Heilloser Romantiker von Pansy ================================================================================ Kapitel 41: Kapitel 41 ---------------------- Kapitel 41 Der Schrei hallte noch lange in der Ferne wider und trug die Verzweiflung viele, viele Male zurück zu Joe, der eben diese im Herzen spürte. Wenn seine Vermutung wahr war, dann schwebte sein Freund in einer noch viel größeren Gefahr als er bei seiner Ankunft gedacht hatte. War er denn nicht hergekommen, um Rick vor seinen Eltern zu bewahren? Um ihn aus den Fängen seines Vaters zu befreien, um ihn vor neuen Anfeindungen zu schützen? Mit dieser Art Angst, die sich stattdessen heimlich in sein Herz gestohlen hatte, hatte er nicht gerechnet und sie war, um es gelinde auszudrücken, entsetzlich. Um einiges Nervenaufreibender und Sorgenerregender. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte eine ihm unbekannte Frauenstimme höflich, die mit einem Mal an seine Ohren drang, ohne jedwede Vorwarnung oder Ankündigung. Joe brauchte eine Weile, um den Klang zu orten, doch dann sah er eine groß gewachsene Frau mit langen, braunen Haaren aus einem Fenster lehnen. Sie wohnte anscheinend im Nachbarhaus zu Joes Rechten, zumindest verweilte sie in diesem, und zog erwartungsvoll ihre Augenbrauen nach oben. Durch den dichten Schnee konnte der Blonde sie kaum erkennen und vermochte es bestimmt nicht, ihre Gesichtszüge und –regungen richtig wahrzunehmen, aber selbst durch die widrigen Wetterverhältnisse befand er sie für attraktiv. „Haben Sie einen dunkelhaarigen jungen Mann hier irgendwo gesehen, ein kleines Stück kleiner als ich?“, fragte er, nachdem in ihm die ersten Erwartungen geweckt worden waren. Vielleicht hatte er ja Glück und sie konnte ihm tatsächlich helfen. Nach einer Ewigkeit, wie es Joe erschien, antwortete sie: „Ich habe noch nie einen Jungen bei den Dafres gesehen.“ /Weshalb wundert mich das nicht einmal!?/ Der Blonde dachte kurz nach und fuhr sich indessen mit einer Hand durchs Haar, das ihm nass am Kopf hing. Mit jeder Flocke, die vor ihm herabfiel, verblassten die Spuren im Schnee. Es konnte also noch nicht lange her sein, wo Rick… Das wollte er noch nicht einmal denken! Aber die Vermutung festigte sich zunehmend in seinem Verstand, was ihn total mürbe machte. „Ist Ihnen vor ein paar Minuten irgendetwas aufgefallen? Ich meine etwas Ungewöhnliches, ob fremde Stimmen, Schreie oder quietschende Autoreifen oder etwas in der Art?“ Völlig benommen und irritiert sah Joe dabei zu, wie das Fenster einfach geschlossen wurde und seine Fragen damit unbeantwortet blieben. Für einen Augenblick empfand er nichts als Bestürzung. „Welch eine Hilfe“, knurrte er. /Dabei brauche ich doch jedweden Hinweis, um Rick zu… retten. Ist es das, was mir nun bevorsteht? Muss ich ihn aus den Klauen dieses Wahnsinnigen befreien?/ Irres Lachen entkroch seiner Kehle, ein Laut, den er nicht beabsichtigt hatte. Und doch spiegelte er seine Emotionen getroffen wider. „Weder kenne ich seinen Namen, noch weiß ich, wo er wohnt“, grummelte er vor sich hin. „Ich habe überhaupt keinen Anhaltspunkt.“ „Doch den haben Sie!“ Erschrocken fuhr Joe um und blickte in das freundliche Gesicht der Frau, von der er dachte, sie hätte sich einfach verdrückt ohne den Pflichten der Höflichkeit nachzukommen, die nun aber lächelnd vor ihm stand und selbstbewusst auftrat. „Zwar habe ich nicht den Menschen gesehen, nach dem Sie fragten, aber dafür flüchtig einen stattlichen Mann, der in ein Auto mit schwarz getönten Scheiben einstieg und eilig davonfuhr.“ In Joe schnürte sich alles zusammen. Also doch! Der Fremde hat Rick… Sein Puls beschleunigte sich, obwohl ihm das Blut in den Adern zu gefrieren schien. „Konnten Sie die Automarke erkennen?“ „Nicht nur das“, grinste sie und strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne hinters Ohr. Aus großen Augen blickte Joe sie an. „Wollen Sie mir damit sagen, dass…?“ Aufgrund seines enormen Herzschlages brach seine Stimme ungewollt ab. „Die Antwort lautet ’Ja’“, warf sie gefällig ein. „Ich lade Sie auf einen heißen Kaffee ein und biete Ihnen ein Handtuch an, ich habe es auf einem Zettel notiert und der liegt sowieso drinnen. Kommen Sie schon, nur keine Scheu.“ Sie lief voraus, einen dunkelroten Mantel fest um sich geschlungen. Gerade wusste Joe nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Ihm erging es in diesem Moment genauso wie Rick vor ein paar Stunden, als er ihm gesagt hatte, dass seine Eltern mit ihnen beiden einverstanden waren. Doch nun ging es nicht um den Segen von Mutter oder Vater, es ging um bedeutend mehr. Um das Wohlergehen eines Menschen, der es nicht verdient hatte verletzt zu werden; der in den Fängen eines Mannes war, dem alles zuzutrauen war. Von Entführung bis hin zu… Mord? Obgleich ein seichtes Lächeln Joes Mundwinkel umspielt hatte, es war alsbald nicht mehr auszumachen. Jedwedes Freudengefühl war einem Schrecken gewichen, der ihn der Dame widerstandslos folgen ließ. „Hier“, meinte die Unbekannte und warf Joe ein gelbes Handtuch zu, das er geschickt auffing. Er hatte gewiss nicht vor, sich lange bei ihr aufzuhalten, aber die Wärme, die ihm sogleich entgegenströmte, als er das Haus betrat, tat ungemein gut und er wollte die Frau zudem nicht vor den Kopf stoßen. Schließlich besaß sie etwas, das er unbedingt wollte. „Ich bin übrigens Sarah“, rief sie ihm von irgendeinem Zimmer aus zu, denn sie hatte ihn im Flur allein zurückgelassen. „Hätten Sie gegen das ’du’ irgendwelche Einwände?“ Keck streckte sie den Kopf zu einer Tür heraus und sah zu ihm. Ihre hellblauen Augen glitzerten. „Ganz und gar nicht“, erwiderte er und war von ihrer Erscheinung leicht übermannt. Sein Fable für Frauen hatte sich selbstverständlicherweise nicht einfach in Luft aufgelöst. Weibliche Reize und vor allem diese enorme Ausstrahlung gefielen ihm wie eh und je außerordentlich. „Kennst du die Dafres?“, drang erneut ihre Stimme aus dem Zimmer am Ende des Ganges. „Ich bin mit dem Sohn der Familie befreundet“, erwiderte er laut genug, damit sie es hören konnte. In Joes Ohren klang sein Satz grotesk, obwohl er der Wahrheit entsprach. Nicht nur dass er mit ihm geschlafen hatte, er liebte ihn und das zählte wohl mehr als Freundschaft, oder nicht? Weshalb prahlte er dann nicht damit und spielte es auf solch unbedeutende Worte herunter? Weil es sich einfach nicht gehörte. Es schickte sich nicht, vor anderen Leuten, insbesondere vor Fremden, mit seinem privaten Glück anzugeben. Aber was war dabei zu sagen, dass der Dunkelhaarige sein Liebhaber war? Vielleicht war die Gesellschaft einfach doch noch nicht so weit, das zu akzeptieren. Obgleich er ungeniert mit Rick durch die Straßen von Veneawer gelaufen war, war es für ihn etwas vollkommen anderes, einer Frau, die er obendrein nicht einmal kannte, zu entgegnen, in welcher Beziehung er zu Rick stand. Zumal dies nicht einmal zur Beantwortung gestanden hatte. Also, weshalb hörten sich dann seine Worte für ihn so falsch an? „Des Öfteren sehe ich Besuch bei ihnen“, ertönte erneut ihre Stimme, „doch junge Menschen waren bisher nie darunter. Du meinst, sie haben einen Sohn?“ Sarah lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. „Also es ist ja nicht so, dass ich beobachten würde, was bei meinen Nachbarn vor sich geht“, fügte sie lachend an. „Aber ein adretter junger Mann in deinem Alter wäre mir sicherlich aufgefallen.“ „Ja, sie haben einen Sohn“, bekräftigte Joe mit fester Stimme. Die Anzüglichkeit in ihren Augen gefiel ihm nicht, so sehr er sich einst gewünscht hatte, dermaßen von einer solchen Frau angesehen zu werden. Zugegebenermaßen entsprach Sarah äußerlich in hohem Maße seinen Vorstellungen von Anziehungskraft, doch seit geraumer Zeit hatte er andere Merkmale entdeckt, die ihm viel wichtiger waren. Insbesondere welche, die Rick innehatte. Und er war einzig und allein hier, um etwaigen Indizien nachzugehen, die er hier hoffentlich auch wirklich finden konnte. „Der Kaffee ist fertig, der wird dir gut tun“, meinte sie und deutete ihm an, ihr zu folgen. Wenig später saß er ihr an einem kleinen runden Tisch gegenüber mit einer Tasse vor sich, die mit heißer brauner Flüssigkeit gefüllt war, die er nicht sonderlich mochte. Feiner Dampf stieg aus ihr empor und er zwang sich, einen Schluck aus ihr zu entnehmen. Aus reiner Manierlichkeit ließ er den Kaffee seine Kehle hinunter gleiten. Joe war nach keinem Smalltalk zumute, den Sarah seiner Meinung nach aber anstrebte. Er konnte sie kaum dazu drängen, endlich das Kennzeichen herauszurücken, denn womöglich stand er am Ende dann mit leeren Händen da. Und das stand gewiss nicht in seiner Absicht, da er es dringend brauchte. Außer diesem hatte er ja keinen Hinweis, also musste er sich wohl in sein Schicksal fügen und Sarah den Gefallen tun und den braven jungen Mann mimen, der sich gerne in ihrer Gesellschaft befand. „Haben die Dafres noch weitere Kinder?“ Ihre Neugierde schien ziemlich ausgeprägt zu sein. „Nein“, erwiderte er knapp. „Das erklärt einiges. Bedien’ dich ruhig.“ Sie schob ihm eine Schüssel mit Weintrauben hin, doch er verspürte absolut keinen Appetit. Er wollte diese verdammte Nummer haben, nichts weiter. War das zu viel verlangt oder zu unkultiviert, wenn man bedachte, dass sie ihm ihre Hilfe anbot? Allmählich fragte er sich, weshalb sie ihm ein Gespräch aufdrückte. Was wollte sie denn damit bezwecken? /Die Minuten verstreichen voller Untätigkeit. Wenn ich wüsste, wie es dir geht, dann würde sich vielleicht wenigstens die Angst um dich legen./ „Nein, danke.“ Wenn er nichts von ihr brauchen würde, wäre er spätestens jetzt wieder aufgestanden und gegangen. Trotz all seiner guten Erziehung hätte er sie ohne ein weiteres Wort sitzen lassen. Er wollte doch nur diese kleine, aber entscheidungsträchtige Information haben. Ein paar Buchstaben und Zahlen, sonst nichts. Keine mühsame Unterhaltung, kein Gedankenaustausch, nein, einfach nur das Kennzeichen dieses Wahnsinnigen, der Rick in seiner Gewalt hatte. „Sie haben, entschuldige, du hast also einen Mann gesehen, der mit einem…“, er sah sie fragend an. Nun musste sie doch zur Sache kommen! „Mercedes, S-Klasse, wenn ich mich nicht getäuscht habe“, ergänzte sie und lächelte ihm aufreizend zu. „Ein recht teurer Spaß.“ Auf ihre eindeutigen Flirtversuche ging er nicht ein und er verspürte auch keinen Drang dazu. „Und Sie haben sich in der Tat das Kennzeichen notiert?“ Aufgrund seiner aufkeimenden Ungläubigkeit vergaß er völlig, dass sie per du waren. „Zweifelst du etwa an meiner Aussage?“ Sie klang ein wenig bitter und fixierte ihn. Er war eben emotional überlastet und dafür erwartete man nun von ihm auch noch eine Entschuldigung. Heimlich seufzte er in sich hinein. „Es tut mir leid, nein das tu ich nicht. Es ist nur ein wenig ungewöhnlich, sich das Kennzeichen fremder Leute zu notieren.“ „Nicht, wenn kürzlich in der Nähe eingebrochen worden ist“, meinte sie achselzuckend. „Bitte sehr.“ Sie reichte ihm einen kleinen rosafarbenen Zettel. Endlich! Joes Herz pochte und er griff erleichtert nach ihm. „Bis auf die letzten zwei Ziffern und einer der Buchstaben ist es korrekt. Kann sein, dass die Zahlen dennoch richtig sind, aber ich mag nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Der Schnee fiel ziemlich dicht und ich hatte wirklich Mühe, das Kennzeichen überhaupt zu lesen.“ Ein unvollständiges Kennzeichen? Besser als gar nichts in den Händen zu halten, aber konnte er damit etwas anfangen? Er ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben und erst einmal nachzudenken. „Das VER ist richtig?“, fragte er aufgeregt, bemühte sich aber seine Unruhe zu verbergen und nicht überhastet zu klingen. Sie nickte. Der Fremde stammte also ebenfalls aus Veneawer. Nun, da Rick immer dort auf ihn getroffen war, war das sehr wahrscheinlich gewesen, doch man konnte ja nie wissen, wo sich Verbrecher ihre Opfer suchten. Joe erschauerte. Der Kerl war womöglich immer in seiner Nähe gewesen, hatte Rick wie einem Tier aufgelauert und den passenden Moment abgewartet, wo er sich ihm aufdrängen konnte. Und er war so leichtfertig gewesen zu glauben, dass er ihnen nicht hierher nach Luminis folgen würde. Obendrein hat er Rick allein zu seinen Eltern laufen lassen. Allein! Eigentlich war das völlig unbedarft von ihm gewesen… „Ja, das steht glaube ich für Veneawer.“ „Tut es“, bestätigte der Blonde. „Die Dafres wären eh nicht zuhause gewesen“, warf Sarah mit einem Mal völlig aus dem Zusammenhang gerissen ein. /Er hatte sich nicht bei ihnen angekündigt… spekulierte auf den Überraschungseffekt…/ „Sie sind gestern verreist“, fügte sie versonnen an. Wusste diese Frau denn über alles Bescheid, was Ricks Eltern taten? Sorgenfreies Lachen durchdrang den Raum. „Keine Sorge, ich steh nicht den ganzen Tag am Fenster. Sie haben mich nur darum gebeten, ihre Pflanzen zu gießen, obwohl unsere Beziehung zueinander nicht wirklich tief reicht; darum weiß ich das. Und das ist auch ein weiterer Grund dafür, dass ich mir das Auto von dem Fremden näher angesehen habe, als ich laute Stimmen vernahm. Heutzutage werden sogar am helligten Tage Verbrechen verübt.“ /Sogar Entführungen…/ „Danke für Ihre Aufmerksamkeit.“ Joe stand bereits, als er ihr die Hand reichte. „Hatten wir uns nicht auf ’du’ geeinigt?“, grinste sie ihm verführerisch zu. „Dann noch mal einen herzlichen Dank an dich, Sarah!“ Die Zeit drängte, er wollte endlich etwas unternehmen. Aber irgendwie kam er immer noch nicht weg, denn sie ließ seine Hand nicht wieder los. „Du kannst gerne jederzeit wieder kommen.“ Bemüht rang er sich ein freundliches Lächeln ab, wonach sie ihn wieder freigab. „Danke für alles“, verabschiedete er sich und sah zu, schleunigst ihre Wohnung zu verlassen. Zurück im Schneetreiben, das sich in der Zwischenzeit nicht beruhigt und das letzte Zeugnis von Ricks Dagewesensein begraben hatte, atmete der Blonde erleichtert aus. Die beklemmende Atmosphäre war ihm aufs Gemüt geschlagen und die frische Luft nahm ihm sofort ein wenig des Unwohlseins, wenn auch nur des physischen. Seelische Linderung konnte vermutlich erst eintreten, wenn er Rick wieder bei sich wusste und ihn in seine Armen schließen konnte. Hätte er nur darauf beharrt, ihn zu begleiten, dann wäre Rick hier bei ihm! Doch was brachten schon ’was wäre wenn-Spielchen’!? /Ich werde jedem Hinweis nachgehen, der sich mir offenbart. Halte solange durch! Bitte! Bitte, dir muss es gut gehen!!!/ Er lief auf direktem Weg zu seinen Eltern und weihte sie in alles ein. Obgleich er eigentlich keinen weiteren Menschen in Gefahr bringen wollte, so brauchte er doch moralische und vielleicht auch tatkräftige Unterstützung. Schließlich waren drei Köpfe besser als einer, die die wenigen Puzzleteile zusammenfügen konnten. Seit einer Weile schon saßen sie zusammen in der Küche und sowohl Steven als auch Veronica hörten ihm aufmerksam zu. „Die Polizei wird nichts unternehmen“, meinte sein Vater, als Joe auf sie zu sprechen kam. „Ich weiß, diese dumme 48-Stunden-Klausel, zumal ich nicht nachweisen kann, dass es sich tatsächlich um eine Entführung handelt.“ „An den Statuten können wir nicht rütteln, aber vielleicht hilft sie uns mit dem Kennzeichen weiter“, versuchte Veronica ihren Sohn zu besänftigen. „Das habe ich auf dem Weg hierher bereits probiert. Mit den netten Worten ’Solche Auskünfte sind mir Ihnen gegenüber nicht gestattet’ wurde ich abgewimmelt. Außerdem ist das Kennzeichen nicht einmal vollständig und es gibt in Veneawer sicher mehr als eine Million Autos.“ Seine Stimmung erreichte allmählich den Tiefpunkt. Er fühlte sich aller Mittel beraubt, jedweder Chance, Rick zu retten. Ziellos durch die Stadt zu irren und wie ein Verrückter nach dem Wagen Ausschau zu halten, würde sicher auch nichts bringen. Wenn ein Täter gerissen war, dann meist in hohem Maße. Sicher würde er den Mercedes nicht auf offener Straße stehen lassen, geschweige denn mit ihm Spazierfahrten unternehmen. Oder fühlte er sich vielleicht dermaßen sicher, von keinem beobachtet worden zu sein, dass von außen keine Gefahr drohte? Oder war er ein hohes Tier und konnte sich jederzeit frei kaufen? „Was geht in so einem Irren eigentlich vor?“, brach es aus Joe heraus. „Wir sollten jetzt nicht die Nerven verlieren“, kommentierte Steven, obgleich er seinen Sohn sanft ansah und eine Hand beschwichtigend auf seine Schulter legte. Alle hatten gut Reden! Sie vermissten ja nicht den liebsten Menschen auf Erden! Und glaubten ihn in den Fängen eines Kranken zu wissen! Mit einer Faust schlug der Blonde auf den Tisch, auf dem die Gläser klirrten. „Wie kalt muss man denn sein, sich eines Menschen zu bemächtigen?“ „Es geschehen ständig grausame Dinge, nur sieht man sie erst, wenn sie einen selbst betreffen“, sprach seine Mutter mehr in Gedanken als zu ihrem Sohn. „Was Menschen allerdings dazu veranlasst, könnte ich nur mutmaßen, denn ich verstehe es ja selbst nicht.“ Eine bedrückende Stille kehrte ein und die Luft hing schwer im Raum. Seidene Fäden spannen sich um Joes Herz, schnitten unsichtbare Wunden hinein. „Ich kann keine zwei Tage hier verharren, bis sich die werten Herren der Polizei dazu aufraffen, uns zu unterstützen.“ Wut und zugleich Ausweglosigkeit schwangen in seiner Stimme mit. „Was hast du nun vor?“, fragte sein Vater laut und herausfordernd. Mit hochgezogener linker Augenbraue fokussierte er Joe. „Jedenfalls nicht dumm rumsitzen!“, entgegnete dieser scharf und wunderte sich über die unerwartete Anmaßung, die die Unruhe in ihm nur noch steigerte. „Was dann?“ Die Provokation war nicht mehr zu überhören. Selbst Veronica musterte ihren Mann konsterniert. „Wenn es sein muss, dann klappere ich eben jede verteufelte Gasse nach diesem Auto ab!“ „Und was erhoffst du dir?“ „Ihn zu finden, verdammt!“ „Du weißt, dass das Kennzeichen nicht eindeutig ist?“ „Ja, Dad! Ja!“ „Und was ist, wenn du keinen Erfolg hast?“ „Dann suche ich weiter!“ „Kein Aufgeben?“ „Nein!“ „Auf was wartest du noch?“ Plötzlich wich sämtlicher Zorn aus Joes Körper. Nicht nur die Frage, sondern hauptsächlich die veränderte Stimmlage, der Wechsel von Provokation zu Sanftmut, warfen ihn so aus der Bahn, dass seine Rage einfach verpuffte. „Ich werde dich begleiten“, fügte Steven an und lächelte seiner Frau warmherzig zu. Kurze Zeit später saßen sie bereits in Stevens Auto und Joe schaute gedankenverloren aus dem Fenster. /Dass es diese Psychotricks gibt, wusste ich ja, doch dass sie tatsächlich funktionieren, hätte ich nicht gedacht. Er schaffte es wirklich, meinen Zorn zu verflüchtigen, um wieder einen halbwegs freien Kopf zu erlangen. Besser hätte er mich nicht beruhigen können… Veneawer, wir kommen! Und Rick, wir werden dich finden!/ „Wir müssen ihn finden!“ Sorgenvoll blickte er nach links. „Das werden wir“, erwiderte Steven, der am Steuer saß, obwohl er sich da nicht sicher war. Glücklicherweise war die Autobahn recht frei und sie kamen dadurch schneller voran als zunächst angenommen. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, stieg die Hoffnung, mit jedem Kilometer, der aber noch vorhin ihnen lag, schwand die Zuversicht wieder. „Am besten, wir suchen getrennt“, meinte Joe und sah nun seitlich aus dem Fenster, an dem die Leitplanke stetig an ihm vorbeirauschte und sich doch kaum zu verändern schien. „Aber keine Alleingänge!“ Einen ernsten Blick warf Steven seinem Sohn zu und er meinte das so, wie er es sagte. „Wenn du ein Auto, das unseren bekannten Hinweisen entspricht, gefunden hast, dann rufst du mich an und wartest, bis ich da bin.“ „Aber-“ „Keine Widerrede. Haben wir uns da verstanden?“ „Ja.“ Seine Antwort klang sichtlich gequält. /Ich bin erwachsen, verdammt!... Und doch wirst du wohl immer verbissen die Rolle des Vaters mimen, natürlich aus den gleichen Sorgen, die ich um Rick hege, aber in manchen Situationen wünscht man sich keine Regeln oder gar Befehle. Seit ich mir über meine Gefühle im Klaren bin, sehnt sich alles in mir nach ihm und das kann die reinste Qual sein, denn die Angst, ihn nie wieder zu sehen, reißt mir klaffende Wunden ins Herz, die ich kaum zu schließen vermag. Ich spüre das Pochen, das sogar meine Ohren erreicht, und es wird zunehmend schneller, je näher wir ihm kommen… Es mag selbst für mich seltsam sein, aber ich bin davon überzeugt, dass er dich nach Veneawer gebracht hat und nicht irgendwo anders hin. Allein schon das selbstsichere Auftreten des Kerls ließ mich darauf schließen… Aber eigentlich sagt mir das etwas ganz anderes…/ Mit verschleierten Iriden saß Joe auf dem Beifahrersitz und nahm die Farben seiner Umwelt nur noch als dunkle Silhouetten wahr, deren Form einzig aus Linien bestand. Unbedeutende Konturen, die den Schmerz nicht ahnten, der sich in ihm ausbreitete. Lichtlose Umrisse, belanglos, lieblos, unbedeutend. Je weiter Rick die Augen öffnete, desto stärker erschien ihm die Finsternis, die ihn umgab. Da waren jegliche Bilder der Fantasie farbenfroher, schillernder und lebhafter als dieser karge, lieblose Raum, in dem er sich mit Kopfschmerzen wieder fand. Mit pochenden Schläfen blickte er verwirrt umher, auf kahle Möbel und Wände, die jedwedem Charme entbehrten. Blanke Mauern, matte Schränke, ein winziges Fenster. Mühsam arbeitete sein Gehirn und er brauchte eine ganze Weile, bis er sich entsann, was passiert war. Sein Handy hatte vibriert und er hatte fest mit Joe gerechnet gehabt. Doch dann… /… hörte ich diese elendige Stimme, die ich wohl nie wieder loswerde… Aua, mein Kopf,… was hat der bloß mit mir gemacht?/ Er kniff die Augen zu und drehte seinen Kopf vorsichtig von links nach rechts und zurück. Schmerzen durchzuckten ihn und seine Finger krallten sich in den Stoff des Mobiliars, auf dem er lag. Als er gequält seine Lider wieder anhob, konnte er es als Sofa identifizieren, mit einem dunklen, mürben Grün überzogen, das alt und unwirtlich aussah. Allmählich spürte er auch, wie ungemütlich es war. Neben seinem Kopf tat zudem sein Rücken weh, als ob er sich mächtig verlegen hätte. /Ich weiß noch, wie ich ihn plötzlich vor mir stehen sah, wie seine Hände mich packten und wie ich ihn von mir wegstoßen wollte… Ich glaube, ich habe sogar geschrieen, oder habe ich mir das lediglich eingebildet?/ Sein Atmen drang schwer durch den mittelgroßen Raum, durchbrach die eisige Stille, die sich perfekt in das Erscheinen des Zimmers einband. /Die Erinnerung ist so verschwommen… Vielleicht soll ich nicht erfahren, was er mit mir gemacht hat./ Mit einem Mal erschauerte der Dunkelhaarige gänzlich. Nein, gewiss wollte er nicht wissen, wozu sich dieser Kerl womöglich erdreistet hat. Angeekelt schaute Rick an sich hinunter, konnte all seine Kleidung an sich entdecken, die er beim Verlassen des Hauses von Joes Eltern getragen hatte. Erleichterte ihn das? – Weiterhin durchjagten ihn Schauer hohen Ausmaßes. Er sah seine Jeans, seinen Pullover, sogar seinen Mantel und seine Schuhe. Und dennoch war ihm kalt. In ihm wütete eine Leere, die all seine Lebenskraft auszulöschen schien und damit die schützende Wärme vertrieb, die der Körper dringend brauchte. Wie er feststellte, war er nicht gefesselt oder dergleichen, aber seine Glieder fühlten sich unendlich taub an, so dass er befürchtete, sie nicht bewegen zu können. Obwohl sein Kopf trotz der zunehmenden Wachheit keine Linderung zeigte, richtete er sich auf und seine Beine gehorchten ihm glücklicherweise, wenn auch ein wenig zaghaft. Unbeholfen saß er nun da, das Haupt auf die Hände gestützt, den Blick starr nach unten gerichtet. Glatter, glanzloser Untergrund zeichnete sich in seinem Blickfeld ab, er erkannte Spuren von getrocknetem, zerfallendem Klebstoff, der einst sicherlich einen Teppich beherbergt hatte. Vielleicht war dieser Raum einmal nett anzusehen gewesen, hatte Tapeten und Farben getragen, aber falls dem so gewesen sein mag, hatte man sich mit aller Kraft darum bemüht, jedwede Form von Eleganz und Wohnlichkeit zu entfernen. Die Stille in dem Zimmer war einerseits angenehm, denn sie war fernab von den rauen Klängen der Stimmbänder, die zu dem Mann gehörten, der für seine Lage verantwortlich war, andererseits jedoch war sie grausam schwermütig, da sie nicht einmal durch das Rauschen von Wasserleitungen durchbrochen wurde. Rick kam es so vor, als ob er sich fernab von der restlichen Welt befände. Wann wurde man schon von absoluter Geräuschlosigkeit umgeben? Meist konnte man doch immer irgendeinen wenn noch so leisen Laut vernehmen, der aber lediglich von Leben zeugte. Hier in diesem Raum gab es aber nicht einmal diesen. Kein Beweis für das Dasein anderer Lebewesen, ob Mensch, ob Tier, völlig gleichgültig, kein Indiz für technischen Fortschritt, wenn man einmal von den Möbeln an sich absah, obgleich selbst diese an Schlichtheit kaum zu übertreffen waren. Leer, ob seine Umgebung oder er, alles schien nichtig, ja einfach nur sekundär. Mit zitternden Fingern tastete sich Ricks Hand nach der Gesäßtasche seiner Jeans vor und zog wenig später einen goldbraunen Geldbeutel hervor. Ihm war wohl wirklich nichts entwendet worden, vermutlich nicht einmal ein ungewollter Kuss geraubt worden. Doch er spürte darüber keine Freude, denn er wusste, dass es nicht dabei bleiben würde. Mehrere Male schon hatte er die fremden Lippen spüren müssen, warum sollte dieser Kerl ihn dann dieses Mal verschonen, zumal er ihm nun vollkommen ausgeliefert war? Gefangen! Und vollkommen wehrlos, aller Mittel entehrt, die ihm vielleicht bei den anderen Zusammentreffen zugestanden hatten. Wehmütig strich er über das Wildleder und klappte die Börse nach schier endlosen Sekunden auf. Weder das Geld noch die vielen Karten waren von Interesse, vielmehr suchte er etwas, das ihm ein wenig Trost spenden könnte. Den Zeigefinger grub er in den kleinen Spalt hinter der Klappe mit den ganzen Versicherungs-, EC- und Paybackkarten und spürte alsbald das Silber, das ihm sogleich einen Stich versetzte. Ein Stich mitten ins Herz, das sich krampfhaft zusammenzog. Mit einem Mal wurde ihm gewahr, wie sehr er Joe vermisste, wie gerne er ihn jetzt bei sich hätte, in welchem Ausmaß er sich nach ihm verzehrte. Seine starken Arme, sein betörender Geruch, seine aufmunternde Hand in seinem Haar, sein Grinsen, all die Facetten, die ihn zu dem wichtigsten Menschen in seinem Leben machten. Die federleichten Küsse sowie die vor Leidenschaft sprudelnden, die berauschende Nähe und das erregende, überwältigende mit ihm Verschmelzen… mit ihm eins werden, ihn spüren, ihn fühlen, ihn überall empfinden. Zu all dem Schmerz, den sein Körper signalisierte, gesellte sich seichte Melancholie, die die Leere in ihm zusätzlich verstärkte. Er befreite das Kleeblatt aus seiner Enge und hielt es alsbald in seiner Rechten, starrte es an und konnte den Blick auch noch nach Minuten nicht abwenden. Drei kleine Blätter, ein kleiner Stiel, silbrig, glänzend und äußerst bedeutend. Das Gegenstück trug Joe sicherlich auch in diesem Moment bei sich, was Rick die Tränen in die Augen trieb. Warum war er hier? In diesem Gemäuer, das nichts als Leblosigkeit, Depression und Hoffnungslosigkeit ausstrahlte? /Joe… Ich wollte doch nie mehr als ein wenig Glück empfinden und immer, wenn ich glaube, es erreicht mich, entschwindet es mir wieder, rückt in eine Ferne, die ich nicht zurücklegen kann… Nacht für Nacht war ich dem Glück hinterhergerannt, machte den Verstoß meiner Eltern ungeschehen, nur um früh aufzuwachen und mir die bittere Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen… Und dann, irgendwann nach einer Ewigkeit drücktest du mich an eine Wand und küsstest mich. Diesen Moment werde ich nie vergessen, er war der Anfang von unserem Glück, dem ich nun auch hinterher jage… Stets treibt mein Schicksal einen Keil zwischen das Glück und mich und allmählich verliere ich die Kraft, mich erneut aufzuraffen und in die Zukunft zu sehen, denn ich sehe in ihr nichts als blanken Hohn, Spott und grelles Gelächter. Jedes Mal, wenn ich mich aufkämpfe, werde ich wieder niedergedrückt und erniedrigt, meine Gefühle ausgelacht und verpönt…/ Die glitzernden Perlen, die über dem Meeresblau funkelten, mehrten sich und ein, zwei von ihnen rannen bereits über seine fahlen Wangen. Mit einer Faust umschloss er das silberne Kleeblatt und drückte seine Lippen sanft auf die Knöchel. „Wir können nicht wenden, das ist eine Autobahn!“, fuhr Steven seinen Sohn an. „Die Polizei wird sich darum kümmern, dass wir bald weiterfahren können.“ „Die ach so tolle Polizei!“, fluchte der Blonde und lief neben dem Auto unablässig auf und ab, warf der Unfallstelle, von der dunkler Qualm zu ihnen zog, böse Blicke zu. Seit mehr als fünfzehn Minuten standen sie bereits und waren keinen einzigen, verdammten Millimeter mehr vorangekommen. „Die tut doch sonst auch nichts.“ „Das geht zu weit! Du kannst sie nicht verurteilen, nur weil sie Gesetzen Folge zu leisten hat und viele von ihnen sind nicht grundlos verabschiedet worden.“ „Und die 48-Stunden-Klausel findest du sinnvoll?“ Joe war außer sich. Rick steckte Gott weiß wo und er steckte mitten auf einer Autobahn fest. Das Adrenalin schoss ungehalten durch seinen Körper, seine Herzfrequenz lag weit über normal und es war sicher besser, dass er seine Blutdruckwerte nicht kannte. Fahrig fuhr er sich durchs Haar. Da hatte der Schnee endlich nachgelassen, die Straßen waren dank des Einsatzes zahlreicher Räumfahrzeuge immer gut befahrbar gewesen und nun musste ein Fernfahrer die Kontrolle über seinen LKW verlieren. Hatte er denn bei dieser Witterung fahren müssen? Hätten die Händler nicht auf ihre Bestellungen warten können, bis das Tauwetter wieder einsetzte? Selbstverständlich waren seine Gedanken und Verwünschungen unberechtigter Natur, aber es machte ihn vollkommen wahnsinnig, von Leichtsinn aufgehalten zu werden, der Rick vielleicht das Leben kostete. Jede Minute war wertvoller, tausendmal kostbarer als ein funkelnder Diamant von reinstem Schliff. Es ging hier um einen Menschen, der ihn Gefahr schwebte! „Wenn sie sich nicht beeilen, dann laufe ich eben bis nach Veneawer, ist anscheinend die schnellere Alternative.“ „Joe! Jetzt halte mal den Atem an und hör mir zu.“ Joe sah ihn nicht an. „Polizisten sind auch nur Menschen und tun ihr Bestmögliches. Und die 48-Stunden-Regel ist auch keinem kranken Hirn entsprungen, sondern hat seine Berechtigung. Bedenke doch mal, wie viele Jugendliche von zuhause weglaufen und ehe zwei Tage vorüber sind sie sich bereits wieder bei ihren Eltern befinden. Oder Vermisstenmeldungen, bei denen sich herausstellt, dass alles ein Versehen war, weil den Verwandten nicht Bescheid gegeben wurde oder es in all dem Trubel zum Beispiel während den Weihnachtsvorbereitungen unterging. Oder wenn der schizophrene Mann auf Abenteuerjagd geht und nach zehn Stunden verwirrt vom Flughafen zurückkehrt, wobei die Frau währenddessen keine Ahnung hat, wo er steckt und ihn nicht erreichen kann. Alles ist schon einmal vorgekommen und wenn jeder vermeintlichen Entführung nachgegangen würde, dann würden die wirklich wichtigen Fälle in all den Massen ihre Bedeutung verlieren!“ „Rick ist aber entführt worden!“, brach es aus Joe heraus und er sackte auf die Knie. „Darum müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und bedacht vorgehen. Was nützt es ihm denn, wenn du deinen Verstand verlierst?“ Lange kniete Joe auf dem Boden, selbst als die Nässe begann, durch seine Jeans zu dringen und sich eisig auf seine Haut zu legen… Die Blechlawine wurde zunehmend länger und alsbald waren Steven und sein Sohn nur noch zwei Menschen von vielen, die auf das Weiterkommen warteten. Autos in jeder Farbe stauten sich über Kilometer und ihre Insassen begannen allmählich zu frieren. Die Kälte fraß sich unter die Kleidung und die meisten suchten immer noch Schutz in ihren Wägen, die aufgrund meist längerer Fahrten eine Zeit lang angenehm geheizt waren. Auch Joes Körper überzog eine Gänsehaut, weshalb er ab und an ums Auto lief, auf der Stelle hüpfte oder seine Hände und mit ihnen über Arme und Beine rieb. Sein Vater war losgegangen mit der Begründung, er wolle sich bei einem der Verantwortlichen erkundigen, wie lange es noch dauere. Joe wusste, dass er überreagiert hatte, aber es war ihm schließlich nicht zu verdenken, denn er würde keine Ruhe finden ehe er Rick nicht in Sicherheit wusste. Und von dieser Gewissheit war er noch weit entfernt. Es war schon immer schwer gewesen, den Dunkelhaarigen leiden zu sehen, aber ihn in den Klauen eines Irren zu wissen war noch viel unerträglicher. Ob der Mann, der ihnen das Ganze antat, in der Tat irre war oder nicht sollte sich noch herausstellen, seine Taten jedoch waren grotesk und bizarr. Und sie gebührten Vergeltung… /Wie soll ich einen kühlen Kopf bewahren, wenn du noch mehr Leid erfährst? Wenn du wehrlos auf Hilfe wartest und derweil keine Ahnung hast, ob sie kommen wird? Ich werde dich nicht aufgeben, ich werde dich finden! Mann, warum geht das nicht schneller? So lange kann man doch für ein paar lädierte Wägen brauchen!?/ Voller Unrast lief Joe bereits zum x-ten Male um den Kombi seines Vaters. Obwohl das Blut in seinem Körper wallte, hatte er derart kalte Hände, dass es ihn fror. All die wärmende, zähe Flüssigkeit schien aus ihnen gewichen zu sein und ein Blau hinterlassen zu haben, das Steifheit und Schmerzen mit sich brachte. Konnte das Blut in einem überhaupt sprudeln und dabei die Hände außen vor lassen? – Wohl kaum, doch manchmal waren Körperfunktionen eben schwerlich nachvollziehbar. Oder das Empfindungsvermögen schier getrübt. /Wo bleibt Dad denn? Die Minuten verrinnen, ohne dass sich irgendetwas tut und sich eine Faust nach der anderen in meinen Magen rammt./ Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, kam Steven zurück und trug ein Lächeln auf dem Gesicht. „Das sind wenigstens Männer, die Spaß am Leben haben.“ Er schüttelte mit dem Kopf und fuhr sich durchs Haar. „Riesenrad!“ Eine kleine Lachsalve folgte und Joe sah ihn lediglich verdutzt und verständnislos an. Jener amüsierte sich kurioserweise über eine Jahrmarktattraktion und hatte wohl gänzlich den Grund ihres Daseins vergessen und er stand tausend Tode aus, weil er nicht wusste, wie es Rick erging. Der Zorn, der aufgrund des Psychospielchens verraucht war, kehrte zurück und wütend funkelte er seinen Vater an. „Du weißt, weshalb wir hier sind?“, fauchte er ihn an. Das Lächeln aus Stevens Gesicht wich nicht, schien sich vielmehr zu festigen. „Ganz ruhig, in fünfzehn Minuten dürfen wir die Unfallstelle passieren.“ Ruhig? Wie konnte man in solch einer Situation ruhig sein? Grummelnd packte Joe Steven am Arm und raunte: „Das ist zu lange!“ „Der Fahrer war herrlich. Wie er den Unfall wegsteckt, ist grandios.“ Hörte sein Vater überhaupt zu? Ungewollt festigte der Blonde seinen Griff und grub seine Finger in das Fleisch unter seiner Hand. Unter der Kraft, die er ausübte, erzitterte er, doch er nahm nur noch die erheiterten Augen seines Gegenübers wahr, die ihm in diesem Moment einfach zuwider waren, da Vergnügtheit wohl das Unpassendste war, das jetzt ausgestrahlt werden durfte. Heiterkeit, wenn ein Mensch in Gefahr schwebte! Knurrend packte Joe Steven nun auch noch am anderen Arm. „Wie kannst du dich jetzt amüsieren!?“ Noch im selben Augenblick bereute er seine Unbeherrschtheit. Gewaltsam legte Steven seine Hände um Joes Handgelenke und zwang ihn zu Boden, indem er diese nach hinten drückte. Mit einem Schmerzensschrei kam Joe unsanft auf seinen Knien auf und erwiderte den harten Blick seines Vaters heißblütig. Von einer Sekunde auf die nächste hatte sich der Gesichtsausdruck von Steven vollkommen verändert. Die Unbeschwertheit war einer Strenge gewichen, die man von dem sonst eher friedliebenden Menschen nicht unbedingt erwartete. In seiner Kindheit hatte Joe diesen Charakterzug seines Vaters nur zweimal erleben dürfen, wohl eher müssen. Das eine Mal berechtigter und das andere Mal unberechtigter Natur. Bis er ihm die ungerechte Behandlung damals verziehen hatte, waren einige Tage vergangen und viel Zureden ihrerseits, das heißt seiner Mutter, nötig gewesen. Und all die Aufruhr wegen einem Mädchen… Dieses Mal handelte es sich wieder um eine Person, die er liebte, aber Rick liebte er noch viel mehr als seine damalige Freundin. „Lass’ mich los!“ Steven reagierte nicht. „Du bist nicht mein Vater, also lass’ mich los!“ Aus Stevens Gesicht wich jegliches Kennzeichen von Lebendigkeit. In Joe wütete es im Gegenzug. Er hatte Steven als ’neuen’ Vater akzeptiert, er hatte ihn an die Stelle seines geliebten, aber verstorbenen Vaters rücken lassen. Wissentlich verdrängt, dass Steven nicht sein leiblicher Vater war. Bedrückendes Schweigen kehrte mit einem Mal ein, nur durch das Stimmengewirr der Menschen, die ebenfalls auf Weiterfahrt warteten, durchbrochen. Joes Herz klopfte wild. Kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Hartnäckig versuchte er dem Blick von Steven stand zu halten. „Ich weiß!“, meinte jener. „Und ich weiß auch, dass ich für Tristan kein Ersatz bin.“ Konnte Joe da Wehmut heraushören oder bildete er sich all den Kummer darüber nur ein? „Und doch hast du mir das bisher nie ins Gesicht geschrieen.“ Das waren zu viele Emotionen auf einmal. Die Fülle, ihre Quantität machten alles so verwirrend, dass Joe kaum noch ein und aus wusste. In der Tat hatte er das Steven noch nie an den Kopf geworfen bis auf den heutigen Tag. Auch nicht, als er wirklich sauer auf ihn gewesen war. Niemals bis zu diesem Zeitpunkt. Ein Außenstehender hätte nie die These aufstellen können, dass er lediglich Stevens Stiefsohn war, aber er war es nun einmal. Sein leiblicher Vater war schon lange tot, weshalb zwei Jahre nach dem schmerzlichen Verlust dieser Mann, der ihn gerade immer noch rabiat festhielt, in ihrer aller Leben getreten war. Trotz dessen er Tristan über alles vermisst und ihm unendlich nachgetrauert hatte, hatte er Steven als Vater angenommen, ihm den Weg zu seiner Mutter nicht versperrt. Vielleicht war es der Fakt, dass er gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Und doch hatte er ihn mit der Zeit immer mehr schätzen gelernt und als Jugendlicher nicht einmal phasenweise gehasst. Das Einzige, was ihn niemals gleichstellte, war, dass er zwischen Rick und ihm nahezu gänzlich unerwähnt blieb. Selbst als sie darüber gesprochen hatten, wie Veronica auf ihre Beziehung reagieren würde, hatte die Reaktion von Steven nie zur Diskussion gestanden. Erst, als der Zustand es erfordert hatte. „Hättest du nun die Ehre, mich loszulassen?“, zischte Joe. Er war schlicht und einfach nur noch wütend. Über Ricks Verschwinden, über die Art, wie er festgehalten wurde und darüber, dass… Mit einem Mal ließ der Druck um seine Handgelenke nach. Eigentlich hätte er sich sofort auf ihn stürzen wollen, doch Stevens erschütterte Miene ließ ihn in seinem Vorhaben verzagen. Stattdessen rieb er sich die Gelenke und sah still dabei zu, wie sein Vater sich abwandte und sich ein paar Schritte entfernte. „Gehen Sie weg!“, meinte er verdrossen, als sich zwei fremde Menschen näherten, die sich wohl während ihrer Auseinandersetzung geflissentlich zurückgehalten haben. Kopfschüttelnd beobachteten sie aus der Ferne weiterhin das Geschehen. Dass es die Gesellschaft nie lernte, sich aus den Angelegenheiten anderer herauszuhalten! Joe konnte sich nicht erinnern, jemals derart aus der Haut gefahren zu sein. Insbesondere nicht daran, je derart kaltherzig einem Menschen ins Gesicht gesagt zu haben, was er von ihm hielt. Eigentlich betrachtete er Steven gar nicht als Störfaktor oder als Nichtrespektierungswürdig. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte ihm lediglich die Tatsache missfallen, dass er nicht ebenso tief betrübt wie er selbst war; dass er lachen konnte, wenn er selbst am Boden zerstört war. Aber war das nicht eher vorteilhaft, wenn ein nahe stehender Mensch ein Lächeln parat hatte, wenn es einem selbst schlecht ging? Konnte das einen nicht ein wenig milder stimmen? Zumindest einmal kurzzeitig die Last von den Schultern nehmen? Seltsam bedrückt schaute er zu Steven, der weiterhin mit von ihm abgewandtem Gesicht dastand, die Hände nun tief in den Jackentaschen vergraben. Seufzend richtete er sich auf und lehnte sich alsbald ans Auto, denn ohne fremde Hilfe vermochte er gerade nicht zu stehen. In gleichmäßigen Zügen nach vollkommener Herrschaft strebend: Die Reue. In ungestümen Wogen die völlige Gewalt begehrend: Der Scham. Plötzlich näher kommendes Blaulicht benetzte Joes Gesicht mit einem Schein, der seine Blässe betonte und seine abwesenden Augen mit Leben füllte. Die Autos um ihn herum brummten allesamt auf und ihre Scheinwerfer wurden angeworfen. Bis er realisierte, dass die Fahrt endlich weitergehen konnte, war Steven bereits an ihm vorbeigelaufen und in den Astra eingestiegen, für ihn lediglich einer schemenhaften Gestalt gleich. Das Fenster zu seiner Linken wurde heruntergefahren und ein lautes „Steig’ ein!“ drang an seine Ohren. Für einen kleinen Augenblick kam es ihm so vor, als würde er aus einem schrecklichen Alptraum aufwachen, aber als er kurz darauf neben Steven im Auto saß wurde ihm gewahr, dass das Geschehene pure Realität gewesen war. Er hatte den Menschen, der sich meist rührend um ihn gekümmert hatte, tief verletzt. Zum einen wütete in ihm Zorn, zum anderen aber das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Einen schwerwiegenden obendrein. Die Traurigkeit, die von seinem Stiefvater ausging, machte ihm das allzu deutlich. In sanftem Rhythmus das Denken einnehmend: Das Bedauern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)