Zum Inhalt der Seite

Alternate Reality

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal gibt es zwei Kapitel auf einmal, da ich wegen Krankeheit meine üblichen Uploadtage diese Woche nicht einhalten konnte. Viel Spaß. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute mal ein Montagskapitel, morgen folgt dann direkt Level 9. Viel Spaß. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Level 1

„Ernsthaft? Zwei Millionen Gold für ein dämliches Paar Stiefel?“

 

Ungläubig starrte Honey auf die Auflistung des Auktionshauses und betätigte, rein zur Sicherheit, noch einmal den „Aktualisieren“-Button, für den Fall, dass es sich um einen Anzeigefehler gehandelt hatte. Natürlich änderte sich an dem obszön hohen Betrag rein gar nichts, sodass er kopfschüttelnd das Menü schloss und seinen eigenen Avatar frustriert anstarrte, der genauso unschlüssig in den Straßen der computergenerierten Stadt herumstand, wie Honey sich fühlte.

Warum hatte er sich überhaupt eingeloggt? Es machte keinen Spaß, Jibrile Online ohne Kazuki zu spielen, aber dieser hatte sich schon vor Stunden in die Bibliothek verzogen. Um sich, wie er mit unverschleiert vorwurfsvollem Blick in Richtung Honey mitgeteilt hatte, auf die nächsten Prüfungen vorzubereiten. Spielverderber.

 

Honey streckt sich einmal genüsslich und lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück, um einen kurzen, widerwilligen Blick auf die Bücher und Unterlagen auf dem Wohnzimmertisch zu werfen. Das Semester neigte sich fast dem Ende zu und er hätte eigentlich schon längst mit dem Lernen beginnen sollen, aber er konnte sich schlicht und einfach nicht dazu aufraffen. Es war erstaunlich, zu welchen Dingen man sich auf einmal herabließ, nur um der lästigen Pflicht zu entgehen. Vor zwei Tagen hatte Honey sogar freiwillig begonnen, sein Zimmer aufzuräumen. Nun ja. Bis ein Chatfenster aufgepoppt war und ihn zu einem Raid eingeladen hatte.

 

Heute allerdings schien sich die Welt gegen ihn verschworen zu haben, denn absolut keiner seiner Freunde war online. Honey seufzte einmal tief auf und war drauf und dran, sich aus dem Spiel auszuloggen, um sich diesmal tatsächlich an seine Bücher zu setzen, als sein Blick auf das Chatfenster am unteren Bildschirmrand fiel. Jemand hatte im offenen Channel eine Nachricht abgesetzt, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog:

 

[#GLOBAL][Void]: suche melee DPS für raid @Korei

 

Huh. Warum nicht. ‚Korei‘ stand für ‚Korei’s Cavern‘, wie Honey wusste. Ein Dungeon, in dem es vor Fuchsmonstern nur so wimmelte und in dem mitunter einiges an nettem Zeug als Belohnung abfiel. Vielleicht sogar ein Paar Stiefel. Alles war besser, als sich den Rest des Abends hinter Büchern zu vergraben, also zögerte Honey nicht lange und ließ die Finger über die Tastatur fliegen, um eine Antwort an „Void“ zu verfassen.

 

[#GLOBAL][Honey]: @Void: Ich würde mitmachen.

[#GLOBAL][Void]: @Honey: class/lvl? Ausgerüstet, startklar?

[#GLOBAL][Honey]: @Void: Assassin/73, ja und ja. Willst du auch a/s/l wissen?

 

Zugegeben, es war vielleicht nicht der günstigste Schachzug, sich über einen potentiellen Teamkameraden lustig zu machen, aber diese knappe, steife Fragerei hatte schon etwas amüsant Ernsthaftes an sich. Honey hätte wissen müssen, dass ihn sein erster Raid mit einer fremden Gruppe in die Hände eines Hardcoregamers treiben würde, der sich für eine Art Armeeoffizier hielt. Das würde eventuell ein wenig spaßig werden. Sofern er Void nicht bereits verschreckt hatte, denn eine Antwort ließ auf sich warten.

 

Als Honey die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, erschien eine knappe Antwort im Chatfenster, die mit keiner Silbe auf seinen kleinen Scherz einging.

 

[#GLOBAL][Void]: @Honey: teleportieren dich in 5 min zum dungeon.

 

Honey verdrehte dezent die Augen und wartete, nachdem er Voids Gruppeneinladung angenommen hatte, auf die Teleportations-Anfrage, die auch prompt erfolgte. Der Bildschirm wurde für einen Moment von einer „Bitte warten“-Grafik mit einem tanzenden Barden überlagert, bevor sich seine Spielfigur vor einem überwucherten Höhleneingang mitten im Nirgendwo wiederfand. Außer seinem eigenen Avatar, einem Katzenmensch-Assassinen mit einem Paar spitzer Ohren und einem langen Schweif, befanden sich noch drei andere Spieler vor dem Dungeon. Ein Paladin in wuchtiger schwarzer Rüstung, ein blondgelockter Heilpriester und der Spieler, der die Anfrage abgesetzt hatte: Void.

 

Void war, wie Honey mit einem Blick feststellte, ein Gunslinger, was zwei nicht gerade kleine Pistolen in seinen Händen mehr als eindeutig aufzeigten. Was sich jedoch als weitaus interessanter erwies, war das Gildensymbol, welches neben Voids Namenszug auftauchte. Peace Squad.

 

Honey pfiff leicht durch die Zähne. Peace Squad war eine kleine Legende innerhalb der Spielwelt von Jibrile Online. Die Gilde bestand nur aus wenigen, handverlesenen Mitgliedern und räumte regelmäßig sämtliche Bestenlisten ab, sodass sie den Ruf einer elitären Profispieler-Clique innehatte. Honey hatte bisher selber noch nichts mit ihren Mitgliedern zu tun gehabt, weil er und Kazuki sich eher an ihre Freunde hielten und das entspannte, gemeinschaftliche Spiel den offiziellen PvP-Events im Wesentlichen vorzogen. Dass Void Mitglied beim Peace Squad war, sprach dann wohl vermutlich dafür, dass er ziemlich gut war.

 

Sie tauschten einige Grußworte und Floskeln aus, bei denen sich Void, wie es offenbar seine Art war, zurückhielt und sehr schnell zur Teambesprechung überging. Die anderen beiden Partymitglieder schienen allerdings in Ordnung zu sein, sofern Honey das beurteilen konnte.

 

Nachdem sie ihre Strategie durchdiskutiert hatten (wobei Void wenig überraschend den Ton angegeben hatte), betraten sie den Dungeon und begannen, sich ihren Weg durch Fuchsmonster und Zombiespinnen zu schlagen. Ehe er sich versah, klebte Honeys Blick konzentriert am Bildschirm. Es war ungewohnt, mit einer fremden Gruppe zu spielen und zunächst nicht zu wissen, ob die Anderen ihm wirklich den Rücken deckten, aber sie arbeiteten erstaunlich gut zusammen. Er hatte recht gehabt: Void war verdammt gut. Während sein Kugelhagel aus der zweiten Reihe großflächig das Kleingetier erledigte, blieb Honey selbst genug Zeit, die größeren Monster und Mini-Bosse von Nahem zu erledigen. Der Paladin, Chal, zog neben ihm den größten Teil des feindlichen Schadens mühelos auf sich, während der Priester, Nyame, routiniert ihre Lebenspunkte auffüllte, Schutzzauber verteilte und nebenbei auch noch Zeit fand, sie über Chat zur Eile anzuhalten, denn er habe noch einen Friseurtermin.

 

Honey musste grinsen, während seine Finger flink über die Shortcuts auf seiner Tastatur flogen. Manchmal wünschte er sich wirklich, er könnte sehen, wer auf der anderen Seite des Spiels saß. Nyame versprühte in jedem Fall die Aura eines verwöhnten College-Mädchens aus gutem Hause, was allerdings alles oder nichts bedeuten könnte – viele Spieler schlüpften innerhalb des Spiels in eine bestimmte Rolle, die das Aussehen ihres Avatars widerspiegelte.

 

[Raid][Honey]: @Nyame: welcher friseur hat denn um zehn uhr abends noch offen? ;-)

[Raid][Nyame]: Ein guter, offensichtlich.

[Raid][Honey]: wie gut genau? ;P

[Raid][Chal]: @Honey: Ziemlich gut. *gg*

[Raid][Nyame]: KLAPPE!!

[Raid][Void]: HALLO?!???

[Raid][Void]: Wenn ihr tratschen wollt, verpisst euch aus meiner Party!

 

Ach ja, den gab es ja auch noch. Erneut rollte Honey mit den Augenbrauen und konnte eine leichte Genervtheit nicht unterdrücken. Was hatte dieser Void eigentlich für ein Problem? Sie kamen gut voran und hatten bisher keinen einzigen von ihnen wiederbeleben müssen, da war doch wohl ein bisschen Spaß zwischendrin erlaubt, oder nicht? Und überhaupt – der Typ benahm sich ja geradezu, als ob ihm der ganze verdammte Dungeon gehören würde. Ehe Honey lange darüber nachdenken konnte, tippte er schon an einer Antwort.

 

[Raid][Honey]: wow, bist du immer so gut gelaunt oder steckt der stock in deinem arsch quer?

[Raid][Void]: vorsicht, flohbeutel.

 

„Wie verdammt erwachsen“, murmelte Honey, doch er konnte nichts daran ändern, dass die herablassenden Worte, auch wenn die Anspielung eigentlich nur auf seinen Ingame-Avatar gemünzt war, einen gewissen Nerv bei ihm trafen.

 

[Raid][Honey]: sonst was? schießt du auf mich?

[Raid][Void]: das wäre friendly fire, idiot.

[Raid][Honey]: oder vielleicht bist du einfach nicht so toll, wie du glaubst?

[Raid][Void]: ich würde jederzeit mit dir den boden aufwischen.

[Raid][Void]: flohbeutel.

 

Honey spürte, wie eine seiner Augenbrauen gefährlich zu zucken begann. Oh, dieser Typ schrie geradezu nach einer Abreibung, und er ärgerte sich maßlos, dass er nicht einfach durch den Bildschirm steigen und sie ihm verpassen konnte. „Du bist doch garantiert selber nur ein pickliger kleiner Nerd, blödes Arschloch“, grollte Honey leise vor sich hin und hatte den Satz bereits halb eingetippt, als er durch das wiederholte, hektisch klingende „Ping“-Geräusch des Chats aus seiner Rage gerissen wurde.

 

[Raid][Chal]: Ähm… Jungs?

[Raid][Chal]: Weiß nicht, ob ihr es schon vergessen habt, aber…

[Raid][Nyame]: WIR SIND MITTEN IN EINEM RAID, FFS!!!!11

[Raid][Chal]: ... und etwas Hilfe wäre nett.

 

Erst jetzt realisierte Honey, dass der ganze Dungeon beinahe überquoll vor Monstern, die sich beinahe ungehindert hatten ausbreiten könnten, währen Void und er sich ihren verbalen Schlagabtausch geliefert hatten. Nyame tat zwar sein Bestes, um sie im Sekundentakt zu heilen, aber sein Mana neigte sich allem Anschein nach schon gefährlich zum Ende. Unterdrückt fluchend griff Honey hastig nach seiner Computermaus, um wieder ins Spiel einzusteigen, während Void, der anscheinend auch ein böses Erwachen gehabt hatte, schon dabei war, ihre Position zu sichern.

 

Es dauerte ewig, oder zumindest kam es Honey so vor, bis das letzte Fuchsungeheuer erledigt war und er es endlich wagte, seine komplett verkrampfte Hand für einen Moment von der Maus zu lösen. Ein tiefer, erleichterter Atemzug löste sich aus seiner Kehle, während das Adrenalin langsam begann, wieder ein etwas gesünderes Level in seinem Körper zu erreichen.

In Gedanken dankte er Kazuki auf Knien dafür, dass dieser ihn in stundenlanger, mühsamer Levelarbeit dazu genötigt hatte, den Agilitäts-Zweig in seinem Skillbaum auszubauen, anstatt, wie von Honey ursprünglich angepeilt, auf Stärkewerte abzuzielen. Das hatte ihm gerade das virtuelle Leben gerettet. Ebenso wie Nyames unermüdliche Heilzauber. Und, wie Honey zähneknirschend zugeben musste, Void.

 

Der Gunslinger hätte mehr als eine Gelegenheit gehabt, genüsslich dabei zuzusehen, wie er an vorderster Front von Monster überrannt wurde, aber jedes Mal hatte er ihm den Rücken freigehalten und die Gegner erledigt, die ihm ans Leder wollten. Honey gab es zwar nicht gerne zu, aber Void hatte sich ziemlich fair verhalten.

 

[Raid][Chal]: Na, das ist ja gerade nochmal gut gegangen. :-)

[Raid][Nyame]: Mehr Glück als Verstand. Meine Vorräte sind fast am Ende.

[Raid][Void]: Das muss nächstes Mal besser gehen.

 

Honey schnaubte. War ja klar, dass Mister Superschütze kein nettes Wort für ihren Erfolg übrig hatte. Dann allerdings ertönte ein weiteres, leises „Ping“ und er traute seinen Augen nicht.

 

[Raid][Void]: Gute Arbeit @all

 

Auch, wenn die Worte nicht explizit an ihn persönlich gerichtet waren, konnte Honey nicht verhindern, dass sich ein kleines, verräterisches Grinsen in seine Mundwinkel stahl. Also konnte Void tatsächlich auch nett sein. Und auch, wenn Honey sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als es zuzugeben, fühlte sich das Lob des Gunslingers irgendwie gut an. Es machte ihn sogar ein wenig stolz.

 

Den Rest des Dungeons durchquerten sie problemlos, sodass selbst Void nichts mehr zu meckern hatte. Als sie dann schließlich am Ende das Bossmonster, ein riesiges Fuchsungeheuer, erledigt und ihre Belohnungen eingeheimst hatten, konnte Honey vor dem Bildschirm nicht anders, als einen kleinen, triumphierenden Sitztanz aufzuführen.  Sie hielten die Gruppe noch eine Weile aufrecht und plauderten über dies und jenes, bevor sich Nyame als erster ausklinkte. Er wollte sich auf die Ankunft seines „Friseurs“ vorbereiten, zumindest sagte er das, und niemand wagte nachzufragen, was das für ein Friseur war, der Hausbesuche machte. Als sich dann fünf Minuten später allerdings auch Chal mit einem „Ich werde ihn von euch grüßen!“ verabschiedete, musste wohl keiner mehr die Frage stellen, ob Nyame heute wirklich einen neuen Haarschnitt bekommen würde.

 

Nun waren es nur noch Honeys katzenartiger Assassine und Voids pistolenbewehrte Spielfigur mit dem breitkrempigen Cowboyhut, die vor dem Ausgang des Dungeons nebeneinandersaßen. Void hatte bis jetzt keine Anstalten gemacht, sich zu verabschieden, und auch Honey war irgendwie noch nicht danach, das Spiel zu verlassen, auch, wenn es beinahe auf Mitternacht zuging. 

 

Etwas ratlos nippte Honey an seiner Colaflasche, aber er wusste nicht, ob und wie er ein Gespräch mit dem anderen Spieler beginnen sollte. Seine Wut auf diesen war in der Zwischenzeit beinahe gänzlich verraucht, nachdem sie in der letzten Stunde so gut zusammengearbeitet hatten, aber mit Chals und Nyames Abwesenheit schien auch jegliches Leben aus dem Chatfenster verschwunden zu sein. Honey atmete einmal tief ein und begann dann, zu tippen.

 

[Honey]: Hey

[Honey]: Ähm… sorry wegen vorhin.

[Honey]: Wegen… dem Stock im Arsch und so. Du weißt schon.

 

Was tue ich hier? ‘, fragte er sich innerlich seufzend und kaute leicht angespannt auf seiner Unterlippe herum. Im Chatfenster passierte zunächst nichts, und Honey zog für einen Moment schon in Erwägung, dass sein Gesprächspartner einen feuchten Kehricht auf seine beiläufige Entschuldigung gab, was er ihm nicht einmal hätte verübeln können, aber schließlich ertönte das vertraute Geräusch einer eingehenden Nachricht:

 

[Void]: schon gut.

[Void]: bist nicht schlecht gewesen im dungeon.

 

Das klang beinahe zu gut, um wahr zu sein. Um sicher zu gehen, dass Void sich nicht doch noch entschloss, irgendeine Beleidigung hinterher zu schieben, wartete Honey zunächst noch ein wenig misstrauisch eine Minute ab, bevor sich ein ehrliches, breites Lächeln über seine Lippen legte und er zurücktippte:

 

[Honey]: du warst auch ganz okay.

[Honey]: für einen typ, der so einen albernen hut trägt. :P

[Void]: der hat dex +10 und def +15, flohbeutel.

 

Honey musste leise auflachen und beugte sich bereits vor, um eine entsprechende Antwort zu formulieren, als Void ihm überraschenderweise zuvorkam:

 

[Void]: du bist in noch keiner Gilde, oder?

[Honey]: …nein?

[Void]: lust, in eine einzutreten?

 

Hustend presste Honey seine Hand vor den Mund, als er sich vor lauter Überraschung an seiner Cola verschluckte. Bitte was? Verstand er da gerade alles richtig oder war das nur ein ziemlich dummer, gemeiner Scherz? Als sich seine Hustenkrämpfe langsam etwas lockerten, stand Voids Frage noch immer als schlichter, unscheinbarer Satz im Chatfenster, sodass Honey es wagte, vorsichtig nachzuhaken:

 

[Honey]: verarscht du mich?

[Void]: wir haben noch keinen assassin. Könnten dich gebrauchen, wenn du dich nicht zu dämlich anstellst.

[Honey]: Äh, danke. Denke ich.

[Honey]: aber is peace squad nicht irgendwie…superelitär? nur die besten kommen rein?

[Void]: schwachsinn

[Void]: wir wollen klein bleiben und nehmen nur leute auf, die wir kennen. Zu viele idioten da draußen.

 

Okay, also war es Void tatsächlich ernst mit seiner Einladung gewesen. Honey wusste nicht genau, ob er geschmeichelt oder eingeschüchtert sein sollte, obwohl sein Gesprächspartner klargestellt hatte, dass Peace Squad nicht unbedingt eine Elitegilde war, zumindest, was ihre Aufnahmebedingungen anging. Honey stellte Void noch einige Fragen, die dieser knapp, aber erstaunlich geduldig beantwortete, sodass sich seine Unsicherheit nach und nach in eine gewisse, angespannte Vorfreude verwandelte. Er war drauf und dran, Void zuzusagen, als ihm noch etwas einfiel und er für einen Moment innehielt. Da gab es immerhin noch eine Sache zu klären, bevor er sich der Gilde tatsächlich anschloss.

 

[Honey]: könnt ihr auch noch einen heiler gebrauchen?

[Void]: wer?

[Honey]: mein bester Freund. Wir spielen normalerweise immer zusammen.

[Honey]: er ist wirklich gut!

[Void]: …bring ihn einfach zum nächsten raid mit, dann sehen wir weiter.

[Void]: also?

 

„Also würde ich sagen, du hast mich jetzt an der Backe“, grinste Honey leise in sich hinein, während er im Chat ein „Bin dabei! :-)“ absetzte und sein Herz einen kleinen, euphorischen Sprung machte, als kurz darauf die Gildeneinladung auf dem Bildschirm aufpoppte.

 

»VOID hat dir eine Gildeneinladung zu PEACE SQUAD geschickt. Möchtest du die Einladung annehmen und der Gilde beitreten?«

[Ja] [Nein]

 

Honey zögerte keine Sekunde und klickte auf „Ja“.

 

Level 2

Er schaffte es, sich genau so lange zu beherrschen, bis Kazuki den ersten Bissen Toast genommen hatte. Dann gab es kein Halten mehr, der Bericht über seine gestrigen Erlebnisse sprudelte ungefiltert und ohne Punkt und Komma aus Honeys Mund. Mit weiten, ausschweifenden Gesten beschrieb er die Gefahren des Dungeons, zitierte lachend die schlüpfrigen Andeutungen, die zwischen Chal und Nyame gefallen waren und verzog ausdrucksstark das Gesicht, während er über Voids unmögliches Verhalten berichtete.

Kazuki war – von den langen Jahren ihrer Freundschaft abgehärtet und mit dem Gemüt einer sturmfesten Eiche ausgestattet – so klug, die schillernden Ausführungen des anderen Studenten nicht zu unterbrechen. Seine Reaktion, nachdem Honey stolz damit geendet hatte, dass er in eine der bekanntesten Gilden in Jibrile Online eingeladen worden war und möglicherweise ebenfalls einen Platz für seinen Freund gesichert hatte, war allerdings wenig enthusiastisch.

„Ich weiß nicht.“

Der Ausdruck kaum gebändigter Aufregung fiel prompt aus Honeys Gesicht und er starrte seinen besten Freund über den Frühstückstisch hinweg fassungslos an. Er kannte Kazuki und wusste, dass dieser sich nicht gerade von seinen Gefühlen leiten ließ (Wie ein Fähnchen im Wind, wie der junge Japaner es gerne bezeichnete, wenn es wieder einmal Honey war, der vor Begeisterung für irgendetwas entbrannte), aber war in diesem Fall nicht ein wenig Freude durchaus ausnahmsweise mal angebracht?

„Komm schon“, gab er in unmissverständlich drängendem Tonfall zurück und blickte seinen Freund, der seine Aufmerksamkeit schon wieder auf seinen lange negierten Toast gerichtet hatte, flehend an, „Du hast letztens gesagt, das Spiel beginnt, dich zu langweilen. Mit einer richtigen Gilde könnten wir so viel abziehen!“

Kazuki nahm stumm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse, den Blick nach innen gekehrt, so wie er es immer machte, wenn er sich schwer tat, eine Sache auf den ersten Blick einzuschätzen und für gut zu befinden. Seine vom Schlaf noch zerzausten, dunklen Haare mit den eingefärbten weißen Strähnen verliehen ihm für den Moment weniger das erstrebte punkige Aussehen, als vielmehr den Eindruck eines explodierten Pandabären. Die tiefen Augenringe taten ihr übriges.

 

Unruhig rutschte Honey auf seinem Platz hin- und her. Er wusste, wenn er seinem Freund nicht den entscheidenden kleinen Schubs gab, würde dieser das Problem tagelang in seinem Kopf wälzen und seine Zustimmung oder Ablehnung ewig vor sich her schieben. Kazuki war noch nie jemand gewesen, der gut oder gerne mit anderen Menschen auskam, egal ob online oder in der Realität. In ihrem ersten Semester hatte Honey ihn einmal mit auf irgendeine Studentenparty mitgeschleppt (wie auch immer er das damals geschafft hatte) und ihn irgendwann eingeschlossen im Badezimmer des Gastgebers wiedergefunden, Sudoku auf seinem Handy spielend und darauf harrend, dass Honey ihn irgendwann wieder mit nach Hause nehmen würde. Das war das letzte Mal gewesen, dass Honey versucht hatte, seinen Freund zu mehr sozialer Interaktion zu bewegen.

Aber das hier war anders. Honey wusste nicht einmal, warum er so wild darauf war, sich dieser Gilde anzuschließen, aber irgendetwas an der Art, wie Void ihm von dieser Gruppe erzählt hatte, erregte sein Interesse auf nahezu unwiderstehliche Art und Weise. Okay, er war vermutlich wirklich leicht zu begeistern. Aber ohne Kazuki…

 

„Ein Raid, okay?“, startete er mit bittender Stimme einen zweiten Anlauf und ließ sich von seinem Platz aus auf den Stuhl neben Kazuki fallen, „Mach einfach den Raid heute Abend mit und dann kannst du immer noch entscheiden, ob du es wirklich so schrecklich findest? Dann pfeifen wir auf die Gilde und gehen wieder zusammen Mid-Level Monster verkloppen.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, stieß er seinen Freund leicht aufmunternd grinsend mit der Schulter an.

Wegen des Haargestrüpps in Kazukis Gesicht war es schwer, absolut sicher zu sein, aber Honey meinte zu erkennen, dass sich die Haltung des Japaners angesichts seiner Worte wieder etwas entspannt hatte. Abwartend blickte er seinen Freund von der Seite an, bis dieser schließlich leise seufzte und mit seinem üblichen, immer etwas desinteressiert wirkenden Tonfall erwiderte:

 

„Meinetwegen. Ein Raid.“

„Nur einer.“

„Und wenn sie mir auf die Nerven gehen, bin ich weg.“

„Absolut.“

„Okay.“

„Okay.“

 

Honey hatte Mühe, das Gefühl des Triumphs nicht allzu deutlich nach außen treten zu lassen, als sich Kazuki daraufhin wieder seinem Frühstück zuwandte, als ob nichts gewesen wäre. Nachdem also dieser Punkt geklärt war, galt es lediglich, die Stunden bis zum Abend einigermaßen herumzubringen. Vielleicht würde er sich Honey ja heute tatsächlich einmal zum Lernen anschließen.

 

***
 

Die qualvoll röchelnden Laute der sterbenden Dämonenwesen schwollen zu einem regelrechten Crescendo aus Tod und Verderben an, während das Klirren der Schwerter und der monotone Sing-Sang zitierter Zaubersprüche durch die ewigen Hallen von Kain’s Kingdom dröhnten. Ein Augenblick der Glorie, der das Blut zum Kochen brachte und einen in Ehrfurcht erstarren lassen mochte… doch Honey dachte für den Moment gar nicht daran, zu erstarren. Seine Finger tanzten flink über die Tastatur, während er seinen ganz eigenen, süßen Triumph auskostete.

 

[PM to Piano]: du bist ja immer noch nicht weg :D

[PM from Piano]:

[PM to Piano]: man könnte fast meinen, du hättest…spaß? :DD

[PM from Piano]: …deine hp sind fast am ende.

 

Honey konnte Kazukis unwilliges Gesicht geradezu vor sich sehen und er war froh, dass sein Freund in seinem eigenen Zimmer vor dem Rechner saß und nicht hören konnte, wie er amüsiert auflachte. Das hätte ihm ohne Zweifel eine ziemlich schmerzhafte Kopfnuss eingebracht.

Kazuki hatte tatsächlich Wort gehalten und sich am Abend mit seinem Spiele-Avatar, einem Heiler namens Piano, vor dem Dungeon eingefunden, den Honeys neue Gilde als Treffpunkt für ihre erste gemeinsame Gruppenunternehmung auserkoren hatte.

 

Trotz aller Vorfreude war Honey zuvor dann doch nervös geworden, sodass er insgeheim ein wenig froh war, dem Ganzen nicht alleine gegenübertreten zu müssen. Nur für den Fall, dass sich Peace Squad doch als die elitäre Gruppierung herausstellte, deren Ruf weit voraneilte.

 

Das einzige, was sich allerdings letztlich herausgestellt hatte, war die Tatsache, dass Honey sich vollkommen umsonst gesorgt hatte. Von den etwa fünfzehn Gildenmitgliedern war tatsächlich der größte Teil zur Verabredung erschienen und allesamt hatten die beiden Neuankömmlinge geradezu mit offenen Armen empfangen. Offenbar galt die Empfehlung eines Gründungsmitglieds als gewaltiger Vertrauensvorschuss, denn niemand machte auch nur die geringsten Anstalten, Voids Entscheidung in Frage zu stellen.

 

Bald schwirrte Honey der Kopf von der Flut an Nachrichten, die auf seinem Bildschirm erschien, und es fiel ihm zunächst schwer, einen Überblick über die vielen unterschiedlichen Namen und Avatare zu behalten. Peace Squad war, wie er im Laufe der Chatgespräche erfuhr, ursprünglich eine Gruppe von Freunden gewesen, die sich aus dem realen Leben kannten und teilweise sogar zusammen in derselben Firma arbeiteten.

 

Gildenleiter war ein Erzmagier namens Deva, der die beiden Neuankömmlinge warm willkommen geheißen und ihnen sofort zugesichert hatte, dass sie sich bei jeglichen Fragen oder Problemen jederzeit an ihn wenden konnten. Sein Stellvertreter trug den wenig beeindruckenden Nicknamen Mascot, war jedoch allem Anschein nach ein ruhiger, zurückhaltender Charakter, der sich eher durch ausgefeilte Formulierungen als durch große, blumige Reden hervortat.

 

Natürlich war auch Void wieder mit dabei, ließ in seiner üblichen, rauen Art und Weise hier und da eine Bemerkung fallen und war insgesamt eine nahezu angenehme Konstante zwischen dem Gewirr an unbekannten Spielern. Aus der Art, wie er mit den beiden Gildenleitern umging und diese ihn gewähren ließen, schloss Honey, dass Void recht vertraut mit ihnen sein musste, während die meisten anderen Mitglieder Deva und Mascot mit einem gewissen Respekt gegenübertraten. Nun, vielleicht kannten sie einander auch einfach schon lange genug, sodass sie über Voids ungehobelte Eigensinnigkeit nur noch müde lächeln konnten.

 

Den Rest der vielen neuen Namen würde Honey sich vermutlich nach und nach einprägen. Dass er die Gelegenheit dazu bekommen würde, darüber war er sich spätestens nach dem überaus erfolgreichen Gildenraid in Kain’s Kingdom sicher. Kazuki konnte es noch so sehr leugnen – die gemeinsame Unternehmung mit Peace Squad hatte verdammt viel Spaß gemacht, und so verwunderte es Honey nicht weiter, dass wenige Zeit später, als sie alle sich in der nächstgelegenen Stadt zusammengefunden hatten, auch über dem Namen von Kazukis Spielfigur Name und Emblem der Gilde prangten.

 

[Guild][Deva]: Gut gemacht, alle miteinander. :) Auch unsere beiden Neuankömmlinge. Void hat euch gut ausgesucht.

[Guild][Honey]: klingt ein bisschen nach casting. Ist void eure heidi klum? :D

[Guild][Void]: wtf

[Guild][Deva]: Eigentlich bringt er sonst nie neue Leute mit in die Gilde. Er erscheint immer ein wenig unhöflich, aber wenn er dich eingeladen hat, muss er dich mögen. ;)

 

Honey stutzte für einen Moment, musste dann jedoch leicht grinsen, als Voids Antwort darauf lediglich aus einem sehr unflätigen, grafischen Emoticon bestand. Typisch. Deva hatte recht, Void war verdammt unhöflich zu ihm gewesen. Aber mittlerweile war er ihm deswegen nicht einmal mehr böse, zumal er während ihres Gildenraids nach und nach verstanden hatte, dass dies ganz offensichtlich Voids Charakter war und die anderen Gildenmitglieder keinen großen Anstoß daran nahmen.

 

[Guild][Honey]: schon okay. gibt ja auch tatsächlich viele idioten in diesem spiel.

[Guild][Deva]: Oh. Schlechte Erfahrungen?

[Guild][Honey]: asoziale leute die einem das loot vor der nase wegklauen.

 

Honey lächelte bitter. Der Vorfall mit den Stiefeln war noch immer etwas, was er nicht aus seinem Kopf gestrichen hatte, so albern es auch war. Er hatte Ewigkeiten darin investiert, sich gemeinsam mit Kazuki durch einen mehr als ätzenden Dungeon zu schlagen und stundenlang gegen ein widerliches Schleim-Bossmonster angekämpft, nur am Ende zuzusehen, wie ein unbeteiligter Zuschauer sich die „Legendären Stiefel des Schlangengottes“ unter den Nagel riss. Es tat gut, sich vor anderen Leuten darüber auslassen zu können, zumal die anderen Gildenmitglieder voller Verständnis für seine Wut waren.

 

[Guild][Deva]: Ohje. Nun, hier wird dir das sicherlich nicht passieren. Wir führen unsere Raids immer gemeinsam aus und passen aufeinander auf. :)

[Guild][Mascot]: Wir versuchen auch immer, alle Mitglieder auf einem gleichen Level zu halten, damit niemand von den Levelrestriktionen mancher Quests ausgeschlossen wird.

[Guild][Void]: ahja…deshalb seid ihr penner letzte woche auch ohne mich losgezogen?

[Guild][Mascot]: @Void: Du bist nicht zum verabredeten Leveln erschienen.

[Guild][Void]: weil ich, verdammt nochmal, überstunden machen musste.

 

Ah. Das erklärte natürlich auch im Nachhinein, warum Void bei ihrem ersten Kennenlernen alleine unterwegs gewesen war und sich einer Gruppe fremder Spieler angeschlossen hatte, anstatt mit seiner Gilde unterwegs zu sein.  Eine Weile lang verfolgte Honey das Chatgespräch, las mit, wie Deva den Gunslinger beschwichtigte und Mascot ihm einschärfte, das nächste Mal einfach rechtzeitig Bescheid zu sagen. Er musste schmunzeln, während er daran dachte, wie nervös er gewesen war, die Mitglieder von Peace Squad kennenzulernen. Sie schienen alle ziemlich okay zu sein.

Mit voranschreitender Uhrzeit dezimierten sich die Zahlen des Anwesenden im Gildenchat, als sich immer mehr Mitglieder verabschiedeten. Irgendwann teilte ihm auch Kazuki per PM mit, dass er sich zurück ziehen würde, um morgen in aller Frühe weiter für seine Klausuren zu lernen. Honey verabschiedete sich von ihm und ließ seinen Blick über die beinahe ausgestorbene Kontaktliste des Gildenchats schweifen. Außer ihm selbst war nur noch Void übrig, der allerdings bereits seit einer halben Stunde nichts mehr zum allgemeinen Gespräch beigetragen hatte. Nicht, dass Honey die Minuten gezählt hätte.

Er wusste nicht genau, ob Void gerade anderweitig beschäftigt war, und ebenso wenig, was er mit dem anderen Spieler hätte reden können, auch, wenn er gerne noch ein wenig geplaudert hätte. Mit einem Seufzen beschloss Honey, dass er für heute ebenfalls Schluss machen würde, und so tippte er einen schnellen Abschiedsgruß in das Chatfenster:

 

[Guild][Honey]: bin dann auch weg. Lass dir nicht wieder überstunden aufdrücken, du hast versprochen, mit uns zu leveln! ;) Nacht!

 

Nach dem Absenden der Nachricht wartete Honey noch einige Augenblicke, doch Void schien wirklich beschäftigt zu sein, denn es kam keine Antwort. Er war fast ein wenig enttäuscht, obwohl er selbst wusste, dass das albern war.

Gerade, als Honey sich aus dem Gildenchat ausgeloggt hatte und drauf und dran war, noch einen kurzen Blick auf das Auktionshaus zu werfen, bevor er wirklich den Computer ausschalten würde, bemerkt er ein Blinken am oberen Bildschirmrand. Verwirrt und neugierig darüber, wer ihm um dieser Uhrzeit eine Nachricht schickte, rief Honey sein virtuelles Postfach auf und klickte auf die eingegangene PM.

„Was zum…“

 

» Der User VOID hat dir das Item „Legendäre Stiefel des Löwengottes“ gesendet und folgende Nachricht hinzugefügt:
 

Passt eh besser zu dir als die Schlangentreter.

«

Level 3

Der folgende Tag fing damit an, dass Kazuki zu unchristlichen Zeiten begann, in der Küche herum zu rumoren und dabei mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit vollkommen absichtlich die Geräuschlosigkeit einer Herde trampelnder Elefanten demonstrierte. Honey liebte seinen besten Freund von Herzen, aber er konnte wirklich ausgesprochen grausam werden, wenn er der Meinung war, anstelle von Honeys Mutter erzieherische Maßnahmen ergreifen zu müssen. Er tat dies grundsätzlich auf eine recht subtile, passiv-aggressive Art und Weise, und das Geschepper von Geschirr und das auf volle Lautstärke aufgedrehte Radio in der Küche trugen die unmissverständliche Nachricht Beweg deinen Hintern gefälligst aus dem Bett, es ist schon zehn mit sich.

 

Nach dem Frühstück verzog sich Kazuki wieder zum Lernen in sein Zimmer, und auch Honey startete den ernsthaften Versuch, wenigstens einen Teil des Stoffes für die nächste schriftliche Prüfung aufzuarbeiten. Es gelang ihm sogar, sich bis zur Mittagszeit einigermaßen konzentriert durchzukämpfen, doch je länger er über seinen Vorlesungsmitschriften brütete, desto öfter huschte sein Blick zu seinem Computer, und irgendwann gab er dem Drang einfach nach.

Prompt, nachdem er sich in Jibrile Online eingeloggt und den Gildenchat geöffnet hatte, wurde er von einer Nachricht begrüßt:

 

[Void]: was tust du schon wieder hier? Hast du keine schule?

[Honey]: ich bin student, du blödmann. Was tust DU hier?

[Void]: Mittagspause.

 

Unachtsam schob Honey das Textbuch, das er alibimäßig mit an den PC genommen hatte, ein wenig von sich und lehnte sein Kinn grinsend in seine Hände. Er hatte schon zuvor vermutet, dass Void älter sein musste als er selbst und bereits fest im Berufsleben stand, auch wenn er offenbar in seinem Job über genug Freizeit verfügte, dass er bis spät in die Nacht Onlinegames spielen konnte. Etwas nachdenklich trommelte Honey mit den Fingern gegen seine Wangen, bevor er wieder dazu ansetzte, etwas zu tippen.

 

[Honey]: Achja…danke übrigens für die Stiefel.

[Void]: Keine Ursache.

 

Keine Ursache, sagt er. Schenkst du jedem dahergelaufenen Spieler mal eben ein hyperseltenes Item?, wollte Honey am liebsten in den Chat tippen, um seiner noch immer vorherrschenden Verwirrung Luft zu machen. Nach ihrem, nun, holprigen Start hatte er erwartet, dass sie sich auf Grundlage der nun bestehenden Kameradschaft und Gildenzugehörigkeit auf eine neutrale „Bitte-Danke-Tschüss“-Beziehung einspielen würden, aber das gestern war überraschend nett gewesen. Und es bestärkte Honey in seiner Annahme, dass Void trotz seiner fragwürdigen Art zu kommunizieren tatsächlich ziemlich okay war.

 

[Void]: jedenfalls hab ich keine zeit zum rumquatschen

[Honey]: Hey, du hast mich doch angesprochen! Außerdem ist mir langweilig!

[Void]: nicht mein problem.

[Honey]: es könnte deins werden. Außerdem hast du doch selbst nichts zu tun.

[Void]: ich farme.

[Honey]: also hast du wirklich nichts zu tun. Wir könnten uns gemeinsam langweilen. :)

[Void]: du bist eine echte plage.

 

Trotz seiner Worte machte der andere Spieler jedoch keinerlei Anstalten, sich aus dem Chat auszuloggen oder, was Honey ihm durchaus auch zugetraut hätte, ihn zu blocken. Er beschloss, dies als unausgesprochene Zustimmung zu interpretieren und begann, Void in ein zwangloses Gespräch zu verwickeln. Nun, fairerweise musste man sagen, dass Honey den Hauptanteil an diesem Dialog bestritt, doch der Andere machte es ihm auf seltsame Art und Weise leicht, über alle möglichen Dinge zu sprechen, auch, wenn seine Antworten eher einsilbig ausfielen.

 Er berichtete Void von seinen erfolglosen Lernversuchen, dem Studium an der Universität und der Ungerechtigkeit, mit jemandem zusammenzuwohnen, der all diese Dinge schrecklich ernst nahm. Wie erwartet hatte Void wenig Mitleid mit ihm und kündigte kurzerhand an, Honey ebenfalls in regelmäßigen Abständen „in den Hintern zu treten“, wie er es formulierte. Im Gegenzug erfuhr Honey nach neugierigem Nachbohren, dass sein Gesprächspartner für Devas Firma in der Gebäudeverwaltung tätig war.

 

[Honey]: Okay. Also bist du ein Hausmeister?

[Void]: Es heißt Concierge.

[Honey]: … du weißt schon, dass das französisch für hausmeister ist?

[Void]: du hast keine ahnung. Das ist was anderes.

[Honey]: wie anders?

[Void]: anders halt! Nerv nicht!

 

Es wäre untertrieben gewesen, wenn man behauptet hätte, Honey hätte sich bei diesem Gespräch amüsiert.

Nach einer Weile verabschiedete Void sich, um wieder seiner Arbeit nachzugehen, nicht ohne Honey zu ermahnen, sich gefälligst hinzusetzen und die Nase in seine Bücher zu stecken. Dieser gelobte Besserung und schaffte es tatsächlich, sich für den Rest des Nachmittags konzentriert mit seinem Lernstoff zu beschäftigen.

 

***

 

Einige Tage später fand sich Peace Squad am Wochenende zu einem gemeinsamen Raid zusammen. Deva hatte das Ganze hochoffiziell aufgezogen und tatsächlich die komplette Gilde zusammengetrommelt, um einen besonders verrufenen Dungeon anzugehen. Honey sah der gemeinsamen Unternehmung mit Vorfreude entgegen, obwohl er sich über die letzten Tage wirklich nicht beschweren konnte.

 

Da sie sich auf einem annähernd gleichen Level befanden, war er recht häufig gemeinsam mit Void losgezogen, um auf das Maximallevel hinzuarbeiten. Manchmal hatten sich ihnen Kazuki oder ein anderes Mitglied aus der Gilde angeschlossen, doch die meiste Zeit über waren sie nur zu zweit unterwegs gewesen.

 

[Guild][Deva]: Gut. Ich möchte euch nun bitten, auf Teamspeak zu wechseln, damit es keine Probleme bei der Koordination gibt.:)

 

Honey blinzelte zunächst ein wenig, griff dann jedoch schnell nach seinem Headset und rief die entsprechende Software auf. Eine leichtes, irrational aufgeregtes Kribbeln machte sich in seinem Magen breit, als ihm bewusst wurde, dass er gleich zum ersten Mal die Stimmen all derer Spieler hören würde, mit denen er im Verlauf der letzten Woche des Öfteren über den Gildenchat kommuniziert und von denen er bislang nicht mehr als den Spielavatar kennengelernt hatte.

 

„Komm schon…“, feuerte er das sich öffnende Programm an und tippte ungeduldig die Zugangsdaten zum Gildenchannel ein, die er von Deva nach seinem Beitritt erhalten hatte. Nachdem sich Teamspeak eingewählt hatte, erschien eine Liste der Namen der am Voicechat beteiligten Gildenmitglieder und Honey wurde von lebhaftem Stimmgewirr empfangen, als er ein erstes, zaghaftes ‚Hey‘ in sein Headset sprach.

 

„Gut, sind jetzt alle anwesend? Vielen Dank für euer zahlreiches Erscheinen.“

Die Stimme ihres Gildenleiters war angenehm melodisch und klang überraschend sanft, doch sie schaffte es mühelos, sich inmitten der wild durcheinander redenden Stimmen Gehör zu verschaffen. „Wie ihr ja alle schon aus der Nachricht wisst, die ich euch habe zukommen lassen, wollen wir heute gemeinsam Canterbury Manor angehen.“ Zustimmendes, unruhiges Murmeln zog sich durch den Voicechat. Der besagte Dungeon war erst mit dem letzten Erweiterungspack zu Jibrile Online hinzugefügt worden und hatte bereits jetzt einen berüchtigten Ruf.

 

Deva fuhr fort, die Aufgabenverteilungen und Kampfaufstellungen durchzugehen, unterstützt von den ruhigen Ergänzungen seines Stellvertreters, der allem Anschein nach einen regelrechten Schlachtplan mit allem drum und dran entworfen hatte, um die Gilde durch den Dungeon und seine Gefahren zu lotsen.

 

„… und in der ersten Reihe der Nahkämpfer werden Mascot, Basilisk, Ambigue und Honey stehen.“

„Ähm, was?“, würgte Honey mit einem überraschten Husten heraus, nachdem er sich während der Ankündigung des Gildenleiters erst einmal an seiner Cola verschluckt hatte, „Ist das euer Ernst?“

„Aber natürlich.“

 

Honey konnte das amüsierte Lächeln des Erzmagiers geradezu vor seinem inneren Auge sehen, doch seine Verwirrung hielt an. Er war immerhin ein kompletter Neuling, gerade einmal seit einer guten Woche ein Mitglied, und dennoch wollte die Gilde ihn bei diesem großen Raid, in dessen Planung die beiden Leader so viel Zeit investiert hatten, in der ersten Reihe sehen? Was zur Hölle. Doch bevor er seine Zweifel artikulieren konnte, kam ihm Deva bereits zuvor.

 

„Mach dir bitte keine Sorgen. Void hat uns versichert, dass du dich mit deinen Fähigkeiten ganz hervorragend schlagen wirst.“

„Ich glaube, meine exakten Worte waren, dass er eventuell nicht sofort draufgehen wird, wenn er sich nicht allzu dämlich anstellt.“

 

Honeys Blick huschte ruckartig zu der Namensliste, wo tatsächlich gerade Voids Charakter-Icon aufgeleuchtet hatte, als der bissige Kommentar in den Raum geworfen wurde. Er war für einen Moment so perplex, dass er vollkommen vergaß, sich für diesen freundlichen Spruch zu revanchieren. Das war also Voids Stimme.

 

Da Deva das Thema offenbar als abgehakt ansah, fuhren die beiden Gildenleiter fort damit, Namen und Positionen zu verlesen, Fragen zu klären und das Vorgehen zu besprechen. Void brachte sich das eine oder andere Mal ein, und ohne, dass es ihm selbst bewusst war, hatte Honey begonnen, ganz bewusst darauf zu achten, wenn der Gunslinger das Wort ergriff.

Insgeheim war Honeys unterschwellige Befürchtung die ganze Zeit über gewesen, dass es sich bei seinem grantigen Mitspieler im realen Leben um einen Mittsiebziger mit schlecht sitzendem Gebiss und latentem Menschenhass handelte. Das war zumindest das Bild gewesen, was Kazuki ihm mit Worten gezeichnet hatte, nachdem er seinem Freund eines Abends von den neuen Erkenntnissen bezüglich Void und seinem Berufsleben berichtet hatte. Ganz ausschließen konnte er diese wenig appetitliche Vorstellung natürlich nach wie vor nicht, aber Voids Stimme klang zumindest nicht nach Haftcreme und Altersschwäche.

 

Sie war rau und angenehm tief und ließ Honey unweigerlich an einen Abend in einem verrauchten Saloon in irgendeiner kleinen Westernstadt kurz vor der Jahrhundertwende denken, an Whiskey und Staub und irgendein albernes, kitschiges Italowesternklischee, von dem er eigentlich dachte, dass es ihn das letzte Mal mit zwölf Jahren hatte einfangen können. Nun, Voids Spielfigur trug immerhin einen verdammten Cowboyhut, also konnte ihm wohl niemand diese peinliche kleine Assoziationskette, die sich gerade in seinem Kopf abspielte, vorwerfen.

 

Als Deva etwa eine Viertelstunde später zum Aufbruch in den Dungeon aufbrach, musste Honey zu seiner unterschwelligen Schande feststellen, dass er nur etwa die Hälfte von dem, was besprochen worden war, mitbekommen hatte.

 

***
 

Es war zu zwanzig Prozent seiner Erfahrung als Spieler und zu guten achtzig Prozent purem, unverschämtem Glück zu verdanken, dass er den Raid irgendwie überlebte und Deva ihn anschließend nicht postwendend wieder in hohem Bogen aus der Gilde warf. Tatsächlich lobte dieser ihn sogar für sein Durchhaltevermögen, während Void deutlich weniger schmeichelhafte Worte wählte, um das Desaster zu beschreiben, in dessen Zuge Honey mehr als einmal aus Versehen so große Monstergruppen angelockt hatte, dass die gesamte Schlachtordnung auseinanderzubrechen drohte.

 

Wenigstens hatten seine Mitspieler alle ihren Verstand genug beisammen, um zu retten, was zu retten war. Mit unterschwelligem Stolz hatte Honey mitbekommen, dass Kazuki sich in den Reihen der Magier und Heiler ausgesprochen gut geschlagen hatte, wie eigentlich auch nicht anders erwartet. Und nachdem Void ihn selbst erst einmal äußerst lautstark und ungehalten zur Schnecke gemacht hatte, war auch Honeys Kopf wieder soweit zurechtgerückt, dass er sich dem Rest des Raids verbissen konzentriert gewidmet hatte.

 

Am Ende hatten sie es tatsächlich mit vereinten Kräften geschafft, in die oberste Ebene des herrschaftlichen Canterbury Manor vorzudringen und den dämonischen Endgegner in Gestalt des nicht mehr ganz so lebendigen jungen Lord Canterbury  zu bezwingen. Die triumphierenden Jubelschreie im Teamspeak schafften es auch schließlich, Honeys leicht gedrückte Stimmung wieder aufzuhellen, zumal Deva ihm im Anschluss versicherte, dass er sich in seinen Augen gut geschlagen hatte.

Void hingegen schien ihm seine kleinen Missgeschicke auch nach Abschluss der Mission noch immer übel zu nehmen. Zumindest fiel seine Antwort auf Honeys zerknirschten Entschuldigungsversuch denkbar kurz und ruppig aus, und auch beim anschließenden Gruppengespräch im Voicechat hielt sich der Gunslinger zurück, was Honey etwas wurmte.

 

Das hier war immerhin nur ein Spiel, verdammt. Void konnte ihn doch nicht allen Ernstes links liegen lassen, nur weil er sich ein wenig ungeschickt angestellt hatte. Zugegeben, Void hatte bei Deva ein gutes Wort für ihn eingelegt und für seine Fähigkeiten gebürgt. Dass Honey sich daraufhin aus Konzentrationslosigkeit angestellt hatte wie ein blutiger Anfänger, fiel demnach unter Umständen auch auf ihn und sein Urteilsvermögen zurück.

 

Aber dennoch. Missmutig murrend rutschte Honey auf seinem Schreibtischstuhl hin und her und lauerte auf den Moment, an dem sich die meisten Gildenmitglieder aus dem Teamspeak verzogen haben würden, um die Chance zu bekommen, Void unter vier Augen sprechen zu können.

 

Bevor eine solche Situation jedoch eintreten konnte, raunzte Void kurz vor Mitternacht einen knappen Abschiedsgruß in den Voicechat und ehe Honey oder irgendjemand sonst etwas erwidern konnte, war der Nickname des Gunslingers bereits ausgegraut.

 

Fein, dann sei eben sauer auf mich, Blödmann. Es war immerhin nicht so, als ob Honey nicht genug Leute gehabt hätte, mit denen er sich unterhalten konnte, aber dennoch war seine Laune für diesen Abend zumindest irgendwie verdorben. Er loggte sich ebenfalls aus und beschloss, Void für die nächste Zeit links liegen zu lassen.

 

Level 4

„Hey, warum gehen wir nicht heute Abend mal wieder eine Runde zusammen leveln?“

„Das geht nicht.“

 

Leicht empört, dass seine Bitte so einfach abgeschmettert wurde, blies Honey seine Wangen auf und starrte seinen besten Freund über den Tisch hinweg vorwurfsvoll an: „Und warum nicht? Erzähl mir bloß nicht, zu willst gleich weiterlernen, wenn wir wieder zuhause sind?“ Aus einer der hinteren Ecken der Unibibliothek drang ein zischendes Psst, was Honey jedoch wissentlich ignorierte und seine Aufmerksamkeit weiterhin auf Kazuki lenkte, der seinen Blick auf das Buch in seinen Händen gerichtet hatte.

 

„Nein. Aber ich habe bereits Kyrios zugesagt, mit ihm leveln zu gehen“, erwiderte der Japaner in leisem und betont beiläufigem Tonfall, und Honey konnte nicht anders, als ein kurzes, abfälliges Schnauben von sich zu geben. Kyrios war der Nickname eines Mitspielers aus ihrer Gilde, ein Nekromant, der Kazuki aus irgendwelchen, wie auch immer gearteten Beweggründen unter seine Fittiche genommen hatte. Und Kazuki, sein soziophobischer, menschenhassender Freund Kazuki, der sich ansonsten nicht weniger um irgendwelche zwischenmenschlichen Belange scheren konnte, schien sich aus irgendwelchen, wie auch immer gearteten Gründen mit dieser Person zu verstehen.  Eine Tatsache, die Honey absolut nicht nachvollziehen konnte, denn in seinen Augen war dieser Kyrios ein verdammter Creep, dessen Schmierigkeit aus jedem seiner getippten oder gesprochenen intellektuell gehobenen Worte triefte. Ausnahmsweise hielt er sich jedoch für den Moment mit seiner sehr starken Meinung über den Nekromanten zurück und erwiderte nur etwas trotzig:

 

„Na gut. Ich könnte doch mitkommen?“ Zu seinem steigenden, kindischen Ärger begann Kazuki daraufhin, ausweichend an dem schlecht verklebten Einband seines Buches herum zu zupfen, als ob er die Antwort auf Honeys Frage am liebsten wie eine unliebsame Pflicht gemieden hätte, und rang sich schließlich am Ende nur eine knappe, unbestimmte Erwiderung ab: „…keine gute Idee.“

 

Mit einem unterdrückten, frustrierten Grollen ließ sich Honey in seinem Stuhl zurücksinken. Großartig, sogar sein eigener bester Freund fiel ihm in den Rücken. „Schon klar“, murrte er Kazuki ungnädig entgegen und zog mit aggressiven Bewegungen seinen Vorlesungsordner an sich. Obwohl er sich so intensiv und demonstrativ wie möglich in seinen Unterlagen vergrub, konnte er dennoch noch Minuten später Kazukis Blick auf sich spüren. Überraschenderweise ergriff dieser einen Moment später noch einmal das Wort:

 

„Solltest du dich nicht langsam mal mit ihm versöhnen?“

„Mit wem?“

„Du weißt, mit wem.“
 

„Nein, weiß ich nicht“, fauchte Honey starrköpfig zurück. Diesmal kam von Kazuki keine weitere Erwiderung mehr zurück.

Die Wahrheit war, dass Honey sich eigentlich schon ganz gerne wieder mit Void vertragen hätte. Seit dem Vorfall beim Gildenraid waren beinahe zwei Wochen vergangen, und je mehr Tage ins Land zogen, umso kindischer kam ihm die ganze Sache vor und umso schäbiger fühlte er selbst sich. Nachdem er beschlossen hatte, den Gunslinger bewusst zu ignorieren, war er nicht wieder in den Voicechat zurückgekehrt und demonstrativ mit wechselnden Mitspielern aus der Gilde losgezogen. Anfangs war das Ganze nicht mehr als eine Trotzreaktion auf Voids schroffes Verhalten gewesen, doch je länger er ihn bewusst mied, umso schwieriger schien es zu werden, eine Gelegenheit zu finden, um doch wieder anknüpfen zu können.

Auf eine irrationale, dämliche Art und Weise fehlte ihm die kurze Zeit, in der sie zu zweit losgezogen waren und Void ihn regelmäßig mit seinen bissigen Kommentaren und seinem tiefschwarzen Humor gleichzeitig auf die Barrikaden gebracht und erheitert hatte. Doch hinter alledem und hinter der Spielfigur mit dem albernen Cowboyhut hatte Honey festgestellt, dass Void absolut keine schlechte Person war. Umso größer war sein schlechtes Gewissen gewesen, als Deva vor einigen Tagen im Chat an ihn herangetreten war und ihm ausrichtete, dass der Gunslinger nach ihm fragen ließ.

 

Wenn zuvor noch ein Fünkchen Zorn in ihm gesteckt hätte – spätestens danach war alles davon verpufft. Aber es war dennoch alles nicht so einfach.

 

***

 

Selbstmitleid war etwas, das Honey noch nie besonders gut zu Gesicht gestanden hatte, doch nachdem er sich am Abend durch sämtliche hirnlosen TV-Sendungen gezappt, genervt seine Bücher beiseite gestoßen und Kazuki eine Million Male dafür verflucht hatte, ihm spieltechnisch fremdzugehen, kam er zu der Ansicht, dass es durchaus angebracht war, sich selbst zu bedauern.

 

Mit einem tiefen Seufzer, der ganz nach dem abgrundtiefen Weltschmerz klang, den er gerade zu empfinden glaubte, rollte Honey sich in seinem ohnehin schon zerwühlten Bett herum und linste zu seinem ausgeschalteten PC herüber. Seitdem er einer gewissen Person aus dem Weg zu gehen versuchte, hatte er Jibrile Online zunehmend seltener aufgerufen, was zwar seinem dringend notwendigen Lernpensum zugute gekommen war, aber wenn er ehrlich war, vermisste er das Spielen.

„Vielleicht ein halbes Stündchen…“, murmelte er zu sich selbst und schlurfte von seinem Bett zum Schreibtisch, wo er den Computer hochfahren ließ. Eine halbe Stunde ging bestimmt in Ordnung. Er konnte auch gleich im Gildenchat vorbeisehen, mal wieder etwas Anwesenheit zeigen und die Auktionen checken. Es war schließlich nicht so, als ob Void ihm wie der sprichwörtliche schwarze Mann irgendwo auflauern würde.

 

Tatsächlich war außer ihm selbst, zwei Mitgliedern der Gilde und natürlich Kazuki samt seines schmierigen Schattens niemand online, sodass Honey die leichte Paranoia schnell abschütteln und sich ins Spielgeschehen stürzen konnte. Nach einer halben Stunde hatte er Void und seine eigenen, irrationalen Neurosen bereits vergessen und plauderte über den Voicechat lebhaft mit den beiden Jungs, mit denen er in den vergangenen zwei Wochen das eine oder andere Mal gemeinsam im Spiel losgezogen war. Phoenix und Zephyr waren ein lustiges Freundesgespann, Studenten wie er selbst und genau die Art Mensch, mit der Honey sich im realen Leben gerne zum Kaffeetrinken und Rumhängen getroffen hätte. Echte Kumpeltypen eben. Leider standen bei beiden in der kommenden Woche mündliche Prüfungen an, sodass sie sich nach einer Weile bedauernd verabschiedeten, nicht ohne ihn vorher noch zu überreden, demnächst wieder einmal gemeinsam Monster verprügeln zu gehen.

 

Nachdem sich Phoenix und Zephyr verabschiedet hatten, ging Honey noch einer Weile seinen üblichen Ingame-Tätigkeiten nach, verglich die Preise in den unterschiedlichen Auktionshäusern des Servers und beachtete seinen noch immer geöffneten Teamspeak-Client nicht weiter, auch nicht, als ein leises Pingen das Einloggen eines weiteren Spielers ankündigte.

Entsprechend heftig fuhr ihm der Schreck ins Mark, als ihm auf einmal unvermittelt eine tiefe, raue Stimme über das Headset ins Ohr grollte:

 

„Du bist ja doch noch nicht tot, Flohbeutel.“

Gottverdammte Scheiße----!!“
 

Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern fegte Honey, der vor Überraschung gefühlte zwei Meter in seinem Stuhl hochgesprungen war, sein Colaglas vom Schreibtisch und setzte noch einen weiteren, blumigen Fluch hinterher, als sich ein kleiner See aus klebriger Flüssigkeit auf seinem Teppich ausbreitete.

 

„…Hallo?“

„Du blödes Arschloch!“, entfuhr es Honey fauchend, während er, das Headset noch auf dem Kopf, eine Packung Taschentücher auf rupfte und sein Bestes gab, die Katastrophe einzudämmen, „Wegen dir hat mein Teppich jetzt Flecken!“ „Inkontinenz?“, erblödete sich Void tatsächlich trocken zu fragen, doch Honey entkam nur ein abgewürgter, frustrierter Laut. Die Situation überforderte ihn auf eine Art und Weise, die er nicht allein mit der Wut über seinen versauten Teppichboden erklären konnte, und das nicht zuletzt, weil er sich sein erstes Gespräch mit Void unter vier Augen nach fast zwei Wochen ein wenig anders vorgestellt hatte.

 

„Du hast mich erschreckt“, beschwerte er sich schließlich ein wenig lahm, nachdem die Taschentücher mit Cola getränkt und seine Finger klebrig waren.

„Du warst laut Status online und gesprächsbereit.“

„Ja, aber…“

„Nach zwei Wochen mal wieder. Ein Wunder ist geschehen.“
 

Autsch. Das klang ein wenig bissig, und wenn Honey ehrlich war, hatte Void auch allen Grund dazu, ihm sein kindisches Verhalten unter die Nase zu reiben. Dennoch zerrte neben seinem schlechten Gewissen auch ein wenig der Stolz an ihm, weswegen er schließlich leise und ein wenig trotzig erwiderte: „Ich dachte, du wärst sauer auf mich.“

Daraufhin herrschte zunächst einmal Stille auf der anderen Seite der Internetleitung. Honey fiel auf, dass er noch immer wie der letzte Idiot neben diesem scheußlichen braunen Colafleck auf dem Boden saß, und machte Anstalten, sich wieder auf seinen Stuhl zu hieven. Als Void dann allerdings wieder das Wort ergriff, wäre er beinahe rückwärts wieder heruntergestürzt.

„Ich bin nicht sauer.“

 

Honey öffnete den Mund, um irgendetwas zu erwidern, aber diese schlichte Aussage nahm ihm auf verwirrend angenehme Art und Weise den Wind aus den Segeln. Gleichzeitig fachte sie allerdings neben einem Gefühl der Erleichterung auch sein schlechtes Gewissen von neuem an. Void schien sein Zögern zu bemerken, denn er setzte hinterher:

„Warum zum Teufel sollte ich sauer auf dich sein?“

 

„Wegen… dem Raid neulich?“, riet Honey vorsichtig, doch diese Antwort schien den Anderen, wenn überhaupt, zu belustigen, denn er stieß ein kurzes Schnauben aus, von dem man meinen konnte, es sei ein Lachen.

„Zugegeben, ich hätte dir am liebsten den Hintern versohlt, als du das Ganze fast versaut hast. Wegen diesem bescheuerten Raid hab ich immerhin den Großteil des Fußballspiels verpasst.“

„Ähm…“

 

Honey konnte sich knapp davon abhalten, sich in den Arm zu kneifen, um festzustellen, ob er noch wach war oder mittlerweile irgendeiner Art von koffein-induzierter Wahnvorstellung erlegen war. Erst nach und nach dämmerte ihm, dass Voids schroffes und wortkarges Verhalten vor zwei Wochen nicht etwa darauf zurückzuführen war, dass seine Erwartungen enttäuscht worden waren. Er war nur schlecht gelaunt gewesen, weil er seine Sportsendung verpasst hatte, nachdem der Raid länger gedauert hatte, als vorher kalkuliert.

 

„Hättest du das nicht gleich sagen können, du Penner?“, wollte Honey noch immer etwas ungläubig wissen, „Hast du eine Ahnung, was ich mir für einen Kopf gemacht habe, weil ich dachte, du hasst mich jetzt auf ewig?!“ Die letzten Worte stieß er mit einem kleinen, erleichterten Lachen vermischt aus, das er jetzt, wo er wusste, dass alle seine Sorgen vollkommen unbegründet gewesen waren, nicht mehr zurückhalten konnte.

Void gab erneut dieses schnaubende Geräusch von sich und der Klang ließ Honeys Magen einen kleinen Sprung machen.  „Du bist echt eine verdammte Dramaqueen. Glaub mir, wenn ich ernsthaft wütend auf dich wäre, würdest du das schon merken.“  „Ich weiß, ich werde das irgendwann bereuen, aber… könntest du mir bitte einfach Bescheid sagen, wenn du das nächste Mal tatsächlich sauer auf mich sein solltest?“

„Deal.“

„Deal“, wiederholte Honey versonnen und hatte mit einem Mal endlich wieder das Gefühl, dass die Sache mit dem Weltschmerz vielleicht doch nicht so ganz sein Ding war.

 

Level 5

Nachdem der Herbst seine letzten Momente ausgehaucht hatte und die ersten Dezembertage mit klirrender Kälte und den ersten, zaghaft vom Himmel schwebenden Schneeflocken vorüberzogen, geriet das Spielen für Honey immer mehr zur Nebensache.

 

Nach ihrer Versöhnung, die eigentlich genau genommen gar keine Versöhnung gewesen war, sondern lediglich die Auslösung eines dämlichen Missverständnisses, war er wieder mit Void in die Welt von Jibrile Online losgezogen, um endlich gemeinsam das Maximallevel zu erreichen. Manchmal hatte sich ihnen Kazuki angeschlossen und manchmal unternahmen sie auch gemeinsame Instanzen mit der Gilde, aber die meiste Zeit über waren sie nur zu zweit. Den Tag über brütete Honey über seinen Büchern, um bei den Prüfungen am Herbstende nicht komplett zu versagen, doch die Nächte gehört voll und ganz Void und ihren virtuellen Unternehmungen. Zeitweise kam sich Honey vor, als ob er ein Doppelleben führen würde, und zugegebenermaßen zehrte dieser Zustand an seinen Kräften. Zwei Realitäten nebeneinander, und in einer von ihnen lief er mit tiefen Augenringen und permanent übernächtigt durch die Gegend. Und doch hätte er die andere, alternative Realität um nichts in der Welt gegen diejenige eingetauscht, in der Erfolg und Misserfolg sich tatsächlich auf sein späteres Leben auswirken würde. Schlaf war ohnehin überbewertet.

 

Dennoch war Honey heilfroh, als er endlich auch die letzte Prüfung des Semesters überstanden hatte. An diesem Tag kippte er wie besinnungslos ins Bett und schlief beinahe 24 Stunden lang durch. Danach ging es wieder bergauf.

Kurz darauf erreichten seine und Voids Spielfigur ihr Maximallevel und die Möglichkeiten, sich innerhalb des Spiels zu beschäftigen, wurden eingeschränkter. Weder Honey noch Void waren der Typ dafür, einem Spiel seine letzten Geheimnisse zu entlocken und jede kleine Nebenquest zu lösen, die sie irgendwann einmal übersprungen hatten, und ehe es irgendeiner von ihnen bewusst wahrnahm, geriet das Einloggen in Jibrile Online mehr und mehr zum reinen Vorwand, um miteinander Zeit zu verbringen.

 

Eines Abends saß Honey wieder einmal vor seinem Rechner, vor sich einen riesigen Teller mit Thunfischpizza, von der Void steif und fest behauptete, ihr widerlicher Gestank könne bis zu ihm durchdringen. Sie waren mittlerweile die meiste Zeit in einem privaten Channel, anstatt den Gildenchannel zu benutzen, weil Void es nach eigener Aussage nicht leiden konnte, wenn neben ihren eigenen noch zig andere Stimmen dazwischen quatschten. Honey war dies durchaus recht, und irgendwie gefiel ihm der Gedanke, dass er selbst die einzige Ausnahme von der gelebten Misanthropie seines Gesprächspartners darstellte.

Void war ihm in vieler Hinsicht noch immer ein Rätsel, auch wenn er mittlerweile einiges über den anderen Mann gelernt hatte.

Er wusste, dass Void mit dem Onlinespielen angefangen hatte, als er noch beim Militär gewesen war und oft tagelang in irgendwelchen tristen Bungalows mitten im Nirgendwo gesessen hatte, während er darauf wartete, dass sein Wachdienst anfing. Er wusste, dass Void einen gewissen Hang zum unflätigen Fluchen und Negativismus hatte, aber hinter dieser harten Schale selten wirklich ernsthafte Geringschätzung lag. Dass er eigentlich ein ziemlich guter und geduldiger Zuhörer war, dessen sarkastische Bemerkungen es immer irgendwie schafften, Honey an jedem noch so anstrengenden und beschissenen Tag ein Grinsen zu entlocken. 

Ja, er wusste wirklich mittlerweile eine Menge über Void. Was ihm allerdings fehlte, waren komplett profane Informationen, die bei jeder anderen normalen Bekanntschaft schon in den ersten paar Minuten ausgetauscht worden wären, und die ihn, zugegebenermaßen, mittlerweile brennend interessierten.

 

„Sag mal… wie heißt du eigentlich?“, fragte Honey möglichst locker in die Stille des Voicechats hinein, nachdem er ein besonders großes Stück Pizza verschlungen hatte.

„Warum willst du das wissen?“

„Komm schon! Du kennst meinen Namen immerhin auch!“

„Ja, weil du ein unvorsichtiger Bengel bist, der Fremden im Internet einfach so seine privaten Daten verrät.“

 

Honey verdrehte leicht die Augen. Als ob sein Name so ein großes Geheimnis gewesen wäre. Immerhin nutzte er seinen verdammten Rufnamen auch als Nickname, und obwohl Void auch mittlerweile seinen echten Namen kannte und sich ausgiebig darüber lustig gemacht hatte, dass ein volljähriger Typ sich freiwillig „Honey“ nennen ließ, war er niemals auch nur ein einziges Mal „Tama“ für Void gewesen.

 

„Sei kein Spielverderber. Also?“ Stille am anderen Ende der Leitung. Honey war schon drauf und dran, seinem Gesprächspartner einfach damit zu drohen, solange zu raten, bis er recht hatte, doch Voids knirschende Stimme kam ihm zuvor.

„Ryder.“

„Ryder?“

„Ryder.“

„Du trägst einen verdammten Cowboyhut und heißt Ryder…?“, prustete Honey hervor und musste sich stark zusammenreißen, um angesichts dieses Klischees nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Tausend und ein dämlicher Wortwitz fiel ihm zu diesem Thema ein. 

„Und? Du kicherst wie ein Mädchen und nennst dich Honey.“

„Penner“, fauchte Honey, konnte das Lachen aber nicht ganz aus seiner Stimme verbannen, „Einigen wir uns doch darauf, uns weiterhin bei unseren Spitznamen zu nennen.“

„Meinetwegen“, murrte Void, offenbar noch immer ein wenig in seinem Stolz gekränkt, aber zumindest kompromissbereit. Honey lehnte sich leicht in seinem Stuhl zurück, ein hartnäckiges Lächeln in seinen Mundwinkeln und die Pizzareste auf seinem Teller komplett vergessen.

„Und jetzt… hätte ich noch ein paar weitere Fragen.“

 

***

 

Die Vorstellungskraft war schon eine seltsame Angelegenheit. Honey rühmte sich gerne damit, eine ausgeprägte Fantasie zu besitzen, aber alles hatte seine Grenzen. Oder vielmehr… es gab Grenzen, die eigentlich nicht überschritten werden sollte, und gewisse Fantasien, die eigentlich eher in den Kopf eines vierzehnjährigen Jungen im Klammergriff der hormonalen Entwicklung gehörten.

Als er dann also an einem frühen Dezembermorgen mit beschleunigtem Atem aufwachte, Schweiß auf der Stirn und die Vorderseite seiner Shorts mit warmer Feuchte benetzt, wäre Honey am liebsten vor Scham im Boden versunken. „Das ist doch jetzt nicht wahr…“, murmelte er kläglich, während er sein glühendes Gesicht mit seinen Händen bedeckte.

Irgendwie schaffte er es, das angrenzende Badezimmer zu erreichen, ohne Kazuki über den Weg zu laufen, auch wenn er fast schon erwartet hatte, dass das Universum ihm diese Peinlichkeit ebenfalls nicht vorenthalten würde. Unbehaglich und linkisch wie zuletzt in der zehnten Klasse säuberte er sich von den Spuren seines feuchten Traums und versuchte die ganze Zeit über krampfhaft, nicht allzu sehr darüber nachzudenken, wovon dieser gehandelt hatte. Denn bedauerlicherweise konnte er sich sehr gut daran erinnern.

 

***

 

„Ich muss für einige Tage geschäftlich weg“, kündigte Void aus dem Zusammenhang gerissen an. Honey, der bislang den ganzen Abend über während ihres Gesprächs eher abwesend gewesen war, schreckte ein wenig hoch und erwiderte wenig artikuliert: „Oh?“

 

Void fuhr fort, ihm mit knappen Worten zu erläutern, dass er in Devas Auftrag die Renovierungsarbeiten eines Firmengebäudes in einer anderen Stadt überwachen sollte, was einige Tage in Anspruch nehmen würde. „Ich werde vor Ort kein Internet haben, also…“

 

Honey nahm die Neuigkeit mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits war er der Meinung, dass es seinem Verstand durchaus zugutekommen würde, für ein paar Tage etwas Abstand von Void und seiner bescheuerten, rauchigen Stimme zu bekommen, die ihn mittlerweile ganz offensichtlich bis in seinen Schlaf verfolgte und ihm dort Dinge ins Ohr flüsterte, von denen sich alleine in Erinnerung daran seine Wangen röteten. Auf der anderen Seite spürte er eine leise Enttäuschung, denn Voids Abwesenheit würde bedeuten, dass sie vorerst keine Möglichkeit mehr haben würden, miteinander zu sprechen. Er hatte sich mittlerweile an ihre täglichen Voicechat-Séancen gewöhnt, und selbst, wenn sie nicht immer dabei miteinander sprachen, war selbst die stille Präsenz des anderen Mannes etwas geworden, das so fest zu seinen Abenden gehörte, dass es sich mit Sicherheit seltsam anfühlen würde, auf einmal darauf zu verzichten.

 

„Okay“, raffte sich Honey schließlich zu einer gespielt unbekümmerten Antwort auf, „Dann lass dir aber bitte keinen Stahlträger auf den Kopf fallen oder sowas.“

„Du solltest mir deine Nummer geben.“

„…was?“

Honey konnte hören, wie Void sich am anderen Ende der Leitung leicht räusperte, und er spürte, wie sich sein Puls idiotischerweise um ein paar Takte beschleunigte.

 

„Deine Nummer, Flohbeutel. Für den Notfall.“

„…für den Notfall, dass dir ein Stahlträger den Schädel einschlägt?“

„Zum Beispiel.“

 

Konfus fuhr sich Honey durch die Haare und konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines, hartnäckiges Lächeln in seinen Mundwinkeln festsetzte. „Okay, ähm… Warte kurz, okay?“, erwiderte er und hätte sich beinahe im Kabel seines Headsets verheddert, als er hastig aufsprang, um sein Handy vom Nachttisch zu klauben. Er gehörte zu den Menschen, die ihre eigene Nummer nicht auswendig kannten, aber Void blieb geduldig, auch, als sich Honey vor Aufregung einmal verhaspelte, während er die zwölfstellige Nummer durchgab.

 

„Gut. Sekunde…“, bat Void ihn daraufhin einen Moment um Geduld, und keine Minute später gab Honeys Mobiltelefon ein leises Piepsen von sich, das die Ankunft einer Kurznachricht ankündigte. Der Student ließ das Gerät aufschnappen und musste grinsen, als er die SMS las.

 

Unknown Number (23:31): hey

 

Er beeilte sich, Voids Nummer abzuspeichern und schickte dann, um seinen Gesprächspartner ein wenig aufzuziehen, ein schnelles „Hi“ samt eines hässlichen gelben Smileys zurück. „Gut, dann…“, fuhr er schließlich fort, als er sich wieder daran erinnerte, dass sie ja noch immer über den Voicechat verbunden waren, „…melde dich, falls irgendwelche Dinge mit deinem Kopf passieren.“

 

Später, als Honey bereits im Bett lag, schnappte er sich noch einmal sein Handy und betrachtete die beiden ausgetauschten Nachrichten im Verlauf seines SMS-Menüs mit einem kleinen, bescheuerten Lächeln im Gesicht. Er zögerte für einen Moment, konnte sich dann aber doch nicht zurückhalten und tippte eine kurze, schnelle Nachricht an Void ein:

 

Honey (00:23): Gute Nacht.

 

Es folgte keine Antwort, vermutlich schlief Void also schon, aber alleine die Möglichkeit, ihn ab jetzt von überall einfach so kontaktieren zu können, schickte ein kleines, angenehmes Kribbeln in Honeys Magen.

Level 6

Trotz der sich eröffneten neuen Möglichkeiten dauerte es zwei Tage, bis Honey erneut den Mut fand, Void per SMS zu kontaktieren. Nachdem auf seine letzte, nächtliche Nachricht auch tags darauf keine Antwort gekommen war, wäre es ihm irgendwie aufdringlich vorgekommen, erneut nach Aufmerksamkeit zu fordern. Er war immerhin weder Voids Freundin noch seine Mutter, und ihn mit Kurznachrichten zu bombardieren würde, so Honeys Schlussfolgerung, vermutlich über kurz oder lang nur den Unmut des anderen Mannes auf sich ziehen.

 

Also wartete er geduldig und versuchte, sich mit anderen Tätigkeiten abzulenken. Er verbrachte wieder mehr Zeit mit Kazuki, um diesen dafür zu entschädigen, dass er ihn zugunsten von Void ein wenig vernachlässigt hatte. Die vergangenen Tage hatte es stark geschneit, sodass sie mehrere lange, ausgedehnte Spaziergänge in den nahegelegenen Parks unternommen und sich abends bei heißem Kakao vor dem Fernseher zusammengesetzt hatten.

 

Kazuki hatte es zunächst nur mit hochgezogener Augenbraue quittiert, dass Honey alle zehn Minuten auf sein Handy blickte, aber sich zunächst jeden Kommentar diesbezüglich verkniffen. Nachdem das Ganze aber nach zwei Tagen irgendwie langsam zur Gewohnheit zu verkommen schien, hatte offenbar selbst der junge Japaner, der sich sonst bewusst aus solchen Dingen raushielt, genug.

 

„Du benimmst dich wie ein verknalltes Schulmädchen“, so der vernichtende Kommentar, den Kazuki ihm am Abend vor Nikolaus vorsetzte. Natürlich protestierte Honey lautstark und heftig, doch der Schaden war angerichtet – mit jedem Blick auf sein Handy schien sich die ungeschminkte Einschätzung seines Freundes mehr und mehr in sein Hirn zu fressen. Kazukis vielsagende Seitenblicke taten ihr übriges, sodass Honey schließlich mit empört gerötetem Gesicht und einer fadenscheinigen Ausrede das Wohnzimmer verließ, um sich in sein Zimmer zu verziehen. Strategischer Rückzug natürlich, auf keinen Fall eine Flucht.

 

Kazuki hatte gerade gut reden. Als ob der Verliebtheit überhaupt erkennen könnte, wenn er sie vor sich sah. Eine Familienpackung Toast hatte mehr Ahnung von zwischenmenschlichen Belangen als Kazuki, Herrgott nochmal. Und überhaupt – –

 

Honey atmete einmal tief durch und versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Warum rege ich mich eigentlich so auf…?“, murmelte er leise vor sich hin und tastete nach dem Handy in seiner Hosentasche. Er würde Void jetzt eine verdammte SMS schreiben, ihm einen schönen Nikolaus wünschen und Kazuki und sich selbst beweisen, dass er kein schmachtendes Teenagermädchen war, das sehnsuchtsvoll auf eine Nachricht ihres Liebsten harrte. Void konnte ihm den Buckel runterrutschen, wenn er ihm nicht von sich aus schrieb.

 

Honey (20:21): Hoffe, du hast deinen Stiefel schon rausgestellt. Oder meinst du, der Nikolaus kommt nur zu netten Menschen?

 

So. Bitte schön. Unverbindlich, neutral und nur mit einer winzigen Spur Passiv-Aggressivität. Zufrieden mit sich selbst warf Honey das Mobiltelefon auf sein Bett und schnappte sich sein Handtuch, um den ganzen Blödsinn, den sein bester Freund ihm in den Kopf gepflanzt hatte, mit einer heißen Dusche davon zu spülen.

 

Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, zwang er sich zunächst, nicht als allererstes in Richtung seines Bettes zu linsen, sondern sich zunächst in aller Langsamkeit einen Pyjama überzuziehen. Wenn er ehrlich war, wollte ein kleiner Teil von ihm auch gar nicht sehen, ob eine Antwort gekommen war. Vermutlich würde er ohnehin enttäuscht werden.

Umso überraschter war Honey, als er kurz darauf ins Bett kletterte und tatsächlich ein kleines, blinkendes Briefumschlag-Symbol in der oberen rechten Ecke seines Handydisplays vorfand. Er versuchte sich ein wenig krampfhaft selbst einzureden, dass dies sicherlich nur eine dieser Werbe-Nachrichten seines Telefonanbieters war, um seinen unweigerlich in die Höhe schnellenden Pulsschlag zu beruhigen, doch er musste feststellen, dass der Selbstbetrug zumindest diesmal vollkommen umsonst gewesen war – die SMS stammte von Void.

 

Void (20:38): mir ziemlich egal. wenn er nach getragenen, stinkenden schuhen ausschau hält, muss er ein ziemlich ekelhafter typ sein.

 

Wider Willen musste Honey ein wenig kichern. Mit einer einzigen, typisch beißenden Bemerkung hatte es der andere Mann geschafft, seine aufgewühlte Stimmung ins Gegenteil umzukehren. Er beeilte sich, eine entsprechende Nachricht zurückzusenden:

 

Honey (21:03): Ja, das habe ich irgendwie auch schon immer gedacht.

Honey (21:04): Wie läuft die Arbeit?

Void (21:06): ok.

 

Anscheinend hatte die erste Nachricht Voids komplettes SMS-Vokabular bereits vollständig aufgebraucht. Das erklärte auch, warum er anscheinend fast dreißig Minuten für 18 schlichte Wörter gebraucht hatte, und es dämmerte Honey, dass Void offenbar zu der Art von Mensch gehörte, die mit ihrem Mobiltelefon oder der Benutzung von Kurznachrichtendiensten generell auf Kriegsfuß standen. Das war ein wenig verwunderlich, da Void ja durchaus in der Lage war, einen Rechner zu bedienen, aber auf der anderen Seite passte dieses kleine Detail irgendwie in das Bild, was Honey von dem etwas verschrobenen Mann hatte. Er fand es sogar ein wenig niedlich.

 

Da sich der SMS-Kontakt als etwas schwerfällig herausgestellt hatte, beschloss Honey, seinen Gesprächspartner nicht allzu lange zu quälen und verabschiedete sich, indem er Void eine gute Nacht wünschte. Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, doch als er bereits halb eingenickt war, wurde er vom leisen Piepsen seines Handys geweckt. Verwirrt blinzelnd klappte er das Gerät auf und musste unweigerlich über die Nachricht lächeln, die der andere Mann offenbar unter Aufbietung seiner gesamten Konzentration zusammengeschustert hatte:

 

Void (21:32): noch zwei tage, dann wieder zurück. Nacht, flohbeutel.

 

Honey ließ sein Handy wieder zuschnappen und musste sich stark zusammenreißen, um das ekelhaft glückliche Grinsen aus seinem Gesicht zu vertreiben. Sinnierend ließ er sich zurück in die Kissen fallen und starrte in die Dunkelheit. Noch zwei Tage…

 

***

 

Zu Honeys Überraschung überwand sich Void in den darauffolgenden zwei Tagen tatsächlich noch das eine oder andere Mal, ihm von sich aus eine SMS zu schreiben. Zwar waren das kurze, zumeist wenig aussagekräftige Nachrichten, aber Honey wollte sich gerne einbilden, dass sie ein Zeichen dafür waren, dass der Ältere an ihn dachte.

 

Nach Voids Rückkehr kehrten sie wieder zu ihren Voicechat-Gesprächen zurück, doch es wurde zur Gewohnheit, dass sie sich jeden Morgen nach dem Aufwachen eine kurze Nachricht über das Handy zukommen ließen. Mittlerweile konnte selbst Honey sich nicht mehr einreden, dass er das für komplett unverfänglich und hetero hielt. Nicht, dass hetero generell gesprochen für ihn eine Option gewesen wäre. Doch es war eine Sache, mit jemandem aus seiner Uni auszugehen, und eine andere, verwirrende Gefühle für einen Typen zu entwickeln, dessen Gesicht man nicht einmal kannte.

 

Oh, und Honey hatte eine Menge verwirrender Gefühle. Die meiste Zeit über fühlten sie sich warm und kribbelnd und manchmal, in besonders schwachen Momenten (für die Honey sich im Nachhinein immer ein wenig schämte), auch durchaus heiß an. Dann wiederum gab es Momente, in denen er an seinem Verstand zweifelte und in eine Phase akuten Selbsthasses verfiel, weil er drauf und dran war, einen riesengroßen Fehler zu machen, der ihn irgendwann vermutlich noch sehr verletzen würde.

 

Immerhin war nicht bewiesen, dass Void überhaupt so etwas wie romantisches Interesse an ihm besaß. Honey wusste zwar, dass der andere Mann keine Beziehung unterhielt, aber ob er nun auf Frauen, Männer, Steine oder schlicht und ergreifend nichts stand, wusste vermutlich nur das Universum allein. Und irgendwie traute sich Honey auch nicht, das Thema anzuschneiden.

 

Irgendwann, es war die Woche vor Weihnachten, war er sogar so verzweifelt, dass er den Versuch unternahm, mit Kazuki über die ganze Sache zu sprechen. Dieser schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, als sein Freund reuevoll zu ihm gekrochen kam, und sein Blick drückte nicht weniger aus als: „Hättest du gleich auf mich gehört, könnten wir uns das hier sparen.“ Honey war durchaus bewusst, was er dem Japaner zumutete, aber er bekam langsam, aber sicher das Gefühl, als ob sein Kopf platzen würde, wenn er noch länger mit seinen Gedanken alleine blieb.

 

Und Kazuki, ganz der großartigste beste Freund auf der Welt, der er nun einmal für Honey war, hörte vollkommen geduldig und stoisch zu, wie die Worte zunächst stockend, dann jedoch wasserfallartig aus Honeys Mund strömten, tätschelte ihm ein wenig steif den Rücken und gab ihm all die Ratschläge, die ein Verliebter in dieser Situation auf keinen Fall hören wollte.

„Tu dir nicht selber weh.“ – „Das sind nur die Hormone.“ – „Du kommst schon drüber hinweg.“ – „Iss Schokolade.“

Gut, mit Letzterem konnte sich Honey ganz gut arrangieren. Er war seinem Freund auch durchaus dankbar, dass dieser ihn wieder ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Vielleicht hatte Kazuki ja tatsächlich recht und er sollte das Ganze etwas rationaler angehen. Eventuell mal wieder mit irgendjemandem ausgehen und sich seine virtuelle und zu allem Überfluss vermutlich noch eingebildete Romanze aus dem Kopf schlagen.

 

***

 

Als er dann abends im Bett lag und ein wenig lustlos in einem Comic blätterte, war sein Entschluss, über die ganze Sache hinwegzukommen, beinahe schon komplett gefestigt. Ja, er mochte Void. Mehr, als gut für ihn war. Nein, aus einer Internet- und Telefonbeziehung konnte nichts werden, selbst in dem unrealistischen Szenario, in dem Void ebenfalls an ihm interessiert war. Wie er es auch drehte und wendete, wenn er jede dieser Gedankenketten zu Ende dachte, stand er zuletzt immer als der Idiot da.

 

„Wahrscheinlich bist du am Ende doch nur ein hässlicher, buckeliger Nerd“, murmelte er leise und mit einer nicht unerheblichen Portion Selbstironie zu sich selber. Das wäre doch wirklich noch das perfekte, peinliche Ende, das seiner Geschichte fehlte.

 

Als ob er es heraufbeschworen hätte, schrillte im nächsten Moment sein Handy los und versetzte Honey einen solchen Schock, dass er rückwärts in seine Kissen purzelte. Schnaufend griff er nach dem Gerät, um nachzusehen, welcher Blödmann ihn um diese Uhrzeit versuchte anzurufen, und bekam gleich den nächsten Herzschlag verpasst, als er Voids Namen auf dem Display aufleuchten sah.

 

Verunsichert drehte Honey sein Handy in den Händen, während die Melodie seines Klingeltons beständig weiter durch den Raum dudelte. Void hatte ihn noch nie angerufen. Das war etwas komplett anderes als SMS oder der Voicechat. Das war ein Anruf. Und je länger er darüber nachdachte, umso bescheuerter kam er sich vor, dass sein Herz gerade bis zum Hals schlug.

 

„…Hallo?“, meldete sich Honey schließlich ungewohnt zaghaft, nachdem er sich einen Ruck gegeben und den Anruf angenommen hatte.

„Na endlich. Warst du auf dem Klo, oder warum hat das so lange gedauert?“, tönte ihm sofort Voids kratziger Bass entgegen und ließ trotz der wenig romantischen Wortwahl seinen Magen flattern. Offenbar befand sich sein Gesprächspartner irgendwo im Freien, denn Honey konnte hören, wie der Wind die Verbindung zum Rauschen brachte.

 

„Wow, das ist das Süßeste, was mir jemals jemand gesagt hat“, erwiderte er leicht ironisch und mit mehr Sicherheit in der Stimme, als er tatsächlich verspürte. Für einen Moment war nur das Rauschen des Windes in der Leitung zu hören, sodass er schließlich ein wenig misstrauisch nachfragte: „… alles okay bei dir?“ Wenn Void ihn schon anrief, musste es einen triftigen Grund dafür geben. Er hoffte nur, dass nichts passiert war. Unweigerlich stiegen Bilder von einem langsam zu Tode blutenden Void in seinem Kopf auf, der sich beim Fällen eines Weihnachtsbaums im Wald die Axt ins Bein gejagt hatte.

 

„Ja. Bin gerade im Innenhof und kontrolliere die Regenrinne“, beruhigte ihn sein Gesprächspartner jedoch gleich darauf und Honey konnte hören, wie im Hintergrund ein metallisches Klong ertönte, „Was machst du morgen Nachmittag?“

 

Irritiert blinzelnd und von dieser plötzlichen Frage gedanklich komplett abgehängt starrte Honey in den Raum hinein. „Ähm… nichts, denke ich?“

„Die Sache ist die…“, fuhr Void fort, und Honey hätte beinahe schwören können, dass er ein wenig um Worte rang, „Ich bin morgen zufälligerweise in deiner Gegend. Vormittags muss ich was für Deva erledigen, aber…“ Der Rest des Satzes hing unausgesprochen und bedeutungsschwer zwischen ihnen, während für einen Moment niemand von ihnen ein Wort sagte.

„… du willst dich mit mir treffen?“, ergriff Honey schließlich nach einer Weile wieder vorsichtig das Wort, um ganz sicher zu gehen, dass er hier nicht gerade irgendwelche Dinge komplett missverstand.
 

„Viel Zeit werde ich nicht haben und es wird vermutlich ziemlich hektisch sein, aber… es war nur ein verdammter Vorschlag, okay?“

„Okay.“

„Okay was?“

„Ich würde dich auch gerne treffen“, sprach Honey leise in den Hörer und musste unweigerlich lächeln, während seine gesamten vernünftigen Vorsätze gerade zu einer kleinen Pfütze zusammenschmolzen.

 

Sie machten eine Zeit und einen Treffpunkt für den morgigen Tag aus, und nachdem sich Void unter gemurmeltem Vorschub seiner Arbeit wieder verabschiedet hatte, bekam Honey das unbestimmte Gefühl, dass er in dieser Nacht vermutlich kein Auge zumachen würde.

 

Mit einem leisen, glücklichen Lachen ließ er sich zurück in die Kissen fallen. Scheiße, er war wirklich verknallt. Und wenn das morgen schief ging, würde Kazuki vermutlich einiges bei ihm zu kitten haben.

 

Level 7

„Du schaffst das. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Du hast absolut keine Erwartungen, also kannst du es ganz locker angehen.“

„Mit wem redest du eigentlich?“

 

Erschrocken zuckte Honey zusammen und wirbelte zu seiner Zimmertür herum. Er war so sehr in sein eigenes Spiegelbild und seine gemurmelte Motivationsrede vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass Kazuki anscheinend bereits vor einiger Zeit den Raum betreten hatte. Verlegen grinsend kratzte sich Honey über die Wange und machte erst gar nicht den Versuch, sich aus dieser etwas peinlichen Situation herauszureden.

„Ich dachte, wenn ich‘s nur oft genug wiederhole, fange ich irgendwann an, es zu glauben…“, gestand er und rief damit bei Kazuki ein leises, erschöpft klingendes Seufzen hervor.

„Du wirst es ohnehin durchziehen. Egal, was ich oder dein Verstand dazu sagen, oder?“, fragte der junge Japaner mit leiser, emotionsloser Stimme, doch in seinem Blick lag eine Besorgnis, die Honey unweigerlich zum Lächeln brachte. „Du kennst mich doch. Wenn irgendwo ein potentielles Fettnäpfchen erscheint, muss ich einfach mit Anlauf hineinspringen“, erwiderte er scherzhaft und vielleicht eine Spur lockerer, als er sich tatsächlich fühlte. Es war zwar nicht gesagt, dass seine Verabredung tatsächlich in einem Desaster enden würde, aber es erschien ihm irgendwie gesünder, das Ganze kleinzureden und die Erwartungen so niedrig wie möglich zu halten.

 

Er hatte erwartet, von Kazuki mit einem ganzen Katalog von Warnungen und gutgemeinten Ratschlägen losgeschickt zu werden, doch wieder einmal überraschte sein Freund ihn, indem er Honey nur musterte und dann schließlich ruhig sagte: „Es wird schon gut gehen. Und wenn nicht…“ Ein Schulterzucken schloss die kurze Rede ab, doch Honey verstand auch so, was Kazuki ihm versuchte zu sagen. Mit einem breiten Lächeln machte er einen Schritt vorwärts und drückte den kleineren Japaner, gefolgt von einem tiefen und dankbaren Seufzen. „Ja, ich weiß. Dann muss ich wohl leider dich heiraten.“

Kazuki versteifte sich unweigerlich unwohl in der unnachgiebigen Umarmung und murmelte irgendetwas Unverständliches, sodass Honey ihn mit einem ausgelassenen Lachen wieder losließ. Die kleine Episode hatte dazu beigetragen, seine flatternden Nerven wieder zu beruhigen, sodass er sich gestärkt genug fühlte, seinem Blind-Date entgegenzutreten.

 

„Gut, ich bin dann unterwegs“, kündigte er an und schnappte sich seine Jacke von der Garderobe. Kazuki, der ihm in den Flur gefolgt war, lehnte mit leicht verschränkten Armen an der Wand und sah seinem Freund einen Moment lang stumm beim Überstreifen der Schuhe zu, bevor er beiläufig fragte: „Wann, denkst du, wirst du wieder da sein?“

 

Ein wenig verwundert angesichts dieses plötzlichen Interesses an den Details seines Dates blickte Honey von seinen Schnürsenkeln auf und zuckte leicht grinsend mit den Schultern. „Weiß nicht. Wenn es gut läuft, könnte es eventuell später werden?“ Void hatte zwar angekündigt, dass er wegen der Arbeit und der noch am selben Tag geplanten Rückreise wenig Zeit haben würde, aber man wusste schließlich nie. „Wieso?“

 

Kazuki zuckte nur betont desinteressiert mit den Schultern und wandte sich dann ab, um sich in sein eigenes Zimmer zurückzuziehen. „Nur so. Viel Spaß dann.“ Die Tür schloss sich hinter ihm und Honey blieb etwas irritiert mit dem Kopf schüttelnd zurück. Huh. Entweder machte sich Kazuki doch mehr Sorgen um ihn, als er nach außen hin durchscheinen ließ, oder er wurde langsam wunderlich.

 

Wie dem auch war, er hatte später sicherlich noch ausgiebig Zeit, sich um den Geisteszustand seines besten Freundes Gedanken zu machen. Immerhin stand gerade sein eigener auf dem Spiel, sodass Honey schließlich tief seufzend nach seinem Schlüssel griff und die Wohnung verließ, um sich auf den Weg zu seiner Verabredung zu machen.

 

***

 

Eine Stunde später war Honey sich nicht mehr ganz sicher, ob seine zittrigen Hände von der Aufgeregtheit oder den zwei Espresso Con Panna herrührten, die er bereits mehr in sich hineingeschüttet als wirklich zivilisiert getrunken hatte. Normalerweise nahm er sich immer genüsslich Zeit, die Sahnehaube seines Lieblingsgetränks abzutragen, doch heute hätte man ihm genauso gut eine Tasse Klärwasser vorsetzen können, denn seine angespannte Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die Eingangstür des einschlägigen Coffeeshops gerichtet, den er und Void als ihren Verabredungsort auserkoren hatten.

 

Nun, eigentlich war es Honey gewesen, der diesen Ort vorgeschlagen hatte. Das Café lag ganz in der Nähe des Campus und wurde hauptsächlich von Studenten frequentiert. Kein schickes Nobellokal, aber auch nichts, was allzu deutlich ‚Ich muss noch meinen Studienkredit abbezahlen‘ schrie. Was ein Blick in die Karte und auf die Kaffeepreise durchaus beeindruckend demonstrierte, wenn man ehrlich war.

 

Nein, Honey mochte diesen Ort und war bereits unzählige Male hier eingekehrt, wenn er seine Ruhe und einen gewissen Koffeinpegel haben wollte. Es war der ideale Treffpunkt für eine Verabredung. Nur, dass seine Verabredung sich gerade gewaltig verspätete.

 

Gewaltsam riss Honey seinen Blick von der Eingangstür fort und richtete ihn stattdessen auf den belebten Bürgersteig vor der Fensterfront des Cafés. Es hatte wieder begonnen zu schneien.

„Wo bleibst du bloß, Idiot…?“, murmelte er leise und frustriert zu sich selber, während er in seine Hosentasche griff, um zum fünften Mal innerhalb der letzten zwei Minuten sein Handy zu checken. Es war bereits eine halbe Stunde nach ihrer verabredeten Zeit. Keine Nachricht von Void. So langsam begann Honey tatsächlich die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass er versetzt worden war, aber er zwang sich selbst, nicht zu voreiligen Schlüssen zu springen. Dennoch.

 

Verdrießlich starrte er auf seinen Handybildschirm und nahm sich gedanklich vor, Void nicht mehr als weitere zwanzig Minuten zu geben. Oder war das unfair? Immerhin schneite es da draußen ziemlich stark und Void war mit dem Auto unterwegs. Was, wenn er einen Unfall gehabt hatte? Oder die Wegbeschreibung zum Café nicht genau genug gewesen war? Oder… Honey musste leicht schlucken, als ihn ein spontaner panischer Gedanke überkam. Was, wenn er schon hier gewesen ist, aber wir uns nicht erkannt haben?

 

Das war ein nicht gerade unwahrscheinliches Szenario, denn sie hatten niemals Fotos miteinander ausgetauscht. Was, wenn Honey jetzt im Nachhinein so darüber nachdachte, ziemlich idiotisch gewesen war. Void war zwar in den vergangenen Wochen des Öfteren zu Besuch in seinen unlauteren Tag- und Nachtträumen gewesen, allerdings hatte Honey dabei irgendwie immer unbewusst von dem Spieleavatar des anderen Mannes auf dessen reales Äußeres geschlossen. Nun, was sollte er sagen, er hatte nun einmal eine blühende Fantasie und vielleicht den klitzekleinen Ansatz eines dezenten Cowboy-Fetisches. Eine gefährliche Sache, wenn man bedachte, dass solche unrealistischen Erwartungen eigentlich nur enttäuscht werden konnten.

 

Oder vielleicht auch nicht, wenn Void wirklich nicht mehr auftauchen würde. Der Gedanke hatte etwas Erleichterndes und gleichzeitig irgendwie ziemlich Trauriges an sich.

 

Mit ersticktem Seufzen ließ Honey seine Schläfe gegen die angenehm kühle Fensterscheibe sinken und nahm nur entfernt wahr, wie die mechanische Ladentürklingel im Hintergrund in unregelmäßigen Abständen einen sanften Bimmelton von sich gab, wann immer jemand das Café betrat.

 

Es war eigentlich mehr Zufall als bewusste Tat, als Honey den Blick schließlich irgendwann genau in dem Moment wieder in Richtung Tür schweifen ließ, als die Klingel erneut ertönte, und irgendwie wusste er sofort, dass der Mann, der gerade das Café betrat, Void war.

 

Fluchtreflex war die erste, vollkommen irrationale Regung, die Honey erfasste. Stattdessen erstarrte er stocksteif auf seinem Sitz, während sich die große, breitschultrige Gestalt im Eingangsbereich mit ungeduldigen Bewegungen den Schnee vom Mantel wischte und sich suchend im Innenraum des Cafés umsah. Holla die Waldfee war die zweite Reaktion, die ihn durchfuhr, und es war peinlicherweise bei weitem nicht nur eine emotionale Regung, weswegen er auch ertappt zusammenzuckte, als sich der Blick des Fremden unweigerlich mit seinem traf und er Anstalten machte, sich seinem Tisch zu nähern. Oh Gott. Das hier passierte jetzt also wirklich.

 

„Verdammter Drecksschnee auf den Straßen“, waren die ersten, auf surreale Art und Weise furchtbar typischen Worte, die Void nonchalant an ihn richtete. Als ob sie schon seit einer Ewigkeit gute Freunde wären, die sich nur mal eben wie immer auf einen Kaffee träfen. „Sorry wegen der Verspätung.“

 

„Nein, ähm. Kein Problem, ich…“ Honey schreckte verspätet aus seiner peinlichen Starre hoch und machte eine konfuse, abwehrende Handbewegung, bevor er etwas lahm hinterher setzte: „…ich bin auch gerade erst gekommen.“ Eine glatte Lüge, und eine ziemlich durchschaubare noch dazu, da seine geleerten Kaffeetassen noch immer auf dem Tisch standen und davon zeugten, dass er bereits mehr Koffein intus hatte, als vermutlich in einer Situation wie dieser gut war.

 

Void jedoch schien den kleinen Fauxpas nicht wirklich bemerkt zu haben, denn er gab nur ein leises, unbestimmtes Brummen von sich und kämpfte damit, seinen feuchten, abgewetzten Mantel von den Schultern zu streifen.

 

Honey überlegte, ob es wohl angebracht wäre, sich per Handschlag ganz förmlich vorzustellen, doch alleine der Gedanke daran kam ihm so albern vor, dass er letztlich nur schweigend sitzen blieb, bis Void sich von seinem Kleidungsstück befreit und sich mit unterdrücktem Ächzen auf dem zierlichen Caféstuhl ihm gegenüber fallen gelassen hatte. Das gab ihm zumindest einen kurzen Augenblick Aufschub, um seine flatternden Nerven wieder zu beruhigen und den anderen Mann neugierig zu mustern.

 

Er schätzte Void auf Anfang oder Mitte Dreißig, was sich in etwa mit dem deckte, was er ohnehin schon vermutet hatte. Eventuell wirkte er durch die harten Linien im Gesicht und seine durch den Schnee vollkommen durchweichte Erscheinung auch älter, als er in Wirklichkeit war. Sein dunkles Haar war lang und in einem nachlässigen Zopf im Nacken zusammengefasst, und der Schatten eines Dreitagebarts lag über seiner unteren Gesichtshälfte. Insgesamt wirkte Void nicht wie jemand, der gesteigerten Wert auf sein Äußeres legte, und doch besaß er eine mühelose Art von rauer und nachlässiger Attraktivität.

Kurz gesagt war er nur einen Cowboyhut von Honeys nächtlicher Fantasievorstellung entfernt. Gar nicht gut. Absolut nicht gut.

 

Honey räusperte sich leise, woraufhin Voids Blick sich wieder direkt auf ihn richtete. Die ganze Situation war so surreal, und er fragte sich insgeheim, ob Void es wohl genauso ging. Ob dieser auch gerade überlegte, wie man ein Gespräch mit jemandem anfangen sollte, dem man zum allerersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Ob man der Höflichkeit halber noch einmal so etwas wie ‚Hallo‘ oder ‚Schön, dich kennenzulernen‘ sagen sollte, obwohl sie über diese Phase der leeren Phrasen und des hirnlosen Smalltalk eigentlich schon längst hinweg sein sollten.

Stattdessen platzte Honey schließlich mit dem Erstbesten heraus, was ihm in den Sinn kam: „Woher wusstest du, dass ich es bin? Eben, beim Reinkommen?“

 

Void schien einen Moment über die Frage nachzudenken, zumindest antwortete er nicht sofort, sondern musterte sein Gegenüber zunächst einen Moment lang unverhohlen. Honey war bei weitem nicht befangen, was sein Aussehen betraf, aber dennoch hätte er in diesem Augenblick gerne gewusst, was Void sah, wenn er ihn anblickte. Schließlich zuckte der breitschultrige Mann nur leicht mit den Achseln und erwiderte schlicht: „Ich wusste es.“

 

Bevor Honey genauer nachfragen konnte, wurden sie von der Bedienung unterbrochen, die an ihren Tisch getreten war, um die Bestellung des neu eingetroffenen Gastes aufzunehmen. Void orderte einen Kaffee, schwarz, und Honey seinen mittlerweile dritten Espresso. Schlaf wurde ja ohnehin überbewertet. Nachdem die Kellnerin sie wieder verlassen hatte, kam sein Gegenüber überraschenderweise nahtlos wieder auf das Thema von eben zurück: „Ich habe einfach nach jemandem Ausschau gehalten, den ich mir mit Katzenohren vorstellen kann."

 

„Du...was?", entkam es Honey mit einem leisen, überrumpelten Husten. Er konnte nicht anders, als Void perplex anzustarren, während er sich versuchte vorzustellen, wie dieser große, übellaunig aussehende Mann das Cafe betrat und den anderen Besuchern in Gedanken Katzenohren aufsetzte. Die Vorstellung war gleichzeitig zum Brüllen komisch und vollkommen bescheuert, doch Void schien die Diskrepanz nicht einmal aufzufallen, denn er fuhr fort: „Außerdem wäre dann ja jetzt auch das Rätsel gelöst, warum man dich 'Honey' nennt, obwohl du glücklicherweise kein minderjähriges Mädchen bist." Er ließ seinen Blick vielsagend über Honeys namensprägende, honigblonde Haare schweifen, stutzte kurz und runzelte dann mit plötzlich aufkommendem Misstrauen die Augenbrauen: „Du bist doch nicht mehr minderjährig, oder?"

 

„Man nennt dich wohl Void, weil dein Kopf komplett leer ist, was?" Honey wusste nicht genau, ob er sich mehr über diese plötzliche anfallartige Frage oder über sich selbst ärgern sollte, weil die damit verbundene und von seiner Seite aus vermutlich komplett eingebildete Implikation einen Nerv bei ihm traf. Nun, zumindest war es beruhigend zu wissen, dass Void auch in Fleisch und Blut noch immer genau derselbe taktlose Blödmann war, als den er ihn kennengelernt hatte. Und irgendwie war es diese Realisation, die die dunklen Wolken in seinem Blick aufklaren und ein schiefes, aber ehrliches Grinsen auf seinen Lippen erschienen ließ.

 

Void auf der anderen Seite des Tisches schien deswegen kurz zu stutzen, aber kurz darauf verzogen sich auch seine Mundwinkel auf eine Art und Weise, die spätestens jetzt Honeys Wut komplett aufgelöst hätte. „Also alle Mysterien gelöst, was?"

"Nicht alle", widersprach Honey schmunzelnd, und sein Gegenüber antwortete mit einem schnaubenden Auflachen, das ein angenehmes Kribbeln über seinen Rücken schickte und ihm in diesem Moment erst wirklich bewusst machte, dass das hier wirklich gerade passierte. Sie trafen sich, tranken zwanglos Kaffee miteinander und konnten theoretisch über alles sprechen und sich dabei direkt in die Augen sehen. Es war verrückt, weil das im Kontext von normaler sozialer Interaktion eigentlich ganz einfach und selbstverständlich sein sollte, aber dennoch war es, hier und jetzt, etwas Besonderes.

 

„Danke, dass du gekommen bist", entkam es Honey daher auch ein paar Minuten später, nachdem die Kellnerin ihnen ihre Getränke gebracht hatte, und er meinte es so. Void hob nur leicht eine Augenbraue an.

„Okay. Hast du einen Knigge verschluckt, oder wo kam das plötzlich her?" „Pft. Ich wollte es einfach nur mal sagen, okay? Du bist unausstehlich." Der genervte Tonfall war allerdings zum größten Teil gespielt, und ein Blick in Voids Gesicht bestätigte Honey, dass der andere Mann ihn genauso verstand, wie er es beabsichtigt hatte.

 

"Und jetzt erzähl mir lieber, was dich so lange aufgehalten hat."

 

Level 8

Sie saßen eine ganze Weile zusammen und unterhielten sich über zumeist vollkommen alltägliche Dinge. Am Anfang war es ein wenig seltsam, sich nach all den Wochen auf einmal dabei sehen zu können und neben Stimme und reinen Worten auch Mimik, Gestik und Körpersprache aufnehmen zu können, doch stellte Honey fest, dass es ihm erstaunlich leichtfiel, zurück in ihre vertraute Art der Kommunikation zu finden. Void war noch immer Void, ein nicht immer ganz durchschaubarer, auf den ersten Blick etwas ruppiger Zeitgenosse, dessen Art zu sprechen irgendwie immer knapp auf der Grenze zwischen Ernsthaftigkeit und Unhöflichkeit balancierte. Sie kabbelten sich, sie warfen sich gegenseitig nett gemeinte Beleidigungen an den Kopf, sie lachten und lästerten miteinander und Honey war einfach froh und erleichtert, dass sich diese verquere Art der Vertrautheit nicht geändert hatte. Soviel zum Thema enttäuschte Erwartungen.

 

Es war bei Void manchmal ein wenig schwer einzuschätzen, was in dessen Dickschädel vor sich ging, aber Honey meinte sich einzubilden, dass es dem anderen Mann ähnlich ging wie ihm. Zumindest hoffte er das aufrichtig.

 

Er hatte auch wieder einige neue Dinge über seine Internetbekanntschaft herausgefunden. Das Thema schien Void nicht allzu sehr zu behagen, doch quetschte Honey irgendwann aus ihm heraus, dass er alleine wohnte und seine letzte Beziehung (wobei er das Wort mit den Fingern in imaginäre Gänsefüßchen setzte) schon einige Zeit zurücklag. Keine Details. Genügend Subtext, um mit Sicherheit die Feststellung zu treffen, dass Void offensichtlich im Moment niemanden außer ihm traf. Wenn man denn in diesem Zusammenhang von dieser Definition von "treffen" sprechen konnte. Diesbezüglich hielt Void sich ausgesprochen bedeckt, doch zumindest schien es nicht so, als ob er es allzu eilig hätte, ihre Verabredung allzu schnell enden zu lassen, obwohl es draußen bereits dunkel wurde.

 

Die Ernüchterung kam dann unweigerlich etwa eine Stunde später, als Void sich gerade eine weitere Zigarette anstecken wollte und dabei einen zufälligen Blick auf die Uhr warf: „Shit. Ich muss los."

 

„Schon?", rutschte es Honey ohne Nachzudenken heraus und er biss sich leicht auf die Zunge. Das letzte, was er gebrauchen konnte, wäre, dass Void ihn für eine Klette hielt. Das war eine charakterliche Unart, die Honey selbst normalerweise nicht leiden konnte, aber dennoch fühlte er eine gewisse Enttäuschung, dass ihr Treffen nun ein Ende nehmen würde.

 

Void zuckte leicht mit den Schultern und erwiderte lediglich: „Ich muss zwei Stunden fahren. Mindestens, so wie es schneit.“ Er verstaute das Zigarettenpäckchen wieder in seiner Brusttasche und winkte mit einer knappen Handbewegung die Kellnerin heran. Honey wollte bereits protestieren, als der andere Mann kommentarlos auch seine Rechnung mit beglich, aber Void ließ diesbezüglich nicht mit sich reden: „Lass. Bist eingeladen." "Das ist erstaunlich gentlemanhaft von dir“, musste Honey dann doch grinsen, und für einen Moment schien es so, als würde das Void tatsächlich ein wenig in Verlegenheit bringen. Er gab jedenfalls ein unartikuliertes Grummeln von sich und warf Honey kommentarlos dessen Jacke zu, nachdem er sie von der Garderobe gerupft hatte.

 

Als sie aus dem Coffeeshop traten, war es bereits dunkel, und dicke Schneeflocken tanzten im Schein der Straßenlaternen gen Boden. Honey fröstelte leicht und zerrte den dicken Wollschal, den er um seinen Hals geschlungen hatte, noch ein wenig fester. Er bedauerte, keine Handschuhe eingesteckt zu haben, obwohl er angesichts der Nervosität, die ihn den ganzen Vormittag über begleitet hatte, wohl noch dankbar sein musste, dass er seinen Kopf nicht daheim liegen gelassen hatte.

Er linste ein wenig verstohlen auf den Mann neben sich, während sie langsam den Bürgersteig hinabgingen. Void hatte sich eine weitere Zigarette angesteckt und sah im Großen und Ganzen nicht so aus, als ob ihm die Kälte etwas ausmachen würde. Honey fragte sich, ob Voids Ledermantel wirklich so warm war, wie er von außen aussah, und ob eventuell zwei Personen darin Platz finden könnten. Vielleicht, wenn sie sich ganz eng aneinander kuscheln würden…

 

Voids Schritte kamen abrupt zum Halten, sodass Honey für einen kurzen Moment die unrealistische Panik überkam, seine Gedanken laut ausgesprochen zu haben, doch der andere Mann trat lediglich an ein eingeschneites Fahrzeug heran, welches am Straßenrand geparkt war, und wischte mit der Hand etwas Schnee von der Windschutzscheibe.

 

„Wo wohnst du? Ich bring dich rum“, brummte Void etwas undeutlich, woraufhin Honey überrascht aufblickte und etwas zu schnell antwortete: „Ähm. Nicht nötig, mach dir keine Umstände!“ Er hätte sich selbst schlagen mögen. Void bot ihm hier den idealen Vorwand, um noch etwas mehr Zeit miteinander zu verbringen. Glücklicherweise schien sein Begleiter ein Nein nicht zu akzeptieren, denn er rupfte lediglich die anscheinend etwas angefrorene Beifahrertür unter lautem Knirschen auf und trat mit auffordernd hochgezogener Augenbraue beiseite. „Los, steig ein. Es ist scheißkalt hier draußen.“

 

Die ruppige Bemerkung schaffte es schließlich, Honey ein kleines Grinsen zu entlocken, weil er wohl merkte, dass Void gerade versuchte, seine verkappte fürsorgliche Ader zu überspielen. Er beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, konnte allerdings nicht umhin, seinen Begleiter ein wenig aufzuziehen: „Meine Mama hat aber immer gesagt, ich soll nicht zu fremden Männern ins Auto steigen.“ Void gab daraufhin nur ein Schnauben von sich und überraschte Honey, als er darauf antwortete: „Kam mir eigentlich nicht so vor, als ob wir immer noch Fremde wären.“

 

Honey blieb eine Erwiderung dankenswerterweise erspart, da Void daraufhin die Beifahrertür zufallen ließ, um sich selbst über den zugeschneiten Rinnstein um das Auto herum auf die andere Seite zu quälen. Allerdings erschienen ihm die Minusgrade in diesem Moment um einiges weniger beißend als noch wenige Sekunden zuvor, was vermutlich nicht unerheblich auf das warme, kribbelige Gefühl in seinem Magen zurückzuführen war. Oh Mann.

 

Voids Wagen war ein uralter, klappriger Pickup, der mehrere Versuche und gutes Zureden benötigte, um sich irgendwann endlich in Gang zu setzen. Nachdem Honey seinem designierten Chauffeur seine Adresse genannt hatte, steuerte dieser das Auto rabiat aus der Parklücke heraus und fädelte sich unter dem protestierenden Ächzen des Motors in den abendlichen Straßenverkehr ein.

 

Der Weg zum Studentenwohnheim war unter normalen Umständen ein Katzensprung, doch die Wetterverhältnisse und der cholerische Charakter seines Gefährten ließen die ansonsten langweilige Strecke zu einem regelrechten Abenteuer werden, bei dem Honey nicht nur einmal sein Leben vor seinem inneren Auge vorbeiziehen sah. Da Voids Wagen über keinerlei Airbags oder Knautschzone verfügte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich krampfartig an seinem Sitz festzukrallen, während Void das Fahrzeug rücksichtslos um die Kurven rutschen ließ und die anderen Verkehrsteilnehmer in Angst und Schrecken versetzte. Kurz gesagt, das Ganze war ein Riesenspaß und Honey hatte das Gefühl, noch nie in seinem Leben so viel gelacht zu haben.

 

Als Void kurz vor ihrem Ziel an einer Ampelkreuzung dann bei einer Vollbremsung beinahe eine Gruppe von Passanten ummähte und Honey ihn nur knapp davon abhalten konnte, auszusteigen und sich mitten im Schneegestöber mit einem Rentner anzulegen („Der hat mich einen Vollhorst genannt!“), war er sich nicht mehr sicher, ob er wollte, dass dieser Abend jemals endete.

 

„Mach dir nichts draus. Wenn das hier Jibrile Online wäre, hätte der eh nur lausige Erfahrungspunkte gegeben“, gluckste Honey, nachdem sich die Gemüter wieder ein wenig beruhigt hatten und sie ihre Fahrt fortgesetzt hatten. Void warf ihm nur einen genervten Seitenblick zu und setzte schnaubend den Blinker, um auf den Parkplatz des Studentenwohnheims einzubiegen: „Denkst du eigentlich auch mal an was anderes außer an dieses dämliche Spiel?“

 

Oh, es gibt eine ganze Menge Dinge, an die ich gerade denke, geisterte es Honey durch den Kopf, doch statt seinen Gedanken auszusprechen, grinste er den anderen Mann nur frech von der Seite an und erwiderte bewusst kryptisch: „Das kommt ganz darauf an, was gerade mein Interesse weckt...“ „Kurze Aufmerksamkeitsspanne, hm?“, gab Void brummend zurück und kniff leicht die Augen zusammen, um in der Dunkelheit und in dem dichten Schneefall irgendwo einen Parkplatz zu erheischen. Honey zuckte leicht mit den Schultern: „Nicht ganz…“ Die Wahrheit war, dass es im Moment genau eine Sache, oder vielmehr eine Person gab, die sein Denken dominierte. Es war so einfach, mit Void zu reden, und fast bedauerte er es, dass er zugestimmt hatte, sich von dem anderen Mann nach Hause fahren zu lassen, weil ihm der nahende Abschied von Sekunde zu Sekunde schwerer zu fallen drohte. Das Innere des Wagens hatte sich mittlerweile dank der auf Hochtouren laufenden Heizung gemütlich erwärmt und die abgewetzten Sitzpolster verströmten den Geruch von Lucky Strikes, zu dem sich noch eine dezente Note mischte, die Honey noch nicht ganz zugeordnet hatte.

 

„Void?“ „Hm?“ Der Wagen kam mit dumpfem Knirschen zu einem Halt und der Brünette stellte den Motor aus, sodass es mit einem Mal komplett still war. Honey löste den Sicherheitsgurt und rückte leicht auf dem Beifahrersitz herum, sodass er Void direkt angrinsen konnte: „Ich… danke für das Treffen. War ziemlich nett.“ Er wusste nicht genau, ob er sich Dinge einbildete, oder ob sich Voids Lippen gerade im schummrigen Halbdunkel zu einem minimalen Lächeln hochzogen, denn dessen Antwort fiel denkbar knapp aus, indem er leicht nickend brummte: „Ja…“ Der Ältere schien einen Moment nachzudenken, bevor er wieder den Blickkontakt suchte und hinzufügte: „War interessant, dich mal zu sehen, Flohbeutel.“ Honey verpasste ihm dafür einen kurzen, nicht ganz ernst gemeinten Schlag gegen den Oberarm: „Ebenso, Aushilfscowboy.“

 

Jetzt wäre vermutlich der Moment gekommen, an dem er endlich aus dem Auto aussteigen sollte, doch Honey zögerte, obwohl eigentlich schon alles gesagt war. Er strich sich ein paar seiner widerspenstigen, honigblonden Haare zurück und begann ein wenig unkoordiniert weiterzureden, einfach nur, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen: „Ähm. Ich würde ja fragen, ob du noch auf einen Kaffee mit hochkommen willst, aber… wir waren ja gerade Kaffeetrinken. Das wäre vielleicht ein bisschen zu viel Koffein an einem Abend, oder?“

 

Zum Glück schien sich Void nicht weiter an seinem hektischen Geplapper zu stören, denn der Ältere musterte ihn nur weiterhin ruhig und erwiderte schließlich mit leichtem Schulterzucken: „Nächstes Mal dann.“

Nächstes Mal.

„Ja, nächstes Mal…“, wiederholte Honey leicht abgelenkt und konnte angesichts der Aussicht, dass dies nicht ihr letztes Treffen gewesen sein würde, nur ein wenig dümmlich lächeln. Sie blickten sich einen Moment lang stumm an, doch bevor Honey seine Meinung ändern und Void doch noch hoch in sein Apartment schleifen konnte, richtete sich der andere Mann ein wenig in seinem Sitz auf und warf einen vielsagenden Blick aus der Frontscheibe, wo sich bereits der Schnee aufzuhäufen begonnen hatte. „Ich muss dann jetzt mal los, sonst schneien wir hier ein.“

 

Das wäre für mich vollkommen okay, wirklich, wollte Honey am liebsten erwidern, doch er riss sich am Riemen und zerrte stattdessen nur ein tapferes Grinsen auf seine Züge: „Gut, dann… überfahr bitte nicht zu viele Leute auf dem Rückweg, okay?“ „Bemüh mich.“

 

Honey hatte bereits die Hand auf dem Türgriff, zögerte dann jedoch und wandte sich dann ruckartig noch einmal zu Void. Dieser maß ihn mit fragend hochgezogener Augenbraue, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, das Honey eventuell von seinem Vorhaben abgebracht hätte, hatten sich dessen Arme auch schon ohne Vorwarnung um den Hals des älteren Mannes geschlungen. Die Umarmung war hektisch, ungeschickt und der Schaltknüppel drückte unangenehm gegen Honeys Hüfte, als er sich umständlich zum Fahrersitz herüber lehnte und seine Stirn für einen kurzen Moment gegen Voids Schulter presste. Er spürte, wie sein Begleiter sich kurz versteifte – ob nun aus Überraschung oder Unbehagen wollte Honey lieber nicht herausfinden, weswegen er sich kurz darauf schon wieder aus der Umarmung löste und das Ganze mit einem nervösen Lachen zu überspielen versuchte.

 

„Also dann… bis bald und so!“ Er konnte Voids Blick regelrecht auf sich spüren, während er damit kämpfte, die Tür aufzubekommen und schließlich durch seinen eigenen Schwung beinahe mit dem Gesicht voran aus dem Wagen flog. Er hatte noch nicht ganz sein Gleichgewicht wiedergefunden, als er hinter sich ein leises, raues Lachen hörte, das ihm gleichzeitig eine angenehme Gänsehaut verpasste und ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb.

„Schaffst du es ohne Unfall in deine Wohnung oder soll ich dich tragen?“

„Lach gefälligst nicht so dämlich, blöder Penner!“

„Ernsthaft. Fall nicht, okay?“

 

Die letzte Bemerkung brachte Honey unweigerlich trotz der Peinlichkeit der Situation doch wieder zum Lächeln, bevor er dem anderen Mann noch einmal aus Prinzip die Zunge rausstreckte und dann die Beifahrertür zufallen ließ. Der Schneefall war noch immer unverändert stark, und trotzdem waren seine Schritte langsam, als er sich seinem Wohnheim näherte und dabei die Hecklichter von Voids Pickup im Blick behielt, bis diese in der Dunkelheit verschwanden. Das war also sein erstes Treffen mit Void gewesen. Honey atmete einmal tief ein, um seinen Kopf wieder freizubekommen, und musste husten, als er dabei aus Versehen eine Hand voll Schneeflocken einatmete. Fröstelnd versteckte er seine Hände in seinen Manteltaschen und beeilte sich, den Parkplatz hinter sich zu lassen. Die letzten Stunden kamen ihm noch immer ein wenig irreal vor, doch das Zusammentreffen mit seinem Internetfreund hatte in jeglicher Hinsicht alle seine Erwartungen übertroffen. Und wenn er sich nicht komplett irrte, schien Void einem erneuten Wiedersehen nicht abgeneigt zu sein.

 

Während er die Stufen zu seiner Wohnung hinauf joggte, dachte Honey noch einmal über Voids seltsame Verschlossenheit nach, was die Gründe für sein Herkommen anbelangte. Er hatte zwar angedeutet, dass er etwas für Deva in der Stadt zu erledigen hatte, aber war insgesamt ausgesprochen vage geblieben. Es mochte sein, dass Honeys Gehirn gerade heillos vollgepumpt mit Endorphinen und seine Vermutung sehr weit hergeholt war, aber konnte es sein, dass Void eventuell nur hergekommen war, um ihn zu sehen…?

 

Dreh jetzt bloß nicht durch, ermahnte er sich selbst und kramte in seinen Taschen nach seinem Wohnungsschlüssel. Doch es half nichts, er war hellwach, komplett aufgekratzt und musste unbedingt sofort mit jemandem darüber reden.

„Kazuki, ich bin wieder da, du wirst nicht glauben, wa----“

 

Sein lautes Rufen blieb Honey im Hals stecken und verstummte unter einem abgewürgten, peinlichen Quietschlaut, als er wie angewurzelt stehen blieb und perplex auf das Bild vor sich starrte.

 

 

 

Level 9

Kazuki und er waren bereits beste Freunde gewesen, so lange Honey sich zurückerinnern konnte. Sie hatten gemeinsam im Kindergarten Schnecken im Dreck ausgegraben und in der Grundschule ihre Wachsmalstifte und das Pausenbrot geteilt. Kazuki war schon immer ein sehr stiller Junge gewesen, in einem strengen Elternhaus aufgewachsen und durch die Augenklappe, die er aufgrund einer schweren Augenverletzung seit der dritten Klasse permanent tragen musste, das perfekte Opfer für die Hänseleien anderer Kinder. Das hieß,  sobald Honey mal nicht hinsah; was dieser allerdings seit jeher tunlichst zu vermeiden wusste, sodass irgendwann auch der letzte Schulhofrüpel kapiert hatte, dass es schlauer war, Kazuki in Ruhe zu lassen, anstatt ein zerkratztes Gesicht und eine blutige Nase zu riskieren.

 

Kurz, Honey hatte es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, auf seinen Freund aufzupassen, und im Gegenzug war Kazuki derjenige, der ihn jedes Mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Der ihm Tee kochte, wenn Honey es wieder einmal auf einer der vielen Studentenparties übertrieben hatte, und ihm stillschweigend Geschirr anreichte, wenn er in einem Wutanfall wegen irgendeines Arschlochs, das ihm das Herz gebrochen hatte, die Inneneinrichtung demolierte. Er hätte nicht gewusst, wie er alle die Male, in denen der Japaner ihn wieder aufgebaut hatte, jemals wieder zurückzahlen sollte.

Einmal, in ihrem ersten Semester an der Uni, hatte Honey versucht, Kazuki mit einem netten Studenten aus einem der höheren Semester zu verkuppeln. Es war einer dieser verzweifelten, ab und an immer mal wieder auftretenden Versuche gewesen, seinem Freund zu seinem persönlichen Glück zu verhelfen, die eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. Er hätte genauso gut versuchen können, einem Esel das Fliegen beizubringen, zumindest hatte sich Kazuki mindestens genauso quer gestellt. Das Ganze ging nicht über ein von Honey forciertes erstes, unangenehmes Treffen in der Bibliothek hinaus und er musste hinterher hoch und heilig schwören, nie wieder zu versuchen, seinem Freund ein Liebesleben verschaffen zu wollen.

 

Mittlerweile hatte Honey sich damit abgefunden, dass Kazuki nun einmal generell kein Interesse an anderen Menschen, geschweige denn an irgendwelchen romantischen oder körperlichen Dingen hatte.

 

Entsprechend tat sich in seinem Weltbild ein Riss von Canyongröße auf, als er im schummrigen Licht seines Wohnungsflurs stand und wie ein Idiot seinen besten, menschenhassenden Freund anstarrte, der just in diesem Moment die Hände in den Haaren der hochgewachsenen, männlichen Gestalt vergraben hatte, die ihn gegen die Flurwand gepresst und in einen augenscheinlich nicht gerade sehr keuschen Kuss verwickelt hielt.

 

Von Honeys plötzlichem Hereinplatzen überrumpelt, zuckte Kazuki ungemütlich zusammen und hatte sich im nächsten Augenblick schon von seinem Galan freigemacht, um seinem Mitbewohner sichtlich unangenehm berührt entgegenzusehen. „Du… bist schon wieder da?“

 

Honey konnte noch immer nichts anderes tun, als vollkommen perplex auf die Szene vor sich zu starren und sich zu fragen, ob er sich doch irgendwo den Kopf gestoßen hatte. Was zur Hölle. Bevor er Kazukis ausweichende Frage mit etwas ähnlich Idiotischem beantworten konnte, richtete sich jedoch der Fremde auf, der anscheinend als einziger im Raum absolut nicht aus der Ruhe gebracht worden war, und wandte sich Honey mit souveränem, unverbindlichen Lächeln zu.

 

„Ah. Du musst Honey sein. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Leroy, angenehm.“ Er streckte die Hand aus, die Honey automatisch, aber nach wie vor leicht verstört annahm. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter des fremden jungen Mannes auf Kazuki, der jedoch den Blick abgewandt hatte und insgesamt so aussah, als ob er gerade lieber aus dem Fenster springen würde, als sich der unzweifelhaft seltsamen Situation zu stellen.

 

„Ja, ähm. Hi?“, erwiderte Honey verspätet und etwas dümmlich. Der Fremde, der sich als Leroy vorgestellt hatte, zog seine Hand, die, wie Honey zum ersten Mal irritiert registrierte, in einem Handschuh steckte, mit einem amüsierten, flüchtigen Lächeln wieder zurück. Er trug sein dunkelblondes Haar zurückgekämmt und strahlte eine kühle, charismatische Arroganz aus, die Honey automatisch innerlich misstrauisch auf Abstand gehen ließ. Es war schwer, sich vorzustellen, dass Kazuki ausgerechnet auf so einen Typen anspringen würde, aber andererseits fehlten ihm noch viel zu viele Puzzleteile, um irgendein Urteil fällen zu können.

 

Für ein paar Momente herrschte eine peinliche Stille im Flur, bevor Leroy sich wieder zu Kazuki umwandte und in einem unbekümmerten Tonfall wieder das Wort ergriff: „Nun, ich denke, es ist nun wirklich Zeit, mich zu verabschieden, nicht wahr?“ Der Angesprochene rieb sich leicht ungemütlich über den Arm und gab ein abgehacktes Nicken von sich, bevor er sich an Honey vorbeidrückte, um seinen Gast zur Tür zu begleiten.

 

Honey wiederum machte ein paar Schritte zurück, bis er sich gegen die Wand lehnen konnte, und beobachtete, wie das ungleiche Pärchen ein paar leise Worte an der Tür austauschte. Er konnte sich nicht genau entscheiden, ob er peinlich berührt oder morbide fasziniert war, als der blonde Mann eine behandschuhte Hand an Kazukis Wange legte, um ihm in einer flüchtigen Bewegung mit dem Daumen über die Wange zu streichen, und Kazuki befangen den Blick senkte, aber sich der Geste nicht entzog.

 

Honey wandte den Kopf zur Seite und fuhr sich aufgewühlt über das Gesicht, bis er das Geräusch der sich schließenden Tür vernahm, das ihm signalisierte, dass der Fremde gegangen war. Sein Blick traf sich mit Kazukis, und er konnte genau in dessen ganzer Haltung lesen, dass dieser diesem Gespräch am liebsten entkommen würde.

 

„Kazuki. Was zur Hölle?“, platzte es dann auch schon ungefiltert aus ihm heraus, bevor er irgendeinen etwas überlegteren Satz hätte formulieren können. Es gab einfach keine andere Art, wie er seine abgrundtiefe Verwirrung hätte ausdrücken können.

 

„Was?“, gab der Angesprochene nur leise und unverkennbar defensiv zurück. Ich will nicht darüber reden, drückte der Anflug von Genervtheit auf seinen ansonsten ausdruckslosen Zügen aus, doch Honey würde einen Teufel tun, ihm diesen Gefallen zu tun.

 

Was, sagt er… ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“, erwiderte Honey und raufte sich leicht durch die Haare, während er begann, im Flur auf und ab zu laufen, „Lädst du dir öfters mal heimlich Herrenbesuch ein, wenn ich nicht da bin, oder möchtest du mir irgendwas erzählen?“

 

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Kyrios war in der Gegend.“ Die beiläufig daher gesagten Worte ließen Honey mit offenem Mund herumwirbeln: „Ky...was? Das war Kyrios?“ Kazuki zuckte nur abwehrend mit den Schultern, während Honey einen Moment brauchte, um diese neue Information zu verarbeiten.

 

Jetzt wusste er auch, warum ihm die Stimme des blonden Schnösels so verdammt bekannt vorgekommen war. Er war erst nicht darauf gekommen, weil dieser sich offenbar direkt mit seinem richtigen Namen vorgestellt hatte, aber jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Kyrios, der Nekromant, der ebenfalls ihrer Gilde in Jibrile Online angehörte und mit dem Kazuki in den letzten Wochen häufig gemeinsam gelevelt hatte. Wie klein konnte die Welt sein?

„Was zur Hölle“, gab Honey noch immer leicht ungläubig von sich und starrte seinen Freund entgeistert an, „Du hast dich in Kyrios verguckt? Den blöden Snob? Bist du doof?“

„Ich hab mich nicht verguckt.“

„Achja, und was war das eben?“

„Das ist nur…“

„Was?“

„Du weißt schon.“

„Triebe? Hormone?“

„Du hättest wenigstens ‚Chemie‘ sagen können“, gab Kazuki etwas konsterniert zurück.

„Oh, Entschuldigung, Mister Feingeist! Wer von uns beiden hat denn bitte mit einem fremden Typen im Hausflur rumgemacht?“

„Du regst dich künstlich auf.“

 

„Ich rege mich nicht….“ Honey hielt inne und blinzelte einmal. Kazuki hatte recht, er regte sich gerade künstlich auf und wusste noch nicht einmal, warum. Das Ganze war zwar gewissermaßen ein Riesenschock gewesen und ihm schwirrte der Kopf vor lauter Fragen, die er Kazuki gerne stellen würde, aber vielleicht würde das besser funktionieren, wenn er sich erst mal wieder abregen würde.

 

Kazuki, der zu spüren schien, dass der erste Ausbruch seines Freundes langsam wieder abflaute, blickte Honey einen Moment lang schweigend an, bevor er sachlich den Vorschlag machte: „Wollen wir vielleicht erstmal ins Wohnzimmer gehen?“

Der Angesprochene nickte nur etwas kleinlaut, woraufhin sie sich aus dem zugigen Flur ins Wohnzimmer begaben, wo Honey beiläufig die beiden benutzten Tassen auf dem Couchtisch registrierte. Die beiden hatten sich anscheinend einen gemütlichen Nachmittag gemacht, während er in diesem Coffeeshop in der Stadt Existenzängste ausgestanden hatte. Jetzt dämmerte es Honey auch allmählich, warum Kazuki ihn bei seinem Abschied gefragt hatte, wann er wieder zurück sein würde. Er hatte freie Bahn haben wollen, der alte Heimlichtuer.

 

Honey schüttelte innerlich leicht verblüfft den Kopf, weil er anscheinend einiges verpasst hatte, während sein Kopf in den letzten Tagen voll mit Gedanken an einen gewissen Möchtegerncowboy gewesen war. Das hatte schon wieder beinahe etwas Witziges an sich.

 

Er ließ sich auf seinen Lieblingsplatz auf der Couch fallen, während Kazuki neben ihm Platz nahm und die Beine an den Körper zog. Die Situation war noch immer merkwürdig, aber so langsam hatte Honey sich wieder beruhigt und seine natürliche, angeborene Neugier kam zum Vorschein, während er den jungen Japaner musterte.

„… ist es okay, wenn ich ein paar Fragen stelle?“

 

„Das wirst du doch ohnehin“, erwiderte Kazuki ein wenig erschöpft klingend, aber nicht mehr so abweisend, wie noch einige Momente zuvor. Anscheinend hatte er sich mit dem Gedanken abgefunden, dass sein kleines Geheimnis aufgeflogen war und er sich nun dem Beste-Freunde-Fragekommando stellen musste.

 

„Ich will gar nicht wissen, wie das Ganze angefangen hat, aber… wie kommt es, dass Kyrios hier gewesen ist?“, begann Honey mit leicht gerunzelter Stirn und hob mahnend den Zeigefinger, als Kazuki zum Sprechen ansetzte, „Und behaupte jetzt nicht schon wieder was von wegen Er war nur mal eben zufällig in der Gegend…!“

„Wir haben festgestellt, dass wir auf dieselbe Uni gehen“, antwortete Kazuki in einem betont desinteressierten Tonfall, „Er ist Doktorand an der medizinischen Fakultät.“

Die Welt war anscheinend wirklich ein Dorf. Honey schüttelte etwas fassungslos den Kopf und fragte näher nach: „Und das mit euch geht jetzt schon wie lange…?“ „Wir haben uns ein paar Male zum Kaffeetrinken getroffen…“ „Also schon eine ganze Weile“, stellte Honey an Kazukis Stelle fest und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie ihm das einfach so hatte entgehen können. Allerdings gab es da noch eine andere Frage, die ihm viel mehr auf der Zunge brannte und die ihm, wenn er ehrlich war, doch ein wenig zu schaffen machte.

 

„Warum hast du mir denn nichts davon erzählt…?“, fragte er leise und sah seinen besten Freund ein wenig verletzt an. Sie kannten sich seit einer halben Ewigkeit und Honey hätte Kazuki so ziemlich jedes Geheimnis anvertraut, weil er wusste, dass es bei dem Japaner sicher verwahrt würde und dieser ihn niemals verurteilen würde. Dass es anscheinend umgekehrt nicht so war, machte ihn etwas betroffen.

 

Kazuki wandte unwohl den Blick ab und gab ein leises, angespanntes Seufzen von sich, bevor er langsam zu einer Antwort ansetzte: „Wie gesagt, so viel gibt es da nicht zu erzählen. Ich…“ Er brach kurz ab und schien in seinem Kopf seine Gedanken zu sortieren. „Ich dachte ja selber nicht, dass…“

 

Honey wusste, dass es seinem Freund schon immer schwer gefallen war, seine Gefühle in Worte zu verpacken, und je wichtiger ihm etwas war, umso mühsamer war es für ihn, es auszusprechen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Kazuki so gut wie gar nicht gesprochen und sich regelmäßig komplett zurückgezogen hatte, sodass die meisten Leute sogar angenommen hatten, er könne gar nicht reden oder hätte keine Gefühle. Honey war schon immer der Meinung gewesen, dass diese Leute einfach komplett blind waren, und als er seinem besten Freund jetzt so gegenüber saß und sah, wie dieser sich angestrengt und nervös bemühte, sich verständlich zu machen, war er sich dessen so sicher wie noch nie.

 

Er rückte daher einfach ein Stückchen näher und stieß Kazuki sanft mit der Schulter an, so wie er es immer tat. „Ab jetzt“, begann er feierlich und grinste seinen Freund versöhnlich an, „kannst du mir ja alles erzählen, okay? Vielleicht können wir das Chaos da drin ja gemeinsam lösen.“ Er tippte mit dem Zeigefinger gegen Kazukis Stirn.

 

Er konnte sehen, wie langsam die Erleichterung darüber, wortlos verstanden worden zu sein, die Schatten aus Kazukis Blick vertrieb und sein Freund langsam und dankbar nickte. „Auch, wenn ich immer noch finde, dass du einen schlechten Geschmack hast“, konnte Honey sich dann doch nicht verkneifen, frech nachzuschieben, und die kleine Bemerkung ließ es kurz um die Mundwinkel des Japaners herum zucken. „Keine Einwände.“

 

Sie saßen noch einen Moment in angenehmem Schweigen da, während jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachhing. Es würde Honey noch einige Zeit kosten, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sein verschlossener, misanthropischer Freund still und heimlich ohne seine Einmischung begonnen hatte, sich mit jemandem zu treffen. Allerdings gönnte er Kazuki die Erfahrung von Herzen und würde selbstverständlich alles tun, was ein bester Freund nun einmal in so einer Situation tat. Einschließlich Kyrios die Beine zu brechen, sollte dieser Kazuki unglücklich machen.

„Wie war deine Verabredung?“, durchbrach dann auf einmal unerwartet die leise Stimme des Japaners die Stille, und Honey musste einmal orientierungslos blinzeln. Richtig. Über den ganzen Schrecken hatte er doch glatt vergessen, dass sein eigener Hormonhaushalt gerade am Durchdrehen war.

 

Mit leicht verlegenem, vermutlich sehr vielsagendem Grinsen rieb er sich mit dem Ärmel über den Hals und erwiderte: „Voller Erfolg. Naja, fast.“ Kazukis leicht hochgezogene Augenbraue forderte ihn auf, fortzufahren, und so berichtete er seinem Freund von dem Kaffeedate mit Void. Er hielt sich vermutlich zeitweise etwas zu ausgiebig damit auf, dessen physische Qualitäten zu schildern, sodass Kazuki ihn immer wieder mit einem kleinen Augenrollen anhalten musste, beim roten Faden zu bleiben.

 

„Kurz gesagt“, schloss Honey schließlich seinen Bericht mit einem tiefen, langgezogenen Seufzen ab, „Sorry, aber ich kann dich, glaube ich, doch nicht heiraten.“ Kazuki gab ihm mit einem vielsagenden Seitenblick zu verstehen, was er von diesem Scherz hielt und überging den flapsigen Kommentar geflissentlich.

„Also seht ihr euch wieder?“

„Ich hoffe“, gab Honey mit einem neuerlichen Seufzen zurück und warf einen leicht sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster, wo dicke, weiße Flocken nach wie vor unnachgiebig vom Himmel schwebten. Er fragte sich, ob Void mittlerweile schon zuhause angekommen war, oder ob er auf irgendeiner Autobahn im Schneegestöber im Stau stand und auf die anderen Verkehrsteilnehmer fluchte. Der Gedanke ließ ihn leicht lachen und er wandte sich wieder frech grinsend Kazuki zu.

„Ich sag dir Bescheid, falls ich den Flur demnächst auch für irgendwelche Abenteuer brauche. Eventuell sollten wir einen Zeitplan aufstellen.“

„Ich hasse dich.“

 

***

 

Weihnachten kam und ging und Honey genoss die vorlesungsfreie Zeit in vollen Zügen. Er war über die Feiertage nach Hause zu seiner Familie gefahren und verbrachte Heiligabend im Kreis seiner lieben, nervenaufreibenden Verwandtschaft. Kazuki hatte sich ihm dieses Jahr nicht angeschlossen und Honey vermutete, dass das etwas mit einem gewissen blonden Medizinstudenten zu tun hatte, aber er bedrängte seinen Freund nicht, ihm seine Pläne preis zu geben. Er war schon stolz, dass Kazuki diesbezüglich langsam etwas auftaute und sich ihm immer häufiger anvertraute, auch wenn diese Gespräche noch immer etwas holzig von Statten gingen. Er würde seine Neugier schon früh genug befriedigen können, wenn das Semester wieder anfing.

 

Wenn er nicht gerade von seiner Mutter dazu gezwungen wurde, beim Plätzchen backen und Schnee schippen zu helfen, verbrachte Honey auch wieder eine Menge Zeit in Jibrile Online. Void hatte ebenfalls über die Weihnachtsfeiertage frei, und so nutzten sie die Zeit, um bis spät in die Nacht Monster umzubringen und neue Dungeons zu erkunden, die mit dem neusten Add-On hinzugekommen waren. Das schicksalhafte Treffen in der Woche zuvor hatte ihre Beziehung still und leise, ohne dass es beiden in irgendeiner Weise wirklich bewusst war, auf eine etwas andere Ebene verschoben. Die gewohnte Vertrautheit ihrer Voicechat-Gespräche war noch immer dieselbe, doch sie hatte jetzt eine etwas andere Qualität bekommen. Ehe Honey sich versah, hatte er begonnen, den anderen Mann zu vermissen, und zwar in einer Art und Weise, die nicht alleine dadurch gestillt werden konnte, dass sie tagtäglich miteinander aus der Ferne miteinander sprachen.

 

„Wo lebt deine Familie eigentlich?“, fragte Void am Abend des ersten Weihnachtstages mit einem Mal leicht aus dem Zusammenhang gerissen. Honey sagte es ihm, verwundert darüber, was diese Frage auf einmal sollte. Wenige Minuten zuvor hatte er sich bei dem Älteren darüber ausgelassen, wie sehr ihm hier in seinem Elternhaus langsam die Decke begann, auf den Kopf zu fallen, und dass er sich beinahe wünschte, die Uni würde bald wieder losgehen. Die Betonung lag auf beinahe.

Void gab einen vagen, brummenden Laut von sich, und Honey konnte nicht anders, als etwas neugierig geworden nachzufragen: „Was ist?“ Sein Gesprächspartner antwortete nicht sofort, was für Honey der Erfahrung nach ein Indiz dafür war, dass das, was Void zurückzuhalten versuchte, ihm in der Regel ziemlich gut gefallen würde.

 

„Deva veranstaltet jedes Jahr am zweiten Feiertag auf seinem Firmensitz eine Weihnachtsfeier für Mitarbeiter und Freunde.“ Void hielt kurz inne und fuhr dann abwägend fort: “Ist gar nicht so weit von dir entfernt. Vielleicht willst du ja kommen.“

„Das fragst du noch?“ Honey war in diesem Moment ausgesprochen froh, dass Void ihn nicht sehen konnte, denn das breite Grinsen, was sich über seinen Zügen ausbreitete, konnte nur als vollkommen bescheuert bezeichnet werden. Void fuhr fort, ihm daraufhin die Anschrift und eine Wegbeschreibung durchzugeben, und Honey stellte fest, dass Devas Hauptquartier, wie Void es leicht spöttisch nannte, tatsächlich nur eine gute halbe Stunde von seinem Elternhaus entfernt lag. Allerdings wäre er vermutlich auch mit Freuden vier Stunden lang mit dem Zug durch die Gegend getingelt, wenn es ihm die Chance eröffnet hätte, Void so bald schon wiederzusehen.

 

„Ich hätte dich gar nicht für einen Partylöwen gehalten“, zog er seinen Gesprächspartner etwas später auf und erntete ein leicht abfälliges Schnauben. „Ich hasse diesen Ringelpiez mit Anfassen. Eigentlich wollte ich dieses Jahr gar nicht hin.“

„Aw. Keine Sorge, dieses Jahr bist du ja mit mir dort. Du wirst die Zeit deines Lebens haben“, gab Honey ausgelassen glucksend zurück. Und wieder einmal überraschte ihn Void, indem er schlicht erwiderte: „Das war die Absicht.“

 

Und mit einem Mal konnte der nächste Tag für Honey nicht schnell genug anbrechen.

 

Level 10

„Hast du auch deinen Schal nicht vergessen? Hier, zieh die Handschuhe an, die ich dir gestrickt habe…!“

 

„Mama, nein! Ich gehe auf eine Party, da kann ich nicht mit Kätzchenfäustlingen aufkreuzen“, brüllte Honey entnervt quer durch den Flur, um seine Mutter davon abzubringen, noch mehr uralte, peinliche Dinge aus dem Garderobenschrank zu zerren und ihm aufzudrücken. Er beeilte sich, seine Schuhe schnellstmöglich überzustreifen und dann aus diesem Irrenhaus zu verschwinden. Honey liebte seine Familie, wirklich, aber jeder von ihnen hatte irgendeinen Sockenschuss weg und das konnte er gerade nicht gebrauchen, wo seine Nerven ohnehin schon leicht am Flattern waren.

 

„Du wirst dir die Kätzchenfäustlinge noch herbeiwünschen, wenn du bei minus zehn Grad in der Kälte schlotterst, Honey-Schatz!“, tönte es auch wie auf Kommando aus dem Nebenraum. Der Angesprochene verdrehte nur vielsagend die Augen und zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Überflüssig zu sagen, dass sein zuckersüßer Rufname ebenfalls auf dem Mist seiner Frau Mama gewachsen war. Sie war schon immer ganz vernarrt in sein namensgebendes honigblondes Haar gewesen, vermutlich, weil er damit wie eine jüngere Variante seines Vaters aussah, und war auch vollkommen schmerzbefreit, ihn vor aller Welt bei diesem Spitznamen zu rufen. Früher war es Honey unsagbar peinlich gewesen, wenn seine Mutter auf Elternabenden aufgekreuzt war und sich mit dem nächstbesten Lehrer anzulegen versuchte, der ihren süßen, braven Honey ihrer Meinung nach ungerecht benotet hatte. Das Schlimmste daran war allerdings, dass nach und nach seine komplette Umgebung angefangen hatte, ihn ebenfalls nur noch mit „Honey“ anzusprechen, bis hin zu einem ausgesprochen hochnotpeinlichen Moment, als der Direktor seiner Oberschule vor versammelter Mannschaft sein Abschlusszeugnis einbehalten wollte, um den vermeintlichen falschen Namen austauschen zu lassen.

 

Irgendwann hatte Honey sich allerdings daran gewöhnt, von aller Welt Honey gerufen zu werden. Zugegeben, der Name passte nun einmal zu seinem Äußeren und er hatte auf irgendwelchen Feiern oder langweiligen Dates immer eine lustige Geschichte parat, die er als Eisbrecher einsetzen konnte.

 

„Ich bin dann weg“, rief er den Flur hinauf und seine Mutter wünschte ihm in derselben Lautstärke viel Spaß. Es war draußen tatsächlich klirrend kalt, nachdem es die ganze Nacht über wieder einmal geschneit hatte. Glücklicherweise war der Weg von seinem Elternhaus bis zur nächstgelegenen Bushaltestelle kein allzu langer Fußmarsch und er erwischte den Bus, der ihn in die Nebenstadt bringen sollte, ohne Probleme.

 

Während der gut halbstündigen Fahrt ließ der den Blick nach innen gekehrt über die vorbeiziehende Landschaft gleiten und genoss das gespannte, leicht prickelnde Gefühl in seinem Inneren, das von der Vorfreude auf das herrührte, was ihn auf der Weihnachtsfeier erwarten würde. Sicher, er freute sich darauf, Void wiederzusehen, aber mittlerweile war er auch ein wenig neugierig auf den Rest der Gesellschaft. Void hatte ihm erzählt, dass neben Angestellten und Geschäftsfreunden auch einige Leute aus ihrer Gilde auf der Veranstaltung sein würden. Honey war unglaublich gespannt darauf, ein paar Gesichter zu den ganzen mehr oder weniger liebgewonnenen Gestalten kennenzulernen, mit denen er nun schon seit mehreren Monaten zusammen die virtuelle Realität unsicher machte.

 

Als der Bus schließlich an der von ihm angezielten Haltestelle hielt und er ausgestiegen war, schien die Temperatur noch einmal um einige Grade gesunken zu sein, und er stellte fröstelnd fest, dass seine Mutter wie immer recht behalten hatte. Er wünschte sich die hässlichen Kätzchenhandschuhe herbei. Trotz der Kälte zog er mit leicht steifen Fingern sein Handy aus der Jackentasche und tippte im Gehen eine Nachricht an Void ein:

 

Honey (17:27): Bin gleich da >:D

Void (17:28): Ich komme raus.

 

Honey musste leicht grinsen. Anscheinend wollte Void ihn zuerst ein bisschen für das, was ihn erwartete, präparieren, bevor er ihn auf die Partygesellschaft losließ. Nicht, dass er sich darüber beschweren würde, dass der andere Mann für ihn das Empfangskomitee spielen wollte.

 

Das Gebäude, das zu der Adresse gehörte, die Void ihm durchgegeben hatte, war bereits von weitem zu erkennen und ließ Honey ein leises, anerkennendes Pfeifen ausstoßen. Als sie von einem Firmengebäude gesprochen hatten, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, eine verdammte Villa vorzufinden, die in ihrem verschnörkelten französischen Kolonialstil seltsam anachronistisch zwischen den schlichten Betonbauten der Nachbarschaft anmutete. Das Grundstück war von einem weißen, schmiedeeisernen Zaun umgeben, den irgendjemand mit Lichtergirlanden behängt hatte, und auf dem Bürgersteig parkten beinahe ausnahmslos teure, auf Hochglanz polierte Fahrzeuge. Honey musste ein wenig lachen, als er zwischen den ganzen Luxusschlitten unverkennbar Voids klapprigen Pickup erspähte, der wie ein hässliches Entlein schief und krumm gleich zwei Parklücken belegte. Der Anblick half ihm irgendwie, das aufkommende mulmige Gefühl der Deplatziertheit zu überwinden, welches sich in seinem Inneren breitzumachen drohte.

 

Wishmaker Corporation und Devas Name waren in geschwungenen Buchstaben auf einem Messingschild eingraviert, welches an dem Tor angebracht war, durch das er sich kurz darauf schob. Ein Lächeln schlich sich unweigerlich auf Honeys Lippen, als er schon von weitem die einsame Gestalt erkannte, die sich ohne Jacke in der Nähe des Hauseingangs herumdrückte und ihn anscheinend schon erwartete.

 

„Legst du es auf eine Grippe an oder wolltest du mir unbedingt gleich zeigen, wie schick du dich gemacht hast?“, begrüßte Honey den breitschultrigen Mann feixend, der sein Gesicht daraufhin nur zu einer schiefen Grimasse verzog. Es war beinahe rührend, dass Void anscheinend wirklich versucht hatte, seiner raubeinigen Erscheinung zur Feier des Tages ein wenig Schliff zu verpassen. Er hatte sich ein Hemd und eine neu aussehende Jeans angezogen und sich sogar eine etwas angeknitterte Krawatte umgebunden. Abgerundet wurde das ganze Ensemble durch die obligatorische Zigarettenkippe, die in seinem Mundwinkel vor sich hin qualmte.

 

„Bin ja kein Frostköttel wie du“, brummte Void mit minimal hochgezogener Augenbraue und steckte den leichten Schlag gegen seine Schulter, den Honey ihm daraufhin spielerisch verpasste, unbeeindruckt ein. „Ich freu mich auch, dich zu sehen, du Blödmann“, gab Honey mit einem leisen, nicht ganz ernsthaft gemeinten Grummeln zurück, zögerte einen Moment und jagte dann alle Vorbehalte zum Teufel, indem er sich in einer schnellen, begrüßenden Geste leicht gegen den größeren Mann lehnte. Sollte Void doch ruhig mitbekommen, dass seine Worte durchaus ernst gemeint waren. Wenn er wollte, dass aus diesem Jahrhundert noch einmal etwas aus dieser Sache wurde, musste er immerhin auch langsam etwas offensiver werden. Zu seiner Überraschung spürte er, wie Void diesmal ohne zu Zögern einen Arm um seinen Rücken legte und ihn in eine halbe, beiläufige Umarmung zog. Der Moment ging allerdings viel zu schnell wieder vorbei, bevor Honey ihn tatsächlich zu genießen beginnen konnte, denn unmittelbar darauf schob Void ihn auch schon in Richtung der messingbeschlagenen Eingangstür des Gebäudes. „Los, gehen wir rein. Deva fragt schon alle zwei Minuten nach dir.“

 

„Was macht Devas Firma eigentlich?“, fragte Honey leicht beeindruckt, als sie kurz darauf in der verwaisten Eingangshalle standen und er vor lauter Staunen beinahe vergaß, seine Jacke abzulegen. Void gab ein leises Schnauben von sich und zuckte mit den Schultern: „Frag lieber, was sie nicht macht.“

 

Nachdem Honey sich seiner Überbekleidung und seines Schals entledigt hatte, führte Void ihn durch die Halle auf eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe zu. Linker Hand befand sich eine Art Rezeptionsschalter, der an Werktagen vermutlich dem Empfang von Geschäftskunden diente, aber jetzt unbesetzt war, und aus der Ferne konnte Honey leise, gedämpfte Musik spielen hören. Nach einer Weile verlor er die Orientierung, denn das Haus schien wirklich alt zu sein und die Flure waren verwinkelt. Void erklärte ihm unterwegs, dass sich hinter den meisten verschlossenen Türen auf diesem Stockwerk Büros befanden, in denen tagsüber diejenigen Angestellten der Firma arbeiteten, die nicht wie Void selbst in einer der zahlreichen Aufgaben im Außendienst beschäftigt waren („Also bist du nicht der einzige Hausmeister hier, hm?“, zog Honey den anderen Mann ein wenig auf, doch bis auf einen verbiesterten Blick verzichtete Void darauf, ihn zu korrigieren).

 

Das Geräusch der Musik wurde mit der Zeit lauter, und schließlich fanden sie sich vor den geöffneten Flügeltüren eines großen, festlich geschmückten Saals wieder, in dessen Mitte ein lamettabehangener, funkelnder Christbaum aufgestellt war. Das Summen von zahlreichen Stimmen und das Klirren von Gläsern erfüllte die Luft, und angesichts der eleganten Garderobe, die die meisten anderen Gäste zur Schau stellten, wünschte sich Honey leicht unwohl, dass auch er zumindest seinen alten Konfirmandenanzug vom Dachboden geholt hätte. Damit stand es nun schon zwei zu null für seine Mutter. Wenigstens schien sich Void ebenso wenig in die elegante Gesellschaft einzufügen wie er selbst, und bei genauerem Hinsehen erspähte er auch ein paar andere normal gekleidete Leute, kam aber nicht weiter dazu, sich noch intensiver in dem bunten Trubel umzusehen, weil in diesem Moment ein erfreuter Laut hinter ihnen zu hören war und offensichtlich der Gastgeber persönlich sich seinen Weg zu ihnen bahnte.

 

„Da seid ihr beiden ja, wie schön.“

Deva war auf beinahe verblüffende Art und Weise genau so, wie Honey ihn sich vorgestellt hatte, denn er hatte frappierende Ähnlichkeit mit seinem Spieleavatar und wirkte erstaunlich jung. Er trat ihnen mit einem offenen, unglaublich einnehmenden Lächeln entgegen, das nicht nur sein ganzes Gesicht, sondern auch seine Augen erstrahlen ließ, und ehe Honey es sich versah, wurde er auch schon in eine kurze, warmherzige Umarmung gezogen. „Wie schön, dich endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Willkommen, Honey“, begrüßte Deva seinen Gast herzlich, und nach einen kurzen, perplexen Moment erwiderte Honey die Geste leicht grinsend: „Danke, ähm…“, er hielt kurz inne, denn er hatte kurz davor gestanden, den Anderen einfach der Gewohnheit halber mit seinem Nickname, der gleichzeitig auch sein Vorname war, anzusprechen, wusste aber nicht, ob das angebracht war. Anscheinend hatte Deva seine Bredouille jedoch mitbekommen, denn er zog sich mit leisem, nachsichtigen Lachen wieder zurück und schob sich eine lange, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht: „Sag ruhig Deva, bitte. Das tun hier alle.“

 

„Weil so oder so keiner seinen Nachnamen richtig aussprechen kann“, mischte sich Void leicht sarkastisch von der Seite ein, aber erntete nur ein liebes Lächeln von Seiten Devas. „Das ist doch auch viel netter und persönlicher so.“ Der Blonde wandte sich daraufhin wieder zu Honey um und machte eine einladende Geste in Richtung des Saals: „Nun, jedenfalls freue ich mich, dass du kommen konntest und hoffe, du hast Spaß. Ryder führt dich bestimmt gerne rum. Es gibt ein Buffet, Musik und später findet ein Überraschungswichteln statt.“ Bei Erwähnung des Letzteren leuchteten Devas Augen sichtlich heller auf, was ihm noch ein wenig mehr das Aussehen eines leibhaftigen Weihnachtselfen verlieh. „Wenn du mitmachen möchtest, schreib einfach deinen Namen auf einen der Zettel, die dort hinten ausliegen, und wirf ihn in die Lostrommel. In einer Stunde werden dann die Wichtelkinder gezogen.“

 

Hin- und hergerissen kratzt Honey sich über die Wange. Das Ganze klang schon ziemlich spaßig, aber letztlich kannte er ja so gut wie niemanden hier, ganz abgesehen von einer nicht ganz unerheblichen Schwierigkeit: „Ich hab doch aber gar kein Wichtelgeschenk oder sowas vorbereitet. Ist das nicht ein bisschen…doof?“ Sein Kommentar entlockte Deva ein leises Kichern und ein entschiedenes Kopfschütteln. „Nicht schlimm. Ich bin mir sicher, dir fällt etwas ein.“ Der Blonde legte den Kopf leicht schief, während mit einem mal wieder ein leicht träumerischer Ausdruck in seine Augen trat. „Es geht nicht darum, Geschenke auszutauschen. Nunja, jedenfalls nicht nur“, fuhr er leise schmunzelnd fort, „Es soll darum gehen, Menschen zusammenzuführen, die vielleicht vorher Fremde waren. Bindungen zu knüpfen, ins Gespräch zu kommen, jemandem ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Immerhin ist Weihnachten doch das Fest der Liebe, oder?“

 

Das Fest der Liebe.
 

Nun, wenn es darum ging, Bindungen zu knüpfen, dann wusste Honey schon genau, wen er gerne als Wichtelkind haben würde. Aus irgendeinem vollkommen irrealen Grund heraus spürte er unweigerlich, wie sein Gesicht ein wenig warm wurde, und er wagte es nicht, den Blick auf den Mann neben sich zu wenden, der, wie nicht anders zu erwarten, für Devas Vortrag für ein leises, abfälliges Schnauben übrig hatte.

 

Deva machte sein Dilemma noch ein wenig schlimmer, indem er mit seinen nächsten Worten und einem beinahe wissenden Augenzwinkern die Gedanken in Honeys Kopf nur noch weiter befeuerte: „Wir haben natürlich auch überall in den Räumlichkeiten Mistelzweige aufgehängt, um dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen, wo es denn nötig sein sollte.“

Zum Glück blieb Honey eine Antwort erspart, denn in diesem Moment trat ein hochgewachsener, komplett in schwarz gekleideter Mann hinter ihren Gastgeber, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Devas Gesicht hellte sich daraufhin erfreut auf und er nickte dem größeren Mann warm lächelnd zu. „Danke, Nathanael. Ich komme sofort.“ Er wandte sich wieder seinen beiden Gästen zu und teilte Ihnen leicht bedauernd mit, dass er sie vorerst wieder allein lassen müsse, da eine andere Angelegenheit seine Anwesenheit forderte. „Habt viel Spaß, ihr zwei. Wir laufen uns sicherlich später noch einmal über den Weg.“ Deva winkte noch einmal kurz, bevor er sich an die Seite des schwarzgekleideten Mannes, offensichtlich ein Angestellter, heftete, der kurioserweise eine kurze, halbe Verbeugung andeutete und dem Blonden dann einen Weg durch die Menschen bahnte.

 

„Wow“, entfuhr es Honey nicht ganz unbeeindruckt, als das ungleiche Paar zwischen den Feiernden verschwunden war, „Deva muss wirklich viel Kohle verdienen, wenn er sich einen Butler leisten kann.“ Er blickte ein wenig irritiert auf, als von Void daraufhin ein unterdrücktes, schnaubendes Lachen zu hören war, aber er konnte nicht einschätzen, was an seiner Bemerkung so witzig gewesen war.  Sein fragender Blick schien Void zu amüsieren, und er erwiderte mit einem winzigen, leicht hämischen Grinsen: „Naja, Butler ist vielleicht näher an der Wahrheit dran, als ihm selber lieb ist. Wobei ich persönlich finde, dass Maskottchen noch besser passt. Immerhin nennt er sich ja auch selber so.“

 

Honey starrte sein Gegenüber einen Moment lang verständnislos an, bevor er in seinem Kopf klick machte: „Das war Mascot? Aus unserer Gilde? Ernsthaft?“ Spielte denn eigentlich jeder, dem Honey in letzter Zeit begegnete, Jibrile Online? Das war schon langsam fast nicht mehr witzig.

 

Void zuckte leicht mit den Schultern: „Er hat die Gilde zusammen mit Deva gegründet, aber wie du siehst, arbeiten sie auch im richtigen Leben zusammen. Mascot ist sein Handlanger. Pardon, Privatsekretär.“ An der Art, wie Void von dem schwarzhaarigen Anzugträger sprach, konnte Honey ablesen, dass die beiden sich anscheinend nicht besonders gut zu verstehen schienen. Andererseits schien Void sowieso mit seiner Art bei jedem anzuecken, der nicht schnell genug beiseite sprang, von daher verwunderte ihn das nicht übermäßig. Dennoch ließ die Erklärung ihn kurz grinsend den Kopf schütteln. „Deva spielt in seiner Freizeit zusammen mit seinem Sekretär Online-Rollenspiele? Das ist ein bisschen schräg.“ Honey hatte aufgrund der Art, wie Deva und sein stellvertretender Gildenleiter in Jibrile Online perfekt aufeinander eingespielt waren, eher darauf getippt, dass die beiden alte Freunde waren.

 

„Willkommen in meinem Leben“, erwiderte Void daraufhin nur trocken und deutete mit einer knappen Geste in Richtung des Buffets. „Hunger? Ich brauch jetzt einen Drink.“

 

Honey stutzte ein wenig, vielleicht, weil irgendein kleiner, unsicherer Teil von ihm fast erwartet hatte, dass Void ihn für den Rest des Abends stehen lassen und lieber mit seinen anderen sozialen Kontakten zusammenstehen würde. Aber entweder besaß Void als überzeugter Menschenhasser so etwas wie soziale Kontakte nicht oder er hatte aus freien Stücken beschlossen, dass er den Abend lieber mit Honey verbringen wollte. Es war nicht besonders schwer zu erraten, welche der beiden Varianten Honey bevorzugte, und er beschloss, dass er mit dieser Annahme sehr gut arbeiten konnte.

„Klar“, erwiderte er auf Voids Angebot hin und setzte sich in Bewegung, „Aber ich muss vorher noch an diesem Tisch mit der Lostrommel vorbei.“ Zur Hölle mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die ihm so gut wie keine Chance einräumen würde, tatsächlich Void als Wichtelkind zu erwischen, aber er konnte es genauso gut versuchen. Und ansonsten…würde es sicherlich auch ganz witzig werden.

 

Void zog leicht skeptisch eine Augenbraue hoch, folgte Honey aber in gemächlichem Tempo. „Du machst bei diesem Quatsch mit?“

„Nicht nur ich. Wir.“

„Ich mache nicht bei diesem Kindergartenmist mit, das kannst du vergessen.“

„Ach komm schon, Grinch.“ Honey wandte sich dem anderen Mann impertinent grinsend zu und trat an den Tisch heran, auf dem zahlreiche kleine Blankozettel und mehrere Kugelschreiber neben einer großen, nach oben hin offenen Kugel aus Glas lagen. „Weihnachten ist fast vorbei und du kannst dich den Rest des Jahres in deiner kleinen Höhle verkriechen. Aber vorher…“ Er hielt Void demonstrativ einen Zettel und einen Stift hin. „…tust du noch ein gutes Werk.“

 

Void hatte seine Augen eng zusammengekniffen und machte nicht den Eindruck, als ob ihn der kleine Vortrag über Nächstenliebe überzeugt hätte, aber schließlich ließ er genervt seufzend die Schultern sinken. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass Honey ihn ohnehin so lange nerven würde, bis er bei diesem Spielchen mitmachte. „Gib schon her“, raunzte er, nahm Zettel und Stift an sich und kritzelte lieblos seinen Namen auf das Papier. Honey frohlockte innerlich, verkniff sich aber nach außen hin jedes sichtliche Zeichen von Triumph. Er übertrug seinerseits seinen Namen auf einen der Zettel, faltete diesen ordentlich zusammen und warf ihn feierlich in die Lostrommel. „Jetzt entscheidet das Schicksal“, raunte er theatralisch, was Void nur ein Kopfschütteln und ein Schnauben entlockte.

„Glühwein. Jetzt.“

„Jawohl, Mr. Grinch.“

 

***

 

Nachdem Void mit einem Glas dampfendem Glühwein versorgt war und Honey selbst sich die Hände an einem heißen Kakao wärmen konnte, liefen sie eine Weile im Festsaal und in den angrenzenden Räumlichkeiten herum, lästerten über die teilweise unfassbar überzogenen Klamotten der anderen Gäste und schlossen Wetten darüber ab, welcher Besucher am Ende des Abends als erster vom Eierpunsch benebelt über die Brüstung kippen und ein Bad in Devas zugefrorenem Pool nehmen würde. Void taute trotz der Ansage, solche Feiern wie die Pest zu hassen, zunehmend auf, was Honey mit einem innerlichen Schmunzeln, aber sehr zufrieden registrierte. Auf seine Bitte hin stellte der ältere Mann ihm sogar ein paar Leute aus ihrer Gilde vor, mit denen sie eine Weile entspannt plauderten und über das Spiel philosophierten. Das Ganze hatte beinahe ein bisschen was von einem Klassentreffen, und als auch noch Deva sich, begleitet von seinem Schatten, zu ihnen gesellte, war es fast so, als ob es ein typischer Samstagabend im Teamspeak-Channel wäre.

 

Ihre fröhliche Runde wurde unterbrochen, als Nathanael seinen Arbeitgeber dezent darauf aufmerksam machte, dass es nun Zeit für die Auslosung der Wichtelkinder sei, woraufhin Deva geschäftig davon wuselte und sich ihre Gesellschaft auflöste, um sich im Festsaal einzufinden.

 

„Bist du schon aufgeregt?“, flüsterte Honey seinem Begleiter grinsend zu, während sie sich in die Schlange derjenigen einreihten, die sich anstellten, um einen Zettel aus der Lostrommel zu ziehen, die Deva offiziell freigegeben hatte. „Und wenn du jetzt Humbug sagst, lache ich dich aus.“

 

Void, der bereits den Mund geöffnet hatte, um vermutlich genau das oder etwas ähnlich Abwertendes von sich zu geben, schloss diesen etwas konsterniert wieder, was Honey erst recht zum Lachen brachte. Um Voids Zorn nicht noch weiter auf sich zu ziehen, trat er schnell vor, um sich an der Lostrommel zu bedienen, hinter der sich Deva positioniert hatte, vermutlich, um zu überwachen, dass auch alles mit rechten Dingen vor sich ging. Erstaunlicherweise war Nathanael ausnahmsweise nirgendwo in seiner Nähe zu sehen, aber vermutlich konnte selbst er nicht ständig an seinem Boss kleben. Deva begrüßte Honey mit einem herzlichen, warmen Lächeln und machte eine einladende Geste hin zur Öffnung der großen Glaskugel, die die Zettel mit den Wichtel-Namen enthielt. „Wollen wir doch einmal sehen, welche Person das Schicksal für dich auserkoren hat, hm?“, schmunzelte er Honey entgegen und dieser konnte nicht anders, als das ansteckende Lächeln zu erwidern. Er streckte die Hand nach der Lostrommel aus und wollte gerade hineingreifen, als es plötzlich stockdunkel um ihn herum wurde.

 

Verdutzt blinzelte Honey in die komplette Dunkelheit, während um ihn herum die Stimmen zu einem verunsicherten Gemurmel anschwollen. „Stromausfall?“, hörte er Voids unverwechselbare, genervte Stimme hinter sich das Offensichtliche aussprechen, und er wollte automatisch einen Schritt zurück und auf ihn zu machen, als er plötzlich spürte, wie ihn jemand am Handgelenk festhielt. Ehe er auch nur ansatzweise reagieren konnte, spürte er, wie ihm etwas Kleines, Scharfkantiges in die Hand gedrückt wurde, und er war so überrumpelt, dass er automatisch zufasste.

 

Er musste die Augen zusammenkneifen, als keine zehn Sekunden später unvermittelt das Licht wieder anging. “Na sowas. Da muss ich im neuen Jahr wohl den Elektriker einbestellen”, hörte er Devas sanfte, unbekümmerte Stimme. Honey blinzelte den blonden Gastgeber für einen Moment orientierungslos an, doch Deva hatte seine Aufmerksamkeit bereits seinem Hintermann zugewandt, indem er ihm trällernd die Lostrommel entgegen streckte. Als Void ihn daraufhin mit einem unwilligen Grummeln zur Seite drängelte, stolperte Honey ein wenig abseits in eine ruhige Ecke neben einer festlich geschmückten Grünpflanze.

Was zur Hölle war da gerade passiert…?
 

Honey öffnete ratlos die Hand, in der sich noch immer der Gegenstand befand, der ihm während des Stromausfalls in die Hand gedrückt worden war. Es handelte sich dabei um einen kleinen, zusammengefalteten Loszettel. Neugierig geworden entfaltete Honey das mittlerweile etwas feuchte Papier und starrte für einen Moment ungläubig auf den Namen, der darauf geschrieben war. Es dauerte noch einen  kurzen Moment, dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinen Zügen aus. Anscheinend meinte es ein Weihnachtsengel heute besonders gut mit ihm.

 

“Und? Wen hast du gezogen?” Honey fuhr erschrocken zusammen, als Void ohne Vorwarnung wieder neben ihn trat. Er zerknüllte hastig den Zettel in seiner Hand und stopfte ihn, wie er hoffte, unauffällig in seine Hosentasche, bevor er frech grinsend zu Void aufsah: “Verrat ich nicht.”

 

Void hob nur skeptisch die Augenbraue, aber anscheinend war ihm die ganze Sache zu kindisch, als dass er weiter nachgebohrt hätte. “Dann los jetzt, ich verhungere.” Honey nickte und folgte dem älteren Mann durch die Menschenansammlung in Richtung des Buffets, nicht bevor er sich noch einmal in Richtung der Losstation umgewendet und Deva einen stummen Dank geschickt hatte. Den Zettel, auf dem in unordentlicher Handschrift Voids Name geschrieben stand, umfasste er in seiner Hosentasche dabei wie einen Schatz.

Level 11 (Ende)

Die darauffolgenden Stunden flogen nur so dahin, und irgendwann hatte Honey vollkommen vergessen, dass er sich auf einer seriösen Firmenveranstaltung befand. Dies hatte nicht nur mit dem schier endlosen Nachschub an Punsch und Sekt zu tun, den eifrige Kellner den ganzen Abend über unermüdlich an die Gäste verteilten, sondern war auch Devas Idee mit dem Weihnachtswichteln zu verdanken. Dadurch, dass keiner der Eingeladenen im Vorfeld über die Aktion informiert worden war, war jeder dazu gezwungen, einfallsreich zu werden, was das Geschenk an den jeweils designierten Wichtelpartner anging. Sicher, es gab die langweiligen Schenker, die sich zwischendurch zur nächstgelegenen Tankstelle verabschiedeten, um mit einem Strauß billiger Blumen oder Süßigkeiten ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun (Cheater, war Honeys und Voids einhellige Meinung dazu).

 

Dann wiederum verleitete der steigende Alkoholpegel so manchen Gast dazu, in kreativer Art und Weise mit der gestellten Aufgabe umzugehen. Honey wurde im Laufe des Abends Zeuge mehrerer spontaner Gesangsständchen, Theatereinlagen und sogar eines Zirkuskunststückchens, was jedoch darin endete, dass der Akrobat in spe in den mit brennenden Kerzen bestückten Weihnachtsbaum stürzte und mit einer Schale Eierpunsch gelöscht werden musste.

Aber neben Alkoholdämpfen, Kerzenrauch und Gelächter lag vor allem eines in der Luft: Liebe. Es war wohl kein Zufall, dass Deva überall im Festsaal und in den Gängen Mistelzweige hatte aufhängen lassen, aber nachdem Honey auf der Toilette über das mittlerweile zweite knutschende und fummelnde Pärchen gestolpert war, wurde es ihm langsam zu bunt. Sein Unmut rührte allerdings eher aus seiner eigenen Unzulänglichkeit her.

 

Den ganzen Abend über war ihm Void nicht von der Seite gewichen. Sie hatten zusammen das Buffet geplündert, über die anderen Gäste gelästert und Void hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, mit ihm zusammen an einem dieser dummen Partyspiele teilzunehmen, bei denen man mit Nerf-Guns Pappziele abschießen musste, um kleine Preise zu gewinnen. Dabei hatte Honey gelernt, dass Void ein sehr passabler Schütze war, was die peinliche Cowboyfantasie in seinem Kopf nur noch mehr verstärkt und dazu geführt hatte, dass er sich für einen Moment entschuldigen musste, um draußen frische Luft zu schnappen.
 

Insgesamt wäre es das perfekte Date gewesen, wenn sie auch nur eine Minute wirklich alleine gewesen wären.

Die Tatsache, dass es mittlerweile bereits auf Mitternacht zuging und Honey keinen Schritt weiter an einem Plan für seine Wichtelüberraschung dran war, tat ihr Übriges, um seine Anspannung beinahe ins Unermessliche zu steigern. Die ursprüngliche Freude über den ihm zugeteilten Loszettel war mittlerweile einer unterschwelligen Nervosität gewichen, weil Honey bewusst war, dass so eine Gelegenheit so schnell nicht wieder kommen würde. Wenn er wollte, dass sich die Beziehung zu Void irgendwann in diesem Jahrzehnt noch einmal in die gewollte Richtung weiterentwickelte, dann musste er sich etwas einfallen lassen. Es gab einen vagen Plan, aber die Umsetzung hing davon ab, ob Void mitspielte.

 

Honey seufzte einmal innerlich und sah sinnierend zu Void hoch, der gerade in eine hitzige Diskussion mit einem ihrer Gildenmitglieder über die Vor- und Nachteile des neuen Updatepakets vertieft war. Es wäre alles so viel einfacher, wenn er sie beide wie im Spiel einfach an einen anderen, ungestörten Ort teleportieren könnte.

 

Der Zufall kam ihm einen Moment später in Form einer behandschuhten Hand entgegen, die sich von hinten auf seine Schulter legte und ihm, noch bevor er sich umdrehte, einen unangenehmen Schauder über den Rücken jagte. “Du…?”, entkam es ihm wenig begeistert, als er sich der hochgewachsenen, blassen Gestalt von Kyrios entgegensah, der seine ziemlich unhöfliche Begrüßung nur mit einem schmalen, undurchsichtigen Lächeln entgegnete. “Honey. Es ist nett, dich wiederzusehen.”
 

Hätte drauf verzichten könnten, Schleimbeutel. Honey sprach seine Gedanken jedoch nicht laut aus, sondern richtete nur suchend den Blick an dem Blonden vorbei. “Ist Kazuki etwa auch hier?” In dem Fall würde sich sein Mitbewohner so einige Takte anhören müssen, weil er ihm das verheimlicht hatte, aber Kyrios schüttelte nur leicht den Kopf und lächelte sein hintergründiges Grusellächeln. Kazuki hatte ihm erzählt, dass Kyrios an der medizinischen Fakultät ihrer Uni studierte und derzeit kurz vor der Zulassung zur Approbation stand. Honey konnte sich den Blonden nur zu gut in einer Leichenhalle vorstellen, wie er bis zu den Ellenbogen in irgendwelchen sterblichen Überresten herum wühlte.

 

“Nein, ich wollte nur kurz vorbei sehen und Deva persönlich meine Weihnachtswünsche überbringen. Ich sehe Kazuki aber später noch, ich könnte ihm also etwas von dir ausrichten. Das heißt, sollte ich dazu kommen…” Kyrios ließ den den letzten Teil des Satzes in der Luft hängen, sodass Honey beinahe die Augen verdreht hätte. Er wollte lieber gar nicht so genau wissen, warum dieser verdrehte Typ mitten in der Nacht noch unbedingt bei seinem Mitbewohner aufschlagen musste und was die beiden so vorhatten. “Danke, aber kriegs schon alleine hin, mit meinem besten Freund zu reden”, raunzte Honey etwas ungnädig zurück. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Void seine Unterhaltung unterbrochen hatte und den Austausch mit Kyrios aufmerksam verfolgte.

 

Kyrios hob nur beschwichtigend die Hände - seine bescheuerten Handschuhe schienen ihm trotz gefühlten 25 Grad Raumtemperatur nicht zu warm zu sein - und lachte leise. “Davon bin ich überzeugt. Ich werde mich dann jetzt auch langsam wieder verabschieden.” “Na dann, tschüss”, erwiderte Honey nur beißend ironisch und winkte dem Blonden vielsagend zu. Was fand Kazuki bloß an diesem Typen?

 

Dann geschah jedoch etwas sehr Unerwartetes und sehr, sehr Verstörendes. Bevor Honey auch nur ansatzweise Protest einlegen konnte, hatte Kyrios ihn in eine kurze Umarmung gezogen. Nicht sehr fest, und sie fühlte sich auch nicht im geringsten herzlich an, aber dafür beugte sich Kyrios so unangemessen dicht vor, dass Honey den kühlen Atem an seinem Ohr spüren konnte. Er war so überrumpelt, dass ihm nicht einmal einfiel, sich irgendwie zu Wehr zu setzen.

“Ich konnte nicht umhin, euch eine Weile zu beobachten”, raunte der Blonde ihm unhörbar für jeden außer sie beide zu, “Und da wir ja jetzt quasi Familie sind, habe ich kleines Weihnachtsgeschenk für dich.”

 

Was zur verdammten Hölle…?

 

Honey stand kurz davor, sich einfach loszureißen und diesen verdammten, gruseligen Typen mit seiner Nightmare-before-Christmas-Flüsterstimme aus dem Saal zu prügeln, als Kyrios unerwarteterweise begann, ihm Instruktionen zu zuraunen. Erst eine Sekunde später realisierte Honey, dass es sich dabei um eine Wegbeschreibung handelte.

 

Ein leises, aber vernehmliches Räuspern von der Seite ließ Honey zusammenzucken und automatisch einen Schritt zurückspringen, als ob er sich an Kyrios verbrannt hätte. Er warf einen schnellen Blick auf Void, von dem das Geräusch gekommen war, doch dieser hatte sich scheinbar unbeteiligt abgewandt, sodass Honey beinahe gewillt war anzunehmen, dass er sich die kleine akustische Intervention gerade nur eingebildet hatte.

 

“Viel Glück”, drang Kyrios’ leicht amüsierte Stimme zu ihm durch, doch als er seine Aufmerksamkeit wieder dem Blonden zuwenden wollte, war dieser bereits zwischen den feiernden Gästen verschwunden.

Honey blinzelte verwirrt und versuchte, das eben Erlebte zu verarbeiten. Ein wenig hatte er das Gefühl, gerade vom Geist der zukünftigen Weihnacht heimgesucht worden zu sein, nur dass dieser ihm statt einer düsteren Vision seines nahenden Untergangs tatsächlich eine hilfreiche Information beschert hatte, die ihn in seinem Plan ein gutes Stück voran brachte.

Honey erlaubte sich ein kleines, vorsichtig optimistisches Lächeln und warf einen verstohlenen Seitenblick auf Void. Vielleicht würde er es ja doch noch ins nächste Level ihrer Beziehung schaffen.

 

***

 

“Meine Damen und Herren, verehrte Gäste! Wir nähern uns nun dem letzten Programmpunkt des heutigen Abends.”

Um sich über den Lärm der Feiernden hinweg Gehör zu verschaffen, war Deva mit Hilfe seines Assistenten auf einen Stuhl geklettert, um von dort aus den Höhepunkt des Abends anzumoderieren. Anscheinend hatte auch der Gastgeber selbst das eine oder andere Mal ein wenig vom Eierpunsch genippt, denn seine Wangen glühten in einem sanften, aber gut sichtbaren Rosaton. Nathanael hatte sich mit eindeutig besorgtem Gesichtsausdruck unauffällig hinter dem Stuhl platziert, offenbar um im Notfall schnell eingreifen zu können, sollte sich diese etwas wackelige Angelegenheit zu einem Sturz entwickeln. Deva hingegen ließ sich nicht einmal von seinem alles andere als sicheren Stand davon abhalten, seine Ansprache mit warm leuchtendem Blick zu beenden: “Das Feuerwerk beginnt in wenigen Minuten, bitte begeben Sie sich alle nach draußen oder an die Fenster. Frohe Weihnachten!”

 

Da war es, Honeys Stichwort.
 

Er sandte noch einmal ein Stoßgebet an alle möglichen und unmöglichen Götter im Himmel, trank den Rest seines Kakaos auf Ex aus und fasste dann Void ins Visier, der sich mit einem gegrummelten Kommentar mit dem Rest der Feiernden in Bewegung setzen wollte, um sich das Feuerwerk von der Terrasse des Anwesens aus anzusehen. Honey atmete ein letztes Mal durch und griff dann mit grimmiger Entschlossenheit nach dem Arm des älteren Mannes und begann, ihn einfach in die entgegengesetzte Richtung zum Menschenstrom zu ziehen.

 

Er konnte spüren, wie sich Voids Armmuskeln unter der unerwarteten Berührung leicht anspannten, und nur Sekunden später stemmte sich der andere Mann gegen seinen Griff. “Hey Flohbeutel, nach draußen geht’s aber da lang.” Honey wandte sich um und bemühte sich um ein möglichst sorgloses Grinsen, während seine Hand auf Voids Arm noch immer leichten Zug ausübte: “Ich weiß, von wo man besser gucken kann.”
 

Void schien noch nicht so ganz überzeugt, zuckte aber zu Honeys Erleichterung schließlich mit den Schultern und gab seinem Drängen nach.

 

Die Instruktionen, die Kyrios ihm erteilt hatte, waren leicht zu befolgen. Nachdem sie den Festsaal verlassen hatten, folgten sie einem schier endlos erscheinenden Gang, der zum Glück wie ausgestorben war, da sich alle anderen Gäste bereits nach draußen begeben hatten. Void stellte zum Glück keine Fragen, auch nicht, als Honey ihn eine etwas versteckte Treppe hinter einer Nische hinauf führte, die peinlicherweise von zwei sehr kitschigen, fetten Marmorengeln bewacht wurde. Für einen Moment hatte er Kyrios beinahe im Verdacht, sie in die Irre geschickt zu haben, doch als sie wenige Momente später vor einer kleinen Balkontür standen, lösten sich alle seine Zweifel in Luft auf.

 

“Woher zum Teufel…”, begann Void das Wort wieder zu ergreifen, doch im selben Moment gab es ein explosionsartiges Krachen und ein pfeifendes Zischen drang gedämpft von draußen herein, sodass Honey leicht zusammenfuhr. “Schnell, sonst verpassen wir alles…!”

 

Ohne Rücksicht auf Verluste packte er Void fester am Arm und riss die Balkontür auf, wo sie von einem Meer aus Lichtern und bunten Farben empfangen wurden. Honey stockte für einen Moment der Atem und er nahm sich insgeheim vor, Kyrios in Zukunft eventuell nicht mehr ganz so scheiße zu finden, denn dieser kleine Balkon bot den absolut perfekten Ausblick auf das Feuerwerk.

 

Es hatte wieder leicht begonnen zu schneien, und erst als eine Schneeflocke auf seiner Nase ihn leicht zum Niesen brachte, bemerkte Honey, dass er noch immer Voids Arm umklammert hielt. Eine plötzlich aufwallende Panikattacke unterdrückend versuchte er möglichst unauffällig zu dem älteren Mann hochzuschielen, doch Void schien vollkommen entspannt zu sein und hatte seinen Blick auf das Spektakel vor ihren Augen gerichtet.

Jetzt oder nie.

 

“Also…”, begann Honey etwas unentschlossen, während ein kleiner Teil von ihm gleichzeitig fürchtete und hoffte, dass der Lärm seine Worte vielleicht verschlucken würde. Doch entweder hatte Void Ohren wie ein Luchs oder er hatte in seiner Nervosität doch lauter gesprochen als gedacht, denn der Größere wandte ihm sofort seine Aufmerksamkeit zu.

Honey hatte sich einige sehr sorgfältig ausgewählte Worte zurechtgelegt, die er Void sagen wollte, schon bevor er die Einladung zu dieser Feier bekommen hatte. Er hatte sich lange vorgestellt, wie es wohl werden würde, wenn er diesem ständig übelgelaunten, schroffen und unmöglichen Kerl endlich sagen würde, was er für ihn empfand. Aber nichts hatte ihn auf die Möglichkeit vorbereitet, dass ihm im entscheidenden Augenblick die Stimme versagen würde.

Honey konnte sehen, wie sich langsam Voids Augenbraue hob und sein Gegenüber wohl im nächsten Moment fragen würde, warum zum Teufel er ihn nur stumm wie ein Fisch anstarrte, und in einem Anflug aufsteigender Panik führte Honey die erste Kurzschlusshandlung aus, die ihm in den Sinn kam.

 

Er hatte es wohl dem Überraschungsmoment zu verdanken, dass Void sich von seinen Armen, die sich irgendwie um den Nacken des Größeren geschlungen hatten, ein Stück herunterziehen ließ, sodass sich ihre Lippen zu einem schnellen, atemlosen Kuss trafen. Nun, zumindest Honey war sehr atemlos.

Ohgott, er küsst nicht zurück, schoss es ihm durch den Kopf, während er sich beinahe verzweifelt an Void klammerte. Als er schon halb damit rechnete, im nächsten Moment über den Balkon zu fliegen, spürte er plötzlich, wie sich zwei kräftige Arme fest um einen Rücken schlossen und Void begann, sich ebenso impulsiv in den Kuss zu lehnen. Jetzt war Honey tatsächlich atemlos.

 

Das jähe Explosionsgeräusch einer abgefeuerten Feuerwerksrakete unmittelbar über ihren Köpfen ließ sie schließlich wie zwei ertappte Verbrecher auseinanderfahren. Ein ungläubiges, leicht zittriges Lachen löste sich aus Honeys Kehle, während sich seine Hände noch immer in den Stoff von Voids Hemd krallten: “Verdammt. Jetzt muss ich Kyrios wohl wirklich dankbar sein, was?”

 

Void sah angesichts dieses aus seiner Sicht vermutlich wirklich etwas zusammenhanglos anmutenden Kommentars kurz ein wenig irritiert aus, bevor seine Mundwinkel ebenfalls ein wenig hochzuckten. Seine Hände, stellte Honey mit einem leicht aufgeregten Klopfen seines Herzens fest, lagen weiterhin fest auf Honeys Rücken und schienen sich dort auch nicht allzu bald wieder entfernen zu wollen. “Du verrückter Flohbeutel. Musstest du mir unbedingt mein Wichtelgeschenk vorwegnehmen?”

Auf Honeys verwirrten Blick hin griff der größere Mann in die Brusttasche seines Hemds und förderte einen abgegriffenen Zettel hervor, auf dem in Honeys krakeliger Schrift dessen eigener Name stand. “Oh.” Honey konnte nicht anders, als einen Moment lang etwas sprachlos auf den Zettel zu starren, bevor sich ein leises Prusten aus seinem Mund hervorkämpfte und er seinerseits den Zettel mit Voids Namen aus seiner Hosentasche hervorpulte: “Scheint, wir waren beide ziemlich unkreativ, mh?”

 

Void schloss für einen Moment die Augen, legte den Kopf in den Nacken und grollte etwas, was sich verdächtig nach Verdammt, Deva anhörte und Honey erneut zum Lachen brachte.

“Naja, immerhin… war der Vorwand ziemlich gut.” Nun wieder etwas verlegen geworden blinzelte Honey zu Void hoch: “Ich wollte das irgendwie schon eine ganze Weile tun.”

 

“...aber irgendwie war der Zeitpunkt immer etwas günstig”, vervollständigte Void seinen Satz, als ob er Honeys Gedanken gelesen hätte, über dessen Züge sich daraufhin ein sehr glückliches Lächeln zog.

 

“Was hältst du davon…”, begann Void, und diesmal war es Honey, der seinen Satz mit einem leicht frechen Grinsen komplettierte: “Wir hauen hier ab, solange alle noch vom Feuerwerk abgelenkt sind, und du zeigst mir deine Hausmeisterhütte?” “Es ist keine…”, knurrte Void los, besann sich dann jedoch eines besseren und zog Honey in einen weiteren, tiefen Kuss. Und so sehr Honey ihre gemeinsame Zeit in der virtuellen Welt immer genossen hatte, diese Realität gefiel ihm viel, viel besser.

 

~ENDE ~

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen lieben Dank an alle Leser! Lasst mir gerne ein kleines Feedback da, wenn ihr mögt. :) Man liest sich bestimmt bald wieder! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (7)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  JonathanWolff
2021-01-11T13:48:43+00:00 11.01.2021 14:48
Zeit, ein Kompliment auszusprechen!
Deine Geschichte ist großartig!!!

Du erzeugst eine ganz wundervolle Atmosphäre, wie ein Märchen.
Deine beiden Charaktere sind unheimlich sympathisch, sie haben Tiefe und man kann ganz wunderbar mit Honey fühlen.

Dein Schreibstil ist extrem gut und wer immer dir das Beta gemacht hat war fast perfekt.


Ich bedanke mich für diese wunderschöne Geschichte, ich habe sie verschlungen und war wirklich traurig, als es vorbei war. Das Ende ist super süß und passt super gut.
Ich würde mich freuen noch viel mehr von dir zu lesen, auch, wenn es mich meinen Schlaf kostet.

Liebe Grüsse,
J.W.

Von:  Ginji92
2020-03-06T10:42:46+00:00 06.03.2020 11:42
Tolle Story mit passenden Ende.
Süß wie die beiden so unterstützt wurden und sogar beide die gleiche Absicht hatten nur das es halt den Moment nicht gab.
Vielleicht gibt es ja noch ein Bonuslevel von dir ^^
Lg.
Von:  Ana1993
2020-02-11T16:03:31+00:00 11.02.2020 17:03
Jetzt musste ich erst mal tief seufzen und schmunzeln.
So sehr mit einem Charakter mitgefiebert habe ich ewig nicht mehr, ich war bald aufgeregter als in der Realität *lach* sooo sehr fiebere ich hier mit!
Antwort von:  Newt
17.02.2020 10:39
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, ich freu mich wahnsinnig, dass du mit den beiden so mitfieberst. x)! Ich hoffe, ich kann den Spannungsbogen weiter aufrecht erhalten und du hast weiter Spaß beim Lesen.
Von:  Ana1993
2020-02-01T15:27:48+00:00 01.02.2020 16:27
Ahhh der heißersehnte erste Voicechat ;)))

Anfangs hatte ich noch befürchtet, die anderen könnten Honey wegen des Namens zunächst für ein Mädchen gehalten haben *kicher* erinnere mich da selbst wieder an lustige Szenen wenn man ewig mit Leuten ingame schreibt und dann plötzlich die Stimme dazu hört (ich spiele immer männliche Chats, ein Kumpel immer weibliche, sorgt bisweilen für Verwirrung *lol*)
Antwort von:  Isamu_17
01.02.2020 22:19
Haha. Ich traue mir bei sowas fast nie etwas zu sagen
Antwort von:  Newt
02.02.2020 11:27
Das wäre eigentlich noch eine ziemlich gute Idee gewesen, ein kleines Verwechselungsspiel einzubaue. ;) Ich hatte früher beim Spielen mit Teamspeak ein ähnliches Problem, da man mich aufgrund meiner Stimme lange Zeit für einen Teenager-Jungen hielt. xD Da war es vielleicht ganz gut, dass ich Honey diese Probleme erspart habe.
Von:  Ru-chan88
2020-01-31T21:26:40+00:00 31.01.2020 22:26
Hey,
ich finde deine ff sehr interessant und freue mich schon auf die nächsten Kapitel. Bin echt gespannt, wie es mit den beiden wohl weitergeht^^
Antwort von:  Newt
01.02.2020 12:52
Vielen Dank für deinen Kommentar, ich freue mich, wenn die Geschichte gelesen wird. <3
Von:  Ana1993
2020-01-17T12:37:03+00:00 17.01.2020 13:37
Aaah die gute alte MMO-Zeit. Da hab ich fast Lust, nochmal selbst eins zu spielen ;)

Lasse dir stattdessen ein Fav und ein liebes Kommi da 😘 bin gespannt wie es weitergeht, dein Stil und der Einstieg gefällt mir
Antwort von:  Newt
17.01.2020 13:42
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar und das Fav. :) Manchmal vermisse ich die guten alten Zeiten auch, aber ich freue mich, dass ich dir ein bisschen was von dem Nostalgiegefühl geben konnte. X3


Zurück