Nichts“, hauchte sie nahe seinem Ohr. „Ich bin keine von diesen intoleranten Menschen, die Schwulen nicht das Recht gibt ebenso zu lieben.“ „Ich liebe einen Mann, aber macht mich das gleich schwul?“ Sarah wich einen Schritt zurück, stoppte aber ihre Massage nicht, verzog heimlich ihre Mundwinkel. Nach einem Moment der Besinnung schmiegte sie sich von hinten an ihn. „Heißt das, du standest vor ihm auf Frauen?“ „Ist das wichtig?“ „Also ja. Und was hat er, was wir Frauen nicht haben?“ „Hast du je richtig geliebt?“, entgegnete Joe barsch. „Falls ja, dann müsstest du mir nicht solche Fragen stellen.“ Schnaubend kehrte sich Sarah ab, schnappte sich ihre Tasse und beförderte sie ein wenig unsanft ins Spülbecken. Es tat zwar einen lauten Knall, aber das Porzellan blieb unversehrt. Anschließend ließ sie sich wieder auf ihrem eigenen Stuhl nieder und ihre Gesichtszüge wiesen tiefe Verletztheit auf. Als Joe etwas sagen wollte, veranlasste sie ihn mit einer abwehrenden Handbewegung dazu, still zu sein. „Ich habe ihn sehr geliebt, doch er brannte dennoch mit einer anderen durch. Seitdem spiele ich mit den Männern nur noch.“ Entschuldigend lächelte sie ihn bitter an. „Tut mir leid, Joe. Das habe ich mir wohl zu sehr angewöhnt. Ich wollte dir nicht zu nahe treten… Es freut mich, dass du so um ihn kämpfst. Irgendwie macht mich das wirklich glücklich und…“ „Und gleichzeitig traurig“, ergänzte der Blonde leise. Sie nickte nur. Wenig später lief Joe durch Luminis. Bevor er allerdings zu seinen Eltern ging, brauchte er erst einmal ein wenig frische Luft. Während die Häuser grauen Silhouetten gleich an ihm links und rechts vorbeizogen, atmete er tief ein und aus und versuchte sich der Melancholie, die ihn bei Sarah beschlichen hatte, zu entledigen. Dieses schnürende Gefühl trieb lediglich die grausamen Bilder der vergangenen Nächte in sein Denken und auf diese konnte er gut und gerne verzichten; er tat alles dafür, sie zu verdrängen. Er spürte doch, dass Rick noch lebte und auf ihn hoffte! Oder nicht? Als ob er das selbst bekräftigen wollte, krallte er seine Finger in das Stück Stoff über seiner linken Brust. Sein Herz schlug unbesänftigt gegen seine Hand. Um dem Schwermut nicht vollkommen nachzugeben, rief er sich das dritte Rätsel in den Sinn. Rationales Denken war etwaigen die Ablenkung, die er brauchte. ~~~~~ Norden ~~~~~ ~~ Unser aller Beginn! ~~ Auf was bezog sich ’unser’? Das war die erste Frage, die sich Joe stellte. Und je öfter er einen Fuß vor den anderen setzte, desto mehr war er davon überzeugt, dass sich das Pronomen auf Rick, ihn und diesen Alexandros Ornesté bezog. Bisher hatten alle Rätsel lediglich einen Bezug zu ihm selbst gehabt, also konnte es dieses Mal nicht anders sein. Mit einem Mal schossen ihm seine eigenen Worte durch den Kopf: ’Kann man sie je sicher sein?’ /Die Sicherheit ist doch allein auf Glauben begründet. Und was verursacht den Glauben? Eindrücke, Wunschdenken, Traditionen? Wieso halten wir Menschen an Dingen fest, die meist gar keine Begründung haben? Ist es nur, damit wir nicht durchdrehen und alle am Ende Amok laufen? Damit wir nicht zur nächstbesten Waffe greifen und dem Leben ein Ende setzen? Unser aller Beginn…/ Wann waren sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen? – Das war im Supermarkt gewesen. Das hieß wohl, wieder zurück nach Veneawer zu fahren. Joe sah die Szene genau vor sich, wie dieser Kerl seinen Freund gewaltsam festhielt und seine Lippen auf die des Dunkelhaarigen gepresst hielt. Blanken Zorn verspürte er, wenn er nur daran dachte. Wie konnte sich nur jemand dazu erdreisten, sich an Rick zu vergreifen? „Ich werde dich finden“, presste er zwischen seinen Lippen hervor. Als er das Haus seiner Eltern betrat, strömte ihm ein aromatischer Duft entgegen. Und als er in die Küche ging, wurde ihm bereits ein Tee angeboten. Das war eine Geste, die ihm heimelig zumute werden ließ. „Danke“, meinte er zu seiner Mutter, als sie eine Tasse vor ihm hinstellte, aus der Dampf emporstieg. „Ich weiß nun, wo wir das letzte Rätsel bekommen werden.“ Neugierig richteten sich vier Augen auf ihn. „Wir müssen zurück“, fügte Joe nur knapp an und vernahm das Seufzen aus Stevens Mund nur allzu deutlich. Als er diesen entschuldigend ansah, bemerkte er dessen peinliche Berührtheit. Er fühlte sich mit Sicherheit ertappt. „Ich kann auch mit dem Zug fahren, das stellt kein Problem für mich dar. Sowieso habe ich dir schon genug zu verdanken.“ „Unfug. Ich fahre dich.“ „Er könnte hier ohnehin nicht in Ruhe verweilen“, meinte Veronica und legte behutsam eine Hand auf die Schulter ihres Mannes. „Übrigens bin ich deiner Meinung.“ Fragend sah Joe sie an. „Auch ich glaube nicht daran, dass Ricks Vater hinter seiner Entführung steckt.“ Kurz funkelte Rick seinen Stiefvater böse an, der nur mit den Achseln zuckte. Sein Gesichtsausdruck deutete aber an, dass er lediglich ehrlich gegenüber seiner Ehefrau gewesen war. Joe gab ihm ohne Worte zu verstehen, dass er sie damit auch in Gefahr brachte. „Macht euch keine Sorgen um mich. Mir wird schon nichts geschehen.“ Als Veronica zwei erschrockene Gesichter erblickte, konnte sie sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. „Meint ihr zwei nicht, dass ich euch lange genug kenne, um eure Gestiken zu verstehen?“ Sanfte Wärme stahl sich in Joes Herz. Er war wirklich froh, eine Familie zu haben, die zusammenhielt und zueinander stand. „Naja, irgendwoher muss ich meine Klugheit ja haben“, meinte Joe keck und es erstaunte ihn selbst, wie locker er plötzlich reden konnte. Er zwinkerte. Steven hustete gekünstelt und grinste Joe kurz frech an. „Wohl eher den umwerfenden Charme einer Tomate.“ Zwei filzene Untersetzer flogen gleichzeitig in die Richtung, aus der nun lautes Lachen schallte. Für einen Moment konnte man den Eindruck bekommen, dass alles in bester Ordnung wäre, doch trug der Schein nicht meist? Aber was wäre ein Leben ohne die Laute der Freude? Es musste mehr als ein Tag vergangen sein, als Rick das letzte Mal einen anderen Menschen als sich selbst zu Gesicht bekommen hatte. Eigentlich hätte er die Stille in der Zwischenzeit gewohnt sein müssen, doch er würde sie wohl nie wirklich ertragen können. Die wenigen Laute, die ab und an an seine Ohren drangen, waren bei Weitem nicht genug und er wünschte sich, dass wenigstens Alexandros mal herunter zu ihm käme, auch wenn dieser Wunsch noch so dumm sein musste. Er bedeutete nichts weiter als diese widerwärtigen Lippen zu spüren. Und dennoch konnte Rick nicht anders als sich eine Person, wer diese auch immer sein würde, herbeizusehnen. Ständig war er immer von Joe umgeben gewesen und es hatte ihm noch so schlecht gehen können. Immer hatte er eine Hand in seinem Haar gefühlt. Und das war genau das, was er brauchte: Nähe. Die Nähe zu einem anderen Menschen. Ansonsten fühlte er sich allein und irgendwie verloren. Immer wieder schweifte sein Blick gen Tür. Doch diese öffnete sich nicht und würde es wohl die nächsten Stunden nicht tun. Etwaigen war er mit der Provokation Oliviers doch zu weit gegangen. Trotzdem bereute er es nicht, diesem Jungen auf den Zahn gefühlt zu haben. Bedeutete es denn nicht, dass er mit seinen Vermutungen Recht gehabt hatte? Dass Olivier die Schwachstelle schlechthin verkörperte? Im Grunde war es Rick gleichgültig, ob er richtig gelegen hatte oder nicht. Momentan wollte er einfach ein wenig Gesellschaft haben und nichts weiter. Diese Einsamkeit zehrte unwahrscheinlich an seinen Nerven, die im Endeffekt sowieso schon mehr oder minder blank lagen. Es war kaum vorstellbar, dass er vor ein paar Tagen noch in Joes Armen gelegen hatte. Wie er den Geruch von seinem Freund tief eingeatmet hatte. Er vermisste alles an Joe. Ob die sanften Berührungen, ob die vor Lust ungestümen oder einfach nur sein Lächeln, das bis in seine Seele dringen konnte. So sehr er Joe auch vermissen mochte, er musste versuchen sich zusammenzureißen. Wenn er ihn noch einmal sehen und spüren wollte, dann würde er stark sein müssen und vor allem mental kämpfen. Jedweden Gedanken an seinen Vater verdrängte er ohnehin. Seufzend stand Rick auf und besah sich das Sofa lange, blickte dann in Richtung des kleinen Fensters, durch das ein wenig Tageslicht fiel. Nach einer Weile des Zögerns stellte er sich hinter die Couch und begann sie nach rechts zu schieben, wandte dazu die letzte Kraft, die seinem Körper innewohnte, auf. Physisch fühlte er sich schon seit dem Aufstehen an diesem Tag schwach, irgendwie ausgezehrt, obwohl er an sich genug gegessen und getrunken hatte. Vielleicht lag es an der mangelnden Bewegung oder der leicht stickigen Luft, die im Zimmer vorherrschte. An sich war das nicht von Belang, denn ob er sich nun matt fühlte oder nicht war in diesem Loch unwichtig. Als das Sofa an der Wand anstieß, setzte er sofort einen Fuß darauf und legte beide Hände ans Fensterbrett und drückte sein Gesicht gegen die dreckige Scheibe. Alles was er sah war weitere Trostlosigkeit, die aber durch den schwachen Schein des Tages nicht so bedrückend auf ihn wirkte. Die Minuten zogen förmlich dahin und er regte sich währenddessen nicht. Vielmehr war er in dieser für ihn bald schon fremden Welt versunken. Ein paar dürre Grashalme und von der Feuchtigkeit glänzende Blätter hatten seine Aufmerksamkeit voll und ganz für sich. Wesentlich mehr sah er auch nicht, aber diese wenigen Zeugnisse der Natur waren dennoch Balsam für seine Seele. Er stellte sich vor, mitten auf einem blühenden Feld zu stehen und den Duft von frischem Gras und Blumen einzuatmen, dabei in die weite Ferne des Horizonts zu blicken und Joe neben sich zu wissen. Dass er sich das einzig in seiner Fantasie zusammenspann, war ihm dabei vollkommen bewusst und doch konnte er es nicht unterlassen, sich immer weiter damit zu quälen. Es war eine süße Qual, die mehr Angenehmes als Schändliches an sich hatte. Rick hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange er bereits starr am Fenster stand, aber allmählich begannen seine Glieder zu schmerzen. Seine Beine fühlten sich mit der Zeit ganz taub an und er musste sie bewegen, ob er wollte oder nicht. Mit einem leisen Klagelaut stieg er vom Sofa und drehte ein paar Runden in dem Zimmer und machte dabei einen Abstecher ins Badezimmer, das wie gewohnt angenehm hell war aufgrund des Lichts, das sofort aufflammte, das ihm bisher nicht genommen worden war. Eigentlich hatte er keinen Blick in den kleinen Spiegel werfen wollen, aber als sein Blick diesen streifte, tat er es dann doch mit vollem Bewusstsein. Es war schockierend, was er darin erblickte. Müde und erschöpft waren noch zu liebevolle Worte für sein Erscheinen. /Wenn mich Joe so sähe, würde er sich eher Schritt für Schritt von mir entfernen als mich in seine Arme zu schließen. Ob er mich in diesem Zustand überhaupt wiederhaben möchte?... Ich würde ihn in jedweder Form lieben, aber er mich auch? Vielleicht… sollte ich einfach nicht darüber nachdenken. Wie immer sollte ich einfach meine Gefühle verdrängen…/ Er ging zurück zum Sofa und stellte sich erneut auf es. Ihm war ja nichts geblieben als diese schmale Öffnung zur Außenwelt. Zumindest war es ihm bisher erspart geblieben von Alexandros mehr als nur eines Kusses beraubt worden zu sein. Er wusste mittlerweile nicht mehr, ob er es ertragen würde, von ihm auch anderswo angefasst zu werden, als am Rücken und im Gesicht. Ob er es verkraften würde, von ihm in intimeren Bereichen berührt und etwaigen gänzlich genommen zu werden. Bisher hatte er gedacht, es hinnehmen zu können, wenn er danach freigelassen würde. Doch allmählich beschlich ihn das Gefühl, dass dieser Kerl dann immer wieder zu ihm käme und seine Befriedigung fordere. Solch ein Mann hatte doch niemals genug! Er würde sich immer von neuem nehmen, nach was ihn gelüstete, ohne einmal darüber nachzudenken, was er damit anrichtete. Rick legte sich eine Hand über seine Augen und kniff diese unter ihr fest zusammen. An so etwas durfte er partout nicht denken! Es brachte nichts, den Teufel an die Wand zu malen, wenn er nicht einmal anwesend war. Es keimte lediglich Ängste auf, die er nicht verspüren durfte. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, den er erst wahrnahm, als er seine Hand von seinen Augen nahm. Da Rick auf einmal einen Fuß sah, schreckte er zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Schweigend beobachtete er, wie sich der Mann vor seinem Fenster wieder entfernte. Das erkannte er daran, dass das wenige Gras, das er sah, niedergedrückt wurde. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, denn er fühlte sich plötzlich selbst beobachtet. Als ob sein ’kleines Reich’ nicht mehr so undurchsichtig sei wie er die ganze Zeit über angenommen hatte. Wurde er denn insgeheim belauscht und gemustert? Allein schon der Gedanke daran ließ ihn sich noch schlechter fühlen; es war schier unangenehm. Mit einem Mal fühlte er sich völlig in die Enge getrieben, was in ihm eine leichte Form von Panik auslöste. Unruhig sah er sich im Raum um, suchte alle Ecken und Wände mit den Augen ab. Vielleicht gab es ja Kameras? Oder Wanzen? Seine Zähne verbissen sich in seiner Unterlippe, während er vom Sofa sprang und damit begann, den Schrank abzusuchen. Ihm missfiel es, dass er keinen Lichtschalter besaß, denn diese Düsternis, die ihn umgab, trug nur dazu bei, dass er sich noch elender fühlte und ihn beim Suchen nach Spionageobjekten hinderte. Mit beiden Händen tastete er Boden für Boden ab, doch er stieß auf keine Unebenheiten, die nicht hätten existieren dürfen. War er gerade dabei durchzudrehen? Er wollte ja Ruhe bewahren und sich nicht aus der Fassung bringen lassen, doch wie stellte man das denn an, wenn man seit Tagen mehr oder minder allein in einem kargen Raum gefangen gehalten wurde und von dem Menschen getrennt war, der einem einzig zum Lachen bringen konnte? Obgleich es kaum einen Unterschied machte, ob es gerade Tag oder Nacht war, funktionierte seine innere Uhr noch und er schlief widerwillig gegen Mitternacht ein. Er hatte eh viel zu lange aus dem kleinen Fenster gesehen und sich aufgrund seiner Einbildung, ununterbrochen unter Beobachtung zu stehen, halb verrückt gemacht. Immer wieder hatte er sich eingeredet, dass ihm bisher ja nichts weiter geschehen war und zudem auch gut versorgt wurde. Zwar hatte sich kein Mensch in den letzten Stunden blicken lassen und ihm neue Lebensmittel gebracht, doch er hatte eh keinen Hunger verspürt. Wer weiß, ob er was gegessen hätte, selbst wenn das frischeste Gemüse vor ihm gestanden und seinen aromatischen Duft verströmt hätte. Mit angezogenen Beinen lag er auf dem Sofa und umarmte sie mit beiden Armen. Sein Gesicht vergrub er tief in der rechten Armbeuge. Unruhig schlug sein Herz, hämmerte regelrecht gegen seine Brust. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte diese Nacht nicht zu träumen tat er es dennoch. Er hatte gewusst, weshalb er das gewollt hatte, denn weitere Alpträume konnte er wahrlich nicht gebrauchen. Und nun suchten sie ihn wieder heim. Joe war so nah, doch egal wie viele Meter er zurücklegte, er konnte ihn nicht erreichen. Er sah auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, er sah das Lächeln, das er so liebte, und dennoch war er nicht imstande, Joe zu berühren, geschweige denn ihn überhaupt einzuholen. Immer wenn er glaubte, mit einem Sprung könne er ihn fassen, verschwand er noch schneller in der Ferne wieder. War teils nur ein kleiner, schwarzer Punkt, der ihn aber allein durch seine Anwesenheit antrieb, wieder aufzustehen und weiter zu laufen. Plötzlich tat es einen lauten Knall und Joe zersprang in tausend Stücke. Rick schrie. Schlug die Augen auf und schrie weiter. Bis er in zwei Augen blickte, die ihn anfunkelten. Und dann spürte er, dass er fest von zwei Händen festgehalten wurde… Er wand sich unter der starken Berührung, doch er kam nicht frei, egal wie er sich wehrte. Alexandros zog ihn irgendwann ganz nahe zu sich heran, so dass Rick seinen Geruch einatmete. Er war nicht einmal abstoßend, vielmehr angenehm, dennoch wollte er dem Kerl nicht dermaßen nahe sein. „Loslassen!“, knirschte Rick. „Beruhige dich erst mal.“ Sanft strich eine Hand über seinen Rücken. War das denn nun die Realität? Wurde er von diesem Widerling getröstet? „Wie denn, wenn Sie mich hier gefangen halten?“ „Das ist nur zu deinem Besten.“ „Bitte?“ „Du hast mich schon richtig verstanden“, säuselte Alexandros und drückte ihm seine Lippen auf die Stirn. Rick wusste gerade nicht, ob er noch träumte oder wachte. Leider wusste er, dass er sich wirklich nicht verhört hatte, aber was sollte das heißen: ’zu deinem Besten’? In seinem Kopf schwirrte alles. Gerade noch hatte er geschrieen und das wollte er immer noch tun, doch es drang kein Schrei mehr über seine Lippen, so sehr er seinen eigenen lauten Laut noch immer in den Ohren summen hörte. Wie gern hätte er diesen Kerl angeschrieen, doch er konnte nicht. Und es war wirklich markerschütternd, als er erkannte, weshalb. Er konnte es gar nicht fassen, als er merkte, dass er sich in der schützenden Umarmung wohl fühlte. Dass ihm mit einem Mal die Einsamkeit genommen war und er sich nicht mehr zusammenzurollen brauchte, um sich ein wenig geborgen zu fühlen. War das nicht grotesk? Wie konnte man sich in den Armen des Menschen wohl fühlen, der für die Misere, in der er sich befand, verantwortlich war? War es der Umstand, dass sein eigener Vater der eigentliche Drahtzieher war? Was bewegte ihn zu diesem Gefühl? /Wie kann ich mich in dieser Lage auch noch behütet fühlen?... Joe ist so weit weg… aber ich brauche ihn doch!/ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)