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Yu-Gi-Oh! The Last Asylum

von

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Turn 01 - A New Approach

Turn 01 – A New Approach

 

 

Eine Welt, die nicht länger existiert.

Und eine Welt, die mich abstößt.

In der ich nicht existiere.

So sehne ich herbei, was uns einst gegeben.

Auch wenn ich dafür einen Preis zu zahlen habe.

Eden.

 

 

Unendliche Finsternis umgriff Anya. Wohin sie auch blickte, das lückenlose Schwarz schien sie regelrecht zu verschlingen. Oder nein, es hatte sie bereits verschlungen. Sie wusste genau, dass das ein Traum sein musste. Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hatte, würde ernsthaft daran zweifeln, dass dieser Ort nicht echt war.

Missmutig schüttelte die Blondine den Kopf und bemerkte dabei, dass nicht alles in dieser Welt dunkel war. Sie stand auf einem Mosaik, das in vielen kleinen Puzzleteilen die Erde als Scheibe darstellte. Jene leuchtete unheimlich in ihren blauen, braunen und grünen Farben. Und sie drehte sich. Aber Anya, obwohl sie auf dem Bildnis stand, drehte sich nicht mit.

 

Was für ein verrückter Traum, dachte sie ärgerlich. Gehörte sie jetzt auch schon zur einsamen Spinnerriege, die sonst nur ihrem Freund Nick vorbehalten war? Allein der Gedanke ließ sie erschaudern. Nein, mit dem Hohlkopf wollte sie sich nicht gleichstellen. Selbst auf Drogen würde sie niemals so durchgedreht und dumm sein, wie er es ohne Hilfsmittel war.

Sie seufzte. Es wäre schön, wenn er wenigstens hier wäre. Andererseits, eher würde er sich hinter ihr verstecken, als umgedreht. Aus gutem Grund.

Sie ließ ihre Handgelenke knacken und trat einen Schritt nach vorn, inmitten des Mosaiks. Sollte doch das obligatorische Traummonster auftauchen, sie würde es direkt zurück zu Frau Holle schicken!

 

Ein einsamer Ort, nicht wahr?

 

„Was?“ Anya wirbelte ruckartig herum, ihr Pferdeschwanz peitschte ihr dabei ins Gesicht. Diese tiefe, düstere Stimme war aus dem Nichts erschienen. Doch wohin sie auch sah, ihren Ursprung konnte sie nicht ausmachen.

 

Such nicht nach mir. Schließlich habe ich dich gesucht. Und gefunden.

 

„Wer zur Hölle ist da?“, fauchte sie aufgebracht. Dieser Mistkerl sollte ihr gefälligst gegenübertreten und nicht mit solchen Billigeffekten versuchen, ihr Angst einzujagen. Immerhin war das -ihr- Traum, -sie- bestimmte die Regeln! „Komm raus, du Feigling!“

 

Eine Bitte, der ich nicht nachkommen kann.

 

„Warum?“ Langsam wurde es langweilig. Und Anya kam sich dumm dabei vor, mit einer gestaltlosen Stimme zu sprechen. Außenstehende würden sie vermutlich für verrückt halten. Aber es war zum Glück nur ein Traum.

 

Bedauerlicherweise verfüge ich nicht über einen Körper.

 

„Soll das ein Witz sein?“ Egal wie sehr sich Anya auch um die eigene Achse drehte, in der endlosen Finsternis konnte sie niemanden entdecken.

 

Leider ist dies die Wahrheit. Ich, Levrier, bin hier nichts weiter als ein Schatten. Und deswegen brauche ich dich, Anya Bauer.

 

Anya musste auflachen. Langsam wurde das richtig lächerlich. Konnte sie nicht endlich aufwachen? Da war ihr ja noch ein siebenköpfiger Drache lieber. Der war wenigstens cool, wenn er einen auffraß.

Die Stirn runzelnd, verschränkte sie die Arme und atmete tief durch. Vielleicht ging das hier schneller vorbei, wenn sie sich auf den Traum einließ. „Und wofür, Levirgendwas?“

 

In deiner Welt gibt es nur eine Handvoll geeigneter Gefäße, die meinen Geist in sich tragen können. Und du, Anya Bauer, bist so ein Gefäß. In dir klafft ein Loch, groß genug um mich zu tragen. Doch dein Wille ist stark genug, um nicht unter der Last meiner Existenz zusammenzubrechen. Dein Körper ist gesund, jung, kräftig und wird nicht verglühen, wenn ich ihn betrete.

 

„Ja, ja, ja, was auch immer. Klar bin ich toll.“ Sie fasste sich an die Stirn. Eine Woge des Unwohlseins ging durch ihren Leib. Irgendetwas stimmte hier nicht. Einen derart verrückten Traum hatte sie noch nie gehabt. Warum interessierte sich dieses Hirngespinst für ihren Körper?

 

Öffne mir das Tor zu deiner Seele und lass mich herein. Zusammen werden wir etwas Großes schaffen.

 

Anya winkte mit einem verächtlichen Zischen ab. „Kein Interesse. Wärst du jetzt so freundlich und ziehst Leine? Ich möchte ungern verschlafen.“

Dass sie das einmal sagen würde! Aber Schule war allemal besser, als mit diesem gesichtslosen Freak zu quatschen. „Such dir einen anderen für dein großes Etwas!“

Sie wandte der Dunkelheit den Rücken zu, auch wenn sie wusste, dass es eine sinnlose Geste war. Dieses Ding schien ohnehin überall zu sein.

 

Ich fürchte, das ist nicht möglich. Du bist das beste Gefäß. Lass mich herein, damit wir „Eden“ werden können.

 

„Was zum Geier ist denn Eden? Ich bin nicht gläubig, wenn du das meinst!“ Allmählich war Anya es leid, immer wieder auf die Versuche dieses Levidingens zu reagieren, das Gespräch am Leben zu erhalten. Sollte es doch sonstwen anbetteln, aber nicht sie! Und überhaupt: wie kam diese Pfeife eigentlich auf die grenzdebile Idee, ausgerechnet -sie- um so etwas zu bitten?

Wusste der denn nicht, dass es in Livington, ihrer Heimatstadt, nur zwei Dinge gab, um die man einen großen Bogen machen sollte? Johnnys Pizzaladen und sie, Anya Bauer!
 

Eden. Das größere Wohl.

 

„Verstehe“, log Anya. „Kann ich jetzt gehen?“
 

Schwöre mir deine Treue.

 

Anya pfiff spöttisch. „Nein. Wäre ja noch schöner, wenn ich jedem Dahergelaufenen in den Allerwertesten kriechen würde.“

Ihre Gedanken drehten sich eher darum, wie sie sich selbst erklären konnte, so einen ausgemachten Schwachsinn zu träumen. Hatte Nick ihr gestern in der Kantine etwas ins Essen gemischt? Oh, den würde sie-

 

Wohlan. Du bist noch nicht bereit, wie mir scheint. Wir werden uns wiedersehen, Anya Bauer. Und dann wirst du mein Gefäß werden.

 

„Als ob!“

Doch ihre Worte hallten nicht durch die Finsternis, sondern die vier Wände ihres kleinen Zimmers. Schweißnass saß Anya kerzengerade aufgerichtet in ihrem Bett und starrte auf den Bildschirm ihres uralten Röhrenfernsehers am anderen Ende des Zimmers.

Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, wo sie war. Stöhnend wischte sie sich einige blonde Strähnen von der Stirn und versuchte klare Gedanken zu fassen. Doch es ging nicht. Der Traum schwirrte in ihrem Kopf, jedes kleine Detail davon. Obwohl Anya den klischeebehafteten Spruch „Es hat sich so real angefühlt!“ abgrundtief hasste, musste sie zugeben, dass er gewissermaßen zutraf. Den Klang von Leviwasauchimmers Stimme würde sie wohl so schnell nicht vergessen. Genau wie den Rest dieses ganzen Mists.

 

Anya beschloss, dass sie erst einmal duschen und dann frühstücken sollte. Dann musste sie auch schon in die Schule. Wer weiß, vielleicht würde sie dort einem Unterstufler das Essensgeld wegnehmen können? Dann hätte dieser bereits absolut bescheidene Tag wenigstens ein Gutes.

 

~-~-~

 

„Ohhhh, ich schraube ihr den Kopf ab und stecke ihn ihr an einen Ort, den sie so noch nie gesehen hat!“, fauchte Anya gut fünf Stunden später außer sich vor Wut.

Sie knirschte mit den Zähnen, ballte die Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten, sodass die Knöchel deutlich hervortraten und doch konnte sie ihren Zorn nicht bändigen.
 

Hier saß sie. Auf der Ersatzbank. Sie, die die Hälfte aller Jungen vom Eis fegen konnte! Und wen hatte der Coach stattdessen für das Freundschaftsspiel gegen die „Virtues of Dice“, die ewige Rivalenmannschaft der „Livington Lions“ eingesetzt? Diese zerbrechliche, ahnungslose, dummschwatzende, hirnverbrannte, einfach nur lächerliche Valerie Redfield. Gab es überhaupt irgendetwas, wo diese dumme Schnalle nicht die erste Geige spielte? Die war doch erst seit einem halben Jahr im Eishockeyteam ihrer Schule! Sie, Anya, schon seit ihrer Kindheit!

 

Wütend krallte Anya ihre Finger in den Schläger und suchte nach einem Objekt oder einer Person, die feige genug war, sie nicht wegen zukünftiger Taten anzuzeigen. Aber neben dem Coach und ein paar Ersatzspielern am Ende der Bank war da nur Abby, ihre beste Freundin. Und die war zu nützlich, um sie zu Brei zu verarbeiten.

 

Abby war ein hageres Mädchen mit langem, braunen Haar, das nur mäßig gebändigt wirkte. Ein grünes Stirnband zierte ihr Haupt, was zu ihren langen, geblümten Kleid farblich hervorragend passte. Wie immer trug Abby ihre Brille mit den kreisrunden, getönten Gläsern.

Anya seufzte. Abby war immer noch ein Hippie. Und das jetzt seit über einem Jahr. Konnte sie nicht wieder Punk sein? Da war sie wenigstens nicht so langweilig wie jetzt.

Beleidigt stellte Anya an Abbys verträumten Blick fest, dass jene die letzten fünfzehn Minuten ihres Fluchens nicht bemerkt hatte und in einer anderen Sphäre zu schweben schien. Warum war sie überhaupt hier, wenn sie dem Spiel – Korrektur: ihr – keine Beachtung schenkte?

 

„Abby?“, fragte Anya mürrisch.

„Hmm?“, gab die in einem melodischen Singsang von sich.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

Abby nickte. „Natürlich. Aber ich finde, Gewalt ist keine Lösung. Der Coach hat Valerie ausgesucht, weil sie Erfahrung sammeln soll. Anstatt dich aufzuregen, solltest du lieber mit den beiden reden.“

„Geht nicht“, brummte Anya sauer. „Ich wüsste dann nämlich nicht, wem ich zuerst die Augen auskratzen sollte.“

„Du sollst sprechen Anya. Über die Dinge, die dich bewegen, dich berühren, dich verletzen.“

„Verletzen?“ Ein fieses Grinsen spielte um die Mundwinkel der Blondine. „Oh ja, das würde ich nur zu gerne.“

 

Abby zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass Anya ein hoffnungsloser Fall war. Ebenso wusste sie aber auch, dass diese Phasen nie lange anhielten. Es brauchte nur einen neuen Grund, damit ihre Freundin aus der Haut fuhr und schon war alles Schnee von gestern.

 

Neidisch beobachtete Anya das Eisfeld und wie sich die Mannschaften in Blau und Violett gegenseitig drangsalierten, nur um den Puck ins Feindgebiet zu rücken. Dabei ließ sie eine Gestalt in Blau nicht aus den Augen. Die Nummer 10. Marc Butcher. Ihr Marc. Ihr zukünftiger Marc. Der Marc, der jetzt Valerie einen Pass zuspielte. Valerie! Die Valerie, die eigentlich hier oben sitzen sollte!

„Los Dices, brecht diesem Miststück alle Knochen!“, feuerte Anya kurzerhand die gegnerische Mannschaft an.

„Wie kann man nur so neidisch sein …“, murmelte Abby vor sich hin und schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht neidisch!“

„Du hast ja auch keinen Grund dazu. Du bist … stark? Und … blond?“

Anya warf Abby einen vernichtenden Blick zu. „Danke! Ich weiß selbst, dass viele Kerle ein Problem mit meiner Art haben und einen Bogen um mich machen!“

„Du machst ihnen eben Angst. Starke Frauen sind eine Sache für sich. Viele trauen sich bestimmt nur nicht, dich nach einem Treffen zu fragen, weil sie Angst haben, im Krankenhaus aufzuwachen.“

Das Kinn an die Brust ihrer ausgepolsterten Uniform legend, dachte Anya nach.

Vielleicht hätte sie sich nicht mit diesem Clown aus der damaligen Abschlussklasse prügeln sollen? Ob ihr Ruf dann besser wäre? Andererseits war diese Memme ihr frech gekommen und es war gut gewesen, die Fronten zu klären. Was konnte sie dafür, dass er jetzt regelmäßig zum Psychologen gehen musste, weil sie ihn tagtäglich in seinen Albträumen heimsuchte?
 

Sofort dachte sie wieder an ihren eigenen Traum von heute Nacht. Wodurch der arme Kerl ihr sogar ein wenig leid tat, denn solchen Mist würde wohl niemand freiwillig träumen wollen. Angst zu haben war scheiße und so hatte Anya schon vor langer Zeit beschlossen, einfach keine zu haben. Was für andere unmöglich klang, war für sie eigentlich ziemlich einfach. Wer nachdachte, konnte Angst haben. Also lautete ihre Lösung: über nichts länger als bis zur nächsten Mahlzeit nachzudenken. Dann würde schon alles gut werden.

Anya war stolz auf ihr Motto, es hatte sich bisher selten als unwahr erwiesen.
 

Enttäuschte Rufe klangen von den Zuschauertribünen. Anya bemerkte es sofort, Nummer 21 lag auf dem Boden. Unter grellem Jubel sprang sie auf. Diese dumme Valerie hatte sich der Länge nach hingelegt! Was für ein Ereignis! Hätte sie doch nur ihre Kamera dabei!

Aber nein, dachte sie kurz darauf verbittert. Nämlich als die Nummer 10 seiner Kollegin aufhalf. DAS wollte sie sich nicht hundert Mal am Tag reinziehen.

„Ich verschwinde“, brummte Anya verstimmt. „Die kommen auch ohne mich klar.“

„Und der Coach? Du kannst nicht einfach gehen“, warf Abby vorwurfsvoll ein. „Eine Mannschaft muss zusammenhalten!“

„Ach, Redfield hat doch alles im Griff, die brauchen mich nicht.“

Abby stand plötzlich auf. „Da wäre ich mir nicht so sicher. Sieh mal!“

Erst wusste Anya nicht, wovon ihre Freundin redete und suchte nach der Stelle, auf die jene deutete. Schließlich bemerkte sie es auch.
 

Einer der Spieler der Dices schlug mit seinem Schläger um sich. Wie wild geworden fiel er plötzlich seine Kameraden an, die ihrerseits Mühe hatten, die Angriffe mit ihren Schlägern zu parieren. Und der Kerl war nicht der Einzige. Auch zwei Lions fingen plötzlich an, wie Berserker auf diejenigen loszugehen, die ihnen am nächsten waren.

„Na, das ist mal 'ne Show nach meinem Geschmack“, strahlte Anya und sprang nun auch auf, „'ne Massenschlägerei! Gott, das gab es hier ja schon ewig nicht mehr!“

Und während der Coach auf die Eisfläche eilte und wütend brüllte, erfreute sich die Blondine am immer schlimmer werdenden Chaos.

Abby hingegen schlug fassungslos die Hände vor den Mund. „Die müssen aufhören! Sonst wird noch jemand verletzt!“ Plötzlich streckte sie den Arm aus und zeigte auf die Masse. „Der Coach! Die greifen tatsächlich Coach Bergmann an!“
 

Anya verging die Freunde, als sie sah, wie drei Spieler der Dices den Coach beharkten. Dieser ging in die Knie und krabbelte über das Eis, doch musste er harte Schläge einstecken. Ihr Blick wanderte automatisch zu der Stelle herüber, wo eben noch Valerie am Boden gelegen hatte. Sie sah die Nummern 10 und 21, wie sie sich vom Eisfeld entfernten und durch die Tür zu den Tribünen gelangten. Dort war mittlerweile alles in Wallung geraten und einige versuchten offensichtlich, sich einen Weg aufs Eis zu bahnen, um den Kampf zu beenden.

Plötzlich traf ein geworfener Schläger die Nummer 10 am Hinterkopf, woraufhin jene der Länge zusammenbrach.

„Marc!“, kreischte Anya erschrocken. Doch jener rappelte sich, gestützt von Valerie, wieder auf und suchte mit ihr zusammen das Weite – Helm sei Dank.

Immer mehr Leute stürmten aufs Eis und versuchten, die Hockeyspieler zu bändigen. Diese wüteten noch immer durch die Reihen, ob mit oder ohne Waffen.

„Das ist verrückt“, kommentierte Abby den schrecklichen Anblick leise. „Was ist plötzlich in die gefahren?“

Als sie zur Seite blickte, war Anya verschwunden. Erst nach ein paar Herzschlägen erkannte Abby, dass ihre Freundin am Boden lag und sich nicht rührte.

„Hilfe!“, schrie sie gegen die Unruhen an und kniete neben Anya nieder. „Ich brauche einen Arzt, schnell!“

 

~-~-~

 

Anya erkannte diesen Ort sofort wieder. Die Dunkelheit, das Mosaik. Sie war zurück, sie träumte wieder. Doch anders als beim letzten Mal blieb sie nicht ruhig. Eine ungekannte Furcht machte sich in ihr breit. Nicht darüber nachdenken, mahnte sie sich.

Wieso war sie hier? Eben noch war sie in der Halle gewesen, hatte zugesehen, wie gute Freunde sich gegenseitig die Helme einschlugen.

 

Erinnerst du dich? Ich sagte, wir werden uns wiedersehen.

 

Das Mädchen zuckte zusammen. Da war es wieder, dieses Ding. Überall und nirgendwo.

„Leviere?“
 

Levrier. Und? Hat dir gefallen, was ich dir gezeigt habe? Hat es deiner wütenden Seele Nahrung gegeben?

 

Was meinte er? Doch nicht etwa die Schlacht auf dem Eis?

„Das warst du?“, fragte Anya ungläubig. Nein, das konnte unmöglich sein. Das Ding war ein Produkt ihrer hyperaktiven Fantasie. Nicht real. Vermutlich hatte irgendein Schwein ihr hinterrücks eins verpasst, sodass sie wieder diesen Traum hatte!

 

Gewiss. Ich habe gehofft, dass du ein wenig kooperativer wirst, wenn du siehst, wozu ich imstande bin. Dir liegt doch etwas an dieser Kleinen. Abby, nicht wahr?

 

„Was willst du?“, schoss es aus Anya heraus.
 

Das habe ich dir bereits bei unserer letzten Begegnung gesagt. Entsinne dich.

 

Anya schnaufte. „Die Antwort bleibt nein!“

Womit zum Teufel hatte sie es bloß zu tun? Esoterik und dieser ganze Quatsch war zwar nicht ihr Ding, doch irgendetwas ging hier vor sich. Und da sie sich weigerte zu glauben, einfach nur verrückt zu werden, musste doch dieses Levrier-Wesen dahinterstecken.

„Ich werde nicht zu deinem Gefäß! Ich weiß ja nicht einmal, wer oder was du bist und was du damit bezwecken willst.“

 

„Man könnte sagen, ich möchte die Welt verändern.“

Anya wirbelte um, denn die Stimme war dieses Mal direkt hinter ihr gewesen. Und sie hatte anders geklungen, nicht so fern.

Doch als sie deren Ursprung erblickte, glaubte sie, ihren eigenen Augen nicht trauen zu können.

Da stand sie, Anya. Nein, das war nicht sie, das war dieser Levrier, der nur so aussah. Und doch. Die blauen Augen, das blonde, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haar, die Jeans und das schwarze Totenkopfshirt. Es war das perfekte Abbild von ihrem alltäglichen Ich.
 

„Man bin ich hübsch“, stellte Anya anerkennend fest, was sie aber nur tat, um sich Mut zu machen. Dabei bemerkte sie, dass sie selbst nicht mehr ihre Hockeyausrüstung trug, sondern dieselben Sachen wie ihr Gegenüber. Und eine Duel Disk. Wie Levrier auch.

Als könne jener ihre Gedanken lesen, nickte er. Dabei imitierte das geheimnisvolle Wesen jetzt sogar Anyas Stimme. „Du siehst richtig. Ich dachte mir, wenn Worte dich nicht überzeugen können, dann vielleicht etwas, was deinen Stolz verletzt. Damit du weißt, wo dein Platz ist.“

„Ach ja?“, warf Anya ihm herausfordernd entgegen und ließ ihre Fingerknöchel dabei knacken. „Na warum kommst du dann nicht her, damit wir das auf traditionelle Art und Weise lösen können? Ich hätte nicht schlecht Lust, dir ein paar Rippen zu brechen!“

„Dein Gedächtnis scheint minderwertig zu sein. Ich sagte bereits, dass ich keinen Körper besitze. Was du siehst, ist nur mein Wille. Und diesem wirst du dich jetzt beugen.“ Mit diesen Worten klappte die schwarze, mit Dornen behaftete Duel Disk Levriers klangvoll aus.
 

Derweil knirschte Anya mit den Zähnen. Wenn sie diesen Plagegeist loswerden wollte, hatte sie wohl keine andere Wahl, als hier mitzumachen. „Glaubst du.“

Nebenbei bemerkte sie, dass auch sie so eine merkwürdige Duel Disk am linken Arm trug. Jene sah einfach schrecklich aus im Vergleich zu ihrer uralten Battle City Disk. Ein Originalstück, das ihr Vater ihr einst geschenkt hatte. Dieses hässliche Ding an ihrem Arm hingegen wäre höchstens etwas für Abby gewesen, als sie noch die Gothic Lolita gemimt hatte.

Widerwillig aktivierte sie das Gerät durch das Ausschwingen ihres Arms.

 

„Ich sehe, du lernst dazu“, kommentierte Levrier das Ganze mit einer Spur Hohn in der Stimme.

„Pass mal auf, was du alles so lernen wirst, wenn ich erstmal mit dir fertig bin“, schnaubte Anya. Jetzt kam dieses Ding ihr auch noch frech. Den würde sie bluten lassen.

„Du redest viel. Aber ob du die Dinge auch in die Tat umsetzen kannst? Lass es uns herausfinden.“

Beide schrien regelrecht synchron: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Levrier: 4000LP]

 

Beide Spieler zogen augenblicklich ihr Startblatt von fünf Karten.

„Der Herausforderer begi-“

Doch die echte Anya unterbrach ihr Spiegelbild schroff. „Ich fange an!“

Schon hatte sie die nächste Karte nachgezogen und studierte missmutig ihr Blatt. Ihre Schlüsselkarte war nicht darunter. Aber das machte nichts, denn sie hatte die perfekte Möglichkeit, an sie heran zu kommen.

Mit einem zufriedenem Grinsen fischte sie eine Zauberkarte aus ihrem Blatt und verkündete: „Ich aktiviere [Gold Sarcophagus]! Damit entferne ich eine Karte von meinem Deck und füge sie zwei Runden später meiner Hand hinzu.“

Eine goldene Truhe mit ägyptischen Symbolen, darunter ein unheimliches Auge inmitten der Front, erschien. Während Anya ihr Deck aus der Duel Disk nahm und auffächerte, schob sich wie von Geisterhand der Deckel beiseite. Als Anya schließlich ihre Wahl getroffen und das Deck an seinen rechtmäßigen Platz zurückgesteckt hatte, hielt sie die gewünschte Karte in die Höhe.

„Ich nehme [Gem-Knight Fusion]!“ Der Zauber flog ihr aus der Hand und verschwand im Inneren der Truhe, die sich selbst verschloss und augenblicklich im Nichts verschwand.

Anya überlegte weiter. Solange sie ihre besten Monster nicht spielen konnte, wäre es zumindest gut, deren Ankunft vorzubereiten. Deswegen entschied sie sich für [Gem-Armadillo], den sie auf die Duel Disk legte.

Kurz darauf erschien ein braunes, schwebendes Gürteltier vor ihr, welches mit hellbraunen Edelsteinen und zwei Düsentriebwerken bestückt war.
 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Wenn [Gem-Armadillo] beschworen wird, füge ich einen beliebigen Gem-Knight von meinem Deck meiner Hand hinzu!“, erklärte Anya und hielt das ausgewählte Monster bereits zwischen Mittel- und Zeigefinger. Es war das normale Monster [Gem-Knight Garnet].

Sie atmete tief durch. Das Gefühl, sich selbst gegenüber zu stehen, war alles andere als angenehm. Dazu noch inmitten einer so unheimlichen Umgebung. Sie mochte die Dunkelheit, die Nacht, aber das hier war nichts für Anya. Aber sie war keine Memme, redete sich das Mädchen resolut ein. So leicht würde dieser Mistkerl von Levrier sie nicht einschüchtern können!

„Ich setze eine Karte verdeckt“, rief sie und schob die Fallenkarte in einem der dafür zugehörigen Schlitze. „Das wär's dann.“

 

Die andere, falsche Anya lächelte süffisant. „Fürchtest du dich?“

„Nö“, antwortete das Original desinteressiert.

„Und warum zittert deine Hand?“

Zu ihrem Schrecken musste Anya feststellen, dass Levrier recht hatte. Die Hand, in der sie ihr Blatt hielt, bebte regelrecht. Mit der anderen hielt sie sofort ihren Arm fest, damit ihr Gegner nicht weiter darauf eingehen konnte.

„Du kannst mir nichts vormachen. So sehr du dich auch sträubst, Anya Bauer, meine Worte sind zu dir durchgedrungen. Du hast erkannt, zu was ich imstande bin und du fürchtest dich vor dem, was noch kommen könnte. Und es wird kommen, solltest du dich weiterhin weigern, dich mit mir zu vereinen.“

„Blablabla“, zischte Anya, doch ihre Stimme klang eine Spur zu heiser, um überzeugend zu wirken. Nein, sagte sie sich, dieser Kerl log nach Strich und Faden. Was da unten in der Halle passiert war, lag lediglich an ein paar übermütigen Jungs. Daran war absolut nichts Mysteriöses, so wie Levrier es ihr einreden wollte!

Und doch … ob es Marc gut ging? Und Abby, wo war die gerade? Und sie selbst, fragte Anya sich voller Unwohlsein? Was war überhaupt mit ihr, war sie noch in der Halle und nur eingenickt? Vielleicht war die Schlägerei auch nur Teil des Traumes? So musste es sein! Sie war noch gar nicht aufgewacht!

 

„Ich werde nun meinen Zug durchführen“, erklärte Levrier und riss sein Gegenüber dabei aus den Gedanken. Er nahm behände eine Karte und legte sie auf die Duel Disk. „[Purgatory Hellhound]!“

Ein feuriges Loch tat sich inmitten des Spielfelds auf. Daraus hervor sprang eine mannshohe Bestie, die entfernt an einen Hund erinnerte. Schreckliche Fangzähne ragten aus seinem Maul und überall aus dem roten Fell des Biestes stachen schwarze Klingen hervor. Es brüllte ohrenbetäubend.

 

Purgatory Hellhound [ATK/1800 DEF/1000 (4)]

 

Die falsche Anya streckte den Arm aus. „Vernichte [Gem-Armadillo]!“

Kurzerhand sprintete das Ungetüm auf das schwebende Gürteltier zu und riss es mit nur einem Schlag seiner wuchtigen Pranke entzwei. Dabei wurde Anya von einem sengenden Wind aus Glut und Asche erfasst, was sie zum Husten brachte. Sie hielt sich schützend die Arme vor den Kopf, bis das Inferno vorbei war.

 

[Anya: 4000LP → 3900LP / Levrier: 4000LP]

 

„Das war ...“, murmelte sie und betrachtete die Asche und die vereinzelten Brandblasen an ihren Händen und Armen, die unangenehmerweise auch noch weh taten.

„Real? Gewiss, mein Kind. In einem Kampf um das Vorrecht eines Gefäßes wird – Wie sagen die Menschen? – mit harten Bandagen gekämpft. Es ist deine Seele, die hier Schaden nimmt.“ Levrier lächelte zufrieden. „Wie lange wohl wirst du den Qualen standhalten, ehe du dich ergibst? Jemand der so stur ist, stellt einen würdigen Gegner dar. Aber selbst die stärkste Seele kann auf Dauer nicht gegen mich bestehen.“

„Du laberst Bullshit“, fauchte Anya. Wollte dieser Kerl sie mit ein bisschen Hokuspokus beeindrucken? Wenn ja, lag er da aber so was von falsch!

„Wie du meinst. Vielleicht sprichst du eher diese Sprache?“ Er deutete auf seinen Höllenhund. Die Klingen auf seinem Rücken begannen rötlich zu leuchten. „Immer wenn [Purgatory Hellhound] angreift, erhöht sich sein Angriffswert anschließend um 400.“

 

Purgatory Hellhound [ATK/1800 → 2200 DEF/1000 (4)]

 

„Mist“, murmelte Anya und biss sich auf die Lippe. Das war gar nicht gut.

„Damit dieses Spiel auch nicht zu langweilig wird, setze ich eine Karte verdeckt. Nun denn, Anya Bauer, durchdenke deinen nächsten Zug gut.“ Wieder war da dieses wissende Lächeln von Levrier. Wie Anya es hasste, dass dieses Wesen ihren Körper für das Duell benutzte. Wäre er in Gestalt von Valerie Redfield gegen sie angetreten, wäre das alles viel amüsanter.

 

Es half aber nichts, sagte sie sich. Sie würde ihn auch so in der Pfeife rauchen.

Mit neuem Mut zog sie eine Karte von ihrem Deck und war positiv überrascht. Mit der würde sie sich zu verteidigen wissen. Und einen Weg, diese dumme Töle zurück ins Jenseits zu schicken, hatte sie auch schon gefunden.

„Ich beschwöre [Gem-Knight Garnet]!“, rief Anya und knallte das gelb-umrandete Monster auf ihre Duel Disk.

Aus einer Flamme vor ihr entstieg ein Ritter in bronzener Rüstung, der zwischen seinen Händen eine Feuerkugel entstehen ließ. Wie sein Name es gebot, strahle inmitten seiner Brust ein brauner Granat.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Schwungvoll streckte Anya den Arm aus. „Los [Garnet], einmal Drecksköter zum Mitnehmen!“

Sofort schoss der Ritter seine Flamme auf das Ungetüm. Levrier schwieg nur. Anya hatte eigentlich damit gerechnet, dass er einen dummen Spruch ablässt, warum sie denn ein stärkeres Monster angreife. Doch scheinbar war er einer der wenigen intelligenten Duellanten, die wussten, dass dahinter ein Plan steckte.

Und ebenjenen zückte sie nun von ihrem Blatt. „Wenn eines meiner normalen Monster mit dem Element Erde kämpft, kann ich die besondere Magie meines [Gem-Merchants] wirken lassen!“

Ein kleines Wesen mit Zauberhut und kegelförmigen Unterleib erschien hinter Anyas Ritter und verschwand in ihm. „Damit steigen Angriff und Verteidigung jenes Monsters für einen Zug lang um 1000!“

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 → 2900 DEF/0 → 1000 (4)]

 

Schlagartig wuchs die Flamme an und versengte den Höllenhund in einem gewaltigen Inferno. Nun war es an Levrier, einem feurigen Wind entgegen zu stehen. Dieser jedoch war sichtlich unbeeindruckt und schützte sich nicht einmal.

 

[Anya: 3900LP / Levrier: 4000LP → 3300LP]

 

Das hat gesessen, dachte Anya stolz. So stark, wie er, sie oder es sich gab, war Levrier auch wieder nicht. Noch ein, zwei Züge und sie hatte ihn zu Hackfleisch verarbeitet!

Mit siegesgewissem Lächeln nahm Anya die Karte, die sie diese Runde gezogen hatte und setze sie zu ihrer anderen Falle. Nun lagen vor ihr zwei verdeckte Karten. Daran würde dieser Kerl nie vorbeikommen!

„Ich aktiviere meine Fallenkarte“, hörte sie da Levrier plötzlich rufen. Er schwang seinen Arm über die vor ihm schwebende Karte, sodass sie aufsprang. „[Dominance]. Der Zug, in dem du eines meiner Monster zerstört hast, wird dir zum Verhängnis werden. So kann ich fortan eine deiner gesetzten Karten blockieren, bis ich sie in zwei Runden für meine Zwecke einsetzen kann. Und meine Wahl fällt auf die eben von dir ausgespielte Karte!“

Anya schreckte zurück, als glühend rote Ketten sich um die verdeckte Karte rechts von ihr schlangen.

Das konnte nicht wahr sein, dachte sie fassungslos. Die dort liegende Karte war [Negate Attack] und war eigentlich dazu gedacht gewesen, feindliche Angriffe abzufangen. Nun war sie nutzlos. Schlimmer noch: Levrier würde sie schon bald selbst einsetzen können.

„Pfff“, zischte sie. Dann würde sie ihn eben vernichten, bevor er sich an ihrer Falle vergreifen konnte! „Mein Zug ist beendet!“

 

Gem-Knight Garnet [ATK/2900 → 1900 DEF/1000 → 0 (4)]

 

Levrier zog, doch schenkte seiner neuen Karte keine Beachtung. Stattdessen sah er durch kalten, blauen Augen Anya in die ihren. „Du hast mich nach Eden gefragt, Anya Bauer. Was es ist.“

„Eigentlich interessiert es mich nicht die Bohne“, reagierte Anya schnippisch.

„Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich es nicht. Was ich aber weiß ist, dass Eden zu werden meine Bestimmung ist. Und wenn ich dazu deinen Geist brechen muss, werde ich das auch tun. Du tätest also besser daran, mir zu dienen. Tu es, bevor es zu spät ist!“ Plötzlich klang er sehr eindringlich. „Ich würde deiner Seele ungern irreparablen Schaden zufügen.“

Das Mädchen zuckte gelangweilt mit den Schultern. „ Ach wirklich … ? Du wiederholst dich. Das nervt.“

„Etwas anderes habe ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet. Aber gerade deshalb bist du das ideale Gefäß. Nun lass mich dir einen Grund liefern, mich wahrhaft zu fürchten.“

Das geheimnisvolle Wesen nahm eine Karte aus seinem Blatt und zeigte sie vor. „Komm herbei, [Life Devouring Succubus]!“

Grelles Gekicher erklang. Aus einer schwarzen Wolke über Levrier tauchte eine geflügelte Gestalt mit sechs Armen auf. Sie hatte das Haupt einer schönen, rothaarigen Frau, doch ihr Körper war der einer Schlange. Am Ende ihres Schweifs lauerte der Kopf einer riesigen Königskobra. Dieser schoss plötzlich in den Boden, mitten in das Mosaik und zertrümmerte halb Afrika, welches sich gerade zufällig auf Levriers Spielfeldseite befand.

„[Life Devouring Succubus] hat die Fähigkeit, sich einen gefallen Kameraden einzuverleiben. Dabei nährt sie sich von seiner Lebenskraft und gewinnt so an Stärke.“

Aus dem Loch zog die Kobra mit ihren starken Kiefer die Gebeine des Höllenhundes und verschluckte sie.

 

Life Devouring Succubus [ATK/500 → 2300 DEF/500 → 1500 (4)]

 

Anya verzog angeekelt das Gesicht. Dieses groteske Monster war ihr zuwider, zumal es stärker war als ihr eigenes.

„Vernichte [Gem-Knight Garnet]!“, befahl Levrier harsch.

Dessen Besitzerin musste einen Herzschlag später mitansehen, wie sich der Succubus hinter ihren Ritter teleportiert hatte und ihn mit ihren sechs Armen in Stücke riss. Dabei holte sie gleichzeitig mit ihrem Schweif weit aus und schlug Anya zu Boden.

 

[Anya: 3900LP → 3500LP / Levrier: 3300LP]

 

Stöhnend wollte sich das Mädchen gerade aufrichten, da erschien der Dämon plötzlich über ihr und leckte sich die vollen Lippen.

„Wenn [Life Devouring Succubus] einen Feind besiegt, fügt sie seinem Besitzer zusätzlichen Schaden von insgesamt 500 Lebenspunkten zu“, erklärte Levrier ungerührt.

Die Kobra schnappte zu und biss Anya in den Arm, welchen sie reflexartig zum Schutz erhoben hatte. Sofort brannte er fürchterlich und Blut tropfte auf das farbenfrohe Mosaik der Erde.

 

[Anya: 3500LP → 3000LP / Levrier: 3300LP]

 

Völlig irritiert betrachtete Anya die Wunde, ehe sie realisierte, was geschehen war. Dieser Mistkerl hatte soeben sein Todesurteil unterschrieben!

Wütend sprang sie auf und zeigte aufgebracht auf ihn: „Okay Freundchen, jetzt reicht's! Du willst Krieg? Den kannst du haben! Niemand, der auch nur eine winzige Hirnzelle hat, wagt es mich zu verletzten! Jetzt bist du fällig!“

Levrier zeigte sich von den Gebärden seiner Gegnerin jedoch nicht im Geringsten beeindruckt. Stattdessen zeigte er eine Schnellzauberkarte von seiner Hand vor, die er kurzerhand in seine Duel Disk schob. „Ich aktiviere jetzt [Order of H.I.M.]. Ein Unterweltler-Monster, das in diesem Zug bereits angegriffen hat und dabei über einen Angriffswert verfügt, der über seinem Ursprungswert liegt, kann erneut angreifen und verdoppelt dabei noch besagten Grundwert.“

 

Life Devouring Succubus [ATK/2300 → 2800 DEF/1500 (4)]

 

Der Blondine klappte die Kinnlade herab. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, umklammerte der Succubus das Mädchen mit seinem Schweif und zog sie zu sich hinauf. Anya wehrte sich nach Leibeskräften, doch dem eisernen Griff entkam sie nicht. Ihr ganzer Körper schmerzte.

Plötzlich sah sie in das Gesicht des Dämons, welcher zufrieden lächelte. Und dann gab er Anya mit einem seiner Arme eine Ohrfeige. Ein unangenehmes Rauschen schien ihren Kopf auszufüllen und einen Moment später wurde sie mit aller Kraft nach unten geworfen.

Hart prallte Anya auf der rechten Körperhälfte auf und hörte es knacken. Ein schrecklicher Schmerz machte sich in ihrer Schulter breit, so stark, dass sie Sterne tanzen sah. Auch bekam sie keine Luft mehr und hechelte wie ein sterbender Hund.

 

[Anya: 3000LP → 200LP / Levrier: 3300LP]

 

„Erkennst du nun, wie sinnlos dein Kampf ist, Anya Bauer?“, fragte Levrier kaltherzig.

Das Mädchen rappelte sich unter Schmerzen auf und presste eine Hand auf den Unterleib. Scheinbar hatte sie sich bei dem Fall ein paar Rippen gebrochen. Dem Schmerz nach zu urteilen womöglich auch das Schlüsselbein.

„... leck mich“, zischte sie.

„Immer noch so stur? Ich bin beeindruckt. Ist dieser Schmerz denn nicht genug, um dich zu brechen?“

„Nicht mal ansatzweise!“ Anya biss die Zähne zusammen. Vor lauter Schmerz konnte sie kaum denken. Aber das wäre ohnehin schlecht.

„Bedauerlich. Doch glücklicherweise habe ich meine Reserven noch nicht ausgeschöpft.“

Noch mehr, fragte sich das Mädchen erschrocken. Ihr Gegner hatte noch drei Karten auf der Hand. Mehr als genug, um ihr die letzten Lebenspunkte zu rauben. Würde ein weiterer Angriff folgen?

„[Life Devouring Succubus] hat einen letzten Effekt, den ich dir nicht vorenthalten möchte“, verkündete Levrier gebieterisch. „Ich kann eine Xyz-Beschwörung mit dem Monster durchführen, das als Kraftquelle für meine Kreatur dient. Da beide der Stufe 4 angehören, kann ich nun ein Rang 4 Xyz-Monster rufen. Ich erschaffe das Overlay Network!“

Aus dem Succubus schossen zwei violette Strahlen, die von einem bunten Wirbel innerhalb des Bodens verschluckt wurden. Daraus empor stieg ein Wesen, wie Anya es noch nie zuvor gesehen hatte.

Sechs verdorrte, knochige Flügel ließen es unendlich groß erscheinen. Der Schädel eines Ziegenbocks diente als Maske für jenes dämonische Wesen, das einen Stab in seinen Händen hielt, welcher aussah wie eine gewundene Schlange. Um ihn schwirrten zwei Lichtkugeln, die Xyz-Materialien.

„Dies ist [Six Winged Archfiend – Se'rim]“, erklärte Levrier.

 

Six Winged Archfiend – Se'rim [ATK/2600 DEF/1300 {4}]

 

„Was ist dieses Ding?“, schoss es Anya hervor. Dieses Monster erschien ihr wie eine Verkörperung des Leibhaftigen. Nein! Es war nur eine Karte, ein Hologramm. Wahrscheinlich ein sehr lebendiges Hologramm, musste sie sich insgeheim eingestehen.

„[Six Winged Archfiend – Se'rim] hat einen Effekt, der nur eingesetzt werden kann, wenn er nicht am Kampfgeschehen teilgenommen hat. Ich hänge ein Xyz-Material ab und ziehe eine Karte“, erklärte Levrier. Er entfernte den Succubus, welcher unter der schwarz-umrandeten Karte des Dämons lag und steckte ihn in den Friedhofsschacht. Eine der Kugeln verschwand hinter der Maske, aus welcher nun rote Augen aufleuchteten. Dann zog Levrier und hielt die Karte flach gen Boden, ohne sie anzusehen. „Wenn es sich hierbei um ein Monster handelt, erleidest du nun Schaden anhand seines Angriffswertes.“

Anya zuckte zusammen und sah auf ihre Duel Disk. Sie hatte nur 200 Lebenspunkte. Sollte er dort tatsächlich ein Monster haben, war das Spiel gelaufen!

Langsam, nahezu in Zeitlupe, hob Levrier seinen Arm und zeigte die Karte zwischen seinen Fingern hervor. Es war eine grüne Karte – ein Zauber. Anya atmete tief durch. Noch einmal Glück gehabt.

„Ich aktiviere den Effekt von [Six Winged Archfiend – Se'rim] erneut!“, rief die Anya-Kopie entschlossen.

„Was? Das geht zweimal in einem Zug!?“

Auch die zweite Lichtkugel verschwand nun hinter der Maske des Dämons. Wieder zog Levrier und betrachtete die Karte. Ein finsteres Lächeln umspielte plötzlich seine Lippen. Anya ahnte Böses. Dabei fragte sie sich, ob sie wohl auch so bösartig aussah, wenn sie andere fertig machte. Der Gedanke behagte ihr nicht.

Mit einem Ruck zeigte Levrier die Karte. Es war ein Effektmonster.

„Aber-!“

„Du siehst richtig. Ein Monster ohne Angriffspunkte. Es scheint, als wäre das Schicksal auf deiner Seite, Anya Bauer.“ Levrier sprach diese Worte mit einer Spur Anerkennung. „Ich fürchte, du hast deine Existenz um einen weiteren Zug verlängert. Doch sei dir im Klaren: dein Moment des Glücks ist nur von kurzer Dauer und wird bald vergehen.“

 

Doch das Mädchen betrachtete nur ihre zitternden Hände. Glück. Nur Glück hatte sie soeben vor der Niederlage bewahrt. Das war … unakzeptabel. So sollten Duelle nicht entschieden werden, auch wenn es diesmal zu ihrem Vorteil war. Sie ballte die Fäuste so fest zusammen, dass es schmerzte.

 

„Einen Zug!“, schrie sie plötzlich. „Mehr werde ich auch nicht brauchen! Draw!“

Das war ihre Chance, sagte sie sich. Levrier konnte ihre [Negate Attack] erst im nächsten Zug einsetzen, dann wäre sowieso alles verloren. Sie musste jetzt mit aller Härte zuschlagen und ihn vernichten, bevor er sie vernichtete.

Schwungvoll zog sie die alles entscheidende Karte und strahlte, als sie sie erblickte.

Der Boden erbebte, als der goldene Sarkophag daraus emporstieg und seinen Inhalt preisgab. Anya, die zwischenzeitlich ganz um ihren Zauber vergessen hatte, hielt nun [Gem-Knight Fusion] in den Händen, zusammen mit drei anderen Karten.

„Okay Freundchen, mach dich auf was gefasst!“, verkündete sie aufgebracht und zückte eine andere Zauberkarte aus ihrem Blatt. „[Silent Doom] beschwört ein normales Monster von meinem Friedhof in Verteidigungsposition!“

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Ihr Ritter erschien neben Anya und kniete nieder. Sie nahm jedoch schon die nächste Zauberkarte von ihrer Hand. „Und jetzt zeige ich dir mal, wie man das richtig macht! [Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich zwei meiner Ritter zu einem völlig neuen! [Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Sapphire], du die Rüstung! Vereint euch!“

Ein strahlender Wirbel entstand über Anya, etliche Juwelen verschiedenster Beschaffenheit und Farben tanzten im Einklang mit dem Strom, in den erst Garnet, dann der in einer blauen Rüstung gekleidete Sapphire gezogen wurden.

Aus dem Wirbel trat schließlich ein Ritter in bronzener Rüstung, der stark an Garnet erinnerte. Ein blauer Umhang wehte von seinen Schultern und er hielt nun eine Lanze in den Händen, die er bedrohlich auf Levrier richtete.

„Das ist es, [Gem-Knight Ruby]!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Bedauernswerte Kreatur“, kommentierte Levrier das Ganze unbeeindruckt. „Was wirst du tun, um ihr die nötige Stärke zu verleihen, die sie braucht, um die meine zu bezwingen?“

„Schau genau her, Mistkerl! Ich beschwöre jetzt [Gem-Knight Alexandrite] als meine reguläre Beschwörung!“

Ein Ritter in silberner Rüstung, geschmückt mit vielen verschiedenen Edelsteinen an den Gelenken, tauchte neben Ruby auf.

 

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Aber er ist nicht hier um zu bleiben! Ich opfere ihn für seinen eigenen Effekt und beschwöre einen seiner effektlosen Kameraden vom Deck! So wie [Gem-Knight Crystal]!“

Alexandrite verschwand in einer Lichtsäule. Aus dieser trat ein noch viel anmutigerer Ritter in weißer Rüstung. Viele farblose Kristalle schmückten sein Erscheinungsbild. Stolz stemmte er die Hände in die Hüften und stellte sich neben Ruby.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Ein weiterer Schwächling. Ist das deine Antwort, Anya Bauer? Willst du auf diese Weise überleben?“

Dieser Levrier hatte keine Ahnung, dachte die Blondine zufrieden. Zwar hatte sie all ihre Handkarten aufgebraucht, aber der Weg war geebnet. Der Trottel hatte nicht einmal verdeckte Fallen auf seiner Spielfeldseite liegen, sodass sie sich keine Gedanken machen musste, einen Angriff zu starten. Und das würde sie jetzt!

„Ich benutze Rubys einzigartigen Effekt und biete Crystal als Opfer an. Dadurch erhält Ruby jeden Angriffspunkt, den Crystal besitzt! Du denkst, dein Monster ist stark? Sieh dir mal meins an!“

Der weiße Ritter vor Anya löste sich in strahlenden Lichtfunken auf, die von Rubys Lanze absorbiert wurden. Plötzlich erstrahlte um jene eine weiße, glühende Aura, die selbst die Dunkelheit um sie herum zu erhellen vermochte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4950 DEF/1300 (6)]

 

„Das ist genug, um deinem Mistvieh ordentlich einzuheizen! Los, Ruby, zeig es ihm! Sparkling Lance Thrust! Vernichte diesen Dreckskerl!“

Ihr Ritter wirbelte die Lanze über seinem Kopf und schoss anschließend wie ein Pfeil durch die Luft auf den geflügelten Dämon zu. Mit einem gezielten Stich schaffte er ein gewaltiges Loch in der Brust des Ungetüms. Es begann, sich von innen heraus aufzulösen.

Levrier jedoch zog nur eine von Anyas Augenbrauen hoch, ehe er von einer Schockwelle erfasst wurde. Trotz der gewaltigen Kraft der Explosion seines Monsters blieb er standhaft, rührte sich nicht einen Millimeter vom Fleck.

 

[Anya: 200LP / Levrier: 3300LP → 950LP]

 

„Wie es scheint, war dein Angriff nicht ausreichend, um mich – wie sagtest du? – zu vernichten.“

Anya biss die Zähne zusammen. Sie hatte sich tatsächlich verrechnet! Wie hatte ihr so ein Fehler unterlaufen können!? Wenn sie doch nur-

In diesem Moment jedoch hatte sie einen Geistesblitz. Sie starrte auf ihre Duel Disk und erkannte, dass neben [Negate Attack] noch die Falle steckte, die sie in ihrem ersten Zug ausgespielt hatte. Ihr Ticket zum Sieg!

„Verdeckte Falle!“, rief sie voller Inbrunst. „[Gem-Enhancement]!“

Die vor Anya liegende, linke Karte sprang auf. Sie zeigte Ruby in einer Pose, wobei aus den Rubinen an seiner Rüstung grelles Licht strahlte. Und genau das geschah jetzt auch mit dem Ritter, der für Anya einstand.

„Ich biete einen meiner Gem-Knights als Opfer an, damit einer seiner Freunde vom Friedhof wiederauferstehen kann! Ruby, überlass jetzt Crystal das Feld!“

Die Rüstung von Anyas Monster platzte auf und gab den weißen Ritter zum Vorschein, der sich zuvor für seinen Kameraden geopfert hatte.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

Levrier lächelte nun geheimnisvoll. „Ich verstehe. Dein Deck ist wahrhaft ein besonderes. Deine Krieger gehen Bündnisse ein, sind bereit, für ihre Freunde ihr Leben zu geben. Sie gehen Hand in Hand miteinander. Warum besitzt jemand wie du solch mächtige Karten?“

Seine Worte trafen Anya wie ein Schlag. Es klang, als hätte sie die Gem-Knights nicht verdient.

„Seit wann bestimmst du, wer welches Deck spielen darf?“, rief sie wütend. „Du hast genug Unsinn gelabert, ich habe die Schnauze voll! Los Crystal, beende diesen Dreck! Clear Punishment!“

Ihr Ritter rammte seine Faust daraufhin in den Boden und spaltete damit das Mosaik. Wie eine Schlange schnellte eine Schneise der Zerstörung auf Levrier zu. Dutzende Kristallspitzen ragten dabei aus dem Boden und als sie Levrier erreichten, sagte jener: „Du bleibst also dabei, Anya Bauer? Doch sei dir gewiss, auch wenn du mich heute geschlagen hast, ist Edens Ankunft unausweichlich.“

Mit diesen Worten schossen die Spitzen unter ihm hervor. Es zersplitterte dabei wie ein Spiegelbild, dessen Scherben in alle Winde verstreut wurden.

 

[Anya: 200LP / Levrier: 950LP → 0LP]

 

Anya atmete tief durch, ihre Brust schmerzte. Die Hologramme verschwanden, genau wie die Duel Disk an ihrem Arm. Der Albtraum war endlich vorüber. Und kaum hatte Anya diesen Gedanken gefasst, zersplitterte ohne Vorwarnung das Mosaik unter ihren Füßen. Sie fing an zu fallen. Die Schreie in ihrer Kehle gingen in der endlosen Finsternis unter. So schloss sie die Augen und hoffte, dass sie den Fall überleben würde.

 

~-~-~

 

„Sie kommt zu sich“, hörte Anya eine ferne Stimme sagen. Ihre Lider waren schwer, doch langsam konnte sie sie anheben. Sie starrte in grelles Licht, alles war ein wenig verschwommen.

„Lass das!“, war da wieder diese Stimme. Anya kannte sie gut. Abby!

Und sie fühlte etwas. Es kam von ihrem rechten Ohr. Als würde …

Anya neigte den Kopf leicht zur Seite und sah einen Arm. Die dazugehörige Hand hatte schon fast unheimlich lange Finger, von denen einer direkt in ihrem Ohr steckte und sich drehte. Sofort schreckte sie auf.

„Nick?“, murmelte sie und langte anschließend voller Entsetzen zu. Die Backpfeife saß und der hochgewachsene junge Mann hielt sich mit jammernder Mimik die Wange.

„Hi Anya“, gluckste er.

„Was soll das!?“, fauchte sie ihn an. „Wieso steckst du mir deinen ekligen Finger ins Ohr, du Idiot?“

„Dachte, du wachst dadurch schneller auf.“ Er kratzte sich am Kopf, dessen braunes Haar zerzauster nicht hätte sein können. Dann steckte er die Hände in die Hosentasche und grinste verschlagen. „Na, hast wohl von mir geträumt?“

„Nie im Leben, als ob! Wo bin ich überhaupt?“, fragte Anya mürrisch und sah sich um.

 

Neben ihr auf beiden Seiten stand eine Art tragbarer Vorhang aus kraftlosem Grün. Anya musste nicht mehr sehen, um zu wissen, wo sie war. Auf der Krankenstation der Livington High. Ihr Brustschutz und der andere Kram lagen in einer Ecke, sie trug nur das Trikot ihrer Mannschaft und eine weiße Hose.

Abby trat zwischen die beiden Zankenden. Sie machte einen sehr mitgenommenen Eindruck, denn ihre Haare wirken noch zerzauster als sonst, sie war blass wie eine Kalkwand und das Stirnband war verrutscht. „Wir haben uns echt Sorgen um dich gemacht. Du bist einfach umgekippt und es war gar nicht so leicht, dich hierher zu bringen.“

„Wieso, was ist passiert?“

Ihre Freundin seufzte. „Auch auf der Zuschauertribüne haben die angefangen, sich zu schlagen. Egal was ich gesagt habe, ich konnte sie nicht besänftigen. Es war … schrecklich.“

„Abby und ich haben dich hierher gebracht“, sagte Nick und grinste, „dabei durfte ich sogar gegen ein paar Knirpse antreten, die aufmüpfig wurden.“

Anya verzog skeptisch das Gesicht. „Und, was hast du gemacht? Sie unangespitzt in den Boden gerammt?“

„Bin weggelaufen. Waren zu viele. Drei um genau zu sein.“ Er hielt ihr seine Hand vors Gesicht, doch statt dreien, zeigte er vier Finger. Sofort erntete er lautes Gestöhne von der Blondine, die sich die Hand vor den Kopf schlug.

„Das ist nicht witzig, Nick“, beschwerte sich Abby und deutete zu einem der Vorhänge. „Wir können froh sein, für Anya noch ein Bett bekommen zu haben. Die Krankenstation ist hoffnungslos überfüllt. Es gibt mindestens zwanzig Verletzte. Coach Bergmann und ein paar andere mussten sogar umgehend ins Krankenhaus eingeliefert werden.“

 

Anya sprang von ihrer Liege auf und musste von Nick gehalten werden, da sie sonst umgekippt wäre. Eine starke Benommenheit ergriff Besitz von ihr, doch sie drängte sich an ihm vorbei und verließ ihre Nische.

Und was sie sah, traf sogar sie schwer. Überall waren verletzte Schüler. Manche lehnten an den Wänden und hielten sich bestimmte Körperteile und -regionen, andere lagen auf Tragen auf dem Boden und wurden von den Krankenschwestern behandelt. Es war kaum Platz zum Gehen, so viele Leute teilten sich hier den begrenzten Raum. Die Ärztin, Doctor Warren, huschte von einer Person zur nächsten und schien gar nicht zu wissen, wo sie anfangen sollte, die Wunden zu behandeln.
 

„Also das ist selbst mir eine Spur zu krass“, kommentierte Anya das 'Schlachtfeld' beeindruckt. „Alter Falter.“

Abby gesellte sich neben sie und legte ihre Hand auf Anyas Schulter. „Wenn es nur das wäre. Aber du hast geschrien, als du bewusstlos warst. Selbst Doctor Warren hat es nicht geschafft, dich zu wecken und wollte dich schon von den Sanitätern abholen lassen. Was war los mit dir, hattest du einen Albtraum?“

Nick stellte sich ebenfalls zu ihnen. „Ich sag doch, sie hat von mir geträumt, hehe.“

„Wenn ich wirklich geschrien habe, dann kann das durchaus sein“, brummte Anya und warf ihrem Freund einen giftigen Blick zu.
 

Doch ihr ging der Albtraum nicht aus dem Kopf. Levrier … gab es ihn wirklich? Hatte er die Massenschlägerei ausgelöst? Nein, das konnte nicht sein! Es gab keine übernatürlichen Lebewesen, das war ausgemachter Schwachsinn!

„Was hast du denn nun geträumt?“, fragte Abby neugierig.

„Wie ich diesem Miststück Valerie Redfield die eigenen Gedärme in den Hals stecke.“ Mit diesen Worten stampfte sie ziellos von dannen.

„Ich mag es nicht, wenn du so redest“, rief ihre Freundin ihr noch hinterher, daran zweifelnd, dass Anya ihr die Wahrheit gesagt hatte. Doch jene war längst außer Hörweite. Zumindest innerlich.

 

 

Turn 02 – Wicked Games

Nach der Schlägerei in der Eissporthalle ist wieder Ruhe an der Livington High eingekehrt. Zumindest fast, denn seit jenen Vorfällen scheint Marc Butcher, Anyas Schwarm, ihre Erzrivalin Valerie auf Schritt und Tritt zu begleiten. Anya, die vor Eifersucht kurz davor steht, gewalttätig zu werden, fordert Valerie in ihrem Wahn schließlich zu einem Duell heraus. Mit Leichtigkeit schafft Valerie es, Anya dank [Evigishki Soul Ogre] an die Wand zu spielen. Doch mitten im Duell geschieht etwas Seltsames …

Turn 02 - Wicked Games

Turn 02 – Wicked Games

 

 

Sohn von William Ford - Noch immer vermisst

Weiterhin gibt es keine Hinweise um den Verbleib von Benjamin Ford, dem jüngsten Sohn des Vorsitzenden der Abraham Ford Company, William Ford. Ein Sprecher der Abraham Ford Company, die für den Vertrieb der Duel Monsters-Karten in den Vereinigten Staaten verantwortlich ist, hat am gestrigen Nachmittag bei einer Pressemitteilung verlauten lassen, dass alle bisherigen Ermittlungen rund um den mittlerweile seit über einem Monat vermissten Benjamin Ford ergebnislos waren. Experten gehen nun davon aus, dass der junge Mann nicht mehr am Leben ist. Eine Entführung ist unwahrscheinlich, da sich seit seinem Verschwinden kein Erpresser bei der Familie gemeldet hat. Ferner …

 

„Was für 'ne Scheiße“, schnaubte Anya und warf die Zeitung auf den Tisch. Demonstrativ biss sie in ihr Toastbrot und runzelte die Stirn. Wen zur Hölle interessierte es, wenn irgendeine reiche Rotzgöre verschwunden war? Deshalb las sie sonst nie Zeitung.

 

„Stimmt etwas nicht, Liebes?“, fragte ihre Mutter mit einem Hauch von Sorge.

Sie hatte ihre Tochter bis vor ein paar Tagen noch nie dabei beobachtet, wie sich aus freien Stücken für das Weltgeschehen interessierte. Seit Tagen verhielt das Mädchen sich nun schon äußerst ungewöhnlich. Wer Anya nicht gut kannte, würde es nie bemerken, doch als Mutter wusste Sheryl, dass etwas vorgefallen sein musste.

Anya hatte sich noch weiter zurückgezogen als sonst und schien krampfhaft nach etwas zu suchen. Sie hing dauernd vor dem Computer und las regelmäßig Zeitung. Ob das mit dem Vorfall an ihrer Schule in Verbindung stand? Sheryl seufzte.

Eine Antwort ihrer Tochter blieb aus. Stattdessen wischte die sich mit dem Handrücken über den Mund und schulterte ihren Rucksack, der an einem der Beine des runden Esstisches lehnte.

„Ich gehe jetzt. Bis später, Mum“, grunzte sie schlecht gelaunt.

„Bis später.“ Sie sah dem blonden Mädchen hinterher, als es durch die Küche schritt. Nachdem die Tür lautstark ins Schloss gefallen war, wusste Sheryl, dass Anyas Suche weiterhin keine Erfolge vorzuweisen hatte.

 

Anya indes stampfte wütend über den Rasen ihres Grundstücks, öffnete das Gartentor und pfefferte es mit einem gezielten Tritt ihrer Schuhsohle im Weggehen wieder zu.

Sie passierte viele solcher beschaulichen Grundstücke. Kitschig, das waren sie. Der typische amerikanische Vorort, perfekt, gepflegt, grässlich anzusehen. Wo waren der Schmutz, die Ecken, die Kanten? Hier standen gelbe, grüne, rote und rosafarbene Gebäude, die eher an Puppenhäuser denn echte Häuser mit lebenden Menschen erinnerten. Anya hasste Livington, sein Spießertum.
 

Und sie hasste es, wenn ihre Anstrengungen vergebens waren. In der beknackten Stadtzeitung verloren sie kein Wort über gewisse unheimliche Vorfälle. Die Massenprügelei in der Eissporthalle war zwar am Folgetag die Schlagzeile schlechthin gewesen, doch über irgendwelche Geisterwesen, die Schwachsinn laberten, verloren die Medien kein Wort. Im Grunde war das nicht weiter verwunderlich, aber Anya wollte sich nicht so recht damit anfreunden.

Natürlich war es ein Indiz dafür, dass sie alles nur geträumt hatte, was mit Levrier zusammenhing. Doch andererseits würde es auch bedeuten, dass in ihrem Oberstübchen ein paar Zahnräder nicht geölt waren. DAS war noch viel schlimmer. Und das Internet war auch keine Hilfe gewesen, es gab keine hilfreichen Einträge unter „Levrier“ bei allen gängigen Suchmaschinen.

Alles war scheiße!

 

Sie hielt schließlich frustriert vor einem zweistöckigen, gelben Haus. Am Briefkasten stand der Name Harper – Nicks Familienname.

Wie üblich war von ihrem Freund weit und breit keine Spur. Als ob er jemals schon fertig gewesen wäre, wenn sie ihn abholen kam. Wahrscheinlich schlief er noch, wie immer. Anya schritt über das zaunlose Grundstück und klingelte an der Tür. Keine zwei Sekunden später öffnete Nicks schrullige Mutter die Tür, als hätte sie bereits sehnsüchtig auf das Mädchen gewartet.

„Anya“, strahlte sie mit schiefem Grinsen. „Guten Morgen. Komm doch rein. Nick schläft noch.“

Sie machte eine einladende Geste.

„Morgen, Mrs. H“, antwortete Anya und trat in den Flur ein. Sie wollte bloß schnell weg von dieser Frau, die sich seither in den Kopf gesetzt hatte, ihren Sohn Nick um jeden Preis unter die Haube zu bringen. Und Anya hatte sie als Braut – sprich: Opfer – auserkoren.

 

So begleitete Mrs. Harper Anya, als sie die Treppen hinauf stieg und hielt sich dabei so dicht hinter dem Mädchen, dass dieses ihren Atem im Nacken spürte.

„Sie … können ruhig gehen, Mrs. H. Ich finde den Weg zu Nicks Zimmer schon … seit Jahren“, kommentierte Anya das in einer Mischung aus Trotz und Misstrauen.

„Oh? Natürlich“, antwortete die kleine, hagere Frau mit den kurzen, braunen Locken enttäuscht. Ihr Gesicht erinnerte mit der spitzen Nase entfernt an einen Adler und Anya wusste, dass sich hinter der netten Fassade ein Raubtier schlimmster Sorte versteckte. „Möchtest du vielleicht einen Muffin? Ich habe vorhin welche gebacken. Du könntest sie mit Nick essen.“

„Nein danke, ich habe schon gefrühstückt.“ Auch wenn es sicherlich interessant gewesen wäre zu sehen, wie viele Muffins man auf einmal in Nicks Mund gezwängt werden konnten.

„Schade. Na dann, wecke doch bitte Nick. Und sei sanft.“ Sie zwinkerte verschwörerisch und machte auf den Stufen Kehrt.

 

Anya schüttelte den Kopf. Die alte Krähe wollte sie doch nur mit Nick zusammenbringen, damit der endlich auszog. Mrs. Harper wollte aus seinem Zimmer nämlich eine Nähstube machen. Obwohl man sie nie nähen sah! Nicks Familie war einfach verrückt, denn irgendwoher musste er seine Macken schließlich haben. Die einzige normale Person in diesem Haushalt war sein Vater, der Allgemeinmediziner war. Aber den bekam man selten zu Gesicht.

Auch egal, sagte sie sich. Wenn die Alte es übertreiben sollte, würde sie Anya von ihrer Schokoladenseite kennenlernen. Und die hieß nicht umsonst Mord und Totschlag.

 

Die Blondine nahm die letzten Stufen und trat vor Nicks Schlafzimmertür. Sie sollte sanft sein? Kein Problem! Mit einem Tritt stand die Tür offen.

„Nick“, brüllte Anya, dass man sie noch bis draußen hören konnte. Ihr Freund, welcher in seinem Bett mit Bugs Bunny-Bettwäsche auf dem Bauch lag und schnarche, rührte sich nicht. „Aufstehen! Wir müssen los!“

„W-was?“, murmelte Nick verschlafen und hob den Kopf an. „Oh? Xena kommt mich in meinem Traum besuchen …“

„Nix mit Xena“, erwiderte Anya aufgebracht und bahnte sich ihren Weg durch die Klamottenberge, die überall im Zimmer verteilt lagen. Bei Nick angelangt, packte sie ihm am Schopf und riss seinen Kopf hoch, damit er ihr direkt in die Augen sehen konnte.

„Hi Anya“, grinste er.

„Du Schwachkopf, wir kommen zu spät! Mach dich fertig, damit wir los können!“

„Noch fünf Minuten, Mutti …“ Er sackte weg.

Schon drückte eine erzürnte Anya seinen Kopf so tief ins Kissen, dass er zu zappeln begann.

„Ich krieg' keine Luft mehr!“, kam es dumpf unter dem Kissen hervor. „Ich will nicht durch ersticken sterben, das tut doch weh!“

Anya verzog mürrisch das Gesicht. „Mir doch egal. Als ob bei dir viel kaputt gehen kann.“

Schließlich ließ sie ihn los, da ihr die Lust vergangen war, Nick zu quälen. Selbst das konnte ihre Laune nicht heben.

 

~-~-~

 

Abby und Nick unterhielten sich, während Anya lustlos hinter ihnen her schlenderte. Sie hatten den großen Campus ihrer Schule erreicht und steuerten direkt auf ein mehrstöckiges Gebäude aus Backstein zu. Gleich würde der Horror beginnen, wenn Mr. Stantler sie wieder mit seinen Vorträgen über den Ersten Weltkrieg nervte. Wen interessierte schon Geschichte?

„Ich bin ja schon so gespannt, wie es weitergeht. Die Lage in Deutschland ist ja nun aussichtslos und der Versailler Vertrag klingt nicht gerade aufbauend …“

Anya stöhnte genervt. Abby interessierte es.

„Deutschland? Ist das nicht einer unserer Bundesstaaten?“, fragte Nick glucksend.

Und Nick war zu doof, um den Unterricht folgen zu können. Anya biss sich auf die Lippe. Warum hatte ausgerechnet sie solche uncoolen Langweiler als Freunde?

Eine fiese Stimme namens Gewissen flüsterte leise zu ihr: weil sie die einzigen Leute sind, die sich freiwillig mit dir abgeben.

Anya verzog das Gesicht. Deshalb dachte sie nie über irgendetwas nach. Es war einfach nur frustrierend!

 

Ihr Blick streifte über den Schulhof. Rechts von ihr ragte das vierstöckige, weiße Gebäude der Unterstufe aus dem Boden. Vor dem großen Haupteingang tummelten sich verschiedene Cliquen, die ausgelassen miteinander tratschten und lachten. Anya rümpfte die Nase. Sie hatte nie bei irgendwelchen Leuten gestanden und über alles Mögliche palavert. So etwas hatte sie nie nötig gehabt!

Trotzig schweifte sie nach links ab, wo die Turnhalle stand. Dahinter lag die Eissporthalle, die seit dem schrecklichen Vorfall geschlossen war.
 

„Unheimlich, oder?“ Abby hatte sich neben sie gesellt und spielte nervös mit einer Strähne ihres braunen Haares. Heute trug sie ein rotes Stirnband und ein graues Kleid – vom Nahen sah es noch schrecklicher aus als sowieso schon, besonders weil es an einigen Stellen geflickt war.

„Weiß nicht, was du meinst“, brummte Anya.

„Sie sagen, dass Coach Bergmann im Koma liegt, schweres SHT.“

„Red gefälligst in einer Sprache, die ich auch verstehe!“

Abby entschuldigte sich, denn sie hätte wissen müssen, dass Anya selbst mit den gängigsten Abkürzungen nicht zurecht kam. „Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Aber niemand weiß etwas Genaues. Fast alle, die aktiv an der Schlägerei beteiligt waren, sind von den jeweiligen Schulen vorübergehend suspendiert worden und werden womöglich bald vor Gericht stehen. Einige von denen sind allerdings in der Irrenanstalt, weil sie Dinge sehen.“

„Irrenanstalt?“, fragte Anya verwirrt und drehte sich zu Abby. „Doch nicht etwa Victim's Sanctuary?“

Das war der Name, den die Bewohner von Livington der psychiatrischen Anstalt auf dem Hügel am Waldrand gegeben hatten. Viele fanden diesen Ort sehr unheimlich, doch nicht so Anya. Sie hatte schon zweimal vor dem hohen Stacheldrahtzaun gecampt und nie war etwas Aufregendes geschehen.

„Genau dort. Erinnerst du dich an Jonathan?“

„Dieser Depp aus dem Englisch-Kurs?“

 

Anya hatte ihn nie leiden können – gut, sie konnte 99,9% der Weltbevölkerung nicht leiden – doch Jonathan war ein besonders fieses Ekelpakt. Er verprügelte die Unterstufler ohne Grund. Anya hingegen tat das nur, sobald sie frech wurden oder ihre Kohle nicht herausrücken wollten, wenn sie selbst wieder einmal pleite war.

Als Jonathan eines Tages aber Abby gegenüber einen Tick zu aufdringlich geworden war, war es bei Anya vorbei gewesen. Sie wäre damals fast der Schule verwiesen worden, weil sie ihn krankenhausreif geprügelt hatte. Dabei hatte er noch Freunde um sich gehabt, die sie erst aus dem Weg räumen musste! Alles Memmen waren das gewesen, sagte sie sich mit grimmiger Zufriedenheit, während sie deren wohlklingende Schmerzensschreie noch genau im Ohr hatte.

 

„Was ist mit dem?“, fragte die Blondine scharf. „Ist er krepiert? Hab ich'n Grund zum Feiern?“

„Nein. Red' nicht so schlecht über andere Menschen. Man wünscht niemandem den Tod.“ Abby verzog schmollend den Mund. „Es gehen Gerüchte um, in denen er behauptet, immer wieder Stimmen zu hören, die ihm sagen, dass er irgendjemand Bestimmtes töten soll. Wer das sein soll sagt er niemandem. Aber Jonathan ist nicht der Einzige, der solche Dinge hört. Allein aus unserer Stufe sind acht Leute in Victim's Sanctuary untergebracht. Und es werden mehr. Auch Leute, die neulich nicht einmal in der Halle waren, hören oder sehen plötzlich etwas, was nicht da ist.“

„Hehe, ich sehe auch manchmal Dinge, die nicht da sind. Wenn ich Fernsehen gucke zum Beispiel.“ Nick grinste die beiden Mädchen schief an.

„Pfff, was auch immer. Mir doch egal, was mit diesen Napfsülzen ist.“ Anya verschränkte demonstrativ die Arme. „Geht mich gar nix an.“

„Was Nick wohl sagen möchte ist, dass es dafür bestimmt eine logische Erklärung gibt.“

„Möchte ich das sagen?“, fragte Nick aufrichtig verwirrt und kratzte sich an seinem strubbeligen Kopf.

„Trotzdem ist es unheimlich“, meinte Abby und legte ihre Hände auf die Oberarme, als würde sie frieren. „Fast so, als wären Dämonen unter uns. Ich hab viel über sie gele-“

„Wenn du meinst …“, erwiderte Anya gelangweilt und wandte sich von den Sporthallen wieder dem Backsteingebäude zu. Und vor dessen Türen entdeckte sie kurz darauf genau die zwei Personen, die sie niemals im Leben in einem Abstand von unter hundert Metern zusammen sehen wollte. Valerie und Marc. Die redeten. Lachten. Sich in die Augen sahen. Und umarmten.

 

„Oh oh.“ Abby ahnte, dass eine Katastrophe im Anmarsch war.

Anya blies Luft durch ihre Nase wie ein wütender Stier. Dann stampfte sie auf die beiden zu. Abby hatte Probleme, ihrer Freundin bei dem immer schneller werdenden Tempo zu folgen und musste ausweichen, als Anya eine Mitschülerin in ihren Weg schubste, weil die nicht rechtzeitig ausgewichen war.

„Muss … töten …“, brachte sie dabei mit unmenschlicher Stimme hervor.

„Anya, wir leben in Zeiten von Verständnis und Fürsorge. Alles kann mit einem guten Gespräch gelöst werden“, rief Abby ihr unbeholfen hinterher.

 

Doch bevor Anya die beiden erreicht hatte, verabschiedeten sich Marc und Valerie und gingen getrennte Wege. Marc hatte nämlich Football-Training, eines der Privilegien der Spieler, die dadurch den ach so wichtigen Geschichtsunterricht verpassten.

Valerie hingegen nahm ebenfalls am Geschichtskurs teil und wollte gerade ins Gebäude eintreten, als sie Anya, Nick und Abby entdeckte. Strahlend winkte sie die Drei zu sich herüber.

„Hey!“, trällerte sie mit langgezogener Stimme.

„Schnauze, Redfield!“, herrschte Anya das Mädchen an, als sie ihm schließlich gegenüber stand.

 

Valerie war eine ausgemachte Schönheit. Ihr seidiges, schwarzes Haar hing ihr bis zur Hüfte hinab. Braune Rehaugen schmückten das zierliche, kantenlose Gesicht. Unnötig zu erwähnen, dass ihre Figur jedem Mann feuchte Träume bescherte, denn alles saß genau da, wo es hingehörte. In den richtigen Mengen selbstverständlich. Dazu trug sie noch sündhaft teure Markenkleidung, heute zum Beispiel eine weiße Bluse und Hose, alles finanziert von ihrem Vater, dem Bürgermeister von Livington. Kurz: sie war Anyas Version des Teufels.

„Sei doch nicht immer so unfreundlich“, beschwerte sich Valerie, „ich habe dir doch gar nichts getan.“

„Sie ist heute etwas schlecht gelaunt“, entschuldigte Abby ein sich wenig heiser sich im Vorbeigehen. Es war kein Geheimnis, dass sie Valerie bewunderte – was nur noch ein Grund für Anya war, dieses Mädchen abgrundtief zu hassen.

„Aber sie ist immer schlecht gelaunt“, klang Valerie aufrichtig besorgt. „Vielleicht sollte sie mal eine Stresstherapie anfangen? Nicht, dass sie unter dem ganzen Druck noch zusammenbricht. Die Schule ist hart geworden, wir sind schließlich der Abschlussjahrgang.“

Anya wirbelte herum. „Du brauchst gleich 'ne Therapie, Redfield! Ne Schmerztherapie!“

Die zuckte verwirrt mit den Schultern. „Ich meine es doch nur gut. Du bist manchmal wirklich unausstehlich, weißt du das?“

Mit diesen Worten stolzierte sie an den Dreien vorbei und war kurz darauf in einem der Gänge des Schulgebäudes verschwunden.
 

Insgeheim dachte Abby, dass Anya vermutlich gar nicht mitbekam, wie sie auf die Menschen um sie herum wirkte. Sie seufzte und folgte ihren Freunden schließlich, als diese zum Klassenraum wollten.

 

~-~-~

 

Anyas Laune hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil, sie war eine tickende Zeitbombe die nur darauf wartete, hochgehen zu dürfen.

Sie, Nick und Abby saßen an ihrem Stammtisch draußen vor der Kantine und aßen ihr Mittagessen unter dem klaren, blauen Himmel. Nur hatte Anya keine Augen für die Schönheit des Spätsommers, sondern für die zwei Personen, die zusammen derart gemischte Gefühle in ihr verursachten, dass sie davon Magenkrämpfe bekam.

Valerie und Marc aßen zusammen am selben Tisch, keine zehn Meter von ihnen entfernt.

„Das hat er noch nie gemacht“, wiederholte Anya sich zum vermutlich fünfzigsten Mal. „Der hat noch nie mit ihr zu Mittag gegessen. Und wie er sie ansieht! Er ist so umwerfend …“
 

Marc war ein hochgewachsener, junger Mann mit kurzem, dunklem Haar und einem Kinnbart. Sein Gesicht hatte etwas natürlich Freundliches, was teilweise am noch leicht vorhandenen Babyspeck lag. Dennoch war er sehr durchtrainiert, wenn auch nicht so breit gebaut wie die anderen Footballspieler seines Teams. Zudem hatte er wunderschöne braune Augen und ein Lächeln, für das Anya im wahrsten Sinne des Wortes töten würde.

 

„Das ist nicht fair! Wieso die und nicht ich!?“

Abby seufzte. Seit Marc vor etwa einem Jahr nach Livington gezogen war, kannte Anya kaum noch ein anderes Thema. Vor ihm hatte sie vermutlich nicht einmal um Valeries Existenz gewusst und nun tat sie so, als wäre sie der Ursprung alles Bösen. Aber dass Anya sich in Marc verguckt hatte, stimmte Abby zumindest positiv in der Hinsicht, dass ihre Freundin tatsächlich zu Emotionen imstande war, die nicht Wut, Hass oder Neid hießen.

Das brünette Mädchen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil du noch nie mit ihm geredet hast?“

„Doch, einmal. Am 8. März diesen Jahres gegen elf, da hat er mich gefragt, ob er bei mir Mathe abschreiben kann.“

„Kein Wunder, dass er seitdem nicht mehr mit dir redet“, gluckste Nick.

Anya musste nur die Faust hochheben, da schreckte der junge Mann so zurück, dass er samt seinem Stuhl umkippte. Doch keiner der Schüler um sie herum lachte, denn sie wussten, dass sie auch dort liegen würden, wenn sie Anyas Freunde verspotteten.

„Ha-da-haaa-da da da da!“ Anya zeigte plötzlich mit zitterndem Arm auf Marc und Valerie. Letztere beugte sich plötzlich in eindeutiger Pose über den Tisch und kam mit ihrem Gesicht dem von Marc näher. Anya schrie: „Die will ihn küssen! Was soll ich tun, was soll ich tun!?“

Hilflos wandte sie sich an ihre Freunde.

„Mach mit“, riet Nick ihr und zwinkerte mit beiden Augenbrauen, dreckig grinsend.

„Tu, was du immer tust“, meinte Abby mit resignierendem Tonfall. Das Unglück war ja doch nicht aufzuhalten.

Aber es war schon zu spät. Valerie hatte … Marc einen Krümel aus dem Bart gezogen.

„Das wird sie mir büßen!“, fauchte Anya aufgebracht und sprang von ihrem Stuhl auf.

 

Mit angespannten Oberkörper stampfte sie in bester Rambo-Manier auf den Tisch der beiden zu und baute sich bedrohlich vor Valerie auf.

Die bemerkte Anya erst, als Marc sie mit einer Handbewegung auf die Blondine hinwies. Neugierig drehte Valerie sich um und lächelte erfreut. „Oh, Anya, schön dich zu sehen. Wir haben gerade über dich gesprochen. Willst-“

„Du lästerst also über mich, was Redfield?“

„Ne-nein.“ Valerie hob entschuldigend die Hände. „Ich wollte nur-“

„Du und ich, Frau gegen Frau, keine Messer, Baseballschläger oder anderen Gegenstände, die sich als Waffen qualifizieren. Nur unsere Fäuste!“

Valerie stand nun vorsichtig auf. „Anya, bitte, ich wollte dich nicht verärgern. Wir haben nur gerade darüber geredet, dass du nicht mehr Reservespielerin sein musst – falls wir dieses Jahr noch spielen. Eishockey, verstehst du?“

„Mir doch egal!“, fauchte Anya und spuckte ihr Gegenüber dabei mehr oder weniger versehentlich an. „Wir klären das jetzt auf ganz traditionelle Art und Weise!“

„Aber es gibt doch gar nichts zu klären!“ Völlig aufgelöst wandte Valerie sich an Marc, doch der zuckte nur ebenso verwirrt wie sie es war mit den Schultern.

„Klar gibt es das! Du hast … hi Marc.“ Der Wechsel ihrer Stimmlage von zornig-raunend zu friedlich-verträumt kam so plötzlich, dass er Anya selbst ein wenig erschrak. Nicht, dass es sie störte.

„Hi.“ Gab der nur tonlos von sich, was aber reichte, um das Mädchen innerlich Freudensprünge vollführen zu lassen. Sie sah auf ihre Armbanduhr: 12:49 und es war Donnerstag, der 5. September – ein denkwürdiges Datum!

 

Schließlich wandte sie sich wieder an Valerie. „Also? Bist du ne Memme oder hast du den Mut, dich mit mir zu messen? Ach was frag ich überhaupt!“ Mit ausgestreckten Armen wollte sie über ihre verhasste Erzrivalin herfallen, doch die trat einen Schritt zurück und hob die rechte Hand.

„Stopp!“ Ihr Ton hatte sich verändert und war nun ebenso wütend wie der Anyas. „Keine Ahnung, welche Laus dir heute über die Leber gelaufen ist, aber es reicht! Ich weiß ja nicht, woher deine Abneigung mir gegenüber herkommt, aber wenn du dich wirklich mit mir anlegen willst, bitteschön. Aber nicht so!“

Anya zwinkerte verwirrt. „Wie denn dann?“

„Ein Duell“, antwortete Valerie bestimmend. „Du wirst wohl einsehen, dass ich dir körperlich nicht das Wasser reichen kann. Es wäre nicht fair und ich erwarte von dir zumindest so viel Charakter, dass du das einsiehst. Im Duell hingegen sind die Chancen gleichmäßig verteilt. Also, was sagst du?“

 

Was bildete sich diese Ziege ein, fragte Anya sich wütend. Als ob es sie scherte, ob irgendein Kampf fair war oder nicht. Es gab nur Gewinner und Verlierer, mehr nicht. Und sie hatte nicht vor, zu Letzterem zu gehören.

Andererseits … sie sah Marc an, dessen Blick erwartungsvoll an ihr haftete. Vermutlich wäre es nicht die beste Idee, vor seinen Augen jemanden zu verdreschen, der ihm etwas zu bedeuten schien. So ein Mist aber auch!

Obwohl … eigentlich war das Duell gar kein so schlechter Einfall von Valerie. So konnte sie Marc zeigen, dass mehr in ihr steckte, als nur rohe Gewalt. Vielleicht würde er dann endlich Notiz von ihr nehmen?

 

„'kay“, brummte sie schließlich gönnerhaft. „Bin ja kein Unmensch.“

„Dann schlage ich vor, dass wir unsere Duel Disks holen. Meine ist im Spind.“

„Meine auch. In zehn Minuten, genau hier. Und wehe, du bist dann nicht da, wenn ich zurück bin.“

Valerie rollte genervt mit den Augen. „Glaub mir, du wirst dir noch wünschen, dass ich nicht gekommen wäre.“

 

~-~-~

 

Die beiden jungen Frauen standen sich mit voller Entschlossenheit in ihren Mienen gegenüber. Valerie, die sich Anyas Frechheiten nicht länger gefallen ließ und natürlich Anya selbst, die nur darauf wartete, ihrer Erzfeindin eine saftige Abreibung zu verpassen.

Sie befanden sich nahe der großen Eiche bei den Sporthallen, auf der großen Wiese des Campus, umringt von einer Traube neugieriger Schüler. Ausnahmslos alle feuerten Valerie an, doch das störte Anya nicht im Geringsten. Sie hat nur ein Ziel vor Augen: das andere Mädchen nach allen Regeln der Kunst zu demütigen.

„Können wir anfangen?“, fragte die ungeduldig.

„Klar doch.“ Anya grinste, doch als plötzlich das Bild der falschen, bösartig wirkenden Anya vor ihrem inneren Auge erschien, hörte sie sofort damit auf. Warum fing das gerade jetzt an!? Sie wollte sich nicht daran erinnern! Albträume waren scheiße!
 

Es war gerade einmal genug Platz für die beiden, um sich vernünftig duellieren zu können. Aus dem immer größer werdenden Kreis der Schülerschaft gab es kein Entkommen. Ganz vorne in der ersten Reihe, hinter Anya, standen Nick und Abby. Selbst sie feuerten ihre Freundin nicht an, denn gerade Abby empfand das Verhalten der Blondine als fürchterlich übertrieben. Sie wollte sie darin nicht noch bestärken.

„Duell!“, riefen die beiden Frauen schließlich voller Eifer.

 

[Anya: 4000LP / Valerie: 4000LP]

 

„Die Herausforderin fängt an!“, entschied Anya unwirsch und zog zu ihrem Startblatt eine sechste Karte, ehe Valerie widersprechen konnte. Pah, dachte sie sich dabei schadenfroh, das funktionierte wirklich jedes Mal!

Ihre Hand musternd, überlegte Anya, wie sie am besten vorgehen sollte. Wieder kamen die Erinnerungen an das Duell mit Levrier. Wie sein Höllenhund ihr so real erschienen war, wie er ihr durch die Zerstörung ihres Monsters Schmerzen zugefügt hatte. Sie schüttelte widerwillig den Kopf. Nein, dieses Mal würde sie sich nicht überrumpeln lassen. Es war ohnehin alles nur ein Traum gewesen!

Dennoch entschied Anya sich letztlich, dieses Mal einen defensiven Eröffnungszug zu spielen. Mit den Karten in ihrer Hand war das auch nicht weiter schwer.

„Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich [Gem-Knight Sapphire] und [Gem-Knight Emerald] von meiner Hand! Sapphire, du bist das Herz, Emerald, du die Rüstung! Los!“

Ein bunter Wirbel bestehend aus etlichen, tanzenden Edelsteinen erschien über ihr. Sapphire, der Ritter des Saphirs in seiner blauen Rüstung und Emerald, der Krieger in blassgrüner Rüstung und Herr der Smaragde, wurden in den Strom hineingezogen und schufen aus ihrer Lebensessenz ein neues Monster.

Dieses ging vor Anya in die Knie. Er war ein Krieger in dunkelblauer Rüstung und gleichfarbigem Umhang, welcher einen Schild am rechten Arm trug, in dem ein wunderschöner Aquamarin steckte. Eine Klinge, aus ebenjenem Edelstein geschmiedet, ragte aus dem Schild hervor.

„Beschütze mich, [Gem-Knight Aquamarine]!“

 

Gem-Knight Aquamarine [ATK/1400 DEF/2600 (6)]

 

„Dazu setze ich noch zwei Karten verdeckt“, donnerte Anya ehrgeizig und schob die Fallen in die Schlitze ihrer guten, alten Battle City-Dueldisk. Ihr Vater, dem sie einst gehört hatte, war einer der Teilnehmer des mittlerweile legendären Duellturniers gewesen. Und auch wenn er es nicht in die Finalrunden geschafft hatte, war Anya mächtig stolz auf diese Tatsache – und wurde in diesem Zuge auch nie müde, es jedem zu erzählen, der nicht imstande war wegzurennen.

Die beiden Karten erschienen mit dem Bild nach unten gerichtet vor ihren Füßen. „Das war's erstmal von mir. Na dann zeig mal, was du so kannst, Redfield!“

 

Valerie strich sich durch das lange, schwarze Haar und legte den Kopf in den Nacken. Die Geste hatte etwas Abfälliges an sich, was Anya augenblicklich zur Weißglut trieb. Aber sie beherrschte sich, solange Marc zusah. Warum stand der bloß auf Valeries Teil des Spielfelds? Was hatte die, was sie nicht hatte!?

„Du wolltest es nicht anders, Anya. Sag nicht, ich hätte nicht versucht, dich davon abzuhalten. Aber manche lernen es nie“, sprach Valerie siegessicher. Dann zog sie so schwungvoll und zugleich elegant, dass ihre Gegnerin schon überlegte, nicht vielleicht doch mit der Duel Disk, statt den Karten darauf, zuzuschlagen.

Ihre Rivalin hielt eine Monsterkarte zwischen Mittel- und Zeigefinger, ganz nah an ihrem Gesicht. Die braunen Augen funkelten vor Entschlossenheit. „Ich rufe [Gishki Chain]!“

Aus einer großen Wasserlache, die plötzlich entstand, schoss eine grüne Amphibie mit dem Körperbau eines Menschen. Um seinen Körper herum hatte das Wesen eine lange Kette gewickelt, die es jetzt schwang – doch völlig unerwartet in Valeries Richtung.

 

Gishki Chain [ATK/1800 DEF/1000 (4)]

 

Die Kette verschwand mitten in Valeries marineblauer Duel Disk, die sie nun in die Höhe hielt.

„Wenn [Gishki Chain] als Normalbeschwörung gerufen wird, sehe ich mir die obersten drei Deckkarten an. Sollten darunter Ritualmonster- oder Zauberkarten sein, kann ich eine davon meinem Blatt hinzufügen.“

Als digitales Abbild erschienen vor Valerie drei Karten. Auch Anya konnte ihre Vorderseite sehen, da die Karten jene beidseitig zeigten. Einmal war da das Effektmonster [Gishki Ariel], dann die Falle [Torrential Tribute] und … ein blau-umrandetes Monster, [Evigishki Soul Ogre]. Ein Ritualmonster!

Valerie, die die drei Karten in der Hand hielt, behielt die unheimliche Kreatur und legte die anderen beiden Karten auf ihr Deck zurück.

„Ich werfe jetzt [Gishki Vanity] von meiner Hand ab, um seinen Effekt zu aktivieren“, sagte Valerie. Hinter ihr erschien ein Mann mit schwarzem Haar, gekleidet in ein Priestergewand. Er flimmerte jedoch nur kurz auf und war dann verschwunden.

„Und was sollte das jetzt?“, herrschte Anya ihre Gegnerin an.

„Wart ab, du wirst es schon sehen.“ Lautete die unbefriedigende Antwort. „Bis dahin aktiviere ich die Ritualzauberkarte [Gishki Aquamirror]. Hast du Einwände?“

„Ja, aber dagegen unternehmen kann ich nichts“, maulte Anya widerwillig.

Valerie lächelte zufrieden. Sie schien Spaß an dem Spiel zu haben, was der Blondine überhaupt nicht gefiel.

„Mit diesem Spiegel kann ich [Evigishki Soul Ogre] beschwören, wenn ich genug Opfer darbiete, um seiner Stufe gleichzukommen. Oh, und sie ist 8.“

Ein goldener Spiegel erhob sich vor Valerie. In ihrem spiegelte sich die Karte, die Valerie als Tribut anbieten wollte. Es war ein Effektmonster, Anya konnte es nicht genau erkennen … aber es gehörte eindeutig der Stufe 4 an, wie sie anhand der orangefarbenen Sterne am oberen, rechten Kartenrand erkennen konnte!

„Hey, das ist zu wenig! Du musst mehr-“

„Bist du immer so vorlaut, Anya?“, unterbrach Valerie sie spitz. „Natürlich reicht es nicht, aber das spielt gar keine Rolle, weil [Gishki Shadow] ohnehin alle Kosten für die Ritualbeschwörung eines Wasser-Monsters übernimmt. Und nun sieh her, denn aus endlosen Kristallfontänen erscheint [Evigishki Soul Ogre]!“

Und es war genau so, wie Valerie es beschrieben hatte. Mehrere Wassersäulen schossen aus dem Boden empor, sie alle waren glasklar und bildeten nach und nach einen großen Kreis inmitten von Valeries Spielfeldseite, welcher sie vor Anyas Blicken abschirmte. Als die Säulen nahtlos ineinander übergingen, tauchte hinter ihnen ein riesiger Schatten auf. Die Fontänen verebbten und ließen etwas zurück, von dem Anya nie geglaubt hätte, dass ein so damenhaftes Wesen wie Valerie es je ausspielen würde.

Es war wie eine Mischung aus Mensch, Amphibie und Dinosaurier. Das Ungetüm stand auf zwei Beinen, hatte dunkelblaue, schuppige Haut und eine feinen Kamm aus Schwimmhäuten, der von seinem Haupt hin zu seiner massiven Schwanzflosse reichte. Das eigentümlichste Merkmal war aber der Kopf, der eher zu einem Dinosaurier passte, als zu einem Meeresbewohner.

Das über drei Meter große Ungeheuer gesellte sich zu seinem Kameraden.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 DEF/2800 (8)]

 

Anya war beeindruckt. Das Ding vermochte es sogar, die ohnehin schon ziemlich hohe Verteidigung ihres Ritters zu durchbrechen. Aber dazu würde es gar nicht erst kommen!

„Verdeckte Falle aktivieren! [Bottomless Trap Hole]!“ Sie drückte hitzig den Knopf, der die Aktivierung auslösen sollte. Einmal, zweimal, aber egal wie oft sie es versuchte, nichts geschah.

„Das brauchst du gar nicht zu versuchen“, rief Valerie. „Erinnerst du dich an [Gishki Vanity]? Er verhindert, dass du auf die Beschwörung von meinem Soul Ogre reagieren kannst. Deine Falle ist blockiert und wird dir nichts mehr nützen, denn sie kann nur aktiviert werden, wenn ein Monster mit 1500 oder mehr Angriffspunkten gerufen wird. Diesen Zeitpunkt hast du jetzt aber verpasst!“

Vor Wut knirschte Anya mit den Zähnen. „Schön, diese Runde geht an dich.“ Aber du wirst dich noch wundern, dachte sie mit grimmiger Zufriedenheit. Denn Aquamarine hatte noch eine böse Überraschung parat.

„Ich nutze jetzt den Effekt von Soul Ogre und lege [Gishki Marker] ab, damit ich eine deiner offenen Karten auf dein Deck zurückschicken kann!“

„Oh fu-!“

Valerie hielt die Karte hoch in die Luft, bis sie zu Wasser wurde und von ihrem Ungetüm eingesaugt wurde. Dieses schoss dann einen gewaltigen Wasserstrahl auf Aquamarine.

 

Anya konnte es nicht fassen. Nicht nur, dass diese hinterhältige Sumpfkuh ihren Ritter so einfach beseitigt hatte, nein, er wurde auch ins Extradeck geschickt. Um seinen Effekt aber einzusetzen und den Seelenoger auf Valeries Hand zu geben, hätte Aquamarine den Friedhof betreten müssen. So ein Mist!

Plötzlich stand Anya völlig ungeschützt da, sie hatte nur noch ihre verbliebene Falle.

 

„Ich hoffe du verstehst jetzt, wovon ich gesprochen habe“, sagte Valerie stolz. „Ich bin vielleicht keine Sportskanone, so wie du, aber dafür in anderen Dingen wesentlich geschickter. Es wäre nett, wenn du mich in Zukunft in Ruhe lassen würdest, okay?“

Anya gab nur einen genervten Zischlaut von sich. Diese dumme Schnepfe wurde langsam unerträglich.

Ebenjene strecke den Arm aus und zeigte direkt auf ihre Gegnerin. „[Gishki Chain], [Evigishki Soul Ogre], eure vereinte Angriffskraft reicht aus, um sie mit einem Schlag zu besiegen. Also tut eure Pflicht!“

Die Blondine schreckte zurück. Valerie hatte vollkommen recht, sie würde diesen Angriff nicht überstehen. Und verhindern konnte sie ihn auch nicht. Sie sah panisch auf ihre Duel Disk. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die Kette von der einen und ein gewaltiger Wasserstrahl von der anderen Seite auf sie zugeschossen kamen.

Sie konnte die Attacke nicht aufhalten … aber den Schaden eindämmen! „Verdeckte Falle! [Inverse Universe]!“

Die vor ihr liegende Karte sprang auf. Plötzlich wurden Valeries Monster in die Knie gezwungen. Die Angriffe von beiden Seiten blieben mitten in der Luft stehen, als hätte jemand die Zeit angehalten. Valerie kniff skeptisch die Augen zusammen. „Was wird das, wenn es fertig ist?“

„Damit verdrehe ich die Angriffs- und Verteidigungswerte aller Effektmonster auf dem Feld dauerhaft.“

„Mehr nicht?“

Anya biss sich auf die Lippe. Mehr nicht? Verdammter Mist, dadurch würde sie den Zug überstehen! Diese arrogante Ziege ging ihr so was von auf den Keks!

 

Gishki Chain [ATK/1800 → 1000 DEF/1000 → 1800 (4)]

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 → 2800 DEF/2800 → 2800 (8)]

 

Die Zeit hatte zu ihren Wurzeln zurückgefunden. Die Angriffe trafen Anya, doch gingen durch sie hindurch wie ein Hauch von nichts. Dennoch schützte sie sich mit ihren Armen, denn sie rechnete mit Schmerzen. Eine Angewohnheit, die sie offenbar durch die Begegnung mit Levrier, dem Nicht-Existierenden, angenommen hatte. Und sie hasste es.

 

[Anya: 4000LP → 200LP / Valerie: 4000LP]

 

Laute Jubelrufe erklangen von den Schülern, sie alle galten Valerie.

„Verliert Anya gerade?“, fragte Nick heiter.

Abby seufzte. „Ja. Hast du was anderes erwartet?“

„Klar! Schlammcatchen!“

Das Hippie-Mädchen verdrehte die Augen. Warum hatte sie überhaupt gefragt?

 

Anya indes hatte sich gefangen. Noch war sie nicht aus dem Rennen und würde schon einen Ausweg aus dieser Misere finden.

„Ich setze meine letzte Handkarte verdeckt“, verlautete Valerie. „Du bist dran.“

 

Ihre Gegnerin ballte eine Faust. Anya musste jetzt ein glückliches Händchen beweisen, sonst würde sie auf ewig die Lachnummer der ganzen Schule sein. Es war zwar selbstverständlich, dass sie jedem den Hals umdrehen würde, der es wagte über sie laut zu lachen. Ihren Ruf hingegen würde sie dadurch nicht retten können. Sie durfte nicht gegen Valerie verlieren!

„Draw!“, fauchte sie wie ein wild gewordener Löwe. Und was sie in den Händen hielt, gefiel ihr – das normale Monster [Gem-Knight Tourmaline].

„Effekt von [Gem-Knight Fusion] aktivieren. Ich verbanne einen Gem-Knight aus meinem Friedhof und bekomme meine Zauberkarte dafür von ebenjenem zurück!“ Sie nahm Sapphire und steckte ihn in ihre Hosentasche, während der Zauber in ihr Blatt wanderte.

„Und jetzt mit Schmackes! [Gem-Knight Fusion]! Dieses Mal aber auf eine etwas andere Art und Weise! [Gem-Knight Tourmaline], du bist das Element, [Gem-Knight Garnet], du der Ursprung! Vereinigt eure Kräfte und werdet zu [Gem-Knight Prismaura]!“

Aus dem Wirbel aus Edelsteinen, der entstanden war und die Ritter in jeweils goldener und bronzener Rüstung absorbiert hatte, trat ein völlig neues Geschöpf hervor. Er hatte keine Ähnlichkeit mit seinen Vorgängern. Der Ritter trug eine Lanze ganz aus Kristall sowie einen runden Schild. Aus den Schulterplatten des Kriegers ragten ebenfalls große Kristalle und sein Helm war mit Hörnern verziert, was ihm eine eigentümliche Note verlieh.

 

Gem-Knight Prismaura [ATK/2450 DEF/1400 (7)]

 

„Und weil's so lustig war, gleich nochmal. Ich verbanne Garnet und erhalte meine [Gem-Knight Fusion] zurück.“ Anya hielt die Karte in die Höhe, als würde sie dadurch den Himmel berühren können. „Prismaura, Effekt aktivieren! Nur einmal pro Zug kann ich eine Gem-Knight-Karte abwerfen, um eine offene Karte meines Gegners zu zerstören!“

Sie schickte ihre eben erst zurück erhaltene [Gem-Knight Fusion] dorthin, wo sie hergekommen war – auf den Friedhof. Anya zeigte auf den Seelenoger. „Rest in Pieces, Miststück!“

Ihr Ritter richtete seine Lanze auf das Ungetüm und schoss aus dem Kristall einen gleißenden Lichtstrahl, der [Evigishki Soul Ogre] in einer grellen Explosion vernichtete.

Valerie, ernsthaft erschrocken, wich einen Schritt zurück. Doch sie fasste sich schnell wieder. „Gut gemacht. Aber das allein reicht nicht, um mich unterzukriegen. Komm ruhig her und greif mich an – wenn du dich traust, natürlich!“

Das ließ Anya sich nicht zweimal sagen. „Worauf du Gift nehmen kannst, Redfield! Los Prismaura, Divine Lance Strike auf [Gishki Chain]!“

Der Krieger warf seine Lanze in die Luft und packte sie am Griff, zum Wurf bereit. Mit aller Kraft schleuderte er sie in Richtung Valerie, die aber nur darauf gewartet zu haben schien. „Falle! [Poseidon Wave]! Damit stoppe ich den Angriff und-“

 

Die Hologramme verschwanden ohne Vorwarnung. Einen Moment lang ging verwirrtes Gemurmel durch die Schülerschaft. Anya, die erst nicht wusste, was geschehen war, schaute auf ihre Duel Disk. Die Lebenspunkteanzeige war schwarz und ein Blick auf Valerie verriet, dass es ihr nicht anders erging. Das Duell war kurz vor dem Höhepunkt unterbrochen worden.

„Was für ein verdammter Kackmist ist das denn!?“, fauchte Anya. Plötzlich streifte etwas ihre Wange. Regen. Sie sah nach oben und bemerkte erst jetzt, dass der Himmel in tiefem Grau über ihnen stand. Es blitzte und donnerte.

 

Die enttäuschte Traube löste sich langsam auf. Abby und Nick eilten zu Anya, die schimpfte wie ein Rohrspatz.

„Anscheinend haben die hiesigen Server der AFC schlapp gemacht“, meinte ihre Freundin, doch das war keine Entschuldigung für Anya.

Wenn sie den Kampf nicht so entscheiden konnten, mussten sie sich eben doch prügeln! Sie suchte nach Valerie, doch die war nirgendwo mehr zu sehen. Und Marc auch nicht, wie Anya enttäuscht feststellen musste.

Schwere Regentropfen prasselten auf sie nieder.

„Wir sollten reingehen“, meinte Abby, „sonst erkälten wir uns noch. Mutter Natur ist zwar gütig, aber auch etwas launisch und ich möchte mich eigentlich nicht mit ihr anlegen.“

„Von mir aus.“ Anya rümpfte die Nase. War dieses Miststück doch tatsächlich davongekommen! Aber was war diese Fallenkarte, die sie zum Schluss aktiviert hatte? Valerie schien so selbstsicher, als sie sie ausgespielt hatte. Was Anya nur umso wütender machte.

Die Drei eilten auf das Backsteingebäude zu, um ins Trockene zu gelangen.

„Schon komisch“, meinte Abby dabei nachdenklich. „Wo kommt auf einmal dieses Gewitter her? Vor fünf Minuten war der Himmel noch völlig wolkenfrei.“

„Zauberei!“, gluckste Nick und erntete natürlich nur Gestöhne.
 

Anya Bauer!

 

Das Mädchen wirbelte erschrocken um. Diese Stimme, das war-

Unter schrecklich lautem Getose schlug ein Blitz gar nicht weit von der Schule ein. Anya war geblendet von seiner Intensität, doch sie hatte ihn genau gesehen. Und er hatte so seltsam ausgesehen, irgendwie viel zu rot und massig für einen normalen Blitz. Und diese Stimme …

„Boah, das war cool“, gluckste Nick begeistert.

Mittlerweile waren sie alle klitschnass, doch Anya fühlte sich plötzlich so unwohl, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte. Dieser Blitz, die Stimme, das abgebrochene Duell. Was ging hier vor sich?

„Leute“, sagte sie langsam. „Ich … geh mir das anschauen.“

„Was anschauen?“, wollte Abby verwirrt wissen.

„Den Blitz … die Einschlagstelle …“ Sie fing sich wieder. Ihre Freunde sollten bloß nicht ahnen, dass ihr das alles ein wenig unheimlich war. Betont lässig meinte sie: „Ist bestimmt cool, vielleicht brennt es sogar irgendwo. Kommt ihr mit?“

„Anya, bist du verrückt? Der Unterricht fängt in ein paar Minuten wieder an! Wir können jetzt nicht dorthin.“ Abby sah sie fordernd an.

Aber sie musste, dachte Anya sauer. Da war irgendetwas, sie spürte es im linken, großen Zeh – und der hatte sich noch nie getäuscht. Und sollte es ausnahmsweise doch so sein, umso besser. Bloß würde sie das nie erfahren, wenn sie hier Wurzeln schlug.

„Mir doch egal“, schnaubte sie und rannte auf das Ausgangstor des Campus zu.

Abby streckte ihre Hand nach Anya aus, seufzte dann. „Die bringt mich noch irgendwann ins Grab mit ihren Ideen. Kommst du auch mit, Nick?“

„Wohin?“, fragte der aufrichtig ahnungslos. Doch Abby hatte ihn längst stehen lassen und war Anya gefolgt.

 

~-~-~

 

Keuchend blieb Anya mitten auf der Straße stehen, die sie als Einschlagstelle vermutete. Mindestens zehn Minuten war sie gerannt, aber die Anstrengungen wurden belohnt. Ihre Ahnung hatte sich als richtig erwiesen, hier war es geschehen.

Ein gewaltiger, mehrere Meter breiter Brandfleck prangerte mitten auf dem Asphalt. Er sah seltsam aus, unnatürlich rund und in seiner Mitte war die Straße völlig unbeschädigt und sauber. Tatsächlich war nur der dünne Rand des Kreises verkohlt.

 

„Hab … ich dich ...“ Anya erschrak.

Abby stand hinter ihr und stützte sich von den Knien ab. Sie war völlig außer Atem und genauso pitschnass wie Anya. Nick hingegen war nirgendwo zu sehen.

„Du hättest ruhig … etwas langsamer …“

„Stell dich nicht so an“, raunte die Blondine und trat näher an den Kreis heran. Abgesehen von der merkwürdigen Form war nichts Ungewöhnliches an ihm festzustellen.

Ihr Blick wanderte weiter über die Straße und blieb an etwas in der Ferne haften, das am Boden lag.

„Hey, Abby, was ist das denn?“

Die sah auf und schielte durch ihre getönte Brille. „Sieht aus wie 'ne tote Katze. Oh, das arme Tier.“

„Das ist keine Katze, dafür ist es zu groß.“ Skeptisch näherte sich Anya dem grauen Objekt. Dann blieb sie wie gelähmt stehen. Das war kein Tier, sondern ein Mensch! Das graue Ding war eine Jacke.

„Abby … ruf 'nen Krankenwagen“, forderte Anya tonlos und rannte zu dem Verletzten.

„Was, aber-“

„Mach schon, der Kerl ist fix und alle!“

„O-okay!“
 

Das Mädchen eilte auf die liegende Gestalt zu, vielleicht konnte sie noch etwas für sie tun.

Doch vor ihr angekommen wusste Anya, dass es für einen Arzt längst zu spät war. Dort lag nur noch ein Gerippe, bedeckt von schlaffer Haut. Das Fleisch, die Muskeln, die Organe … alles schien fort. Selbst die Augen waren nur noch leere Hüllen, die Haut verschrumpelt und aufgesprungen, verkohlt und stinkend.

Anya wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Sie stand vor einer verdammten Leiche und konnte nicht einmal schreien!

 

Sie bemerkte nicht, dass jemand sie beobachtete. Im Gebüsch am gegenüberliegenden Straßenrand stand eine durch Schatten verhüllte Person und verfolgte voller Schadenfreude, wie Anya in die Knie ging.

„Anya Bauer heißt sie? Ist sie eine von denen?“ Er machte ein Geräusch, das Verständnis ausdrücken sollte und nickte. „Dann werde ich sie vernichten, wie diesen Trottel dort. Was sagst du, nicht 'Another'? Schade. Wie? Ich soll noch etwas warten? … verstehe. Also schön, eine andere Wahl bleibt uns wohl nicht. Ich hoffe, sie genießt ihre letzten Atemzüge … dämonische Brut!“

 

~-~-~

 

Anya blickte unentwegt in den Spiegel, sah ihr immer noch nasses Antlitz und war doch an einem fernen, gedankenlosen Ort. Sie und Abby hatten der Polizei alles geschildert, alles genau beschrieben und waren schließlich von ihren Müttern abgeholt worden.

Jetzt stand sie im Flur, die Hände von Sheryl auf den Schultern und blickte in die Leere. Ihre Mutter war leichenblass, die dunkelblonde Dauerwelle durch den Regen außer Form geraten.

Leichen … Anya hatte noch nie zuvor eine gesehen. Es war ganz anders, als wenn man sich ausmalte, wie man Valerie um die Ecke brachte. Das waren nur Fantasien, aber der Tote dort war real gewesen. Und die Stimme hatte sie erst dort hingeführt. Levriers Stimme.

„Liebling, kannst du … soll ich dir helfen?“

„Nein, Mum“, antwortete Anya mechanisch. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer etwas zu großen Lederjacke, während ihre Mutter resignierend von dannen schritt.

Anyas Blick lag gebannt auf ihrem Ebenbild. An den blauen Augen, dem durchnässten, blonden Pferdeschwanz und den harten Gesichtszügen war nichts Ungewöhnliches auszumachen. Und doch! Es war, als würde sie nicht sich selbst ansehen, sondern eine völlig fremde Person. Jemanden wie Levrier.

War er zurück? Hatte er das etwa getan? Aber sie hatte ihn doch vernichtet! Nein, das konnte nicht sein, das war ein Hirngespinst! Es gab keine übernatürlichen Wesen, der Tote war vermutlich vom Blitz getroffen und weg geschleudert worden. Aber seine Kleidung … sie war völlig unbeschädigt gewesen. Nein, sagte Anya sich, das war Quatsch, Levrier gab es schließlich nicht!

Stöhnend schüttelte sie den Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Dabei konnte sie nicht sehen, wie ihr Spiegelbild verweilte, obwohl sie außer Reichweite war. Es drehte seinen Kopf in Anyas Richtung und machte ein mitleidiges Gesicht. Dann verschwand es.

 

 

Turn 03 – Hunter

Obwohl Anya Levrier besiegt hat, reißen die seltsamen Vorkommnisse nicht ab. Einige Schüler werden sogar mitten im Unterricht krank und fallen in Ohnmacht. Obwohl Schulärztin Doctor Warren eine Lebensmittelvergiftung als Ursache benennt, ist Anya sich da nicht so sicher. Spätestens als der geheimnisvolle Alastair auftaucht, welcher sich als Dämonenjäger bezeichnet, erweisen sich Anyas Zweifel als berechtigt. Nachdem Alastair Anya dann noch als Dämon und somit als seine Beute deklariert und sich mit ihr duellieren will, schweben Anya und ihre Freunde in ungeahnter Gefahr.

Turn 03 - Hunter

Turn 03 – Hunter

 

 

„Du bist schuld! Warum hast du nichts getan, um mir helfen? Du hast mich im Stich gelassen!“

Anya schüttelte aufgeregt den Kopf. „Nein, ich habe versucht-“

„Du hast zugesehen, wie ich sterbe! Du wolltest es so!“, schrie die schrumpelige Leiche und legte ihre Hände um Anyas Hals. Die kämpfte gegen das Gerippe, von dem schlaff die verkohlte Haut herunterhing, doch dem Würgegriff hatte sie nichts entgegenzusetzen. Sie war zu schwach!

„Jetzt sollst du sterben!“, tönte die bis zur Unkenntlichkeit vertrocknete Kreatur.

„Es tut mir leid“, beteuerte Anya röchelnd. Es waren aufrichtige Worte, doch sie wusste, dass sie den Toten niemals besänftigen konnten.

Plötzlich packte der ihren Kopf und brach ihr mit einem Ruck das Genick.

 

Anya schreckte aus ihrem Traum auf. Sie war schweißnass. Wieder hatte sie davon geträumt, dass dieses Ding sie aus grundloser Rachlust umbrachte. Was für ein Bullshit! Das Mädchen fühlte sich nicht im Geringsten für das verantwortlich, was dem Kerl widerfahren war. Im Gegenteil, sie hatte ihn entdeckt, als er schon tot war. Wie hätte sie da noch helfen können!?

Müde schlug sie die Decke beiseite und setzte sich an den Rand ihres Betts. Sich den Schlaf aus den Augen reibend, hatte sie das Bild der Leiche auf der Straße vor ihrem inneren Auge. Mittlerweile wusste die Polizei, wen man dort gefunden hatte: Jonathan. Er war aus Victim's Sanctuary ausgebrochen und hatte letztlich sein Leben verloren. Todesursache unbekannt.

Ein schlechtes Gewissen keimte in Anya auf, hatte sie noch kurz vor seinem Tod sich ebenjenen gewünscht. Doch sie verdrängte den Gedanken mit aller Kraft. Es war nicht ihre Schuld gewesen! Der Idiot hätte eben besser auf sich aufpassen müssen.

 

Verschlafen stand sie auf, gähnte und streckte sich dabei in ihrem weißen Pyjama. Wie sie es hasste, wenn ihre Laune schon vor dem Frühstück so schlecht war, dass nicht einmal ein Unfall, in den Valerie Redfield involviert war, sie aufheitern konnte. Vielleicht sollte sie heute einfach nicht zur Schule gehen? Aber bevor sie das entschied, würde sie erst einmal ausgiebig duschen.

 

~-~-~

 

Besorgt betrachtete Sheryl ihre Tochter und nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher in ihrer Hand. Das Mädchen saß mit verschränkten Armen vor ihr am Frühstückstisch und behauptete allen Ernstes, dass sie Fieber hatte und im Bett bleiben musste – obwohl sie kerngesund aussah und sich auch dementsprechend verhielt.

„Ich verstehe ja, dass dich die Sache mitgenommen hat. Aber die Schule zu schwänzen wird dir nur schaden. Du solltest wirklich einmal mit der Polizeipsychologin sprechen, vielleicht-“

„Gar nichts verstehst du! Ich bin krank, okay? Körperlich. Sonst geht’s mir gut. Ich muss nicht zu irgendeiner Schnepfe, die mir weismachen will, dass es in meinem Kopf nicht ganz rund läuft!“

„Anya, solche Redensarten verbitte ich mir!“ Sheryl sah ihre Tochter finster an. „Du wirst in anderthalb Jahren 21, dann bist du erwachsen und kannst tun, was immer du willst. Aber solange du minderjährig bist und deine-“

„... Füße unter meinem Tisch steckst, bin ich der Boss“, beendete sie die Predigt ihrer Mutter vorschnell. „Ja, ja, ich weiß.“

„Ganz genau!“ Die dunkelblonde Frau mit der Dauerwelle nickte. „Und jetzt reiß dich zusammen, es ist nur Schule. Wenn du hier bleibst, wirst du nur immer wieder darüber nachdenken. Du brauchst Abwechslung. Also geh schon.“

Sie stellte ihre geleerte Tasse auf dem Tisch ab und erhob sich. „Ich muss jetzt ins Büro. Höre ich auch nur ein Wort davon, dass du heute nicht zum Unterricht erschienen bist, kannst du mit Stromentzug rechnen!“

Stromentzug, Sheryls Alternative zum Hausarrest. Da der sich in der Vergangenheit als ineffektiv erwiesen hatte, musste sich Anyas Mutter etwas anderes einfallen lassen, um ihre Tochter unter Kontrolle zu halten. Und da war ihr die Idee gekommen, sämtliche für Anya relevanten Sicherungen zu verstecken, wenn jene etwas ausgefressen hatte. Da sie in ihrer Freizeit sowieso fast den ganzen Tag vor Fernseher, PC oder Spielkonsolen hing, traf sie das viel härter als es Hausarrest je könnte.

„Okay“, brummte Anya. „Dann viel Spaß bei der Arbeit.“

Die beiden verabschiedeten sich wortkarg voneinander, ehe Sheryl sich ihre Jacke überwarf. Sie ahnte bereits, dass sie heute Abend einen Anruf von der Schule erhalten würde, als sie das Haus verließ.

 

~-~-~

 

„Verdammter Kackmist!“, zischte Anya und bemühte sich, dabei leise zu sein. Natürlich gelang ihr dies nur unwesentlich, sodass sich ihr Chemielehrer, Mr. Maverick, laut räusperte.

„Sorry“, brummte die Blondine widerwillig.

Sie saß zusammen mit Abby und Nick an einem der langen weißen Arbeitstische, achtete aber kaum auf ihren Lehrer, der das Experiment für die nächste Stunde bereits beschrieb.

„Bist du dir sicher?“, hakte Anya bei Abby nach, die gebannt ihren Lehrer anstarrte. Die nickte nur und gab in ihrem gewohnten Singsang nur „Mhhhmmm“ von sich.

Vor Wut schlug Anya die Faust auf den Tisch. Hätte sie doch bloß nicht Abby darum gebeten, sich wegen der letzten Fallenkarte von Valerie zu erkundigen, [Poseidon Wave]. Nun wusste Anya, dass diese Karte das Duell zugunsten von diesem Miststück entschieden hätte. Und das nur, weil sie auf den billigen Provokationsversuch von Valerie hereingefallen war und angegriffen hatte!

 

„Anyaaaaa, Abbyyyyy“, tönte Nick plötzlich und deutete auf die Tafel. „Ich versteh das nicht.“

Anya klatschte die Hand vor den Kopf. „Idiot! Da steht doch auch gar nichts!“

„Doch nicht die Tafel. Der da.“

Verstohlen linste die Blondine in die Richtung, die Nick ihnen zeigte. Direkt vor der Tafel. Mr. Maverick konnte er nicht meinen, denn der palaverte fröhlich über diverse Ethanochwas und stand mindestens fünf Meter von der Tafel entfernt vor seinem Lehrertisch.

„Was siehst du denn da, Nick?“, wollte Abby verwirrt wissen.

„... ach nichts. Hab mich geirrt.“ Nick ließ den Kopf hängen und starrte auf seine Aufzeichnungen des Unterrichts, beziehungsweise die leeren Blätter, die es hätten sein müssen.

„Das war komisch, selbst für seine Verhältnisse“, flüsterte Abby in Anyas Ohr, die zustimmend brummte. Andererseits war ihr Freund so intelligent wie eine Klobürste – sah jener nebenbei auch noch erschreckend ähnlich – weshalb seine Ausbrüche nicht weiter bedenklich waren.

 

„Mr. Maverick?“ Die Hand einer blondgelockten Mitschülerin zwei Bänke hinter Anyas Gruppe schnellte hoch.

„Ja bitte, Willow?“

„Mir ist schlecht. Ich glaub, irgendwas von dem Mittagessen ist mir nicht bekommen …“

Der Chemielehrer blinzelte nachdenklich. Dann sagte er: „Dann gehen Sie in den-“

Doch Willow kippte ohne Vorwarnung von ihrem Stuhl und blieb regungslos liegen. Sofort sprangen ihre Nachbarn auf. Einer legte seine Hand auf ihre Stirn und rief: „Sie hat ja hohes Fieber!“

Da polterte es und ein Schüler in der ersten Reihe war ebenfalls kollabiert. Und während die halbe Klasse versuchte, sich um die zwei Kranken zu kümmern, stemmte Anya ihre rechte Faust gegen die Wange und stöhnte. „Man, ich hätte heute echt zuhause bleiben sollen.“

„Anya, der Staat hat uns die Möglichkeit der Bildung gegeben. Dafür sollte man dankbar sein und nicht die Schule schwänzen!“, beklagte sich Abby. „Stimmt's Nick?“

Der brünette junge Mann aber gab keinen Ton von sich, sondern schlummerte mit auf den Armen liegendem Kopf am Arbeitstisch.

Abby seufzte schwer. „Weiß denn niemand die Dinge zu schätzen, die uns gegeben sind?“

„Typisch Nick“, meinte Anya dazu nur. Wenn der Trottel nicht mindestens einmal pro Tag im Unterricht einschlief, stimmte etwas nicht. Und es war ihr immer ein diebisches Vergnügen, ihn unsanft aus seinen Träumen zu wecken. So versetzte sie ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf. „Hey aufwachen, du Napfsülze!“

Nick rührte sich nicht. Anya blinzelte verdutzt. „Hab ich nicht doll genug zugeschlagen? Das funktioniert doch sonst immer.“ Also probierte sie es noch einmal, kräftiger.

Abby indes beschlich ein besorgniserregender Verdacht. Und kaum hatte sie seine Stirn berührt, wurde dieser bestätigt. „Anya! Der ist ja kochend heiß!“

Die Blondine klatschte sich die Hand gegen die Stirn. „Das wird ja immer besser …“

 

~-~-~

 

Mit verschränkten Armen stand Anya vor Nicks Krankenbett. Sie beneidete den Trottel. Der konnte den Unterricht verpennen, während sie sich noch ganze zwei Stunden langweilen durfte.

„Schon wieder einer“, sagte Abby bedrückt und deutete zur Tür. „Der Neunte innerhalb von einer halben Stunde.“

Zwei Lehrkräfte schulterten einen bewusstlosen Jungen und legten ihn auf dem Bett ab, das direkt neben dem von Nick stand. Die Ärztin, Doctor Warren, zog mit besorgter Mimik die Vorhänge zwischen den Betten zu, damit man nicht sah, was mit dem Jungen geschah.

Anya grinste plötzlich schadenfroh. „Hey, wenn das so weitergeht, können wir den Unterricht knicken! Wegen Epidemie oder wie der Mist heißt!“

„Nick ist schwer krank und du denkst an so was?“

Wie Anya diesen vorwurfsvollen Tonfall ihrer Freundin hasste. „Was denn? Der kommt schon wieder auf die Beine. Wieso sich nicht über die kleinen Dinge im Leben freuen? Sagst du doch selbst andauernd!“

„SO hatte ich das aber nicht gemeint!“
 

Plötzlich tauchte Doctor Warren in ihrer Nische auf, sodass die beiden Mädchen sich zu ihr umdrehten. „Habt ihr heute etwas aus der Kantine zu euch genommen?“

Beide schüttelten die Köpfe. Anya meinte patzig: „Ich esse so gut wie nie den Fraß, der hier angeboten wird! Ich hänge schließlich an meiner Gesundheit!“

„Ich nehme nur Bioprodukte zu mir“, beteuerte Abby abweisend. „Eier von glücklichen Hennen, Milch von glücklichen Kü-“

„Sieht ganz nach einer Lebensmittelvergiftung aus“, unterbrach die Ärztin sie barsch. „Es ist zwar ungewöhnlich, dass die Betroffenen ohnmächtig werden, aber anscheinend war eine Lieferung von Pilzen aus Europa nicht mehr frisch. Falls ihr Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen oder Magenkrämpfe habt, kommt sofort zu mir.“

Schon war sie wieder verschwunden, um sich anderen Patienten zu widmen.

„Jaaaaa“, höhnte Anya lauter, als nötig gewesen wäre. „Wenn ich ohnmächtig werde, mache ich mich sofort auf den Weg hierher. Was für'n Scheiß!“

„Und was machen wir jetzt?“ Abby warf einen besorgten Blick auf Nick.

„Na was wohl? Ich haue ab. Keine Lust, mir irgendwelche Bazillen einzufangen. Schönen Tag noch.“
 

Voller Unmut verließ Anya mit geschultertem Rucksack die Krankenstation und durchschritt den anliegenden Gang. Durch seinen orangefarbenen Anstrich wirkte er freundlich, was in Anya regelrecht Übelkeit hervorrief, wann immer sie ihn durchquerte. Verschiedene Türen zu Lagerkammern und Aufenthaltsräumen gingen von beiden Seiten des Ganges ab, doch Anyas Blick war stur geradeaus gerichtet. So blieb die Gestalt eines großen Mannes mit rabenschwarzem, langem Haar unbemerkt, welcher das Mädchen aus dem Türspalt eines leeren Büros heraus beobachtete.
 

Indes eilte Abby Anya hinterher und packte sie an der Schulter. Die Blondine drehte sich reflexartig um und verdrehte Abby dabei regelrecht den Arm. „Man Masters, was soll der Scheiß? Fass-mich-nie-von-hinten-an, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Abby, froh dass Anya sie sofort wieder losließ, antwortete verärgert: „Du sollst mich nicht beim Nachnamen nennen, das weißt du!“

„Ja, ja, ja, sorry. Was willst du denn noch?“

„Du kannst doch Nick nicht einfach dort liegen lassen!“

Anya runzelte die Stirn. „Wieso nicht?“

Empört stemmte Abby die Hände in die Hüften. „Weil er auch an deinem Bett gestanden hat, als du bewusstlos warst. So etwas machen Freunde füreinander.“

„Na dann geh und wache über seine idiotischen Träume!“ Sie machte mit den Händen eine verscheuchende Geste. „Gusch! Ich hab nämlich Besseres zu tun! Meine Gilde bereitet nämlich zur Zeit einen Raid vor und das will ich nicht verpassen.“

„Ohhhh, Anya, manchmal bist du wirklich ein Ekel!“ So wütend erlebte man Abby selten. Sie machte auf der Stelle Kehrt und ließ ihre Freundin ohne ein weiteres Wort zurück. Zu schade, dass ihr das völlig schnuppe war, dachte Anya sich grimmig.
 

Stattdessen setzte sie ihren Weg fort und gelangte schließlich zum Hauptausgang des Gebäudes. Und kaum hatte Anya ihren Fuß über die Schwelle gesetzt, geschah etwas Unvorstellbares. Ein rosafarbenes Licht breitete sich rund um sie herum aus und umfasste das ganze, weite Campusgelände.

Anya zwinkerte ungläubig und schritt planlos vorwärts. Eben noch hatte eine Schar Schüler unweit von ihr gestanden, nun waren sie fort. Verwirrt blickte sie zum großen Torbogen. Dahinter lag keine Straße mehr, sondern … Nichts. Rosafarbenes Nichts. Sie blickte nach oben. Der Himmel sah genauso aus. Als gäbe es nur noch die Schule samt Gelände in einer ansonsten leeren Welt. Und sie hasste die Farbe rosa mehr als alle anderen. War sie durch ein geheimes Tor in die Hölle geschritten, oder was war hier los!?

„Okay, was soll der Scheiß?“, rief sie in ihrer Aufregung lautstark. „Ist das hier ein Scherz oder so was? Wenn ja, kommt ruhig raus, ich krieg' euch ja doch! Macht es kurz, dann dürft ihr wenigstens eure Särge aussuchen, bevor ich eure Lebern auf dem Schwarzmarkt verkaufe!“

Keine Antwort.
 

Anya begab sich zu der großen Eiche nahe der Sporthallen, wo Valerie vor ein paar Tagen den Boden mit ihr gewischt hatte. Wenn sie nur daran dachte, kam ihr die Galle hoch.

Sie sah sich um. Vor dem Gebäude der Unterstufe war niemand, auf dem Gelände auch nicht – nirgendwo. Die Welt war wie ausgestorben.

Na toll! Jetzt hatte sie schon Halluzinationen, obwohl sie diese doofen Pilze gar nicht angerührt hatte!

 

Die Aula!

 

„Häh?“

Das konnte nicht sein! Nicht schon wieder!

 

Er ist in der Aula! Beeile dich, Anya Bauer!

 

Sie wollte fragen, ob Levrier zu ihr sprach, aber ließ es letztlich bleiben. Denn falls doch jemand hier war und hörte, wie sie zu ihren Hirngespinsten sprach, würde sie diese Person leider töten müssen. Sie hatte einen schlechten Ruf – auf den sie übrigens sehr stolz war – zu verlieren!

Dennoch. Diese Stimme hätte sie unter hunderten wiedererkannt. Es war eindeutig Levrier … aber was wollte er ihr sagen? Und wieso war er noch da? Und warum zur Hölle hatte er die Nerven, ausgerechnet -ihr- auf den Leim zu gehen!?

„Ach scheiß drauf!“ Es war ja doch nur ihre Fantasie, die sich einen Scherz mit ihr erlaubte.

Trotzdem war ihre Neugier geweckt. Wenn hier sowieso nichts los war, konnte sie genauso gut in die Aula gehen.

Also steuerte sie auf das Backsteingebäude zu, welches sie soeben erst verlassen hatte.

 

~-~-~

 

Anya drückte eine der Doppeltüren auf und trat in den riesigen, rechteckigen Saal ein. Über ihr lag ein Balkon mit einer Loge, welcher vom zweiten Stock aus erreichbar war. Die längliche Aula war wie eine Galerie angelegt, zu beiden Seiten ragte je ein halbes dutzend großer Fensterbögen fast bis zur Decke.

Während Anya an den Reihen der aufgestellten Stühle vorbeizog, fiel ihr Blick auf die angehobene Bühne, die für Aufführungen oder Reden verwendet wurde. Dort stand ein Mann, den sie nicht kannte, und schien bereits auf sie zu warten. Und er war nicht allein. Abby und Nick, sie … hingen aus Kreuzen aus purem Licht, waren wie festgenagelt? Und schwebten dabei über dem Boden?

„Alter Falter“, schoss es ehrfürchtig aus Anya heraus. „Geiler Effekt!“

„Danke“, hallte die schneidende, tiefe Stimme des Fremden durch die Halle.

 

Als Anya die Hälfte des Saals durchquert hatte, konnte sie ihn auch endlich besser erkennen. Sein Haar war ziemlich lang, schwarz und einige Strähnen waren zu einem komplizierten Zopf gebunden, den er über der rechten Schulter trug. Stechend grüne Augen starrten sie an, und wäre sein Gesicht nicht von etlichen Brandnarben gezeichnet, wäre er vielleicht sogar ganz attraktiv, überlegte Anya.

„Okay Kumpel, was ist das hier?“, fragte sie lässig und deutete auf ihre bewusstlosen Freunde.

„Oh, die? Wäre es vermessen zu sagen, dass sie als Dekoration fungieren?“ Er lachte beißend und trat einen Schritt nach vorn. Sein roter Ledermantel und die darunter liegende, schwarze Kleidung ließen ihn ein wenig wie Vincent Valentine aus Final Fantasy VII aussehen – aber Anya hasste dieses Spiel. Also hasste sie auch diesen Kerl.

„Darf ich mich zunächst vorstellen?“, fragte er höflich und verneigte sich. „Mein Name ist Alastair. Dämonenjäger von Beruf.“

„Du bist nicht zufällig aus Victim's Sanctuary ausgebrochen, oder?“ Anya kratzte sich am Kopf. Was für ein Spinner war das denn?

„Oh? Mitnichten. Aber ich habe ein schwarzes Schaf von seinem Leiden erlöst. Ich glaube, er war von dort entflohen. Wie war sein Name doch gleich? Jonathan?“

Anya traute ihren Ohren kaum. „Was willst du damit sagen, Fusselbirne? Jonathan ist tot!“

Ein widerliches Lächeln huschte über seine schiefen Lippen. „Und was glaubst du, wer ihn umgebracht hat? Sein Mörder? Nein, das wäre der falsche Begriff. Sein Erlöser, er steht direkt vor dir.“

„Ha ha, der war gut. Mal im Ernst, Narbengesicht, was soll der Scheiß? Wieso hängen meine Freunde dort?“ Sie zeigte auf Abby und Nick, die regungslos an ihren Lichtkreuzen in der Luft schwebten.

Die Augen des selbsternannten Dämonenjägers blitzten gefährlich auf. „Sie sind der Einsatz. Dein Einsatz, wie ich hinzufügen möchte.“

„Für was?“ Was laberte der Kerl da bloß, fragte Anya sich.

„Halt mich nicht zum Narren, dämonische Brut!“, donnerte er plötzlich mit solcher Inbrunst, dass das Mädchen ungewollt zusammenzuckte. „Solange noch ein Fünkchen Menschlichkeit in dir steckt, wirst du nicht zulassen, dass ich deine Freunde töte. Und genau darum geht es: wenn du nicht in ein Duell mit mir einwilligst, werden diese beiden sterben, und zwar auf der Stelle!“

 

Ohne Vorwarnung zückte er demonstrativ ein Messer, welches er hinter seinem Rücken im Gürtel versteckt hatte und rammte es Nick in den Oberschenkel. Blut tropfte seine Jeans hinab auf den Holzboden der Bühne.

Anya wollte nicht glauben, was sie soeben gehört und gesehen hatte.

„Wie du siehst, ist das kein Scherz“, sagte Alastair mit drohendem Tonfall und zog das Messer aus der Wunde. Noch mehr Blut rann über Nicks Hose, auch wenn der Einstich nicht sehr tief sein konnte, da die Klinge nicht einmal zu einem Viertel rot verfärbt war. „Die heilige Stimme des Engels Refiel bittet mich, dich in einem Duell zu vernichten, Anya Bauer, denn du bist besessen vom Bösen!“

„Hast du gerade meinem Freund 'n Messer ins Bein gejagt?“ Sie ballte die Fäuste und sah auf den laminierten Boden der Aula.

„Vollkommen richtig, Dämonenkind. Er bedeutet dir noch etwas, deswegen wirst du nicht zögern und ihn beschützen wollen. Das ehrt die unbefleckte Seele, die einst in dir gesteckt hat. Aber ich muss den Dämon in dir austreiben! Das ist meine Aufgabe als Jäger!“

Plötzlich blickte Anya mit hasserfüllten Augen auf und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist so was von tot, Drecksack! Wenn ich mit dir fertig bin, wird man diesen Raum renovieren müssen, weil sich die Überreste deiner Gedärme nicht von den Wänden kratzen lassen! Niemand, absolut niemand vergreift sich an meinen Freunden, Scheißkerl!“

„So redet nur ein Dämon“, stellte Alastair ruhig fest und zog plötzlich eine Karte aus seiner Hosentasche. Es war keine Duel Monsters-Karte, denn sie war von beiden Seiten her weiß. Auf ihr abgebildet war nur ein Kreuz aus schwarzem Feuer, das von einem silbernen Ring umfasst war.

Ein gleißender Blitz ging schlagartig vor der Karte durch den Saal. Anya musste die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden.
 

Und als sie sie wieder öffnete, schwebte vor ihr eine Art seidenes, schwarzes Tuch, das unstet vor sich her flatterte. Darin eingenäht waren Duel Monsters-Kartenzonen, wie man sie benutze, wenn man am Tisch spielte. Dasselbe Objekt war auch bei Alastair vorzufinden.

Aber nicht nur das! Anya stieg der Geruch von verbranntem Holz in die Nase. Feuer! Pechschwarz und dem Kreuz von der Karte gleich, umschloss es sie und einen Teil der Bühne, verbrannte die Stühle, die dabei im Weg standen. Sie und der Dämonenjäger waren gefangen!

Nicht der Blitz damals hatte die Straße mit Jonathans Leiche verbrannt, es war dieser Feuerkreis gewesen! Da war sich Anya sicher, jetzt, da sie es mit eigenen Augen sah. Dieser Mistkerl hatte ihren Mitschüler tatsächlich auf dem Gewissen und nun hatte er in seinem Wahn das Gleiche mit ihr vor!

„Kumpel, bei dir läuft's wohl nicht mehr richtig im Oberstübchen!? Ich bin kein Dämon! Und wenn wir schon dabei sind, lässt du jetzt erstmal schön meine Freunde frei, 'kay?“

„Und ob du einer bist! Der Engel Refiel hat dich entlarvt!“ Richterlich zeigte er mit dem Finger auf sie. „Du wirst durch meine Hand fallen!“

Anya konnte es nicht fassen. Dieser Kerl war völlig durchgeknallt. Was auch immer er hier für einen Hokuspokus abzog, dafür, dass er Nick verletzt hatte, würde er mit Blut zahlen müssen!

 

„Du willst ein Duell? Von mir aus! Dir werde ich erstmal ein bisschen Verstand einprügeln!“, zischte Anya voller Verachtung. Sie zog ihr Deck aus der hinteren Tasche ihrer an vielen Stellen löchrigen Jeans und legte es auf das schwarze Gebilde. Der Stoff glättete sich bei der Berührung und wirkte auf einmal wie eine Marmorplatte, so sehr glänzte er plötzlich.

„Deine Worte bedeuten mir nichts, dämonischer Abschaum!“, erwiderte Alastair und tat es ihr gleich.

Ein letztes Mal sahen die beiden sich voller Abscheu in die Augen, ehe sie schrien: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Alastair: 4000LP]

 

„Ich werde den ersten Zug machen“, kündigte Alastair an und zog sofort sechs Karten von dem Stapel, der sich rechts vor ihm erstreckte.

Anya biss sich vor Wut auf die Lippe. Hatte diese Pfeife doch tatsächlich ihren Trick gegen sie verwendet! Sie tat es ihm gleich und nahm fünf Karten auf die Hand. Es war merkwürdig, keine Duel Disk zu benutzen. Schon lange hatte sie das Spiel nicht mehr an einem Tisch gespielt, geschweige denn auf einem fliegenden Marmording.

Alastair legte indes eine Karte auf seinen Spielplan. „Ich beschwöre [Vylon Vanguard]!“

Ungläubig sah Ayna, wie aus einem goldenen Runenzirkel eine metallene Gestalt erschien. Der Unterleib wirkte wie ein stilisierter Blitz, während das Wesen dafür überdurchschnittlich lange Arme samt goldener Schulterpanzerung besaß. Sein Kopf war vergleichsweise klein und bestand nur aus einem grünen Auge.

 

Vylon Vanguard [ATK/1400 DEF/1000 (4)]
 

„Aber das war noch nicht alles. Dazu aktiviere ich die Magie [Double Summon]! Damit kann ich in diesem Zug eine zweite Normalbeschwörung durchführen! Erscheine, [Vylon Stella]!“

Wieder erschien ein Runenzirkel, dieses Mal trat jedoch ein metallischer Stern hervor. Um jeder zweiten der insgesamt sechs Spitzen schwebte ein goldener Ring und wie sein Artgenosse besaß es lange Arme am unteren Teil seines Körpers.

 

Vylon Stella [ATK/1400 DEF/200 (3)]
 

Anya wusste nicht, was sie von diesen seltsamen Kreaturen halten sollte. Sie wirkten unnatürlich, aber wenn man sich ihren Besitzer ansah, war das nicht weiter verwunderlich. Trotzdem, diese komische schwarze Platte musste über außergewöhnliche Technologie verfügen, wenn sie schweben und Hologramme darstellen konnte. So etwas wie Magie schloss Anya natürlich kategorisch aus, das war was für Tagträumer und Schwachköpfe! Vielleicht konnte sie eines dieser Dinger ja behalten und für teures Geld irgendwo verkaufen?

„Wie ich sehe, ist dir meine Technik völlig unbekannt“, stellte Alastair mit einem hässlichen Lächeln fest.

Also -war- das eine Maschine!

„Es ist schwer, all das in eine Karte zu bannen. Aber die Mühe hat sich bisher jedes Mal gelohnt.“

Und er -war- ein Schwachkopf! „Häh?“

Alastair winkte ab. „Du wirst es noch verstehen. Auch wenn ich zugeben muss, dass deine intellektuellen Fähigkeiten nicht sehr ausgeprägt zu sein scheinen.“

Anya war sich nicht ganz sicher, wie er das meinte. Hatte er sie gerade als dumm bezeichnet?

„Wie dem auch sei, ich bin noch nicht fertig! Denn [Vylon Stella] ist ein Empfänger-Monster und ich werde es jetzt auf [Vylon Vanguard] abstimmen!“ Er streckte die Hand in die Höhe, seine Monster begannen in die Luft aufzusteigen. „Level 3, [Vylon Stella] und Level 4, [Vylon Vanguard]! Infinite potential lies within the heart of steel. Cover this infected world with your sacred wings! Synchro Summon! [Vylon Delta]!“

Sein Empfänger zersprang in der Luft zu drei grünen Kreisen, die der Vanguard passierte. Kurz darauf wurde er zu Licht und aus den sich auflösenden Kreisen schwebte eine riesige Gestalt, die fast den ganzen Platz auf Alastairs, durch den Feuerkreis sehr eingeschränkten Spielfeldseite für sich beanspruchte.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/2800 (7)]
 

Viel konnte Anya von dem Wesen nicht erkennen, doch es folgte demselben Prinzip wie seine Vorgänger. Hinter den gewaltigen Stahlschwingen, die der abstrakte Maschinenengel schützend um den Körper hielt, konnte man große Fäuste erkennen. Sein Leib endete in einer rot glühenden Spitze, um die drei goldene Ringe schwebten.

„Ich aktiviere nun den Effekt von [Vylon Stella], da es auf den Friedhof gelegt wurde. Für 500 Lebenspunkte wird es nun zu einer Ausrüstungsmagie für [Vylon Delta]!“

Die Schwingen des abstrakten Wesens leuchteten kurz golden auf, jeweils drei Sterne zeichneten sich nun auf ihnen ab.

 

[Anya: 4000LP / Alastair: 4000LP → 3500LP]

 

„Ich beende meinen Zug mit einer verdeckten Karte“, sagte Alastair und legte sie neben die neuentstandene Ausrüstungskarte ab, die Stella jetzt war. Anya hatte keine Ahnung, was ihm das bringen sollte.

Egal, nachdenken war was für Streber und Leute, die nichts Besseres zu tun hatten! Und sie hatte etwas zu tun: diesen Kerl in seine Einzelteile zu zerlegen.

„Nun aktiviert sich der Effekt von [Vylon Delta]“, erklärte Alastair. „Wenn es in Verteidigungsposition liegt, kann ich während meiner End Phase eine Ausrüstungsmagie auf mein Blatt nehmen. So wie [Vylon Material] zum Beispiel.“

Er durchsuchte sein Deck und zeigte die grün-umrandete Karte vor. „Also?“
 

„Was, also? Mein Zug! Draw!“, rief sie voller Ehrgeiz und zog schwungvoll von ihrem Deck. „[Gem-Knight Garnet], dein Auftritt!“

Schon stand der Bronzeritter mit dem eingefassten Granat auf der Brustplatte vor ihr und ließ eine Flamme zwischen seinen Händen erscheinen.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Los, Attacke!“

Alastair schien nicht die Sorte von Duellant zu sein, der das Offensichtliche nicht wahrnahm, dachte Anya. Er stellte ihre Aktion nicht infrage. Solche Kerle waren gefährlich … Levrier, ihr Hirngespinst, war genauso gewesen.

Da er nicht zu reagieren schien, zückte Anya bereits ihren Schlüssel zum Knacken der absurd hohen Verteidigung von Alastairs Kreatur. „[Gem-Merchant]! Verkaufe Garnet eine Extraportion Angriffspunkte! Heute gibt es 1000 zum Nulltarif!“

Sie legte das kleine, aber sehr hilfreiche Monster auf den Friedhof und genoss die Show.

Hinter ihrem Ritter tauchte das kleine Zauberwesen mit Hut auf, flüsterte einen unverständlichen Spruch und verschwand dann in Garnet.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 → 2900 DEF/01000 (4)]

 

Diesem Angriff würde nichts und niemand standhalten können, dachte Anya zufrieden, während die Flamme in Garnets Händen schlagartig anwuchs.

Doch anscheinend hatte Alastair nur darauf gelauert, dass sie [Vylon Delta] attackieren würde. Er drehte die von ihm liegende Fallenkarte um und lachte laut. „Du Närrin! Du bist noch berechenbarer, als ich es erwartet hatte! Nun zahle den Preis für deine Torheit! [D2 Shield]!“

„Was'n das?“ Anya ahnte, dass das nicht gut für sie war.

„Mit dieser Karte kann ich die Defensive eines meiner Monster dauerhaft verdoppeln! Sieh her, wie [Vylon Delta] zu einer uneinnehmbaren Festung wird!“

Strahlend weißes Licht breitete sich wie eine Aura um den mechanischen Engel aus und verlieh ihm in seiner Größe eine noch bedrohlichere Note.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/2800 → 5600 (7)]

 

„Oh shit! Was zum-!“

Die Flamme, welche Garnet auf Delta abfeuerte, verpuffte an seinen Schwingen wie ein laues Lüftchen. Plötzlich spannte die Kreatur seine Flügel und schoss aus beiden Händen Laserstrahlen.

„[Vylon Stellas] Effekt!“, donnerte Alastair. „Wenn das mit ihm ausgerüstete Monster kämpft, wird jeder Feind nach dem Angriff zerstört werden, selbst wenn mein Monster dabei in der Defensive ist!“

Auch das noch, dachte Anya erschrocken. Ihr Ritter, der von den Strahlen getroffen wurde, explodierte und erzeugte eine Schockwelle, die sie glatt von den Beinen riss.

Sie schlug hart auf dem Boden auf und rollte bis ganz an den Rand des schwarzen Feuerkreises. Die sengende Hitze auf ihrer Haut spürend, wich sie sofort zurück. Und dann war da noch dieser merkwürdige Geruch von … Verwesung? Die Flammen stanken nach Tod.

Schwankend kam Anya auf die Beine und eilte zu dem schwebenden Spielplan zurück. Ihr war übel von diesem widerlichen Gestank. Der Kerl musste ein echter Zauberkünstler sein, um so etwas zu schaffen!

„Warum trittst du nicht in Las Vegas auf, statt mir auf die Eierstöcke zu gehen?“, herrschte sie ihn wütend an.

 

[Anya: 4000LP → 1300LP / Alastair: 3500LP]

 

Als Anya schließlich die Lebenspunkte nachzählte – sie hasste Kopfrechnen – traf sie der Schlag. Diese eine Attacke hatte sie über die Hälfte ihrer Lebenspunkte gekostet! Dabei hatte Alastair noch nicht einmal angriffen! Das war …

Sie sah auf ihren Spielplan. Und ihre Lebenspunkte waren ohne Garnet auch noch völlig ungeschützt. Nächste Runde brauchte dieser Spinner nur anzugreifen und hatte damit mühelos gewonnen. Nein, so leicht würde sie es ihm nicht machen!

„Zauberkarte!“, brüllte sie regelrecht und hielt ebenjene hoch. „[Silent Doom]! Damit reanimiere ich Garnet vom Friedhof, aber in Verteidigungsposition!“

Ihr Krieger tauchte kniend aus einem Loch im Boden wieder vor ihr auf.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]
 

„Da hättest du auch genauso gut ohne Monster verbleiben können. Dir ist bewusst, dass ein Monster ohne Verteidigungspunkte kein Hindernis für mich sein wird?“

Anya knurrte bloß. Natürlich wusste sie das, hielt der sie denn für vollkommen verblödet? Aber es war immer noch besser als nichts, was sie da mit ihm vor hatte. „Ich setze eine Karte verdeckt und beende den Zug.“

Sie legte die Falle in die entsprechende Zone. Mit den übrigen zwei Karten in ihrer Hand konnte sie momentan nichts anfangen. So ein Kackmist!

 

Alastair zog und lächelte finster, was sein entstelltes Gesicht völlig aus den üblichen Proportionen warf. „Das war einfacher als ich gedacht hatte. Sieh es von der positiven Seite, denn je eher ich den Dämon in dir ausgetrieben habe, desto schneller ist dein Leiden vorüber.“

Der Kerl klang tatsächlich so, als täte er ihr damit einen Gefallen!

„Pfff! Dir müssen sie ja echt ins Gehirn geschissen haben! Wenn du denkst, ich beiße so leicht ins Gras wie Jonathan, hast du dich aber schwer getäuscht!“

Auch wenn sie ihren Mitschüler wie die Pest gehasst hatte, seinen gewaltsamen Tod würde sie rächen. Und anschließend würde nichts mehr von dem Kerl übrig bleiben, was man dem Haftrichter noch vorführen könnte! Irre wie der hatten keine Gnade verdient!

Sie sah zu ihren Freunden, die leblos an den Kreuzen hingen. Abby und Nick als Schutzschild zu verwenden war das Niederträchtigste, was sie je gesehen hatte. Und wenn sie etwas noch mehr hasste als Kopfrechnen und Jonathan, dann war es Feigheit! Die stand gleich unter Valerie Redfield.

„Diese beiden …“, murmelte Alastair, welcher Anyas Blick bemerkt hatte. Nun sah auch er sich Nick und Abby an. „Ich fürchte, sie muss ich nach unserer kleinen Auseinandersetzung auch vernichten. Zu groß ist die Gefahr, dass der Dämon sie als Möglichkeit zur Flucht missbraucht. Vermutlich hat er sie schon durch den bloßen Kontakt mit dir infiziert.“

„Du wirst schön die Finger von ihnen lassen!“

„Sonst?“ Er zückte wieder sein Messer und hielt es direkt unter Abbys Kehle.

„Werde ich dich zwingen, deine eigenen Eingeweide zu fressen, Scheißkerl! Nimm das Messer weg, du-“

Er steckte es wieder hinter seinen roten Mantel und schnalzte mit der Zunge. „Du bist wirklich nicht sehr klug, oder? Ist dir klar, dass du mit dem Mann sprichst, der jederzeit deine Freunde töten könnte? Zügle deine Zunge, Dämon!“

„Und? Wie soll ich denn sonst mit dir reden?“ Anya hatte keine Ahnung, was der von ihr wollte. Generell blieb ihr schleierhaft, wieso dieser Typ auf die Idee kam, dass ausgerechnet sie ein Dämon sein sollte. Andererseits war das wohl so bei Verrückten.

Alastair atmete tief durch. „Ich sehe schon, bei dir ist Hopfen und Malz verloren. Wir sollten das zu einem schnellen Ende bringen.“ Ohne weiter Zeit zu verlieren, zog er seine Karte und legte sofort eine andere von seinem Blatt auf den schwarzen Spielplan.

„[Vylon Cube]!“

Ein Würfel aus Metall tauchte aus einem Runenzirkel vor seinem anderen Monster auf. Genau wie alle anderen Vylons, hatte auch dieser Arme, bestehend aus Gold.

 

Vylon Cube [ATK/800 DEF/800 (3)]

 

Anschließend legte Alastair seine Finger auf die weiße Karte von [Vylon Delta] und drehte es von waagerechter in die senkrechte Lage. Er hatte es in Angriffsposition gewechselt.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/5600 (7)]

 

Das war ihre Chance, dachte Anya. Jetzt, wo dieses überdimensionale Vieh nicht länger seine astronomisch hohe Verteidigung als Schutz vorweisen konnte, würde sie es ausradieren können. Dieser kranke Mistkerl sollte nur aufpassen!

Jener sagte: „Das wird genügen, um den Rest deiner Lebenspunkte auszulöschen. [Vylon Cube], zerstöre [Gem-Knight Garnet]. [Vylon Delta], sorge dafür, dass ihr Antlitz dem Erdboden gleichgemacht wird!“

Aus der Mitte seines Körpers schoss der Würfel einen schmalen, gelben Laserstrahl, der über den Boden der Aula direkt auf Garnet zusteuerte. Aber Anya hatte vorgesorgt. „Verdeckte Falle aktivieren! [Pyroxene Fusion]! Sie lässt mich Gem-Knights von Hand und Spielfeld verschmelzen, genau wie [Gem-Knight Fusion] es tun würde!“

Sie nahm Garnet, als auch ihre Falle, vom Spielplan und hielt sie zusammen mit einem weiteren Ritter in die Höhe. „[Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Crystal], du bist die Rüstung! Vereinigt euch!“

Ein unglaublich schneller Wirbel aus Edelsteinen sog die beiden Ritter ein, welche aus ihren Karten erschienen. Dann gab es einen Lichtblitz und das neue Monster stand vor Anya. „[Gem-Knight Ruby]!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Stolz hob der Ritter in seiner Bronzerüstung die Lanze in seinen Händen. Mit wehendem, blauem Umhang verneigte er sich vor Anya und ging dann in Kampfposition.

„Sieht so aus, als wäre dein Angriff fehlgeschlagen, was? An dem hier kommst du nicht so leicht vorbei“, grinste die verstohlen. Das kam davon, wenn man sie unterschätzte! Nun würde sie mit aller Macht zurückschlagen!

„Offensichtlich“, erwiderte Alastair kühl. „Aber das ist nur eine kurzfristige Lösung.“

„Häh? Lösung? Wofür?“ Wollte der sie für dumm verkaufen?

„Für das, was dich jetzt erwartet, Dämon“, zischte er derart hasserfüllt, dass Anya regelrecht beeindruckt war. Warum klang sie nicht so cool?

Alastair streckte beide Arme in die Höhe. „Ich beende meine Battle Phase, doch höre meine Worte, Dämon. Du hast den Weg des Leidens gewählt und nun wirst du ihn bis zu deinem letzten Herzschlag beschreiten. Mach dich gefasst!“

Wie Anya solche pathetischen Reden hasste. Die holten doch nicht mal ihre tote Großmutter unterm Sofa hervor. Eher-

Die Erde begann zu beben. Immer stärkere Erschütterungen suchten die Schule heim, sodass Anya glatt ins Schwanken geriet.

„Was zum-!?“

„Level 3, [Vylon Cube] und Level 7-Synchromonster, [Vylon Delta]!“, rief Alastair regelrecht besessen. „Infinite evil, waiting for the purge! Be the voice of his justice! Synchro Summon! Purify this twisted world! [Vylon Ultima]!“

 

Gleißendes Licht blendete Anya derart, dass sie die Augen zukneifen musste. Das Beben wurde zunehmend stärker und dazu ertönte plötzlich ein unheimlich lautes Geräusch. Ein Quietschen, so schrill, als würde man mit Metall über eine Tafel kratzen. Dazu kam noch ein dröhnendes Summen, sodass sie sich zusätzlich die Ohren zuhielt. Darauf folgte fürchterliches Poltern und Krachen, als würde die Welt auseinanderbrechen.

Was zum Geier hatte dieser Spinner da beschworen?

Als der Lärm und das Beben nachließen, öffnete Anya langsam die Augen. Und bereute dies sofort.

„Dies soll dein Henker sein, Anya Bauer!“, sprach Alastair feierlich, auch wenn er hinter diesen Monstrum längst nicht mehr zu sehen war.

 

 

Turn 04 – Path To Decay

Alastair gelingt es problemlos, Anyas [Gem-Knight]-Fusionen durch [Vylon Ultima] zu versiegeln. Obwohl Anya versucht, sich mit anderen Mitteln wie [Gem-Knight Crystal] zu wehren, prallen ihre Attacken an Alastair wirkungslos ab. Doch inmitten des Kampfes erscheint plötzlich Levrier und bietet seine Hilfe an. Anya, die keine Wahl hat, muss den sprichwörtlichen Pakt mit dem Teufel eingehen und erhält im Gegenzug für ihr Versprechen, zusammen mit Levrier „Eden“ zu werden, eine neue Kraft …

Turn 04 - Path To Decay

Turn 04 – Path To Decay

 

 

Erschrocken wich Anya zurück.

Sie hatte ja mit etwas Großem gerechnet, aber das hier übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. [Vylon Ultima] machte seinem Namen alle Ehre. Denn aufgrund seines gigantischen Körpers war die ohnehin schon hohe Decke der Aula einfach eingestürzt. Überall um den schwarzen Feuerzirkel lagen Trümmer, in seinem Innersten hingegen nicht ein Krümel, ganz als hätte er die beiden Duellanten sowie Nick und Abby geschützt.

Anya musste den Kopf in den Nacken legen, um die ganze Größe dieses Monsters zu erfassen. Sechs mechanische Schwingen aus Gold besaß es. Sie gingen aus einem riesigen Kreuz hervor, dem Körper des Wesens, von dem zwei riesige Arme herunter hingen. An der Spitze jenes Kreuzes prangerte der kugelrunde Kopf mit einem roten Auge. Ein goldenes Geflecht aus Stangen um sein Haupt bildete eine Art Kragen, der ihn wie einen Richter aussehen ließ.

 

Vylon Ultima [ATK/3900 DEF/3500 (10)]
 

„Alter Falter …“, murmelte Anya.

Der schwarzhaarige Alastair, welcher samt Anyas Freunden nun von seinem Monster verdeckt wurde, lachte selbstherrlich. „Siehst du jetzt, mit wem du dich hier angelegt hast, Dämon? Du bist nur einer von vielen, die ich in den letzten Jahren vernichtet habe! Ich habe mir geschworen, jeden einzelnen von euch dem Erdboden gleichzumachen!“

Das Mädchen hörte jedoch gar nicht hin. Eher beschäftigte sie, wie sie dieses Unding aus dem Weg räumen konnte. Ihr [Gem-Knight Ruby] war kein Gegner für dieses Monstrum.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Ganz zu schweigen davon, dass ihre Lebenspunkte knapp bemessen waren.

 

[Anya: 1300LP / Alastair: 3500LP]

 

„Die Euren sind vernichtungswürdig! Ihr existiert nur, um andere ins Unglück zu ziehen“, zischte Alastair voller Verachtung. „Euch ist der Weg ins Paradies Gottes auf ewig verschlossen. Selbst der Engel Refiel kennt für euch keine Gnade. Das Mädchen werde ich retten, doch du wirst in der Hölle schmoren!“

Anya verschränkte missmutig die Arme. „Wieso kommt neuerdings jeder dahergelaufene Spinner auf die Idee, dass mich das interessiert? Alter, du hast meine Freunde gefangen genommen! Wenn hier jemand 'n bisschen Gnade nötig hat, dann wohl eher du!“ Nicht, dass sie ihm die gewähren würde.

„Tch. Rede mit falschen Zungen, solange du noch kannst!“ Er lachte. „Führen wir das hier fort! Ich aktiviere den Effekt von [Vylon Cube], da es für die Synchrobeschwörung eines Licht-Monsters eingesetzt wurde. So kann ich eine Ausrüstungsmagie von meinem Deck meinem Blatt hinzufügen. Wählen tue ich [Vylon Component]!“

Anya konnte zwar nicht sehen, was er da tat, aber wenn er auch nur daran dachte, sie zu betrügen, würde das mit gebrochenen Rippen vergolten werden.

„Und jetzt wirst du deinen schlimmsten Albtraum erleben, dämonische Brut“, tönte Alastair plötzlich majestätisch. „Ich aktiviere drei Ausrüstungsmagien, welche [Vylon Ultima] noch mächtiger machen werden! [Vylon Material], [Vylon Component] und [Vylon Filament]!“

Dreimal leuchtete das riesige Ungetüm in gleißend hellem Licht auf. Anya hatte keine Ahnung, wie sich diese Karten auf das ohnehin schon viel zu starke Wesen auswirken würden. Aber dass auf einmal der oberste rechte, der mittlere rechte und der unterste linke Flügel rot strahlte, konnte kaum etwas Gutes bedeuten.

 

Vylon Ultima [ATK/3900 → 4500 DEF/3500 (10)]

 

„Na toll“, brummte Anya genervt. Jetzt war es noch stärker.

„Ist es die hohe Offensive, die dir Furcht bereitet?“, fragte Alastair höhnisch. „Das sollte sie, aber noch viel mehr solltest du dich vor dem fürchten, was durch das Ausrüsten von Magiekarten an [Vylon Ultima] ausgelöst wurde! Denn für jede von ihnen kann ich eine Beschwörungsart versiegeln, die fortan von keinem Spieler mehr angewendet werden kann.“

Das klang überhaupt nicht gut, dachte Anya.

„Und überlegen wir mal, was dich am härtesten treffen würde? Ich weiß … Fusionsbeschwörung für [Vylon Material]. Damit du nicht trotzdem auf die Idee kommst, starke Monster zu rufen, wähle ich dazu noch für [Vylon Component] Tributbeschwörung und für den unwahrscheinlichen Fall, dass du sie besitzt, dank [Vylon Filament] die Beschwörung von Synchromonstern.“

Anya glaubte sich verhört zu haben. Hatte dieser Spinner gerade alle Beschwörungsarten versiegelt, die für sie relevant waren? Wie sollte sie unter diesen Umständen etwas beschwören, das stark genug war, um [Vylon Ultima] zu besiegen!?

„Es ist ausweglos, Dämon. Und selbst wenn es dir gelänge, [Vylon Ultima] zu zerstören, würden beim ersten Versuch nur sämtliche Ausrüstungsmagien verloren gehen. Damit du aber gar nicht auf diesen Gedanken kommst, spiele ich meine letzte Karte aus, die dauerhafte Magie [Vylon Element]. Sollten Vylon-Ausrüstungsmagien zerstört werden, kann ich für jede von ihnen ein Vylon-Empfänger-Monster von meinem Deck rufen. Du hast dein Leben in dem Moment verwirkt, als du dich auf den Dämon in dir eingelassen hast! Da ich meine Battle Phase bereits durchgeführt habe, ist mein Zug jetzt beendet!“

 

Großartig, dachte Anya grimmig. Dieser Kerl war nicht nur vollkommen durchgedreht, sondern auch noch stark. Ein wenig zu stark für ihren Geschmack.

Sie sah ihre verbliebene Handkarte an, dann [Vylon Ultima]. Selbst wenn sie [Gem-Knight Rubys] Angriffspunkte erhöhen und diesen seltsamen Maschinenengel zerstören könnte, wäre im Grunde nichts gewonnen. Erstens wäre er nicht endgültig besiegt und zweitens hätte sie dann durch [Vylon Element] nur noch mehr Probleme an der Backe. Ihre Situation war aussichtslos. Aber das musste der ja nicht wissen!

„So, Narbengesicht, mach dich auf was gefasst! Draw!“

Doch entgegen ihrer Hoffnung hatte sie nichts gezogen, was ihr in ihrer Lage wirklich weiterhalf. Es blieb ihr keine andere Wahl.

„Ich wechsle Ruby in die Verteidigung“, rief sie und drehte ihr Fusionsmonster auf der schwarzen Marmorplatte in die Horizontale. „Dann setzte ich sowohl ein Monster, als auch eine weitere Karte verdeckt. Zug beendet!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]
 

Sie hörte Alastair lachen. „Mehr habe ich auch nicht erwartet. Mein Zug! Und ich beschwöre [Vylon Soldier]!“

Vor der riesigen Gestalt Ultimas erschien eine geradezu mickrige im Vergleich. Neben einem Körper aus Stahl besaß das Wesen zwei kräftige Arme aus purem Gold.

 

Vylon Soldier [ATK/1700 DEF/1000 (4)]
 

„Und jetzt … vergehe, Dämonenbrut!“, donnerte Alastair aufgebracht. „[Vylon Ultima], werde das Schwert des Herren und vernichte dieses Ausgeburt der Hölle! Angriff auf [Gem-Knight Ruby] … “
 

Anya Bauer!

 

„Was?“ Anya horchte auf. Das war doch-!
 

Aktiviere deine Falle! Schnell, bevor der Angriff stattfindet!
 

„Nen Teufel werd' ich-“
 

Tu es, oder du wirst dein Leben verlieren!

 

Was für ein Schwachsinn! Anya starrte auf ihren Spielplan. Warum konnte dieses Hirngespinst sie nicht einfach in Ruhe lassen!?

Dennoch waren da gewisse Zweifel. Hatte Levrier recht? Vielleicht war es wirklich besser, ihre gesetzte Karte zu aktivieren? Levrier war ein Produkt ihrer Fantasie, also praktisch so etwas wie eine innere Stimme – eine lästige wohlgemerkt – aber sie würde sich wohl kaum selbst schaden wollen, dachte Anya. Trotzdem war es merkwürdig. Aber was hatte sie schon zu verlieren?

„Verdeckte Falle! [Inverse Universe]! Sie vertauscht die Angriffs- und Verteidigungswerte aller Effektmonster auf dem Spielfeld!“
 

Vylon Ultima [ATK/4500 → 3500 DEF/3500 → 4500 (10)]

Vylon Soldier [ATK/1700 → 1000 DEF/1000 → 1700 (4)]

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 1300 DEF/1300 → 2500 (6)]

 

„Holy Extermination Beam!“, brüllte Alastair.

Inmitten des Kreuzes von [Vylon Ultima] strahlte ein rotes Licht, welches augenblicklich einen gewaltigen Laserstrahl auf Anyas Monster abfeuerte. Dieses ging in einer so schweren Explosion unter, wodurch Anya nun schon zum zweiten Mal während des Duells von den Füßen gerissen und weg geschleudert wurde. Und dieses Mal war der Aufprall so hart, dass sie aufschrie.

 

[Anya: 1300LP → 300LP / Alastair: 3500LP]

 

Unter Schmerz erhob sich Anya und wieder stieg ihr der Geruch von Verwesung in die Nase, welcher von den Flammen um sie herum ausging. Sie humpelte zur schwebenden Marmorplatte zurück, hielt sich dabei den rechten Oberarm, der am meisten abbekommen hatte.

„Verdammter Kackmist, was war das denn!?“

„Ein fehlgeschlagener Versuch, dich zu vernichten“, zischte Alastair wütend. „Woher wusstest du, dass [Vylon Filament] die Aktivierung von Zauber- und Fallenkarten verhindert, sobald [Vylon Ultima] angreift? Das hat dir das Leben gerettet, denn andernfalls hätte der Durchschlagschaden von [Vylon Component] deine restlichen Lebenspunkte ausgelöscht!“

„Ich bin eben gut“, tönte Anya und grinste. Nur fühlte sie sich eher wie jemand, der gerade von einem Laster überrollt worden war. Und dann war da noch Levrier. Hätte er sie nicht darauf hingewiesen, wäre sie jetzt vielleicht schon tot! Aber woher hatte er, sprich sie, das gewusst? … sie war eben wirklich verdammt gut!

„Aber ich bin noch nicht fertig“, rief Alastair, „denn [Vylon Soldier] greift dein verdecktes Monster an!“

Der mechanische Engel kam wie ein Pfeil auf Anyas unbekanntes Monster zugeschossen, welches jetzt aus seiner Karte sprang. Es war ein grauer Tonkrug mit einem einäugigen, grinsenden Gesicht im Inneren.

 

Morphing Jar [ATK/700 DEF/600 (2)]

 

Von der gewaltigen Faust des Soldaten wurde er in tausend Stücke geschlagen.

„Flipp-Effekt!“, rief Anya. „Wenn [Morphing Jar] aufgedeckt wird, werfen wir unsere Hand ab und ziehen fünf neue Karten!“

„Ich habe keine Karten auf meiner Hand.“

„Ich ebenfalls nicht.“ Und so zog Anya ein brandneues Blatt, in der Hoffnung, einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage zu finden. Doch was sie sah, überzeugte sie nur bedingt.

„Bevor ich meinen Zug beende, setze ich noch eine Karte“, rief Alastair. „Dabei belasse ich es vorerst.“

 

Wortlos zog Anya ihre Karte und erstarrte. [Gem-Knight Fusion]! Aber die war nutzlos, solange [Vylon Ultima] sämtliche Fusionsbeschwörungen versiegelte. Was für ein Scheißdreck!

Dennoch würde sie nicht kuschen, sondern in die Vollen gehen. Irgendwie würde sie dieses Mistvieh schon kleinkriegen! „Zauberkarte aktivieren! [Monster Reborn]! Damit kann ich ein x-beliebiges Monster von unseren Friedhöfen reanimieren und ich entscheide mich für [Gem-Knight Crystal]! Und damit das Ganze umso cooler wirkt, rüste ich ihn noch mit [Megamorph] aus, was seine ATK verdoppelt, da ich weniger Lebenspunkte besitze als du, Frankenstein!“

In weißer Rüstung erhob sich der Kristallritter vor Anya und stemmte stolz seine Hände in die Hüften. Die durchsichtigen Kristalle an seinen Schulterplatten wuchsen dank Anyas Zauberkarte so stark an, dass sie wie endlos lange Dornen wirkten.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 → 4900 DEF/1950 (7)]

 

„So macht man das richtig! Und jetzt zermalme [Vylon Ultima]! Clear Punishment!“

Mit erhobener Faust flog ihr Krieger auf die riesige Maschine zu und holte aus.

„Nicht so hastig, denn du hast meine Falle ausgelöst! [Mirror Force]! Damit werden bei einem Angriff all deine Monster in der Offensive zerstört!“

Crystal schlug zu, doch traf nur auf eine spiegelnde Mauer und zerstörte seine Reflexion. Als diese zersprang, explodierte auch Anyas Ritter. „Oh verdammter Mist!“

„Du musst dir schon etwas Besseres einfallen lassen als das“, höhnte Alastair verächtlich.

Anyas Kiefer mahlten. Dieser Kerl war ja fast noch krasser drauf als Valerie Redfield. Allein wenn sie an die dachte, kochte die Wut in ihr umso schlimmer, was ihr neuen Auftrieb gab.

Egal, sagte sie sich sauer. Dann würde sie eben nächste Runde zuschlagen. Und bis dahin …

„Ich aktiviere [Swords Of Revealing Light]! Damit kannst du drei Runden nicht angreifen, Drecksack! Und da ich noch kein Monster als Normalbeschwörung beschworen habe, setze ich jetzt eines in Verteidigungsposition! Dein Zug!“

Drei grüne Lichtschwerter schossen aus dem Himmel um die beiden Vylons von Alastair. Die traurige Wahrheit jedoch war, dass Anya momentan keine Ahnung hatte -wie- sie zuschlagen sollte. Ihre letzten beiden Handkarten waren keine große Hilfe.
 

„Versteck dich nur, das wird dir auch nichts nützen. Ich setze ebenfalls ein Monster und wechsle [Vylon Soldier] in die Defensive. Mehr kann ich momentan nicht tun, also passe ich!“

Seine Kreatur hob die Arme über Kreuz, um sich zu schützen.

 

Vylon Soldier [ATK/1000 DEF/1700 (4)]

 

Anya Bauer!

 

Wieder Levriers Stimme. Anya sah sich um, doch innerhalb der Aula waren nur sie und Alastairs Monster. Was hinter denen gerade vor sich ging, konnte sie aufgrund von [Vylon Ultimas] massiven Leib nicht sehen.

„Was ist denn? Sei endlich still, du gehst mir auf die Eierstöcke“, flüsterte sie. Hoffentlich hörte es keiner, denn sonst konnte sie sich gleich den nächsten Vortrag über Dämonen und Engel und den ganzen Bockmist anhören!

 

Etwas geht vor sich mit deinem Gegner! In seinem Körper sammelt sich eine mächtige Präsenz! Stark genug, um dem Schicksal eine neue Wendung, einen neuen Pfad zu verleihen!

 

Anya blinzelte verwirrt. „Und jetzt nochmal so, dass ich es auch verstehe!“, zischte sie.

 

Verzeih. Ich habe deine unterentwickelten geistigen Fähigkeiten vergessen. Was ich mit meinen Worten ausdrücken wollte ist, dass er nächste Runde sein Deck ganz nach Belieben manipulieren kann. Sprich: er wird eine Karte ziehen, die deinen Untergang besiegeln wird.

 

„Heißt das, er schummelt?“
 

Wenn du es so nennen willst? Ja. Aber es ist mehr als das. Es ist eine Gabe, vermutlich verliehen von diesem Engel Refiel, den er mehrmals erwähnt hat. Zumindest wirkt es auf mich so.

 

„Ihr seid doch alle durchgeknallt hoch zehn!“

Aber im Grunde hatte Levrier gar nicht so unrecht. Jetzt, da sie seine Bewegungen nicht sehen konnte, war es für Alastair ein Leichtes, sie nach Strich und Faden zu verarschen.

„Dem werd' ich-!“ Aber solange sie nicht an den Vylons vorbeikam, konnte sie ihm nicht sämtliche Knochen brechen. Sie gab einen Wutschrei von sich, ehe sie „Draw!“ rief.

Sie starrte ihre Hand an. Neben [Gem-Knight Fusion] und [Gem-Knight Emerald] hatte sie nun auch [Pot of Avarice] gezogen. Genau was sie brauchte!

Anya überlegte. Wenn sie Emerald beschwor, konnte sie ihn und ihren verdeckten [Gem-Knight Tourmaline] aus dem Spiel verbannen, um Ruby zurückzuholen. Aber dann hätte sie nur noch vier Monster auf ihrem Friedhof und könnte ihre Zauberkarte nicht mehr ausspielen. Und Ruby allein brachte ihr gar nichts.

„Zauberkarte!“, rief sie schweren Herzens. „[Pot of Avarice]! Damit mische ich [Gem-Merchant], Garnet, Ruby, Crystal und [Morphing Jar] in mein Deck zurück und ziehe zwei Karten!“

Sie legte besagte Monster auf ihr Deck zurück und mischte es. Wenn Levrier – ihre weibliche Intuition – wirklich recht hatte, war das womöglich ihre letzte Chance.

Mit zitternder Hand – was natürlich ausschließlich an der Vorfreude auf Alastairs Verderben lag – legte sie das Deck zurück auf die schwarze Marmorplatte und begann zu ziehen. Was würde mit ihr geschehen, wenn sie jetzt verlor? Würde sie wie Jonathan enden? Zu sterben wäre scheiße, deswegen entschied Anya sich kurzerhand, dass das noch Zeit haben musste, bis mindestens ein Bundesstaat nach ihr umbenannt wurde.

Hastig zog sie die zwei Karten und war überrascht und gleichzeitig enttäuscht von dem Ergebnis. Sie hatte versagt … es war vorbei!

 

Noch nicht ganz.

 

Anya wurde ohne Vorwarnung schwarz vor Augen. Sie spürte, wie ihr Körper schlapp machte und sie umkippte. Doch den Aufschlag fühlte sie schon gar nicht mehr.

 

Sie stand hier, inmitten der Finsternis, auf dem Mosaik der Erde. Es war nicht mehr beschädigt von dem Duell mit Levrier und Anya sah, dass aus dem Nichts eine Gestalt auf sie zukam. Es war ihr Ebenbild … nein, Levrier! Also doch sie! „Argh!“

„Ich biete dir eine Möglichkeit, deinem Tod zu entkommen“, kam dieser sogleich mit seiner unmenschlichen Stimme auf den Punkt. Aus Anyas blauen Augen sah er das Mädchen fordernd an.

„Die wäre?“, hakte die trotzig nach. Sie war geneigt, darüber nach zu grübeln, warum sie jetzt schon wieder träumte, aber nachdenken war scheiße, deswegen ließ sie es bleiben. Ihr Kopf rauchte ohnehin schon genug.

„Ich gebe dir eine Karte, die dich vielleicht retten könnte. Doch sei gewarnt, selbst mit ihr wirst du deinen übermächtigen Feind nicht in die Knie zwingen können. Dazu braucht es mehr als das und ich bin mir nicht sicher, ob du über die nötigen Geschicke verfügst. Deine Chance ist schwindend gering, aus dieser Sache herauszukommen.“

Anya rümpfte die Nase. „Und was muss ich dafür tun?“

Dass Levrier ganz ruhig blieb und man seine Gefühle anhand der Stimme nicht abschätzen konnte, machte die Blondine nervös. „Du musst einen Pakt mit mir eingehen. Das Versprechen, dass wir zusammen Eden werden.“

„Du spinnst wohl! Ich hatte schon mal gesagt, dass-“

„Bedenke deine Worte“, mahnte Levrier sie streng und hob zur Verdeutlichung den Zeigefinger. „Du bist nicht in einer Position, in der du dir Fehler erlauben kannst. Dein Gegner kämpft mit sagenhaften Kräften und hat einen Engel an seiner Seite. Dein Tod ist unausweichlich, solltest du mein Angebot jetzt ausschlagen.“

Anya ballte die Fäuste und biss sich auf die Lippen. Sie sprach hier mit ihrem Hirngespinst über Engel und Zauberkräfte! Jetzt war es offiziell, sie lief nicht mehr ganz rund im Oberstübchen! Vielleicht hätte sie doch zu dieser Polizeipsychologin gehen sollen? … nah, eher würde sie eine Woche lang n-e-t-t sein!

„Ich warte auf deine Antwort.“ Levrier starrte sie aus kalten, blauen Augen an. „Ein Wort von dir und ich verschwinde auf ewig aus deinem Geist. Doch dann bist du verloren.“

„Und was passiert, wenn ich zustimme?“

„Dann werde ich dir einen Weg aus deiner Lage weisen. Dazu musst du genau tun, was ich dir sage. Aber selbst dann ist die Aussicht auf Erfolg schwindend gering.“

Anya legte ihre Hand an die Wange und überlegte. Es stimmte schon, sie saß ganz schön in der Patsche. Jede Hilfe wäre ihr im Grunde recht. Aber Levrier erschien ihr alles andere als vertrauenerweckend und außerdem war er nur ihrer grenzenlosen, durchgeknallten Fantasie entsprungen. Was konnte er da schon ausrichten?
 

Aber hatte sie überhaupt eine andere Wahl? Jeder kleine Hoffnungsschimmer war besser als nichts und schlimmstenfalls geschah auch 'nichts'. Levrier war sowieso nicht real. Also was hatte sie schon zu verlieren?
 

Ohne weiter darüber nachdenken zu wollen, streckte Anya gönnerhaft ihren Arm aus. „Deal.“

„So sei es.“ Die falsche Anya nahm die Hand des Originals und lächelte geheimnisvoll.

Plötzlich schien es dem Mädchen, als würde ihr Arm verbrennen. Sie ging ächzend in die Knie, hielt dabei noch immer Levriers Hand, welcher sie nicht losließ.

„Was soll das jetzt?“, stöhnte sie, wollte sich losreißen. Aber sein Griff um ihre Hand war eisern.

„Das ist die Erinnerung an unser Versprechen, Anya Bauer. Es wird dir große Kraft verleihen, aber sei gewarnt. Wenn du unser Bündnis brichst, wird dir ein schlimmeres Schicksal als der Tod zuteil.“

Mit diesen Worten ließ Levrier sie los. Anya starrte ungläubig auf ihren rechten Unterarm. Auf dem prangerte ein pechschwarzes Zeichen.

Ein schwarzes Kreuz mit einem stacheligen Kreis, welcher durch die vier Seiten des Kreuzes verlief. Ein leichter bräunlicher Schimmer lag unter ihrer Haut, doch er verging. Sprachlos starrte sie das Bildnis an, welches sie an ein Brandmal erinnerte.

Dann brach das Mosaik unter ihren Füßen auseinander und sie begann wieder zu fallen. Und während die Splitter um sie herum in den verschiedensten Farben tanzten, glaubte Anya, in der Ferne einen Lichtschimmer inmitten der Finsternis zu sehen. Im Zentrum dieses Lichts meinte sie, kurz die Silhouette eines riesigen, hohen Gebildes erkannt zu haben. Aber bevor sie nur mit den Augen blinzeln und sie näher erfassen konnte, verlor sie das Bewusstsein und wurde ins Nichts davon getrieben.

 

Nur um gleich darauf wieder aufzuwachen. In der Aula, gefangen im Kreis des schwarzen Feuers. Sie lag da und hielt etwas in ihrer Hand … eine Karte!

Anya erhob sich erschrocken und sah sie an. Bild und Text waren auf befremdliche Art verschwommen, doch schienen mit der Zeit immer klarer zu werden. Das konnte unmöglich sein, die gehörte ihr nicht! Und … das Mal, es war auf ihrem Arm!

„Was zum Geier?“, fluchte Anya und sprang auf. Sie legte ihre neue Errungenschaft abgelenkt auf ihr Extradeck und rubbelte dann mit dem Daumennagel über das Kreuz. Aber egal wie sehr sie es versuchte, sie kratzte sich nur die Haut wund. Das Mal hingegen blieb. „Oh kacke! Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie das sieht!“
 

„Was hast du getan ...“, hörte sie plötzlich Alastairs Stimme murmeln. „Du dummes Kind, bist du dir im Klaren, was du gerade angerichtet hast!? Du hast deine Seele verkauft! Jetzt kann selbst ich sie nicht mehr retten!“

„Ach, halt die Klappe!“, herrschte Anya ihn an und starrte weiter auf ihren neuen Körperschmuck.

„Nun steckt er wahrhaft in dir, Mädchen“, raunte Alastair. „Wie lautet sein Name?“

„Was geht-“

„Wie lautet er!?“, donnerte der Mann aufgebracht. „Ist er es? Ist er es!? Der, den ich so lange gesucht habe!? Ist es 'Another'!?“ Plötzlich war er wieder ruhig und murmelte. „Was sagst du, Refiel? Er ist es nicht? … verdammt! Aber er muss dennoch vernichtet werden!“

Anya indes kratzte sich am Kopf. Hörte es sich auch so an, wenn sie solche Selbstgespräche führte? Wenn ja, sollte sie wirklich mal zum Arzt gehen. So krass wie der wollte sie nicht drauf sein.

 

Er spricht zu dem Engel. Sei vorsichtig Anya Bauer, ich weiß nichts über dieses Wesen an seiner Seite. Ich kann seine Präsenz fühlen, doch sie entzieht sich meinem Verständnis. Aber sie ist gefährlich und ich möchte sagen, stärker als ich. Du musst die Karte benutzen, die ich dir gegeben habe!

 

Da war er wieder, dachte das Mädchen verärgert. Konnte sie endlich aus diesem beschissenen Traum aufwachen? Etwas anderes konnte dieser ganze Quatsch gar nicht sein!

Rosafarbene Himmelbarrierendinger, die das Schulgelände von der Außenwelt abschnitten, ein irrer Dämonenjäger, der ihre Freunde und sie umbringen wollte und ein Geisterwesen, welches ihr Karten schenkte. Noch beknackter konnte dieser Traum wirklich nur werden, wenn Valerie Redfield in einem rosa Tutu hereingeplatzt käme und dabei „We Are The Champions“ sang.

Anya warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, darauf wartend, dass sie durch das pechschwarze Feuer die Tür aufspringen sah. Aber das blieb zum Glück aus.

 

Konzentriere dich! Wir haben keine Zeit für Tagträumereien!

 

„Halt endlich die Klappe, du gehst mir so was von auf den Keks mit deinem ständigen Rumgelaber! Ich komm auch alleine klar, kapiert!?“ Sie hatte sich nicht länger beherrschen können und schimpfte so laut, dass Alastair es gewiss hörte. „Anstatt deine beschissene Nase in meine Angelegenheiten zu stecken, geh lieber sterben oder tu was für den Weltfrieden oder so! Nervensäge!“

Aber in einem hatte Levrier trotz allem recht: sie sollten endlich mit dem Spiel weitermachen. Sie checkte ihr Spielfeld, aber an der Situation hatte sich nichts verändert.

Sollte sie es wagen und -die- Karte ausspielen? Aber selbst sie wäre nicht stark genug, um [Vylon Ultima] entgegen zu treten, so hatte Levrier gesagt.
 

Benutze deine Zauberkarte und stärke dein Monster. Dann hast du den ersten Schritt getan.

 

„Bist du bekloppt? Wenn ich das mache, krepiere ich nächste Runde, selbst wenn mein Monster stärker ist als seines!“

 

Du wirst keinen nächsten Zug mehr erleben. Es geht mir nicht darum, das stärkste Monster zu besitzen, Anya Bauer. Es geht darum, den Gegner so zu manipulieren, dass er genau das tut, was wir wollen. Aber dafür müssen wir zunächst die Ausrüstungszauberkarten zerstören, die Alastair aktiviert hat. Und das geht nur, wenn du tust, was ich dir vorgeschlagen habe!

 

Anya verzog den Mund so schief, dass ihre Lippen richtig spannten. Niemand sagte ihr, wie sie zu spielen hatte … aber wenn sie sowieso keinen Plan hatte, was sie machen sollte, konnte sie genauso gut ausprobieren, was Levrier ihr geraten hatte. Natürlich wäre sie irgendwann sowieso selbst darauf gekommen! Nein, sie war sogar schon darauf gekommen, war -sie- schließlich Levrier. … Gott, war das kompliziert!
 

„Ich beschwöre [Gem-Knight Emerald] von meiner Hand und switche mein verdecktes Monster, [Gem-Knight Tourmaline], in den Angriffsmodus!“

Aus ihrer gesetzten Karte sprang der Ritter in goldener Rüstung, welcher zwischen seinen Handflächen einen Blitz erzeugte. Seine Rüstung war mit gelben Edelsteinen, dem Turmalin, besetzt. Neben ihm erschien Emerald, an dessen Arm ein Schild angebracht war. In seine blassgrüne Rüstung war auf Brusthöhe ein Smaragd eingesetzt.

 

Gem-Knight Emerald [ATK/1800 DEF/800 (4)]

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Sollte sie das wirklich tun, fragte Anya sich? Sich auf ihre innere Stimme einlassen? Zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, keinen eigenen Ausweg aus ihrer Lage gefunden zu haben. Ihr imaginärer Helfer hingegen schien einen Plan zu haben, auch wenn sie diesem nicht folgen konnte. Aber wenn sie dadurch wirklich gewinnen würde, war ihr das nur recht. Lieber mit Unterstützung gewinnen, als ohne zu scheitern. Alles war besser als verlieren, sie hasste es, zu verlieren! Und da dies in dem Fall sogar den Tod bedeutete, gab es keine zwei Meinungen dazu!

„Okay, ich mach's!“, beschloss sie laut und nahm ihre beiden Ritter, legte sie übereinander auf das Spielfeld. Dann griff sie zu ihrem Extradeck. „Jetzt gilt's! Aus meinen zwei Stufe 4 Monstern wird ein Rang 4 Xyz-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network!“

Dann legte sie ihre neue Karte auf die beiden Karten der Ritter. „Komm herbei, [Gem-Knight Pearl]!“

Ein dunkler Sternenwirbel öffnete sich inmitten des Spielfelds. Ihre Ritter wurden als braune Lichter in ihn hineingezogen, bis schließlich ein neuer Krieger aus der Mitte des schwarzen Lochs empor stieg. Stolz verschränkte er die Arme voreinander, während ein Ring aus großen, rosafarbenen Perlen um seinen Körper tanzte. Dabei wirkte sein Erscheinungsbild eher schlicht, waren weder Helm noch die weiße Rüstung aufwendig verziert. Nicht einmal einen Umhang trug dieses ehrwürdige Monster.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Was zum Geier!?“, polterte Anya, als sie sich ihr neues Monster genauer ansah. Auf seiner Karte war „Kein Effekt!?“ abgedruckt.

„Unter allen Karten, die du mir hättest schenken können, musste es ausgerechnet so eine sein!?“, beklagte sich Anya lauthals.

 

Verstehe. Du hast mich nicht darum gebeten, eine Karte nach deinen Wünschen zu formen.

 

„Dann mach 'ne neue, verdammt!“

 

Unmöglich. Unser Pakt ist bereits besiegelt.

 

„Willst du mich verarschen!?“, brüllte Anya und es war ihr mittlerweile völlig egal, ob irgendjemand hörte, wie sie mit ihren Hirngespinsten sprach. „Mach gefälligst 'ne neue, klar!?“
 

Ich sagte bereits, das geht nicht. Aber das ist auch nicht weiter von Belang, denn dieses neue Monster reicht aus, um den Plan voran zu treiben. Benutze deine Zauberkarte.

 

Wutentbrannt starrte das Mädchen auf ihr Blatt. [Gem-Knight Fusion] konnte er nicht meinen, die war völlig nutzlos. Also doch -diese-. Was soll's, dachte sich Anya ärgerlich. Schlimmer konnte es sowieso nicht mehr kommen!

Also zückte sie den Zauber. „Ich aktiviere [Axe of Fools]! Damit erhöht sie die ATK meines Monsters um 1000 Punkte, auch wenn sein 'nicht existierender' Effekt dadurch verloren geht.“
 

Sag ihm nichts über den zweiten Nachteil deiner Karte, sonst bist du verloren.

 

Hatte sie sowieso nicht vor, dachte Anya sauer. Sie musste Alastair nicht unter die Nase reiben, dass die Axt während jeder ihrer Standby Phasen demjenigen 500 Lebenspunkte Schaden zufügte, welcher über das ausgerüstete Monster verfügte. Und sie hatte nur noch 300 übrig.

In Pearls Hand erschien eine große, silberne Axt. Auf dem Axtblatt war ein grinsendes Gesicht in einer Goldfassung zu sehen, welches dumm vor sich hin gackerte.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 3600 DEF/1900 {4}]

 

„Dein Dämon scheint ja wirklich schwach zu sein, wenn er dir nicht besser dienen kann“, zischte Alastair spöttisch. „Verzeih, mein Irrtum, du dienst ja ihm. Ihr passt wahrlich gut zueinander.“

Der sollte die Klappe halten und sich vorsehen, dachte Anya gereizt.
 

Greife nun [Vylon Ultima] an, Anya Bauer. Was danach geschieht, gehört zu meinen Absichten, deswegen erschrecke dich nicht. Es wird eine Zeit kommen, in der nur du noch dein Unheil abwenden kannst.

 

„Ja, ja, ja, ist ja gut! Was anderes hatte ich sowieso nicht vor! Los Pearl, Attacke! Funny Axe Strike!“ Sie hasste den Namen von Angriffen, die durch diese verrückte Axt durchgeführt wurden. Wieso hatte sie die doch gleich im Deck? Ach ja, weil sie funkelte und zu Edelsteinen passte.

Pearl flog hoch in die Luft, gefolgt von seinen Perlen und hob die Axt über seinen Kopf. Weit über seinem Gegner ließ er sich plötzlich fallen und zerteilte das Engelswesen mit einem Schlag seiner Axt, welche dabei hysterisch lachte.

 

[Anya: 300LP / Alastair: 3500LP → 3400LP]

 

Doch [Vylon Ultima] wuchs an den Stellen, die durch den Hieb auseinander geschlagen worden waren, einfach wieder zusammen.

„Habe ich es dir nicht gesagt?“, tönte Alastairs Stimme selbstverliebt. „Ehe du meiner Kreatur Schaden zufügen kannst, gehen zunächst alle verwendeten Ausrüstungsmagien verloren! Und weißt du was passiert, wenn die auf dem Friedhof landen? Nicht nur kann ich mir für jede von ihnen durch ihre eigenen Effekte Vylon-Magiekarten vom Deck aufs Blatt nehmen, nein, durch [Vylon Element] kann ich auch für jede verlorene Ausrüstungsmagie einen Vylon-Empfänger beschwören!“

Anya schluckte. Was hatte Levrier doch gleich gesagt? Das gehöre zu seinem Plan?

„Und ich wähle zweimal [Vylon Material] als Ausrüstung und beschwöre ein Empfängermonster, [Vylon Prism]! Mehr werde ich gar nicht brauchen!“

Zwischen Alastairs gesetztem Monster und [Vylon Soldier] tauchte nun ein großer, langer Schild auf, ähnlich einem Prisma. Wie alle Vylons hatte auch er Arme und ein abstraktes Gesicht, was direkt aus der Platte herausragte.

 

Vylon Prism [ATK/1500 DEF/1500 (4)]

 

„Das ist wie 'ne Medusa. Du schlägst einen Kopf ab und zwei neue tauchen auf“, ärgerte sich Anya.
 

Was du meinst ist eine Hydra. Die Medusa gibt es nicht.

 

„Oder so, was auch immer.“ Sie nahm ihre letzten beiden Handkarten und wollte sie auf den Spielplan legen. [Gem-Knight Fusion] würde zumindest als Bluff dienen können. „Egal, ich setze jetzt zwei-“
 

Nein, nur eine! Setze nur die Falle, denn wenn du beide Karten setzt, ist die Gefahr zu groß, dass du seiner Fähigkeit Nährboden gibst und sie noch verstärkst! Und dann-
 

„Bin ich verloren? Mal was ganz Neues. Ich setze eine Karte verdeckt und beende.“ Dann flüsterte sie missmutig: „Und wehe das klappt nicht! Normalerweise habe ich es gar nicht nötig, mir von irgendwem helfen zu lassen.“
 

Wäre dem so, wärst du jetzt nicht in dieser Lage.
 

„Schnauze!“ Traurigerweise hatte Levrier nicht ganz Unrecht damit.

 

Jetzt kommt der komplizierte Teil, Anya Bauer. Ab hier bist du auf dich gestellt. Wenn ich richtig liege und du genug Geschick beweist, wirst du nicht durch deine [Axe of Fool] oder Alastairs Angriffen verlieren. Aber höre jetzt gut zu …

 

Als Levrier seine Ausführungen beendet hatte, musste sogar eine Anya Bauer anerkennend pfeifen. DAS war so genial, dass es gar nicht funktionieren konnte! Zumal sich alles um Alastairs Denkweise drehte. Und um diesen geheimnisvollen Engel Refiel, von dem diese ominöse Kraft ausging. Aber es war einen Versuch wert.

 

„Jetzt werde ich dich vernichten, Dämon!“, brüllte Alastair aufgebracht. Der wiederholte sich zu oft für Anyas Geschmack. Aber solle er nur in dem Glauben bleiben. „Draw!“

Plötzlich spürte sie etwas. Es war wie ein innerer Druck, der nur für einen kurzen Moment die Zeit hatte stehen lassen. Irgendetwas war geschehen.
 

Er hat es getan, wie ich es vorhergesehen hatte.

 

„Sieh an“, lachte Alastair bitterböse. „Das Glück scheint auf meiner Seite zu stehen. Ich aktiviere die Schnellmagie [Mystical Space Typhoon] und zerstöre deine Lichtschwerter. Damit kannst du dich nicht länger hinter ihnen verstecken!“

Die grünen Schwerter rund um seine Monster zersprangen, als ein wilder Wirbelsturm um das Spielfeld fegte.
 

Das war nicht die Karte, die er hätte ziehen müssen. Dahinter steckt das Einwirken von Refiels Kräften!

 

„Wer oder was ist dieses Refielding überhaupt? Es gibt keine Engel, oder?“
 

Ich weiß es nicht, ich bin noch nie einem begegnet. Was auch immer es ist, es ist mächtiger als ich es bin. Sei vorsichtig. Und nun tue, was ich dir gesagt habe!

 

Anya schluckte. Eigentlich sollte ihr das sehr leicht fallen, tat sie es doch andauernd. Aber auf Kommando war es etwas völlig anderes. So was musste Spaß machen, wenn man es tat.

Sie schüttelte den Kopf. Nicht nachdenken, einfach machen!

„Nun rüste ich [Vylon Material] an-“

 

Beeile dich!

 

„Hey Alastair“, rief sie dem Dämonenjäger verschwörerisch zu. „Soll es das etwa gewesen sein? Willst du mich jetzt mit [Vylon Ultima] zur Strecke bringen?“

„Genau das!“

Sie lachte laut, klang dabei aber ungewollt heiser. „Ich geb's zu, ich habe es verkackt. Aber das Tattoo an meinem Arm war es allemal wert. So etwas wirst du nie haben!“

Er schwieg einen Augenblick. „... nein. Allerdings nicht.“

„Mir hat der Dämon ein schönes Geschenk gemacht, weißt du? Schade, dass es letztlich so nutzlos war, aber hey, man kann eben nicht alles haben! Ich wette, dein Engel hat dir nicht so etwas Tolles gegeben!“

„Rede nicht so über den heiligen Refiel!“

„Heilig?“ Anya lachte spitz. „Guter Witz, Kumpel! Dein [Vylon Ultima] ist ja ganz nett und so, aber nichts Besonderes. Das Ding kriegt man doch an jeder Straßenecke hinterher geworfen! Du tust mir echt leid, weißt du? Hast 'nen Engel an deiner Seite, der dir nicht mal etwas zur Seite stellt, um uns bööööse böse Dämonen kalt zu machen.“

„Ich sagte, du sollst nicht so über Refiel reden!“, polterte Alastair außer sich vor Wut.

„Ach? Was willst du schon dagegen tun, du armseliger Speichellecker? Woher soll ich wissen, dass es deinen Engel überhaupt gibt? Am Ende bist du doch nur ein Hochstapler mit ein paar Zaubertricks im Ärmel! Ich aber bin ein echter Dämon! Wenn dein toller Refiel existiert, dann beweise es!“

„… ungläubige Seele. Du willst einen Beweis? Den sollst du haben!“

 

Anya lachte innerlich in sich hinein. Himmel, war dieser Trottel doof! Levrier hatte tatsächlich recht mit seiner Annahme behalten. Dennoch wusste das Mädchen nicht, was sie jetzt erwarten würde. Es konnte immer noch genug schief gehen. Aber nein, das würde es nicht! Jemand wie sie verlor nicht einfach gegen so eine Knalltüte von Dämonenjäger!

 

„Ich flippe mein verdecktes Monster!“, sprach Alastair ungewöhnlich leise. „[Vylon Charger].“

Eine lange, metallische Säule mit Armen und goldenen Ringen entstieg der gesetzten Karte von Alastair und gestellte sich zu den zwei kleineren Vylons.
 

Vylon Charger [ATK/1000 DEF/1000 (4)]

 

„Du willst einen Beweis für Refiels Existenz? Dann sollst du ihn haben! Spüre Gottes Zorn! Die Level 4 [Vylon Soldier], [Vylon Prism] und [Vylon Charger] werden zu einem Rang 4 Xyz-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network!“

„Gleich drei!?“, sprudelte es aus Anya heraus, als drei goldgelbe Strahlen von demselben schwarzen Wirbel absorbiert wurden, der zuvor schon ihren Pearl hervor gebracht hatte.

„Werde Zeuge der göttlichen Kraft, die Refiel mir verliehen hat! Steige empor, [Vylon Disigma]!“

Und was nun aus der Raumverzerrung trat, konnte Anya nur als das hässlichste aller Vylon-Monster bezeichnen. Obwohl es von selber Struktur war, wirkte vollkommen anders als die anderen.

Eine abscheuliche, grimmige Fratze zierte den schwarzen Körper des Wesens. Lange goldene Arme mit immer länger werdenden, schwarzen Klingen erstreckten sich von beiden Seiten bis zu den schwarzen Flammen. Drei weiße Sphären kreisten um die morbide Kreatur.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

„Ewwww“, tönte Anya angewidert. „Das ist das Geschenk deines Engels? Alter, den würd' ich auf Schadensersatz verklagen! Da wird man ja blind!“

„Spotte nur, heuchlerische Kreatur! Sieh her, wie [Vylon Disigma] das diabolische Geschenk deines Dämons vertilgt! Ich hänge ein Xyz-Material ab und aktiviere Disigmas Effekt! Absorbiere [Gem-Knight Pearl]!“

„Oh verdammte-!“

Das Maul der schwarzen Engelsmaschine öffnete sich und sog Anyas Ritter ein, als wäre er nichts weiter als Luft. Kaum war er verschwunden, leuchtete eine der Sphären um Disigma schwarz auf.

„Nun stehst du völlig schutzlos da, niedere Kreatur des Bösen!“, feixte Alastair hysterisch. „Das geschieht, wenn man Gott und seine Diener verspottet!“
 

Der hat sie doch nicht mehr alle, dachte Anya. Aber ohne Monster sah es schlecht für sie aus. Zwar war die blöde Axt nun fort, doch ein einziger direkter Angriff würde genügen, um sie außer Gefecht zu setzen. Und dieser durfte nicht durch Disigma erfolgen, nicht in seiner jetzigen Form!

„Wie ich sehe kann dieses hässliche Mistvieh doch was! Aber ehrlich gesagt ist es einfach nur schwach! [Vylon Ultima] hatte wenigstens hohe Angriffspunkte, aber dieses Ding? Ne, sorry, ich weigere mich, gegen so etwas zu verlieren! Wart nur ab!“

„Spottest du immer noch, Dämon? Bist du plötzlich so versessen darauf, vernichtet zu werden?“

„Na logo, die ganze Zeit schon!“ Sie stimmte nun einen ruhigen, versöhnlichen Tonfall an. Alles so, wie Levrier es wollte. „Im Ernst, ich weiß nicht, wie lange ich noch ich selbst bin. Mach dem ein Ende, okay? Der Dämon hat mich hereingelegt und in einen Vertrag gelockt! Bitte, du musst ihn vernichten!“ Sie flehte jetzt regelrecht. „Mit aller Kraft! Ich bitte dich, zerstöre uns beide! Aber lass zumindest meine Freunde gehen, die sind unschuldig! Der Dämon wollte nur mich!“

„Was sagst du da?“ Alastair klang skeptisch. „Willst du mich reinlegen, Dämon? Vergiss es!“

„Bitte! Ich … ich kann ihn nicht mehr lange zurückhalten! Meine letzteren Erinnerung ans Leben sollen die eines Menschen sein! Vernichte mich, schnell!“

„Bist du … wirklich du selbst?“ Immer noch hörte man seine Zweifel deutlich. „Nein, ich glaube dir nicht!“

„Du irrst dich! Ich bin ich, Anya Bauer! Aber … aber er wird stärker! Hilf mir! Rette mich … rette mich vor 'Another'!“

Plötzlich donnerte Alastairs Stimme aufgebracht: „Another? Ist- Ist er dort in dir?“

„Ja!“

Alastair atmete tief durch. „… Refiel hat sich geirrt. Er ist in dir … der, der meine Familie ausgelöscht und mich zu dieser grässlichen Abscheulichkeit gemacht hat! Ich werde ihn …“

„Hilf mir! Er spricht zu mir! Er will, dass ich dich töte! Du bist sein geschworener Erzfeind!“

„Ich werde ihn töten!“, schrie Alastair voller Inbrunst. „Er wird dafür bezahlen, was er uns angetan hat! Mit aller Kraft werde ich dich aus diesem Mädchen treiben und vernichten! Hörst du, Another? Du wirst sterben, nichts soll von dir übrig bleiben! Ich aktiviere meine beiden Ausrüstungsmagien, [Vylon Material]. Sie stärken Disigma um je 600 Angriffspunkte!“

 

Vylon Disigma [ATK/2500 → 3700 DEF/2100 {4}]

 

Aus den Armen des schwarzen Engels wuchsen zwei weitere Klingen, jedoch in goldener Fassung, aus weißem Metall.

„Endlich ist der Augenblick gekommen, von dem ich so lange geträumt habe! Another … ich hasse dich! Spüre den ganzen Zorn der Engel und des allmächtigen Herren! [Vylon Disigma], rette dieses Mädchen und vernichte den Teufel in ihr! Sacred Black Obliteration!“

Das war es, dachte Anya erschrocken, als das unheimliche Wesen die Hände aufeinanderlegte und dann einen schwarzen Energiespeer aus der Fläche seiner linken zog.

Wie in Zeitlupe beobachtete die Blondine, wie Disigma den Speer anhob und auf sie warf. In ihren blauen Augen spiegelte er sich, wie er immer näher kam. Dann folgte eine düstere Explosion, die Anyas gesamte Spielfeldseite erschütterte.

 

Aus genau dieser Explosion schoss wenige Augenblicke später ebenjener schwarze Pfeil, durchdrang erst Disigma und dann Ultima, ehe er hinter ihnen eine noch gewaltigere Explosion auslöste. Alastair schrie vor Schmerz auf.

Die Rauchwolke um Anya verging, welche unversehrt da stand und eine Fallenkarte zwischen ihren Fingern hielt. „Trottel! Jeder Idiot hätte dieses Schmierentheater durchschaut. Blöd wie du warst, bist du genau in meine Falle gelaufen: [Dimension Wall]! Damit konnte ich deinen Angriff auf dich zurückwerfen. Und hättest du [Vylon Disigma] nicht vorher noch gestärkt und dazu Pearl aus dem Weg geräumt, hätte die Falle mich niemals retten können. Ich würde sagen: ausgelacht, Kumpel!“

 

[Anya: 300LP / Alastair: 3400LP → 0LP]

 

Die Trugbilder der Monster verschwanden. Doch während Ultima einfach nur weg war, löste Disigma sich in schwarzen Partikeln auf. Anya schenkte dem aber keine Beachtung. Sie nahm ihre Karten von der schwebenden Marmorplatte, die einen Moment später krachend auf den Boden fiel und dort zerschellte.

 

Die Kraft, die darin steckte, ist aufgebraucht. Anscheinend besteht zwischen diesen Apparaturen und Alastair eine Verbindung. Ich lag also richtig. Er war es, den ich an dem Tag gesehen habe, als ich dich zur Leiche dieses Jungen geführt habe.

 

Anya runzelte die Stirn. Sie hatte jetzt keinen Nerv für Levriers Gelaber. Noch immer brannte das schwarze Feuer um sie herum.

Langsam durchschritt sie den Zirkel und hielt auf die Bühne zu. Dort lag Alastair am Boden, sein roter Ledermantel war an einigen Stellen zerfetzt und generell schien der Dämonenjäger nicht gerade in bester Verfassung zu sein. Anders als Abby und Nick, die noch immer bewusstlos an den Kreuzen hingen. Sie hatten alles scheinbar unbeschadet überstanden, abgesehen von Nicks Stichwunde am Oberschenkel.

„Du verachtenswerte Kreatur“, presste er hustend hervor, als Anya vor ihm stand.

Mit voller Wucht rammte sie ihm ihren Schuh in den Nacken. „Sagt genau der Richtige, du miese Made.“ Sie drückte fester zu, sodass er aufschrie. Dabei huschte ein bösartiges Grinsen über ihre Züge. „Und jetzt werden wir beide ganz viel Spaß haben. Es gibt da noch ein paar Dinge, die wir -ausdiskutieren- müssen, Freundchen.“

„Bedaure“, krächzte er. „Du hast Glück, dass ich nach einem Exorzismus, ob nun gelungen oder nicht, nicht mehr genug Kraft habe, um weiterzukämpfen. Aber ich schwöre dir, wir sehen uns wieder und dann wirst du teuer für das bezahlen, was du heute gesagt hast, Schlangenzunge.“

Unter seiner Handfläche schob er eine weiße Karte hervor, auf der nur ein sechskantiger, goldener Stern abgebildet war. Von diesem ging ein greller Lichtblitz aus, welcher Anya dazu brachte, sich abzuwenden. Und ehe sie sich versah, fiel ihr Fuß ins Leere.

Alastair war verschwunden.

 

Er hat eine Teleportationstechnik angewandt. Mir scheint, als würde er seine Kräfte in Karten einschließen, die er je nach Bedarf abrufen kann. Vermutlich, weil er sie sonst nicht kontrollieren könnte.

 

„Das ist mir so was von Schnuppe! Wo ist der Kerl? Den-“

Abbys und Nicks Körper fielen dumpf polternd auf den Boden. Die Kreuze, die sie die ganze Zeit über festgehalten hatten, waren verschwunden. Und der Himmel, welchen man von dem riesigen, klaffenden Loch in der Decke sehen konnte, war wieder blau.

 

Sein Bannkreis hat sich aufgelöst. Aber wie es aussieht, sind alle äußeren Schäden, die innerhalb seines Gebietes zugefügt worden sind, nicht verschwunden. Wie ungewöhnlich, sind Bannkreise doch dazu gedacht, genau dies zu verhindern …

 

Anya hingegen interessierte sich nicht im Geringsten dafür, dass die halbe Aula in Trümmern lag. Sie kniete vor Abby und schüttelte sie unsanft. „Aufwachen, Masters! Penn hier nicht 'rum!“

Blinzelnd öffnete das Hippiemädchen die Augen. Ihre getönte Brille war verrutscht, sodass man in schöne, graue Augen sehen konnte. „Anya?“

„Na wer denn sonst? George W. Bush vielleicht?“ Immerhin verwechselte Abby sie nicht mit Xena.

„Wo bin ich?“ Langsam rappelte sich die Brünette auf. „In der Aula? Oh, ohhhh! Was ist hier geschehen!? Das ist ja ein richtiges Schlachtfeld!“

„Lange Geschichte! Beknackter Dämonenjäger will mich umbringen, Geisterwesen hilft mir, Dämonenjäger scheitert und haut ab.“

„Dä- Dämonenjäger?“

Anya hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Was zur Hölle erzählte sie da überhaupt? Sie konnte Abby doch nichts von allem erzählen! Die würde sie glatt für verrückt halten … auch wenn es nur ein Traum war. Aber es ging ums Prinzip!

„I-ich weiß nicht, wovon du sprichst, Anya?“

„Ich … auch nicht. Mein Fehler.“

„Erinnern tu ich mich nur noch daran, dass Nick weg war, als ich zurück zur Krankenstation gegangen bin. Und dann war da dieser Mann mit schwarzem Haar, der wollte mir suchen helfen. Danach … war ich hier.“

Anya klatschte sich die Hand gegen die Stirn. „Man Masters, bist du blöd? Jedes Kind weiß, dass man nicht mit vernarbten Fusselbirnen mitgeht!“

„Aber er hatte doch gar keine Narben?“

„Dann putze mal deine Brille! Der sah aus wie durchgekaut, ausgespuckt und liegen gelassen! … ist ja auch egal. Was ist mit dem hier?“ Sie deutete auf Nick, der bewusstlos neben ihnen lag.

„Er blutet ja!“

„Das war Alastair. Hat ihm ein Messer in den Oberschenkel gerammt.“

Ungläubig runzelte Abby die Stirn. Dann sagte sie in aller Strenge: „Anya Bauer, du wirst mir jetzt genau erklären, was hier überhaupt los ist! Und wehe, du redest dich raus! Was ist mit dieser Dämonenjägergeschichte!?“

Anya schluckte. DAS würde übel für sie ausgehen …

 

~-~-~

 

„Oooooooooh, icccccccch wusste es! Ich wusste, dass hier irgendwas faul ist. Die ganzen Vorfälle, dass Nick krank ist … Das ist das Werk von Dämonen!“

„Uh-huh“, gab Anya mechanisch von sich.

Sie beide saßen am runden Esstisch der Familie Bauer. Anya hatte Abby nach und nach alles erzählt, nachdem diese sie aufs Schärfste genötigt und damit gedroht hatte, sie nie wieder die Hausaufgaben abschreiben zu lassen.

„Und wie sieht dein Retter wirklich aus? Levrier?“ Dieser schwärmende Unterton missfiel Anya aufs Äußerste.

„Keine Ahnung“, brummte sie. Konnte sie dann bitte auch mal aufwachen? Das war einfach zu demütigend. „Nenn ihn nicht Retter, klar? Er hat ein paar gute Tipps gegeben, mehr nicht. Ich hätte mich da auch so irgendwie herausgewunden!“

„Für mich klang das eher so, als ob du keine Ahnung hattest, was du da überhaupt getan hast“, erwiderte Abby spitz. „Aber … danke. Der hätte uns wirklich umgebracht, wenn du nicht gewesen wärst. Allein der Gedanke, dass sich jemand wie der in Livington herumtreibt … beängstigend … Wir sollten alles der Polizei schildern, allein wegen dem Mord an Jonathan!“

„Ja ja ja, mach was du willst. War sowieso ein Kinderspiel … Schade, dass er entkommen ist! Dem-“

Abby hielt ihr die flache Hand vors Gesicht. „Stopp! Du hast mir schon lang und breit erklärt, was du alles mit ihm gemacht hättest! Aber diese Karte …“ Sie deutete auf [Gem-Knight Pearl], welcher vor ihnen auf dem Tisch lag. „Bist du wirklich sicher, dass du die vorher nicht gehabt hast?“

Anya schüttelte vehement den Kopf. „Es gibt keinen [Gem-Knight Pearl], Masters! Das hätte ich gewusst!“

„Also ist das der Beweis, dass alles was Levrier gesagt hat stimmt. Unheimlich …“

„Ach so'n Quatsch! Bestimmt hat sich da nur jemand 'nen Scherz mit mir erlaubt.“

Wütend haute Abby auf den Tisch. „Sei doch nicht immer so ignorant, Anya! Hier gehen Dinge vor sich, die unseren Verstand überschreiten! Das muss doch selbst dir aufgefallen sein!“

Doch die Blondine zuckte nur desinteressiert mit den Schultern. „Wenn du meinst …“

„Ich finde, wir sollten versuchen, mehr über das alles herauszufinden.“

„Ohne mich!“, polterte Anya.

Abby erwiderte genauso hitzig: „Wieso denn nicht?“

„Alter, Masters, wir wären beinahe krepiert. Und sterben ist scheiße, ich bin doch nicht lebensmüde! Am Ende haben wir es mit noch mehr Bekloppten zu tun!“

„Das kann genauso gut passieren, wenn wir nichts tun. Du hast doch selbst gesagt, dass dieser Alastair hinter dir her war! Und was, wenn er wiederkommt? Ich wäre an deiner Stelle gerne vorbereitet!“

Anya knirschte mit den Zähnen. Wie sie es hasste, wenn die beiden zu diskutieren anfingen. Immer zog sie dabei den Kürzeren. Deshalb schlug sie wütend mit den Fäusten auf den Tisch. „Nein, Schluss, Aus!“

„Warum!?“

„Weil ich das so sage, deshalb! Wenn du Nachforschungen anstellen willst, von mir aus! Aber ich halte mich da schön raus!“

Abby sprang auf. „Also manchmal bist du so … so … so! Argh! Schönen Tag noch, Anya!“

Wie ein Sommergewitter zog das sonst so ruhige Mädchen durch die Küche und schlug schließlich die Haustür hinter sich zu. Anya starrte ihr mindestens genauso wütend hinterher.
 

Deine sozialen Fähigkeiten lassen zu wünschen übrig. Das Mädchen hat wahre Worte gesprochen und du verschließt dich vor ihnen.

 

„Ach halt doch den Mund, du … Geisterspacko!“

Anya stampfte durch die Küche zum Flur, nahm die Treppe und schloss sich anschließend in ihrem Zimmer ein. Frustriert von all den Vorkommnissen warf sie sich aufs Bett und wartete darauf, endlich aus diesem Albtraum zu erwachen. Und wartete … und wartete …

 

 

Turn 05 – Lessons

Anya, Abby und Nick, welcher wieder völlig genesen ist, besuchen zusammen die Stadtbibliothek Livingtons. Doch ihre Nachforschungen bezüglich „Eden“ und Levrier bleiben ergebnislos. Als die Drei die Bibliothek verlassen, stellt sich ihnen ein junger Mann namens Henry in den Weg. Er provoziert die ohnehin schlecht gelaunte Anya so sehr, dass sie sich schließlich mit ihm duelliert. Umso hämischer geht sie mit ihm um, als er Karten einsetzt, die von der Allgemeinheit für gewöhnlich verspottet werden. Doch sie soll sich schnell irren, als er bereits in seinem zweiten Zug zwei mächtige Xyz-Monster beschwört …

Turn 05 - Lessons

Turn 05 – Lessons

 

 

„Junge Dame, du wirst mir das jetzt auf der Stelle erklären“, verlangte Sheryl aufgebracht und hielt den Arm ihrer Tochter fest. „Was ist das?“

„Ein Tattoo, sieht man doch“, brummte Anya und überlegte schon, ihre Mutter aus ihrem Zimmer zu werfen. Was wohl aber nicht die beste Idee war, wenn man deren Gemütszustand recht betrachtete.

„Und woher hast du diese Schmiererei?“

„Na aus'm Tattoo-Studio, woher sonst?“ Anya konnte ja schlecht behaupten, dass sie das Mal trug, weil sie mit einem unbekannten Wesen einen Pakt geschlossen hatte. Am Ende würde ihre Mutter sie noch in Victim's Sanctuary einliefern lassen.

 

Sheryl ließ den Arm des Mädchens los und betrachtete das schwarze Kreuz, durch welches ein dorniger Kreis ging. Von derartiger Körperkultur hielt sie ohnehin wenig, aber eine solche Geschmacksverirrung hätte sie selbst Anya nicht zugetraut.

„Du wirst das entfernen lassen“, forderte Sheryl streng.

„Und wer soll das bezahlen? Das ist teuer, Mum.“

„Dein Vater und ich! Und du wirst uns jeden Cent zurückzahlen, sobald du kannst. Haben wir uns verstanden?“

Doch ihre Tochter schüttelte abweisend den Kopf. „Nein Mum. Ich behalte das Teil. Is' cool.“

Fassungslos fasste sich Sheryl an die Stirn. Was hatte Anya sich bloß dabei gedacht? Hätte sie nicht wenigstens vorher Bescheid sagen können? Zwar war sie alt genug, selbst solche Entscheidungen zu treffen, aber dennoch! Es sah furchtbar aus!

„Das Tattoo muss weg! Wenn dein späterer Arbeitgeber das sieht, schmeißt er dich achtkantig raus!“, beharrte sie auf ihrer Meinung.

Anya verzog trotzig das Gesicht und rutschte auf ihrer Couch hin und her. „Dann suche ich mir 'nen Arbeitgeber, dem das nichts ausmacht!“
 

Es war aussichtslos. Ihre Tochter würde ohnehin nicht nachgeben, dachte Sheryl sich frustriert. Sie selbst musste erst einmal darüber nachdenken, wie man das Kind dazu bringen konnte, ein wenig Einsicht zu zeigen. Was bei jemandem wie Anya ein Kampf gegen Windmühlen war.

„Wir reden später darüber. Ich muss gleich los. Was hast du vor, während ich weg bin? Doch sicherlich nicht noch so eine Dummheit, oder?“

„Mum, es ist Wochenende. Was soll ich denn groß anstellen?“

Sheryl verzog verbittert den Mund. „Ich bin gespannt, was dein Vater dazu sagen wird. Und die Sache mit der Schulaula ist auch noch nicht vom Tisch.“

„Ich hab doch schon gesagt, dass wir das nicht waren!“, begehrte Anya auf und sah sie vorwurfsvoll an. In ihren Augen konnte Sheryl erkennen, dass das Mädchen dieses Mal die Wahrheit sprach, aber es konnte nicht schaden, sie noch ein wenig im Dunklen tappen zu lassen.

Was das anging, hatte sie mit ihrer Vermutung vor einigen Tagen tatsächlich recht behalten. Sie hatte einen Anruf von der Schule bekommen, nachdem Anya die letzten beiden Unterrichtsstunden ebenjener geschwänzt hatte. Schlimmer noch, sie hatte die arme Abby noch dazu animiert mitzumachen. Der richtige Schrecken kam aber erst, als der Direktor ihr erzählte, dass Anya, Abby und Nick gesehen wurden, wie sie die in Trümmern liegende Schulaula unbekümmert verlassen hätten. Ganz zu schweigen davon, dass Nick zu diesem Zeitpunkt ziemlich krank und dazu noch verletzt war.

Zwar ging niemand – zumindest offiziell – davon aus, dass Anya etwas Derartiges wagen würde, denn das war selbst für ihre Verhältnisse zu extrem, aber von irgendwoher musste der Schaden schließlich stammen. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass Anyas Fehler sie teuer zu stehen kamen.

„Was die finanziellen Schäden der Schule angeht, müssen wir weitersehen. Ich hoffe für dich, dass du die Wahrheit sagst, junge Dame. Und sei in Zukunft vorsichtig, du kannst dir keine Fehler mehr erlauben!“, mahnte sie ihre Tochter eindringlich, die nur trotzig das Gesicht verzog.
 

Anya sprang schließlich auf. „Geh jetzt, Mum, bevor du noch zu spät kommst.“

Daraufhin umarmten die beiden einander, ehe Sheryl sich verabschiedete. „Versprich mir, dass du in Zukunft vernünftiger handelst, okay?“

Ihre Tochter gab ein Brummen von sich, das Zustimmung ausdrücken sollte. Schließlich verließ ihre Mutter das Zimmer.

 

Und kaum war jene aus dem Haus, schnappte Anya sich das Schnurlostelefon von ihrer Bettdecke und warf sich wieder auf die Couch gegenüber.

Immer das Gleiche, dachte sie dabei. Wenn etwas passierte, war automatisch sie daran schuld! Und wie stellte sich ihre Mutter die Sache mit dem Mal vor? Gerne würde Anya es entfernen lassen, aber das war in dem Fall nicht drin. Nicht, seit sie mit Sicherheit wusste, dass das Ganze -kein- Traum war!

Die gute Nachricht dabei war, dass sie doch noch alle Tassen im Schrank hatte. Die schlechte hingegen, dass sie trotzdem so gut wie verloren war …
 

Die Blondine wählte Abbys Nummer und wartete, bis diese abhob.

„Bei Masters. Abby am Apparat.“ Noch gelangweilter konnte ihre Freundin nicht klingen.

„Ich“, brummte Anya, um auszudrücken, wer da am anderen Ende der Leitung war. „Ist Nick schon da?“

„Ja. Er spielt gerade mit Michael. Und … sie verstehen sich prima. Intellektuell meine ich.“

Anya stöhnte. Michael war Abbys erst acht Jahre alte Stiefbruder und in der Regel ziemlich anstrengend. Aber gut für Nick, so hatte er jetzt genau einen Freund mehr als sie selbst. Was, wenn sie es recht betrachtete, nicht geduldet werden konnte. Niemand war einer Anya Bauer in etwas voraus, es sei denn, sie wollte es so!

„Treffen wir uns dann gleich?“

„Ja. Ich habe vorab schon ein bisschen im Internet geschaut und mir ein paar Titel notiert. Vielleicht steht in den Büchern irgendetwas Brauchbares drin. Wenn die Bibliothek sie hat, heißt es.“ Abby klang dabei nicht sehr optimistisch. Was vor allem daran lag, dass die Stadtbibliothek von Livington ziemlich klein war. Zumindest behauptete Abby das immer.

„'kay. Dann bis nachher.“

„Bye.“

Anya drückte ihre rote Lieblingstaste und starrte das Telefon an. Warum hatte sie sich nochmal dazu breitschlagen lassen, bei der Suche nach Informationen rund um Levrier und Eden mitzumachen? Ach ja … weil sie sterben würde, wenn sie nicht bald einen Weg fanden, den Pakt aufzuheben!

 

Verwirrt blickte Anya sich um. Wieder befand sie sich in der tiefen Finsternis, stand dabei auf dem großen Mosaik der Erde, welches sich langsam drehte.

Levrier verharrte, wie schon bei den Treffen zuvor, in Anyas Gestalt vor dieser und sah sie mit tiefer Besorgnis in den blauen Augen an.

Was willst du?“, zischte Anya.

„Wir müssen reden. Es geht um unseren Pakt.“

Die Blondine zuckte mit den Schultern. „Und was soll damit sein?“

„Es gibt ein paar Dinge, die du wissen solltest. Allen voran: wir haben nicht viel Zeit.“

Verwundert zog Anya das Kinn an. „Soll heißen?“

Die Ankunft Edens ist für den 11. November diesen Jahres vorgesehen. Wenn wir bis zu diesem Tag keinen Weg gefunden haben, Eden zu werden, ist unsere Chance für sehr lange Zeit verstrichen.“

„11. November? Das ist ja schon in zwei Monaten!“, erwiderte Anya aufgebracht. „Und verstehe ich das richtig? Du weißt gar nicht, wie man Eden 'wird'? Hattest du nicht sogar mal behauptet, du wüsstest nicht einmal, was Eden überhaupt ist?“

Levrier wich ihrem Blick aus. „Das ist korrekt. Ich kenne meine Bestimmung, doch nicht, wie ich sie erfüllen kann oder warum ich das muss. Aber ich weiß, dass wenn wir bis zu besagtem Tag keine Lösung gefunden haben, die Konsequenzen schrecklich sein werden. Zumindest für dich.“

Anya verschränkte die Arme und mahlte vor Wut regelrecht mit dem Kiefer. Herausfordernd erwiderte sie: „Alter, was soll das heißen?“

„Du wirst an diesem Tag den Tod finden, wenn wir nicht zu Eden werden. Ich hingegen werde weiterexistieren und mir ein neues Gefäß suchen müssen.“

„Und das sagst du mir erst jetzt!?“ Anya wollte auf Levrier zu stürmen und ihn packen, doch fiel in ihrem Lauf einfach durch ihn hindurch. Stolpernd kam sie hinter ihm zum Stehen.

„Du hast nicht nach den Bedingungen unseres Pakts gefragt, als du ihn abgeschlossen hast“, reagierte Levrier gleichgültig und drehte sich zu ihr um.

Anya schnaubte regelrecht vor Wut. „Und woher willst du überhaupt wissen, ob ich krepieren werde?“

„Weil ich in der Vergangenheit schon einmal versagt habe. Sei dir im Klaren darüber, dass ich ein uraltes Wesen bin, dass bereits seit mehreren hundert Jahren auf diesem Planeten wandelt. Wir dürfen dieses Mal nicht versagen, denn ich bezweifele, dass die Erde noch existieren wird, wenn die nächste Gelegenheit für Edens Ankunft herangerückt ist. Und Edens Ankunft ist an diesen Planeten gebunden.“

„Was ist überhaupt so toll an Eden?“, brauste Anya auf. „Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du etwas werden willst, von dem du gar nicht weißt, was es überhaupt sein soll!“

Levrier schloss die Augen. „Es fühlt sich an, als gab es eine Zeit, in der ich wusste, warum ich Eden werden muss. Aber sie scheint so fern, dass ich mir nicht sicher bin, ob sie je existiert hat. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals ein anderes Ziel gehabt zu haben, als Eden zu werden. Und deswegen werde ich diese Chance nutzen!“

Die illusionäre Anya sah das Original entschlossen an. Dieses jedoch kratzte sich am Kopf und schüttelte ebendiesen. „Kumpel, ich hab keine Peilung, ob ich dir da helfen kann. Abzunippeln klingt scheiße, aber dass ich mit dir zusammen zu irgendsonem Ding werden soll, hört sich auch nicht gerade besser an.“

„Das hättest du wissen müssen, als du den Pakt mit mir eingegangen bist. Nun ist es zu spät, denn wer einmal mit mir einen Pakt schließt und sich bereiterklärt, mein Gefäß zu werden, kann nie wieder zurück. Solche Verträge sind nicht so leicht aufzulösen und hätten in einem solchen Fall schwere Konsequenzen für beide Parteien.“

Anya stöhnte. „Alter, mir platzt gleich der Schädel! Heißt das, ich bin verloren?“

„Wenn du es so ausdrücken möchtest? Ja. Gewissermaßen. Aber wer weiß, vielleicht stellt es sich heraus, dass Eden zu werden auch für dich von Vorteil ist?“

„Wohl kaum …“

Plötzlich schwiegen die beiden sich an. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt.
 

Schließlich sagte Levrier: „Ich muss mich noch bei dir entschuldigen, Anya Bauer.“

Das Mädchen sah auf. „Häh? Wofür denn? Dass du mich um die Ecke bringen willst mit deiner irren Paktkacke?“

„Dafür auch. Doch ebenso für meine Täuschungen.“

Wovon redest du jetzt schon wieder!?“

„Ich habe behauptet, verantwortlich für die Gewaltausbrüche deiner Teammitglieder zu sein. Doch in der Tat weiß ich nicht, ob wirklich mein Einwirken dafür verantwortlich gewesen ist. Ich habe meine Präsenz auf deine Kameraden wirken lassen, doch sie haben nicht getan, was ich ursprünglich beabsichtigt hatte.“

Anya verzog angewidert das Gesicht. „Ich will gar nicht wissen, -was- du beabsichtigt hast!“

„Es ist in der Tat ein seltsames Phänomen gewesen, welches mir noch nie begegnet ist. Allerdings ist das auch nicht weiter von Belang, denn da ich keine andere übernatürliche Präsenz bemerkt habe, ist das Wirken fremder Mächte auszuschließen. Und da wäre noch etwas.“

„Jetzt kommt's …“

Levrier schüttelte den Kopf. „Ich habe dich getäuscht. Unser Duell … es war meine Absicht gewesen, zu verlieren. Nur so konnte ich mich in dir verankern, denn hättest du verloren, wäre unsere Verbindung zueinander abgerissen, weil meine Kraft sie ausgelöscht hätte.“ Tonlos fügte er hinzu: „Ich entschuldige mich dafür.“

Anya biss sich auf die Lippen und ballte eine Faust. Dann schrie sie: „Du bist doch vollkommen kacke im Hirn, kann das sein? Was bildest ...“

 

Anya runzelte die Stirn. Dieser Drecksack hatte sie von Anfang an nach Strich und Faden verarscht. Und das Schlimmste dabei war noch, dass er nicht ein einziges Mal wirklich gelogen hatte. Stattdessen hatte er sie wie eine Marionette das tun lassen, was er wollte. Wie sie es hasste, wenn man sie manipulierte! Und jetzt waren ihre Tage im wahrsten Sinne des Wortes gezählt! Wenn Levrier jemals eine greifbare Form haben würde, dann, so schwor sich Anya, würde sie diese zu Brei verarbeiten. Pakt hin oder her!

Sie stöhnte genervt und entschloss sich, dass es an der Zeit war, die Bibliothek aufzusuchen.

 

~-~-~

 

Ihre Freunde warteten bereits vor dem Eingang auf sie. Die Bibliothek von Livington befand sich an einer Ecke der Hauptstraße, mitten an der großen Kreuzung. Wüsste man nicht genau, wovor man steht, würde man sie vermutlich gar nicht als Bibliothek erkennen. Das orange gestrichene Gebäude hatte lediglich ein kleines Schild über der massiven Holztür hängen, auf dem in abgeblätterten schwarzen Lettern „Library“ stand. Ein Indiz, wie wichtig der Stadtleitung das zunehmend verfallende Gebäude war.
 

„Anya, hier bin ich!“, strahlte Nick und winkte. Dabei stand das Mädchen bereits direkt vor den beiden. Mittlerweile hatte er sich von der mysteriösen Lebensmittelvergiftung sowie der Stichwunde an seinem Bein weitestgehend erholt und war wieder bei bester Gesundheit – körperlich zumindest.

„Ich seh's“, kommentierte Anya die Idiotie ihres Freundes trocken.

„Gehen wir rein?“, fragte Abby voller Vorfreude. „Ich kann's kaum erwarten, etwas über Eden herauszufinden!“

„Und ich erst“, erwiderte Anya sarkastisch.

 

Dazu musste man wissen, dass sie ihren Freunden nicht alles über die Konsequenzen ihres Paktes mit Levrier erzählt. Sie wussten, dass Anya bis zum 11. November dieses Jahres zu Eden werden musste, aber nicht, was geschah, wenn sie dabei scheiterte. Sie wollte kein Mitleid von den beiden, denn sie hasste Mitleid wie die Pest. In neun von zehn Fällen war es sowieso nur geheuchelt. Außerdem war alles halb so wild, ihr würde beizeiten schon etwas einfallen.
 

„Ich habe, bevor ich losgegangen bin, hier angerufen und gefragt, ob sie die Bücher haben, die ich mir vermerkt hatte.“ Abby war jetzt so gut gelaunt, dass Anya glaubte, von ihrem Lächeln Karies zu bekommen.

„Haben die hier auch Comics?“, fragte Nick begeistert.

Abby verdrehte die Augen, Anya stöhnte genervt. Letztere fragte: „Und?“

„Die meisten Bücher haben sie nicht. Aber eines mit dem Titel 'Thirty Legends – The Whole Truth'.“

„Das soll wohl'n Scherz sein, oder?“ Anya wusste nicht, ob Abby jetzt genauso durchgeknallt war wie Nick, oder es tatsächlich ernst meinte. Es sah jedoch ganz nach Letzterem aus.

„Ich weiß, der Titel ist bescheuert, aber-“

Anya schüttelte verärgert den Kopf. „Abby, der Titel ist nicht nur bescheuert, der ist absolut durchgeknallt! Das hört sich an, als hätte das irgend'n Übernerd mit Hirnabstinenz geschrieben!“

Die Widersprüchlichkeit ihrer Aussage bemerkte das Mädchen dabei natürlich nicht.

„Hey, in den Auszügen, die ich einsehen konnte, schien mir der Autor sehr kompetent zu sein!“

„Und wie heißt er?“, fragte Anya bissig. „H.P. Craftlove?“

Abby zog einen Schmollmund. „Lovecraft, er heißt Lovecraft, Anya! Und nein. Aber sieh es dir doch erstmal an, bevor du darüber urteilst!“

„Das kann ja heiter werden“, stöhnte die Blondine. Ihre Laune war bereits so tief im Keller, dass sie die Totenruhe störte.

Sollte ihr Schicksal am Ende in den Händen von irgendwelchen Spinnern liegen, die so taten, als wären sie allwissend? Nein danke, ging es ihr da durch den Kopf.

„Und was ist jetzt mit den Comics?“, quengelte Nick.

 

Den hoch gewachsenen Quälgeist ignorierend, betrat Abby, gefolgt von Anya und Nick, die Bibliothek. Gleich rechts von der Tür stand ein alter Holztresen, auf dem ein PC Marke Asbach Uralt stand. Hinter ihm schlief auf einem antik anmutenden Schaukelstuhl eine ältere Frau, deren braunes, zu einem Dutt geschnürtes Haar schon an manchen Stellen ergraute.

Abby räusperte sich vorsichtig, doch die Dame reagierte nicht.

Also klopfte Anya mit der flachen Hand auf den Tresen. „Aufwachen, Kundschaft!“

Augenblicklich schreckte das alte Fossil auf, was Anya diebisches Vergnügen bereitete. Die Frau schenkte der Gruppe aus dicken Brillengläsern einen finsteren Blick. Dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. „Abby! Ich hab schon auf dich gewartet!“

„Hallo, Mrs. Wilson! Haben Sie es gefunden?“

„Oh? Ja, natürlich.“ Sie holte etwas unter dem Tresen hervor und drückte es Abby in Hände. Es war ein alter Wälzer mit braunem Ledereinband.

„So wie das Teil aussieht, wurde es bestimmt seit hundert Jahren nicht mehr angerührt“, sagte Anya abfällig. Im Gedanken fügte sie hinzu: so, wie seit hundert Jahren außer Abby keiner mehr diese beschissene Bibliothek besucht hat.

Wieder erntete sie dafür einen bösen Blick von Mrs. Wilson und reagierte darauf mit dem Stinkefinger, was der Frau einen entrüsteten Seufzer entlockte.

 

Schließlich begaben die Drei sich nach einer kurzen Unterhaltung über Mythen und Sagen an einen der Tische zwischen den Regalreihen. Unnötig zu erwähnen, dass Anya und Nick sich nicht an dem Gespräch beteiligt hatten. Letzterer war zu enttäuscht, dass es hier weder Comics noch Mangas gab.

„Ich geh' mal nach schmutzigen Heftchen suchen, vielleicht gibt’s wenigstens die hier“, meinte er frustriert und ließ die beiden Mädchen allein zurück.

„Wenn er nicht gerade irgendwelche Erotikschinken findet, wird das heute wohl kein sehr angenehmer Tag für ihn werden“, meinte Abby mitleidig und setzte sich in einen der gemütlichen, wenn auch leicht verstaubten Sessel.

Anya nahm neben ihr Platz. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er die überhaupt als solche identifizieren würde. Ich meine, das ist Nick! Kann der überhaupt lesen?“

„Auch wieder wahr“, seufzte Abby.

„Wenigstens haben wir jetzt erstmal unsere Ruhe.“ Denn wenn sich Anya konzentrieren wollte, was selten genug vorkam, brauchte sie keinen Trottel, der dauernd dazwischen quatschte.

Abby knipste die alte Bankerleuchte direkt vor ihnen an.

„Immerhin haben die hier schon Strom“, meinte Anya abfällig, „ich hatte ja fast damit gerechnet, dass die hier noch Öllampen benutzen.“

„Wenn man noch nie in der Bibliothek war, kann das einen ganz schön überraschen, oder?“ Anya nickte nur und bemerkte den Spott gar nicht, den Abby ihr entgegen warf. „So, dann lass uns mal sehen.“
 

Abby legte das Buch zwischen den beiden Mädchen auf den Tisch und öffnete es derart ehrfürchtig, dass Anya die Galle hochkam. Wem machte es denn Spaß, solche alten Schinken zu lesen? Vor dem Fernseher zu sitzen war doch viel bequemer!

„Hmm, Eden, Eden, Eden …“, murmelte der brünette Pseudohippie vor sich hin und blätterte im Inhaltsverzeichnis. „Ich hab auf der Homepages des Autors einen Auszug gelesen, in dem auch Eden vorkam. Dort wurde es, anders als sonst, nicht als Paradies Gottes bezeichnet, sondern als heilige Stadt. Bewohnt von mystischen Wesen. Ich dachte, vielleicht finden wir hier auch etwas zu Levrier.“

Anya sah auf und guckte Abby ungläubig an, die dies erst gar nicht bemerkte, so versunken war sie in dem Schmöker. Als sie schließlich nichtsahnend aufblickte, meinte Anya barsch: „Masters, hast du dir gerade selbst zugehört? Ich meine, eine Stadt? Ich soll zu einer Stadt werden?“

Verlegen lachte ihre Freundin und rückte die getönte Brille auf ihrer Nase zurecht. „Ja, das klingt etwas weit hergeholt, aber es ist momentan alles, was wir haben. Und nenn' mich nicht immer beim Nachnamen, ich mag das nicht!“

Anya stellte sich bildlich vor, wie aus ihr Häuser und Türme wuchsen. Und genau deshalb dachte sie so ungern nach, denn immer wenn sie es tat, entstanden unschöne Szenarien in ihrem Kopf.

„Da haben wir es“, rief Abby schließlich.
 

Anya beugte sich über das Kapitel zur 'Verborgenen Stadt der Allerheiligsten – Eden' und musste wiehernd auflachen. „Ich werd' ne Heilige, geil!“

„Sei leise, man schreit nicht in einer Bibliothek!“

„Wen juckt's, ist doch außer uns eh niemand hier?“ Anya zog eine Grimasse und verschränkte beleidigt die Arme. Abby konnte man es aber auch nie recht machen.

„Also, hier steht, dass irgendwo in unserer Welt eine Stadt existiert, die Heimat von Wesen ist, die Allerheiligste genannt werden. Das sind im Grunde … unsterbliche Menschen, so wie ich das sehe. Sie haben irgendwann abseits vom Rest der Zivilisation einen Ort geschaffen, der weder per Land, Luft noch Meer zu erreichen sein soll.“ Nachdenklich sah Abby auf. „Klingt zwar ganz nett, aber die Stadt müsste ja dann schon existieren.“

„Sag ich doch“, brummte Anya. Und wieso sollte sie zu etwas werden, das es ohnehin schon gab? „Dieses Buch ist scheiße! Woher will der Kerl das überhaupt wissen?“

„Weil er einst jemanden getroffen hat, der ihm davon berichtete. Wohl ein Verbannter aus Eden. Aber da steht nichts von Dämonen oder Engeln, die Menschen als Wirt benutzen. Auch nichts Weiteres über die Entstehungsgeschichte von Eden.“

„Ich glaube, das war ein Schuss in den Ofen. Leg den Dreck weg und lass uns gehen, ehe ich noch 'ne Stauballergie bekomme!“

Abby nickte. Sie musste selbst zugeben, dass der Inhalt dieses Buches fragwürdig war. Dennoch wollte sie es nicht so schnell dabei belassen. Sie blätterte zurück zum Inhaltsverzeichnis.

„Was suchst du jetzt?“, fragte Anya skeptisch.

„Dämonen, Engel und Pakte … vielleicht steht da etwas, was man mit Levrier in Verbindung bringen könnte.“

 

Warum ist dieses Kind so versessen darauf, mehr über meine Ursprünge zu erfahren?
 

Anya hatte schon befürchtet, dass -der- sich irgendwann melden würde.

„Weil du es uns nicht sagst, du Knallkopf“, zischte sie zwischen ihren Zähnen.

Sofort schreckte Abby auf. „Spricht er zu dir? Sag ihm hi von mir!“

„Er kann dich auch so hören …“

„Oh? Oh! Hi, Levrier!“
 

Bedauerlich, dass sie als Gefäß ungeeignet ist. Sie wirkt viel intelligenter und aufgeschlossener als du.

 

„Halt den Rand“, fauchte Anya. Als sie den entsetzten Blick ihrer Freundin bemerkte, fügte sie verstimmt hinzu: „Nicht du, er!“

„O-oh. Klar. Also, wo war ich gerade …“

„Du warst dabei zuzusehen, wie ich hier elendig verrotte.“

„Anya, Recherchen erfordern Geduld! Du kannst nicht erwarten, dass dir alles sofort in die Hände fällt! Hier ist es anders, als wenn man einfach ins Internet geht und sich mit Wikipedia-Artikeln zudröhnt!“

Anya gähnte demonstrativ. Die stickige Luft und das spärliche Licht machten sie irgendwie müde.

„Wir machen weiter!“, entschied Abby.

 

~-~-~

 

„Wachsen Anya jetzt Hörner?“

„Nein, du Idiot!“ Die Noch-Hornlose verpasste Nick eine deftige Kopfnuss. Verdammt nochmal, sie war weder die Inkarnation eines gefallenen Engels, eine beknackte Wunderstadt noch das verflixte Paradies! Sie war … planlos.

„Zugegeben“, meinte Abby kleinlaut, als sie zusammen die Bibliothek verließen, „die Mehrzahl unserer Treffer war … ein wenig lächerlich, ja. Aber was wir über Pakte mit Dämonen herausgefunden haben, klingt sehr interessant. Gerade weil die verschiedenen Beschreibungen sich bis auf einige Details decken.“

Anya blieb am Straßenrand stehen und runzelte die Stirn. „So wie dieser eine Schinken, in dem stand, dass ich meinen erstgeborenen Jungen an den Dämon abtreten muss?“

„Kann Anya denn überhaupt Kinder kriegen? Ist sie eigentlich ein Mann oder eine Frau?“, fragte Nick, wurde am Kragen gepackt und wäre mitten in den belebten Verkehr geworfen worden, hätte Abby ihn nicht rechtzeitig festgehalten.

Wobei diese zugeben musste, dass Nick im Prinzip recht hatte, Anya gab sich nicht gerade weiblich. Allein ihre Kleidung, die sämtliche Kurven versteckte und immer irgendwelche Totenköpfe und feindseligen Sprüche enthielt, war genug um so manchen schon bei ihrem bloßen Anblick abzuschrecken.

„Hast du Todessehnsucht!?“, herrschte Anya Nick wutentbrannt an.

 

Da tippte plötzlich jemand auf ihre Schulter. Die Blondine wirbelte um und sah in das Antlitz eines hübschen jungen Mannes, den sie noch nie gesehen hatte.

„Was willst du denn, Milchbubi?“, fragte sie barsch.

Der brünette Kerl trug ein schlichtes, babyblaues Poloshirt und Jeans, die eindeutig zu lange getragen waren, denn besonders an ihrem Saum wurden sie deutlich von Schmutz heimgesucht. Dafür hatte sein stoppeliges Gesicht ein freundliches Lächeln, das von kleinen Grübchen in den Wangen verziert wurde. Die eisblauen Pupillen stellten sogar die Schönheit von Anyas Augen in den Schatten.
 

Der Fremde reichte ihr einen Zettel. Anya riss ihm diesen nach kurzem Zögern unwirsch aus der Hand. „Was ist das? Ich kaufe nichts von Pennern!“

„Kennt ihr diese Frau auf dem Bild? Habt ihr sie vielleicht gesehen?“

Anya sah sich das Bild an, Nick und Abby beugten sich über ihre Schultern. Zu sehen war ein Schwarzweißbild einer Frau Anfang 30. Genau wie der junge Mann hatte sie recht kurzes, vermutlich braunes Haar und lächelte in ihrem grauen Kostüm. Es schien ein Ausschnitt eines Familienbilds zu sein, denn sie saß auf einem Stuhl. Hinter ihr stand ein Mann in schwarzem Anzug, doch seine obere Körperhälfte war aus dem Bild herausgeschnitten worden.

„Wer ist das?“, fragte Abby neugierig. Sie musterte den Suchenden und wurde einfach nicht das Gefühl los, ihn schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Ähnlich erging es auch Anya. Sie jedoch vermutete allerdings, dass sie diesem Kerl bestimmt schon mal eins übergezogen hatte. Leute wie der nervten sie tierisch.

„Meine Schwester“, antwortete er. „Ich bin Henry. Habt ihr sie gesehen? Sie muss irgendwo hier in der Stadt sein.“

„Geh zu den Bullen und lass uns mit dem Scheiß zufrieden“, sagte Anya abfällig, drückte ihm den Wisch zurück in die Hände und wandte sich schon zum Gehen um. Doch da wurde ihr Arm plötzlich gepackt.

„Aber-“ Mit einem Ruck drehte sie Henry den eigenen Arm auf den Rücken und rang ihn mühelos zu Boden. Stöhnend rief er: „Aua, hey, lass los, was soll-“

„Alter, wer mich von hinten anfasst, muss mit so was rechnen! Wenn du mich noch mal angrabscht, kann deine Familie gleich noch so'n Bildchen von dir verteilen, 'kay!?“

„Schon gut, schon gut, tut mir leid“, ächzte er und wurde schließlich freigelassen. Mit gequälter Mimik erhob er sich und rieb sein Handgelenk. „Man, für ein Mädchen bist du aber ganz schön krass drauf.“

„Und für 'nen Jungen bist du ein ganz schönes Weichei.“

Er musste verschwörerisch grinsen. „Stimmt. Aber ihr habt mir meine Frage nicht beantwortet. Habt ihr sie gesehen?“

Abby schüttelte den Kopf und legte die Hände ineinander gefaltet auf ihren Schoß. „Leider nein. Wie heißt sie denn?“

„Melinda.“

„A-“ Doch Anya unterbrach ihre Freundin barsch. „Da hörst du es, 'Henry', wir haben sie nicht gesehen. Schönen Tag noch!“

„Warte bitte! Woher … hast du dieses Tattoo an deinem Arm?“, fragte er ohne Vorwarnung neugierig.

Anya betrachtete das Mal und sagte: „Von einem Dä-“

Schon hatte sie Nicks und Abbys Hand vor dem Mund, während Letztere für sie antwortete. „Von einem verdammt guten Tattoo-Studio, hier in der Stadt. Magst du auch so eins haben?“

 

„Nein“, erwiderte Henry plötzlich kühl. „Aber ich würde gerne mal mit euer Freundin reden. Allein, versteht ihr?“

Angewidert von Nicks ungewaschener Hand riss Anya sich schließlich los und starrte ihr Gegenüber finster an. „Und wenn ich nicht will? Du gehst mir auf die Eierstöcke, Kumpel!“

„Es ist wichtig. Ich werde dich nicht eher in Ruhe lassen, bis du mir nicht a-“

„Hackt's bei dir? Bist du so 'ne Art Psychostalker?“, brauste Anya auf. „Verzieh dich, oder ich mach dir Beine!“ Nur, um sie im Anschluss zu brechen …

„Nein!“ In den Augen des jungen Mannes brannte unantastbare Entschlossenheit.

„Na gut, du wolltest es ja so!“ Ehe Anya auf ihn zu stürmen konnte, packten Abby und Nick sie an den erhobenen Armen und hielten sie fest.

„Nicht, Anya! Du kannst dich doch nicht mitten am Tag auf offener Straße schlagen!“

„Und wie ich das kann! Lass mich los, Masters!“

„Hehe, Anyas Arme sind ja dicker als meine. Ich will auch Anabolika.“ Schon hatte Nick wieder den Zorn des Mädchens auf sich gezogen, das gar nicht mehr wusste, wem sie zuerst den Hals umdrehen sollte.

 

Indes verschränkte Henry die Arme und schien nachzudenken. Schließlich rief er: „Hey, Terminatrix, wieso hast du solchen Schiss vor mir?“

„Wie bitte!? Dich skalpiere ich und benutze dein Haar als Klopapier! Schiss? Ich? Anya Bauer kennt keinen Schiss, du-“

Verschmitzt grinste der junge Mann und zuckte mit den Schultern. „Ach so? Und warum willst du dann nicht mit mir reden? Hast du 'Angst', ich reiß dir den Kopf ab?“

Abby und Nick hatten sichtlich Mühe, ihre Freundin festzuhalten, war die mittlerweile in einer Phase, die ihre früheren Opfer auch gerne Armageddon genannt hatten. Am Boden verstreute Zähne und gebrochene Knochen waren meist der Vorbote dieser Katastrophe. Denn dann hatte sich Anyas Kopf auf Autopilot umgestellt und jeder wusste bekanntlich, was dann geschah.

„Muss … töten …“

„Von mir aus. Aber erst nachdem wir uns ausgetauscht haben.“

„JETZT!“

Henry stöhnte. „Hat man dich als Kind zu heiß gebadet? Hmm … ich mache dir einen Vorschlag. Wir klären das mit einem Duell. Wenn du gewinnst, kannst du mit mir machen was du willst.“

Nick grinste. „Wirklich alles?“

Unnötig zu erwähnen, dass niemand näher darauf eingehen wollte.

„Wenn ich aber gewinne, wirst du mir jede Frage beantworten, die ich dir stelle. Steht der Deal?“

„Nein! Wenn ich mit dir fertig bin, passt du durch den Türschlitz, du Knallkopf!“

„Also hast du Angst zu verlieren? Na ja, kann ich irgendwo auch verstehen. Wenn du dich so duellierst, wie du dich artikulierst, dann gute Nacht.“ Henry lachte abfällig.

Anya schnaubte wie ein Stier. „Ach ja!? Alter, mit dir wisch' ich doch den Boden! Wenn sie dich dann zu Mami bringen, brauchst du in Zukunft für Halloween kein Kostüm mehr!“

„Dann stimmst du zu?“

„Natürlich stimm' ich zu!“

Abby seufzte. Es war doch jedes Mal das Gleiche. Merkte Anya denn gar nicht, wie sie nach anderer Leute Pfeife tanzte?

 

Wenige Minuten später standen sich die beiden sich auf dem Bürgersteig gegenüber. Abby kramte die Duel Disk aus ihrem Rucksack, in dem auch ein paar ausgeliehene Bücher lagen und reichte sie schließlich Henry.

„Danke. Leider habe ich keine eigene Duel Disk dabei. Ich hoffe, das macht dir nichts aus?“

„Schon gut“, lächelte Abby, die den jungen Mann eigentlich ganz nett fand. Wenn er nicht gerade Anya provozierte, war er sehr freundlich. „Zu teilen ist schließlich eine Tugend.“

Er strahlte sie an, sodass das Mädchen verzückte zu Anya und Nick zurück hüpfte. Die Blondine ihrerseits mahlte mit den Kiefern, als stelle sie sich vor, wie sie damit Henry das Fleisch von den Knochen riss.

„Können wir dann anfangen!?“, herrschte sie ihren Gegner an.

„Klar doch.“ Er schob noch sein Deck in Abbys schwarze Duel Disk – ein Überbleibsel ihrer Gothic-Phase – und schon riefen die Kontrahenten: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Henry: 4000LP]

 

„Macht es dir etwas aus, wenn ich anfange?“

Anya wollte dies bejahen, doch da zwickte Abby ihr verspielt in die Hüfte. „Masters! Was habe ich dir neulich erst beigebracht!? Nicht-von-hinten!“

„Da gibt’s auch gar kein Kindergeld“, gluckste Nick und bekam Anyas Ellbogen in die Rippen. Was eher weniger daran lag, dass es in den USA so etwas wie Kindergeld gar nicht gab.

„Okay, dann ist es jetzt mein Zug!“, nutze Henry die Gunst der Stunde und zog zu seinem Startblatt eine sechste Karte. Kurz studierte er seine Hand, dann rief er: „Den Einstand macht [Don Turtle]! Wenn er beschworen wird, kann ich weitere [Don Turtles] von meiner Hand beschwören. Doch da sind bedauerlicherweise keine.“

Ein gelber Schildkrötenpanzer tauchte vor ihm auf. Leuchtende Augen verbargen sich in seinem Inneren und man konnte nur ahnen, was sich da in dieser Hülle versteckte.

 

Don Turtle [ATK/1100 DEF/1200 (3)]

 

„Huh?“ Anya blinzelte verdutzt. „Wer spielt denn dieses Kackvieh? Hast du kein Geld für bessere Karten?“

Henry überging ihre Beleidigung und nahm drei Karten aus seinem Blatt hervor. „Diese hier setze ich alle verdeckt. Mein Zug wäre dann auch beendet.“

Mit dem Kartenrücken nach oben erschien die Reihe jener drei Zauber oder Fallen vor seinen Füßen.

 

„Wenn da genauso'n Mist liegt wie dein Monster, ist das Duell schneller vorbei als du 'Gnade'

schreien kannst, wenn ich dir anschließend unsere Klobürste in den Hals stecke! Draw!“

Abby flüsterte zu Nick: „Ihre Gewaltfantasien werden aber auch immer extremer. Was haben ihre Eltern nur mit ihr falsch gemacht?“

„Hehe, sie haben sie auf die Welt gebracht.“

„Nick, das war heute das erste Mal, dass du etwas halbwegs Kluges von dir gegeben hast“, meinte Abby anerkennend, auch wenn sie sich schämte, so über ihre Freundin zu reden. Aber die war ohnehin in ihrem berühmt-berüchtigten Zerstörungswahn und bekam kaum etwas von den Dingen mit, die hinter ihrem Rücken geschahen.

„Jetzt zeig ich dir mal, wie richtig coole Monster aussehen!“, rief Anya selbstverliebt. „[Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Sapphire]! Tourmaline, du bist das Herz, Sapphire, du die Rüstung!“

Die Abbilder der Karten wurden in einen Edelsteinwirbel gezogen, der sich über Anya auftat. Aus ihm heraus trat unter Blitz und Donner ein völlig neuer Ritter in goldener Rüstung. Mit wehendem blauem Umhang hielt er zwei Schwerter in den Händen, deren Klingen richtige Blitze waren. Auf seiner Brust prangerte ein bräunlicher Topas.

„[Gem-Knight Topaz]!“, betitelte Anya ihn auch genau danach.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

„Sieht für ein Fusionsmonster aber ziemlich unscheinbar aus“, meinte Henry unbeeindruckt.

„Weil du keine Ahnung hast, du Dumpfralle!“, erwiderte Anya und zückte eine Zauberkarte aus ihrem Blatt. „Jetzt rüste ich Topaz mit [Fusion Weapon] aus. Fusionen der Stufe 6 oder weniger erhalten durch sie ganze 1500 Angriffs- und Verteidigungspunkte!“

Eine der Klingen verschwand aus Topaz' Hand, welche sich plötzlich verformte und zu einem Elektroschocker wurde.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 → 3300 DEF/1800 → 3300 (6)]
 

„Okay. Jetzt sieht die Sache schon etwas anders aus“, musste Henry kleinlaut zugeben.

„Alter, die 'Sache' ist gleich vorbei! Los Topaz, Thunder Strike First!“

Anyas Krieger schoss auf den Schildkrötenpanzer ihres Gegners zu und wollte ihn gerade zerschlagen, als zwei von Henrys Fallenkarten aufsprangen.

„Bevor du das tust, aktiviere ich [Next To Be Lost]! Damit wähle ich eines meiner Monster und lege ein gleichnamiges Exemplar von meinem Deck auf den Friedhof!“ Er zog eine [Don Turtle]-Karte hervor und schob sie in den Friedhofsschacht von Abbys Duel Disk.

„Diese Viecher würde ich auch loswerden wollen“, höhnte Anya. „Und wenn wir schon dabei sind, kannst du diese nutzlose Falle gleich mit entsorgen! Hast du überhaupt eine gute Karte in deinem Deck!?“

„Jede Karte in diesem Deck ist gut“, erwiderte Henry trocken. „Jetzt zu meiner zweiten Falle, [Generation Shift]. Sie zerstört [Don Turtle] und gibt mir das dritte Exemplar davon von meinem Deck auf die Hand.“

Die ominöse Schildkröte zersprang und Topaz' Klinge glitt ins Leere. Anya bekam regelrecht einen hysterischen Lachkrampf. „Oh mein Gott, das wird ja immer besser!“

Henry, der die [Don Turtle]-Karte zu seinen anderen beiden Handkarten steckte, verzog keine Miene.

„Aber wenn du es so haben willst, bitteschön! Denn jetzt kann Topaz dich direkt angreifen! Also los, nochmal Thunder Strike First!“, bellte Anya und streckte den Arm aus.

Ihr Ritter erschien vor Henry und holte zum Schlag aus. Doch der war schneller und aktivierte seine letzte Fallenkarte. „[Defense Draw]! Durch sie kann ich den Kampfschaden dieses Angriffs auf 0 setzen und eine Karte ziehen!“

Der Schlag der Blitzklinge prallte einfach an ihm ab, als wäre der junge Mann aus Stahl. Dann zog er von seinem Deck und lächelte verschmitzt.

„Pah! Fühl' dich bloß nicht zu sicher, Burschi! Denn [Gem-Knight Topaz] kann zweimal pro Runde angreifen! Thunder Strike Second!“

Das Lächeln verflog aus Henrys Gesicht, als ihm der Elektroschocker in den Magen gerammt wurde. Glücklicherweise waren es nur Hologramme, sodass Anyas Ritter durch ihn hindurch reichte. Trotzdem schien er für einen Augenblick so erschrocken, als fürchte er tatsächlich um sein Leben.

 

[Anya: 4000LP / Henry: 4000LP → 700LP]

 

Henry rieb sich tief durchatmend den Bauch.

„Wow“, lachte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wäre meine Falle nicht gewesen, hättest du mich in nur einem Zug fertig gemacht.“

Ja, das hätte sie, dachte Anya wutentbrannt. Aber dieser Idiot hatte ihr gehörig die Tour vermasselt! Dafür würde sie ihn noch bluten lassen! Wortwörtlich!

„Ich beende meinen Zug“, herrschte sie ihn an.

 

„Okay, dann mache ich weiter! Draw!“ Er nahm eine Zauberkarte aus seinem Blatt und zeigte sie vor. „Mit [Salvage] hole ich jetzt die beiden [Don Turtles] von meinem Friedhof, da sie Wasser-Monster mit weniger als 1500 Angriffspunkten sind!“

„Ja, ja, spiel' ruhig so viele Witzfiguren wie du willst“, spottete Anya.

„Ganz genau das tu ich auch. Ich beschwöre [Don Turtle], welcher durch seinen Effekt die anderen beiden von meiner Hand ruft.“ Henry ließ sich von den Gebärden seiner Gegnerin nicht beeindrucken.

Vor ihm erschienen die drei Schildkrötenpanzer, in denen sich ihre Bewohner versteckt hielten.

 

Don Turtle x 3 [ATK/1100 DEF/1200 (3)]

 

„Von meiner Hand als Spezialbeschwörung: [Gilasaurus]! Da ich ihn auf diese Art gerufen habe, kannst du eines der Monster von deinem Friedhof reanimieren!“, erklärte Henry, während neben seinen Schildkröten ein brauner Velociraptor erschien.
 

Gilasaurus [ATK/1400 DEF/400 (3)]
 

„Alter, auf welcher Seite bist du eigentlich?“, fragte Anya ungläubig. Jetzt schenkte der ihr auch noch ein Monster! Aber umso besser für sie. „Fein, Sapphire im Verteidigungsmodus!“

Ihr Edelsteinritter in blauer Rüstung kniete neben Anya nieder und erzeugte einen Wall aus gefrierendem Wasser, welcher ihn vor Angriffen schützen sollte.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

„Gut, dann wäre jetzt wohl der ideale Zeitpunkt.“

„Und für was?“, fragte Anya ihren Gegner desinteressiert. „Etwa aufzugeben?“

„Ich erschaffe das Overlay Network! Zwei Level 3 [Don Turtles] werden zu einem Rang 3 Xyz-Monster! Der Level 3 [Gilasaurus] und der Level 3 [Don Turtle] ebenso! Kommt herbei, [Black Ray Lancer] und [Grenosaurus]!“

Anya traute ihren Ohren kaum. Dieser Kerl besaß tatsächlich Xyz-Monster? „Kumpel, von wem hast du die denn gestohlen!?“

Ein schwarzes Loch machte sich vor ihnen auf und verschluckte Henrys Monster, die zu drei blauen und einem braunen Strahl geworden waren. Dann traten aus dem Strom zwei neue Kreaturen auf.

Die erste, [Black Ray Lancer], war eine schwarze, amphibische Gestalt mit zwei großen Schwingen aus Schwimmhäuten und einer imposanten Lanze in der Hand. Die andere ein roter Dinosaurier auf zwei Beinen, aus dessen Kopf ein flammender Schopf entsprang. Um beide schwebten je zwei leuchtende Sphären.

 

Black Ray Lancer [ATK/2100 DEF/600 {3}]

Grenosaurus [ATK/2000 DEF/1900 {3}]
 

„Bwahahaha!“ Anya konnte sich kaum halten vor Lachen. „All die Mühe für -das-!?“

„Zauberkarte! [Xyz Gift]! Damit entferne ich, wenn ich mindestens zwei Xyz-Monster kontrolliere, zwei Materialien von ihnen und darf zwei Karten ziehen. Ich hänge je von [Grenosaurus] und [Black Ray Lancer] eines ab!“

Um jede der beiden Kreaturen verschwand eines der Lichter. Henry zog zwei neue Karten und nahm dann eine andere aus seinem Blatt hervor. „Und jetzt der Gegenangriff! [Union Attack]! Dafür, dass diese Runde nur [Grenosaurus] angreifen und keinen Kampfschaden zufügen kann, erhält er die Angriffskraft von [Black Ray Lancer]!“

„Huh?“

 

Grenosaurus [ATK/2000 → 4100 DEF/1900 {3}]
 

„Oh crap! Jetzt ist das Teil ja stärker als-“

„Als [Gem-Knight Topaz]! Vollkommen richtig!“ Henry strahlte zufrieden und streckte den Arm aus. „Los, Ancient Fire Blast!“

Wie von der Tarantel gestochen stampfte der massige Dinosaurier auf Anyas Ritter zu und blies aus seinen Nüstern eine feurige Wolke, in der der Krieger zu Staub zerfiel.

„Selbst wenn [Grenosaurus] durch seinen Angriff keinen Schaden zufügen kann, hat er einen Effekt, der sich aktiviert, wenn er ein Monster zerstört“, erklärte Henry hitzig. „Wenn ich ein Xyz-Material abhänge, erleidest du 1000 Lebenspunkte Effektschaden! Nimm das!“

Anya sah ungläubig in das Antlitz des Dinos, welcher plötzlich vor ihr stand und sie geifernd anstarrte. Dann schoss er aus seinen Nüstern eine weitere Flamme, die Anya vollkommen eindeckte.

 

[Anya: 4000LP → 3000LP / Henry: 700LP]

 

„Geht's noch?“, begehrte die Blondine im Anschluss aufgebracht auf.

„Die Frage sollte man wohl eher dir stellen“, meinte Henry ernst. Eine Spur Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. „Du machst dich über mich lustig, ohne mich und meine Strategie zu kennen. Wie kann man nur mit solchen Scheuklappen durch die Gegend laufen? Wie du solche netten Freunde haben kannst, ist mir ehrlich gesagt unbegreiflich.“

Anya knirschte mit den Zähnen. Was bildete der Typ sich eigentlich ein? Der wusste wohl immer noch nicht, mit wem er da überhaupt redete!

 

Auf der anderen Seite schenkte Abby dem jungen Mann ein vergnügtes Lächeln. Wenigstens einer, der ihre Person zu schätzen wusste. Aber sie nahm es Anya nicht übel, dass sie so war, wie sie war. Ein wenig tat Henry ihr auch Unrecht, denn schließlich hatte Anya sie und Nick vor Alastair gerettet, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Bloß das durfte er nicht wissen. Um ein Haar hätte Anya sich verplappert. Seit sie die Realität akzeptiert hatte, ging sie damit ziemlich leichtfertig um, dachte Abby besorgt.
 

„Ich setze meine beiden restlichen Handkarten verdeckt und gebe an dich ab“, sprach Henry tonlos.

 

Grenosaurus [ATK/4100 → 2000 DEF/1900 {3}]

 

Anya zog mit mehr Schwung, als nötig gewesen wäre und stolperte dabei beinahe. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. „Was du kannst, kann ich auch und besser sowieso! Ich beschwöre [Gem-Turtle]!“

Neben ihrer Ritterin erschien eine große Schildkröte, deren Panzer ganz aus einem Smaragd bestand, der in einem goldenen Rahmen gefasst war.

 

Gem-Turtle [ATK/0 DEF/2000 (4)]

 

Anya streckte plötzlich den Arm in die Höhe und grinste. Das Mal an ihrem Arm begann leicht bräunlich zu glimmen, was Henry zurückschrecken ließ. „Was!?“

„Ich erschaffe das Overlay Network! Meine beiden Stufe 4-Monster werden zu einem Rang 4 Xyz-Monster! Komm herbei, [Gem-Knight Pearl]!“

Der schwarze Wirbel mitten im Spielfeld tat sich wieder auf und sog das braune Licht, zu dem Anyas Monster geworden waren, in sich auf. Aus dem Strom heraus trat ein ehrwürdiger, schlichter Ritter in weißer Rüstung, um den ein Ring riesiger Perlen tanzte.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Da staunst du, was?“, prahlte Anya großmäulig. „So muss ein Xyz-Monster aussehen!“

Doch Henry hatte nur Augen für das Mal an Anyas rechtem Unterarm. Das leichte Glühen verschwand, aber er wandte den Blick nicht ab. Tatsächlich schien er mit den Gedanken an einem völlig anderen Ort zu sein.

Anya bekam davon gar nichts mit. Sie streckte den Arm aus und zeigte auf Henrys Dinosaurier. „Los Pearl, schick das Ding zurück in die Steinzeit! Blessed Spheres of Purity!“

Die Perlen um Anyas Ritter begannen zu leuchten und wurden zu grellen Lichtsphären, die auf [Grenosaurus] zuschossen und ihn in einer Explosion vernichteten. Das Werk verrichtet, fanden sie zu ihrer alten Gestalt zurück und schwebten wieder um [Gem-Knight Pearl]!

 

[Anya: 3000LP / Henry: 700LP → 100LP]

 

„Dein Zug, Nervensäge!“

Henry hörte sie jedoch nicht, sondern starrte Anyas Ritter mit offenem Mund an. Erst, als sie ihm diverse Beleidigungen an den Kopf knallte, wachte er aus seiner Trance auf.

„Schlottern dir jetzt so die Knie, dass dein Krümelhirn auf Durchzug steht?“, zischte Anya erfüllt von Ungeduld.

„Ah … nein. Ich war nur gerade abgelenkt gewesen. Woher hast du diese Karte?“

„Sie hat sie von mir zum Geburtstag geschenkt bekommen!“, antwortete Abby eilig, ehe Anya sich wieder verplapperte.

„Häh?“, machte Nick und kratzte sich am Kopf. „Ich dachte wir wollten sagen, dass sie sie einem Unterstufler abgenommen hat?“

„Nick!“, fauchte Abby wütend und grinste Henry hilflos an. „Nimm ihn nicht ernst, er ist ein wenig durcheinander, ha ha.“

Henry nickte, doch seinem verhärteten Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass er ihnen kein einziges Wort davon abkaufte. „Ist ja auch nicht weiter wichtig. Ich war dran, richtig?“

„Auch schon bemerkt? Bravo!“ Anya klatschte zum Spott in die Hände.

Mit nachdenklicher Mimik zog Henry eine Karte und strahlte dann. „Perfekt!“ Er hob seinen Kopf und sah Anya an. „Da ich nicht weiß, über welchen Effekt dein Monster gebietet, hänge ich nun von [Black Ray Lancer] das letzte Xyz-Material ab. Dadurch wird der Effekt deines Monsters negiert!“

Die leuchtende Kugel, welche um seine Unterwasserkreatur schwebte, verschwand. Doch ansonsten geschah gar nichts. Verwirrt blinzelte Henry und betrachtete seinen Lancer. „Was ist los? Wieso funktioniert das nicht?“

Anya ballte eine Faust und presste zornig hervor: „Weil Pearl effektlos ist …“

Plötzlich brach Henry in herzliches Gelächter aus. „Ach so? Das erklärt natürlich einiges. Tut mir leid, mein Fehler!“

Alles was er dafür erntete, war ein kehliges Knurren. Schließlich fing Henry sich wieder und schien bessere Laune zu haben als jemals zuvor. Im Gegensatz zu Anya, deren lebhafte Fantasie sich bereits unschöne Dinge mit ihm ausmalte.

„Also gut, weiter im Text. Ich aktiviere jetzt meine verdeckte Zauberkarte, [Earthquake]! Sie wechselt alle Monster in den Verteidigungsmodus.“

Ein Ruck erschütterte den Ritter und die Amphibie, woraufhin beide schützend ihre Arme vor sich hielten.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

Black Ray Lancer [ATK/2100 DEF/600 {3}]

 

„Und nun aktiviere ich sofort darauf meinen zweiten gesetzten Zauber, [Shield Crush]! Damit zerstöre ich ein Monster in Verteidigungsposition und Pearl scheint mir da bestens geeignet.“

Ehe Anya auch nur widersprechen konnte, zerschepperte ihr Monster in tausend Stücke. Auf einmal stand sie völlig schutzlos vor Henry. Dieser drehte den [Black Ray Lancer] auf Abbys Duel Disk wieder in den Angriffsmodus.

„Da seine Position durch einen Effekt geändert wurde, kann ich sie für diesen Zug noch manuell wechseln“, erklärte er dabei.

 

Black Ray Lancer [ATK/2100 DEF/600 {3}]

 

„Oh crap!“ Anya runzelte die Stirn. „Aber warte ab, nächste Runde-“

„Es wird keine nächste Runde mehr geben. Denn genau wie ich [Black Ray Lancers] Position wechseln konnte, kann ich noch genauso gut ein Monster als Normalbeschwörung rufen. Und ich habe eines gezogen. [Grass Phantom]!“

Anya klappte die Kinnlade hinunter, als sie den grünen Kohlkopf erscheinen sah, aus dessen Mund Tentakel ragten.

 

Grass Phantom [ATK/1000 DEF/1000 (3)]

 

Sie rechnete nach. Mit 3000 Lebenspunkten würde sie so schnell nicht- doch sie würde! Die kombinierte Angriffsstärke seiner Monster reichte knapp aus, damit sie … damit sie …

„Oh verdammte Dreckskacke!“, schoss es aus Anya heraus. Sie würde verlieren! Sie! Wo verlieren doch gar nicht in ihrem Wortschatz existierte!

„So kann man es auch ausdrücken“, lachte Henry. „Ich mach es auch kurz, versprochen! Also dann, [Grass Phantom], [Black Ray Lancer], Doppelangriff auf meine Gegnerin!“

Die Tentakel des Kohlkopfs schlossen sich um die Amphibie, welche die Kraft der Pflanze in sich aufsog. Dann wirbelte er mit der Lanze und verpasste Anya einen Hieb, der durch das erstarrte Mädchen hindurch glitt.

 

[Anya: 3000LP → 0LP / Henry: 100LP]

 

Die Hologramme verschwanden und Anya stand da, als hätte Marc Butcher Valerie Redfield gerade vor ihren Augen einen Heiratsantrag gemacht. Diese Niederlage war einfach zu viel für sie. Wie konnte sie von solchen Billigkarten fertig gemacht worden sein? Nicht einmal zu fluchen vermochte sie noch.
 

Henry ging auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Gutes Duell.“

Anya zwinkerte erst einen Augenblick, ehe sie sich seiner gewahr wurde. Dann schlug sie seine Hand weg. „Verdammter Glückspilz! Fein, ich hab verloren, na und? Ich habe mir ja auch überhaupt keine Mühe gegeben!“

Abby trat neben Anya und warf Henry einen entschuldigenden Blick zu. Mit den Lippen formte sie stumm die Worte „Sie ist eine schlechte Verliererin“ und deutete dabei auf Anya. Die wandte sich trotzig ab.

„Ich gehe jetzt!“, raunte sie missmutig.

„Und unsere Abmachung?“, hakte Henry nach. Dann aber änderte er urplötzlich seine Meinung. „Ist ja auch egal. Ich denke, ich weiß schon alles, was ich wissen wollte. Wenn ihr meiner Schwester begegnet wäret, hättet ihr es mir bestimmt gesagt.“

Abby nickte heftig. „Natürlich. Tut mir leid, dass wir dir nicht helfen konnten.“

„Macht nichts“, sagte er und lächelte wieder. Er gab Abby und dann Nick die Hand, während Anya mit hinter dem Kopf verschränkten Armen mit dem Rücken zu ihnen stand und schwieg.

„Es tut mir leid, dass ich euch belästigt habe. Vielleicht läuft man sich ja mal wieder über den Weg. Würde mich freuen. Aber jetzt muss ich weiter, also bis dann!“ Er nahm die Duel Disk von seinem Arm und gab sie Abby zurück.

„Bye“, hauchte die ihm verzaubert hinterher, als er sich von ihnen schnellen Schrittes entfernte. Sie war einfach nur beeindruckt, wie sehr er sich um seine Schwester sorgte, wie stark er trotz seines auf den ersten Blick schwachen Decks war und wie spielerisch er mit Anyas Eskapaden umgehen konnte.

 

„Bah, guckt mal, wie spät es ist“, murmelte jene schließlich und deutete auf den Himmel. Der war bereits orangerot, die Sonne stand schon tief am Horizont. „Wie lange haben wir überhaupt in dieser bekloppten Bibliothek gehockt?“

„Bestimmt ein paar Stunden“, überlegte Abby, war aber mit den Gedanken noch bei Henry.

„Was für eine Zeitverschwendung! Ich haue ab. Man sieht sich!“, brummte Anya frustriert und trottete ebenfalls, in die entgegengesetzte Richtung, von dannen.

Nun waren es nur noch Nick und Abby. Letztere sah den hochgewachsenen, zerzausten jungen Mann fragend an. „Was hältst du von Henry?“

„Nicht mein Typ.“

„So meinte ich das nicht! Er ist ziemlich cool, oder? Aber“, sie zögerte, „war er nicht ein wenig seltsam? Ich meine, wie er Anyas Mal angestarrt hat?“

Nick gluckste. „Er hatte bestimmt Angst, dass sie ihn verprügelt. Geht mir auch immer so.“

Du gibst einem auch allen Anlass dazu, dachte Abby schelmisch. Trotzdem! Etwas an Henry war seltsam. Zumal er ihr so verdammt bekannt vorkam!

 

 

Turn 06 – Victim's Sanctuary

Abbys neuestem Einfall folgend, besuchen die drei Freunde die Irrenanstalt Victim's Sanctuary am Rande der Stadt. Schnell wird klar, dass die dort untergebrachten Schüler keine Hilfe sein werden bei der Recherche rund um Eden. Als sie das Gebäude wieder verlassen wollen, treffen sie unerwartet auf Valerie, die ihre Freundin Caroline besuchen will. Gerade als zwischen Anya und Valerie ein neuer Streit aufzuflammen droht, gibt es einen Stromausfall und die Vier werden von den Patienten angegriffen. Dabei geht Anya KO, sodass es nun an Valerie liegt, sich einem gefährlichen Spiel zu stellen …

Turn 06 - Victim's Sanctuary

Turn 06 – Victim's Sanctuary

 

 

„Ich schwöre euch, eines Tages wird ihr Kopf in unserem Flur an der Wand hängen!“, zischte Anya hasserfüllt und schielte mit zusammengekniffenen Augen zu Valerie herüber, die Seite an Seite mit Marc – ihrem Marc! – über das Campusgelände schritt. Dabei unterhielten sie sich derart ausgelassen, das Anya schon Pläne schmiedete, wie sie unbemerkt an die Knarre ihres Vaters herankommen könnte.

Abby lugte über ihre Zeitung. „Würde ich dir nicht empfehlen. Mord wird in unserem Bundesstaat schwer bestraft. … Wie überall auf der Welt. Außerdem, erinnerst du dich noch an letztes Mal, als du dich mit Valerie angelegt hast?“

„Das ist doch Schnee von vorvorgestern!“, raunte Anya und biss so zornentbrannt in ihren Apfel, dass es aussah, als würde sie sein Fleisch wie ein Wolf herausreißen.

 

Die beiden Mädchen und Nick saßen auf der roten Wolldecke, die Abby mitgebracht hatte, damit sie im Schatten der großen Eiche bei den Sporthallen ihre Mittagspause verbringen konnten. Es war extrem heiß an diesem Sommertag, sodass selbst Anya ausnahmsweise ein Tanktop trug und Schultern zeigte. Natürlich war das Kleidungsstück pechschwarz, man könnte demnach behaupten, passend zu Anyas Seele. Und dass ihr Mal mittlerweile immer wieder neugierige Blicke auf sich zog, war der jungen Frau dabei völlig gleich.

„Ich habe mich darum kümmert. Unser Besuch wird genehmigt“, meinte Abby schließlich. Ein gewisses Unbehagen lag dabei in ihrer Stimme. „Vielleicht sollten wir das nochmal überdenken, ha ha … ?“

„Masters, sag jetzt bloß nicht, du hast Schiss?“, murrte Anya. „Das war doch deine Idee gewesen, schon vergessen?“ Mit alberner Stimme äffte sie Abbys Worte von neulich nach. „'Vielleicht finden wir ja dort etwas über Eden heraus? Schließlich sind unsere Mitschüler erst verrückt geworden, als Levrier aufgetaucht ist.'“

„Na ja, manchmal macht man eben Fehler“, reagierte das Mädchen heiser, welches aussah, als würde sie einen Kartoffelsack tragen. Selbst an den heißesten Tagen musste es immer ein Kleid sein – in dem Fall vom langweiligsten Grau. „Schau dir Nick doch an!“
 

Der war gerade dabei, eine Wespe streicheln zu wollen, die sich über seinen Pudding hermachte. Wenige Sekunden später geschah das Unvermeidliche: „Au! Die hat mich gestochen! Böse Wespe!“

Anya interessierte das gar nicht. Sie starrte Abby finster an. „Wir gehen dahin und gut ist! Nachdem deine grandiose Idee mit der Bibliothek so ein Reinfall war, bist du mir das schuldig! Wenn ich noch ein Buch sehe, muss ich kotzen!“

Plötzlich hatte sie das Buch ihres Englischkurses vor den Augen, welches Nick sich grinsend aus Abbys Tasche geschnappt hatte. Als er das Buch senkte, um zu sehen, ob Anya ihre Worte wahr gemacht hatte, funkelte die finster über den Rand, riss es ihm aus den Händen und zog es ihm über den Schädel.

„Au! Böse Anya!“, jammerte er liegend.

„Darf ich zutreten?“, fragte die Blondine bitterböse und wollte aufstehen, doch ein mahnender Blick Abbys ließ sie verharren.

„Na schön“, lenkte die schließlich ein. „Also dann heute nach der Schule vor Victim's Sanctuary. Eigentlich bin ich ja neugierig, was mit unseren Klassenkameraden ist. Immerhin sehen und hören sie immer noch Dinge. Aber …“

„Nichts aber!“, protestierte Anya. „Mir läuft die Zeit davon! In zwei Monaten bin ich entweder eine bescheuerte Stadt oder weiß-der-Geier-was-sonst-noch! In Victim's Sanctuary spukt es nicht, okay? Das erzählt man kleinen Kindern, damit sie nicht über den Stacheldrahtzaun klettern!“

Einmal hatte sie es versucht, doch leider war sie dabei unangenehm gescheitert. Seitdem hasste Anya Stacheldrahtzäune.

„Und was ist mit den Experimenten?“, fragte Nick enttäuscht.

„Wenn es da jemals Experimente gab, dann höchstens an dir!“, meinte Anya abweisend und verschränkte die Arme. „Wir gehen dahin und gut is'!“

 

~-~-~

 

Als sie die örtliche Irrenanstalt am späten Nachmittag erreicht hatten, war von schönem Wetter keine Spur mehr zu sehen. Es goss wie aus Eimern und so teilten die Drei sich einen Regenschirm, welchen Anya sich von Willow Taub mit 'freundlichen Worten' 'geborgt' hatte. Und während die beiden Mädchen dadurch nicht nass wurden, musste Nick ihnen als Größter den Schirm halten – durfte aber gleichwohl nicht darunter stehen und war bereits vollkommen durchnässt.

„Komisch, schon wieder so ein Wetterumschwung“, meinte Abby dazu nachdenklich.
 

Sie hielten vor den Toren der Anstalt, die direkt am Waldrand auf einem Hügel lag. Überall um sie herum standen bereits vereinzelt Fichten und andere Gewächse, die Anya nicht zu benennen wusste. Das Gelände war umringt von einem hohen Stacheldrahtzaun, der dafür sorgen sollte, dass niemand es ohne Erlaubnis betreten oder verlassen konnte. Neben dem schwarzen Tor befand sich ein kleines Pförtnerhäuschen, zu dem sich die Drei begaben.

 

Nachdem man sie hereingelassen hatte, strebten sie der riesigen Villa entgegen, in der die Patienten untergebracht waren. Einst hatte sie einer reichen Schauspielerin gehört, doch nachdem die sich im Foyer erhängt hatte, wollte niemand mehr dort einziehen. So hatte die Stadtverwaltung beschlossen, das Gebäude zu renovieren und eine Irrenanstalt daraus zu machen.

Düster erhob sich das mehrstöckige Anwesen vor ihnen. Während Abby sich an Anya schmiegte, die aus purer Boshaftigkeit dazu geneigt war, ihre Freundin in eine Pfütze zu schubsen, lachte Nick plötzlich los.

„Was ist?“, fragte Anya genervt.

„Nichts“, meinte er. „Mir geht’s gut.“

„Glaub ich eher weniger“, brummte seine Freundin und machte mit ihrem Zeigefinger eine Kreisbewegung um ihre Schläfe. Was war denn mit dem plötzlich los?

Zusammen stiegen sie die kurze Treppe zum Eingang hinauf und schoben eine der Flügeltüren beiseite.
 

Sie gelangten in die große Eingangshalle, die als Aufnahme umfunktioniert worden war. Die roten Teppiche hatte man längst entfernt und gegen Laminatboden ausgetauscht. Die Wände waren weiß gestrichen und insgesamt wirkte das Foyer, abgesehen von ein paar willkürlich verteilten Stühlen und Topfpflanzen, ziemlich leer. Zwei Treppen, die an ihrem Ende ineinander verliefen, führten in das nächstgelegene Stockwerk zu den Patientenzimmern.

Abby geleitete ihre Freunde herüber zu den beiden Krankenschwestern, die zusammen an dem Tresen in der rechten Ecke des Saals arbeiten. Sie räusperte sich, ehe sie die beiden schwatzenden Damen mittleren Alters ansprach. „Ähm, Entschuldigung?“

Die korpulentere der beiden Krankenschwestern sah auf. „Kann ich euch helfen?“

„Ja. Wir suchen nach unserem Freund und Mitschüler, Ernie Winter. Ich hatte unseren Besuch angekündigt gehabt.“

Kurz sah die Frau auf ihren Computer, dann meinte sie: „Zimmer 1.13, erstes Stockwerk. Einfach die Treppe hoch, den Gang geradeaus entlang, dann findet ihr es.“

„Danke.“

Tief durchatmend drehte sich Abby zu ihrem Freunden um. Dann schritten sie zusammen durch das Foyer – Nick hinterließ einen regelrechten Fluss aus Wassertropfen – nahmen die Treppen und gelangten in einen spärlich beleuchteten Gang, von dem links ein weiterer Korridor abging. Dass es hier so dunkel war, lag vornehmlich daran, dass zwei der insgesamt sechs Lampen ihren Dienst verweigerten.

„Seltsam still für eine Irrenanstalt“, meinte Anya enttäuscht, als sie nach Ernies Zimmer suchten. Sie hatte mit Verrückten gerechnet, die überall herum rannten, Blödsinn schwafelten und nach Leibeskraft schrien. Die bittere Realität sah da ganz anders aus: langweilig.

„Von mir aus kann das auch so bleiben“, erwiderte Abby ängstlich. „Immerhin herrscht hier Ruhe und Frieden. Da kriegt man ja glatt Angst um sein Karma.“

„Peace!“, gluckste Nick und drängte sich mit erhobenen Mittel- und Zeigefingern zwischen die Mädchen.
 

Letztlich waren sie vor Zimmernummer 13 angelangt. Hinter ihr war es mucksmäuschenstill.

„Ähm Ern-“

Doch Anyas Faust trommelte schon gegen die Tür. „Aufmachen, Winter! Wir haben da was zu klären! Wenn du nicht gleich aufmachst, tret' ich die Tür ein!“

Abby, die es erst auf die freundlich Art hatte versuchen wollen, warf Anya einen finsteren Blick zu.

„Was denn!?“

Aber es gab auf Anyas Drohungen keine Antwort. Was höchst ungewöhnlich war, konnte man Ernie schließlich als größten Feigling ihres Jahrgangs bezeichnen. Schmächtig wie er war, wurde er seither von seinen Mitschülern als Spielball für allerlei Gemeinheiten benutzen. Wenn Anya etwas von ihm verlangte, tat er das in der Regel auch ohne Widerspruch.

„Vielleicht schläf- Anya!“
 

Jene hatte einfach die Tür geöffnet und trat in das kleine Zimmer ein. Außer einem Bett, einem Fernseher an der Wand, einem Nachttisch und einem Regal mit Büchern befand sich hier nicht viel. Die Vorhänge des Fensters waren zugezogen. Die Lampe auf dem Nachttisch brannte nicht, es war also noch dunkler als im Gang hinter ihnen.

Eine kleine, gebeugte Gestalt hockte auf dem Bett und verharrte in eisiger Stille. Wie gebannt starrte Ernie regungslos in die Leere. Dass er Besuch hatte, nahm er anscheinend gar nicht wahr.

„Hey Winter, aufwachen!“, raunte Anya und baute sich vor dem Jungen auf.

„Ich glaube nicht, dass das so funktioniert“, beschwerte sich Abby wütend und schob ihre Freundin beiseite. Sie beugte sich zu Ernie herab und lächelte freundlich. „Hallo Ernie, erkennst du mich? Ich bin es, Abigail Masters. Du hast manchmal Mathematiknachhilfe bei mir genommen, erinnerst du dich?“

Weder eine Antwort, geschweige denn eine Regung des Jungen verriet, dass er überhaupt zuhörte.

Wütend darüber, ignoriert zu werden, griff Anya den Blonden am Kragen und zog ihn zu sich hoch.

„Jetzt hör' mir mal zu, du Napfsülze! Du wirst uns jetzt sagen, was du die ganze Zeit anstarrst, oder ich schmeiß' dich achtkantig aus dem Fenster und ziehe dich solange an den Beinen durch den Schlamm draußen, bis du nicht mehr weißt, ob du Männlein oder Weiblein bist!“

„Anya!“, schrie Abby regelrecht, was von jemandem wie ihr vollkommen überraschend kam. Sie zerrte ihre Freundin von dem Jungen weg, welcher wieder auf sein Bett plumpste und vor sich hin starrte, als wäre nichts geschehen. „So kannst du doch nicht mit einem Kranken umgehen!“

„Aber-!“

„Du siehst doch, dass wir für ihn gar nicht da sind! Egal wie sehr du ihn anbrüllst, er wird nicht antworten!“

„Deswegen will ich es ja mit ein wenig Gewalt probieren, vielleicht-“

„Nein!“ Abby trat zwischen Ernie und Anya. „Du wirst ihm kein Haar krümmen!“

Mit den Zähnen knirschend, machte die Blondine auf dem Absatz Kehrt und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. „Von mir aus … Und was jetzt?“

„Vielleicht können wir jemand anderes fragen? Ich glaube, Lily McDonald ist auch hier irgendwo. Wir sollten uns mal nach ihr erkundigen.“ Abby seufzte. „Ich hatte gehofft, dass wir mehr über die Dinge erfahren können, die unsere Mitschüler sehen, seit sie hier eingeliefert worden sind. Das hat doch gewiss etwas mit Eden und Levrier zu tun.“

Anya grunzte missmutig: „Die sind einfach nur balla balla, das ist alles!“

Zusammen verließen die Drei Ernies Zimmer, aber nicht, ohne dass Anya die Tür zuknallte. Es war nicht zum Aushalten! Sie hatte mit Dummschwätzern gerechnet, aber dass die Bekloppten hier gar nichts sagten, machte das Mädchen rasend.

 

Als das kleine Grüppchen zurück ins Foyer gelangte, bemerkten sie am Tresen der Krankenpflegerinnen eine schwarzhaarige Gestalt, die auf etwas zu warten schien.

„Ich denke, ich verschwinde“, meinte Anya verstimmt. „Bringt ja doch nichts, sich hier zu langweilen. Ihr könnt ja gerne weitermachen, wenn ihr wollt.“

„Anya?“ Die junge Frau mit den langen Haaren drehte sich um und entpuppte sich als niemand anderes, als-

„Redfield?“, schoss es wie eine Kanonenkugel aus der Blondine. „Und ich dachte, der Tag kann nicht mehr beschissener werden!“

„So gut gelaunt wie eh und je, huh?“, erwiderte Valerie kühl. In der Hand hielt sie ihren Regenschirm. „Was wollt denn ausgerechnet ihr hier?“

„Dasselbe wie du, was sonst?“, zischte Anya giftig.

„Caroline Mayfield besuchen? Aber ihr kennt sie doch gar nicht.“

Abby drängte sich zwischen die beiden Mädchen, um das drohende Blutbad zu verhindern. „Hi Valerie! Nein, wir sind wegen Ernie Winter hier.“

Die Schwarzhaarige nickte verständig. „Ach so.“ Dann sah sie zurück zum Tresen, nur um sich wieder der Gruppe zuzuwenden. „Sagt mal, habt ihr die Schwestern gesehen? Ich warte hier schon seit über fünf Minuten. Oder wisst ihr zufällig, wo sich Carolines Zimmer befindet?“

„Im Keller“, antwortete Anya heimtückisch. Da gab es bestimmt Ratten und sie wollte dabei sein, wenn Valerie schreiend das Gebäude verließ.

„Also irgendwo auf den oberen Etagen“, schloss Valerie kühl aus Anyas Worten.

„Soll das heißen, dass ich lüge!?“, fauchte Anya, sich insgeheim fragend, was sie wohl verraten hatte.

Ihr Gegenüber nickte. „Dir traue ich das sogar zu! Als ob ich nicht merken würde, dass du etwas gegen mich hast!“

„Verdammt richtig, Bambi! Am liebsten würde ich-“

 

Urplötzlich fiel die Deckenbeleuchtung aus, sodass es ziemlich düster im Foyer wurde. Draußen donnerte es laut.

„Na klasse“, raunte Anya.

„Ich hab Angst im Dunkeln“, jammerte Nick und zwängte sich an Anya … und lag kurz darauf am Boden.

Erschrocken half Valerie ihm wieder auf. „Was hat er dir denn auf einmal getan?“

„Er lebt?“, antwortete Anya zynisch. „Misch dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen, Redfield!“

Abby, die sich wieder zwischen die beiden Streithähne drängen musste, versuchte zu schlichten. „Bitte, hört auf! Wir sollten uns hier nicht streiten! Lasst uns doch für einen Moment alle tief durchatmen, dann nehmen wir einander bei den Händen und-“

„Verdammt richtig, Masters! Ich geb' mir diesen Scheiß nicht länger!“

Aufgebracht stampfte Anya davon und steuerte auf die große Flügeltür zu. Doch als sie diese öffnen wollte, rührte die sich keinen Millimeter. Egal wie sehr Anya auch daran rüttelte und dagegen trat, die Tür blieb verschlossen.

Schnaubend drehte sie sich zu den anderen um, die sie alle verwirrt anstarrten. „Sieht so aus, als sitzen wir hier fest, hmpf!“

„Natürlich … Willst du uns veräppeln?“, fragte Valerie bissig, schritt zu Anya und probierte es selbst. Erfolglos. Und musste deshalb ein triumphierendes Grinsen übelster Sorte über sich ergehen lassen.

 

„Toll, und was machen wir jetzt?“, fragte Anya, als die beiden Mädchen wieder beim Rest der Gruppe angelangt waren.

„Wir gehen einfach jemanden suchen, der uns das Tor wieder aufschließt“, meinte Valerie unbekümmert. „Bestimmt haben sie abgeschlossen, damit die Patienten nicht in den strömenden Regen laufen.“

„Und das hast du nicht bemerkt, während du die ganze Zeit hier gewartet hast?“

Auf Anyas Frage hin schüttelte Valerie den Kopf und erwiderte pampig: „Natürlich nicht! Das Schloss kann auch automatisch aktiviert werden, falls du es nicht weißt.“

„Also ich weiß nicht“, murmelte Abby ängstlich. Sie richtete sich an Anya und Nick. „Ist euch nicht aufgefallen, dass wir mit Ausnahme der Schwestern keinem einzigen Pfleger begegnet sind? Und die beiden sind jetzt auch verschwunden. Als ob …“

„Oh, komm schon Masters! Du glaubst doch nicht im Ernst, was du gerade aussprechen willst!“, höhnte Anya und verschränkte entschieden die Arme. Dabei fiel Valeries Blick auf ihr Mal.

„Was ist das da an deinem Arm?“

„Geht dich gar nichts an, Redfield!“

„Hört auf“, bat Abby eindringlich und deutete auf einen Gang links von den Treppen, welcher zu einem anderen Teil des Gebäude führte. „Wenn wir nach jemandem suchen wollen, sollten wir es mal da versuchen.“

„Aber da ist es dunkel!“, jammerte Nick.

„Nein, da sind ein paar Fenster“, meinte Valerie einfühlsam und streichelte seine Schulter.

Anya biss sich auf die Lippen. Diese schleimscheißerische, selbstverliebte, dummlallende Valerie! Wenn sie doch nur unbemerkt einen 'kleinen' Unfall arrangieren könnte! Dann wäre sie diese Pest von Weib endlich los!

„Tch, dann gehen wir jetzt jemanden suchen“, sagte Anya und begann zu laufen. Die anderen folgten ihr und schon bald hatten sie den Gang erreicht.
 

Früher war er eine Galerie gewesen, denn noch immer schmückten schöne, hohe Fensterbögen den sterilen, weißen Gang. Draußen konnte man den Vorhof und die Straße sehen, über die sich ein regelrechter Sturmregen ergoss. Hin und wieder blitzte und donnerte es.

Immer wieder riefen Abby und Valerie nach dem Personal, ohne jedoch gehört zu werden. Anya machte dabei nicht mit, ihr war das zu blöde. Und Nick lief ganz zusammengekauert hinter ihnen, schreckte bei jedem kleinsten Geräusch zusammen.

Schließlich erreichten sie eine Abzweigung nach rechts. Anya, die sowieso schon so schlecht gelaunt war, dass sie immer wieder genervt mit der Faust gegen die weiße Tapete rechts von sich schlug, erreichte die Abbiegung als Erste. Und kaum war sie dort angelangt, sah sie nur noch einen Schatten und spürte, wie sie von den Füßen gerissen wurde und stürzte. Alles wurde dunkel.
 

„Anya!“, schrie Abby erschrocken und hielt sich die Hände vor den Mund.

Da lag ihre Freundin am Boden, mit einer kleinen Platzwunde am Kopf und rührte sich nicht mehr.

Um die Ecke trat plötzlich ein Mädchen mit honigblondem Haar, ein wenig jünger als Abby selbst und lächelte böse. In der Hand hielt sie ein Stuhlbein, mit dem sie Anya KO geschlagen hatte.

„Caroline!?“, rief Valerie völlig verwundert und ließ vor Schreck ihren Regenschirm fallen.

Doch ihre Freundin war nicht allein. Plötzlich kam eine ganze Gruppe von Patienten in grünen Nachthemden oder auch alltäglichen Kleidungsstücken um die Ecke, stellte sich hinter Caroline wie eine undurchdringliche Mauer auf.

Derweil eilten Abby und Nick Anya zu Hilfe und schleppten sie zurück zu Valerie. Caroline ließ sie gewähren und sagte: „Wir haben schon auf euch gewartet.“

Valerie wirbelte um. Auch hinter ihnen stand mindestens ein Dutzend Patienten. Sie kannte fast alle von ihnen, waren es doch diejenigen, die nach dem Vorfall in der Eissporthalle hierher eingeliefert worden waren. Auch Ernie Winter war unter ihnen. Doch was im Moment viel entscheidender war: die hatten sie umzingelt!

„Caroline, was ist los mit dir?“, fragte Valerie aufgebracht. „Wieso greifst du Anya an?“

„Damit sie uns nicht angreift natürlich“, antwortete ihre Freundin mit einem Hauch von Boshaftigkeit in der Stimme. „Sie ist gefährlich. Deswegen möchten wir sie gerne hier behalten. Ihr habt doch nichts dagegen, oder?“

„Ich verstehe nicht“, wandte Valerie verwirrt ein. „Warum … was ist mit euch los? Wo ist das Personal?“

„Im Keller“, erwiderte Caroline gelangweilt. „Ist das Beste für sie. Und für uns selbstverständlich auch. Also? Gibst du uns Anya? Oder müssen wir Gewalt anwenden?“ Demonstrativ schlug sie mit ihrer Waffe auf die Handfläche.

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Abby ihr ängstlich zu. „Irgendetwas stimmt mit denen nicht. Ich glaube, sie sind … besessen.“

 

Unter normalen Umständen würde Valerie sich Gedanken um Abigails geistigen Gesundheitszustand machen. Da sie allerdings mit unantastbarer Sicherheit wusste, dass ihre Freundin Caroline niemals jemandem absichtlich weh tun würde, musste sie ihrer Klassenkameradin zustimmen. Auch wenn Besessenheit etwas weit hergeholt anmutete.

Nur war an eine Flucht nicht zu denken, denn der Gang war in beide Richtungen blockiert. Und durch ein Fenster zu flüchten war auch unmöglich, da sie dazu erst die davor angebrachten Gitter entfernen müssten – es war also ausweglos, sie saßen in der Falle.

 

„Und? Ich warte auf deine Antwort, Val.“

Valerie schloss die Augen. Caroline nannte sie sonst nie 'Val'. Was war nur mit den Leuten hier geschehen, dass sie sich so feindselig verhielten? Und warum wollten sie ausgerechnet Anya Bauer?

„Hegt ihr etwa Rachegedanken?“, fragte Valerie scharf. „Hat Anya euch etwas so Schlimmes angetan, dass ihr sie gleich KO schlagen musstet?“

„Aber nein, Val. Sie ist einfach nur … ein Dorn im Auge. Und ich bin mir sicher, dass du bestens weißt, was ich damit meine.“

Die Schwarzhaarige blickte zu Anya herüber, die bewusstlos in Nicks Armen lag. Natürlich war Anya ein Ekelpaket, aber das hatte sie nicht verdient. Wer wusste schon, was die mit ihr anstellen würden, wenn sie sie ihnen aushändigen würde.

Sie wandte sich an Caroline. „Tut mir leid, aber meine Antwort ist nein. Anya bleibt bei uns!“

„Oh? Also stellst du ihr Leben über deines? Wie nobel. Aber so warst du ja schon immer, nicht wahr, Val?“

Valerie ballte unbewusst eine Faust. Das war nicht Caroline, die da redete. Es mochten zwar ihr Körper und ihre Erinnerungen sein, doch nicht ihr Wesen. Sie war die Güte in Person und würde niemals jemandem nach dem Leben trachten!

„Wer bist du wirklich?“, wollte Valerie wissen. Konnte es wirklich sein, dass Abigail recht hatte und alle hier besessen waren? Aber so etwas gab es nur in Geschichten!

„Deine liebe Freundin Caroline, hast du das vergessen? Aber nein … eigentlich bin ich das nicht. Oder doch? Wenn ich es doch nur wüsste …“, murmelte das blonde Mädchen verspielt. „Ich bin ja nicht nur Caroline. Auch Ernie. Und Lily. Debbie auch. Du siehst? Ich bin überall um euch herum!“

„Was immer du bist, lass diese Leute gehen!“

„Oh? Warum denn? Ich werde sowieso verschwinden, wenn ich meine Aufgabe erfüllt habe.“

Valerie runzelte die Stirn. „Aufgabe?“

„Anya zu töten, was sonst? Ich wurde einzig zu diesem Zweck geschaffen. Und wenn mein Werk getan ist, werde ich verschwinden. So funktionieren solche wie ich.“

„Ich sagte bereits, dass du Anya nicht bekommen wirst!“

Caroline lachte schrill. „Natürlich. Das war zu erwarten. Und was hindert mich daran, euch alle zu töten? Denk doch mal nach, Anya kannst du sowieso nicht retten. Warum nicht wenigstens deines und das Leben deiner übrigen Freunde? An euch haben wir kein Interesse.“

„Weil das ungerecht wäre!“

Tatsächlich war Valerie aber dazu geneigt, über das Angebot nachzudenken. Wäre es denn gerecht, Nick und Abigail nur um Anyas Willen mit ins Verderben zu stürzen? Aber andererseits, wie konnte sie jemanden verraten, der absolut wehrlos war?

 

Die falsche Caroline trat einen Schritt vor. „Wenn du meinst? Dann haben wir uns wohl nichts weiter zu sagen.“

Die Reihen der Besessenen gerieten in Bewegung. Immer enger zog sich die Schlinge um den Hals der Gruppe. Nick wimmerte vor Angst, während Abby sich an Valeries Rücken drückte.

Doch plötzlich stieß Caroline gegen etwas und fiel zurück. Verwirrt legte sie ihre Hände auf etwas mitten in der Luft, welches wie eine unsichtbare Barriere anmutete. „Verdammt!“

„Was?“, murmelte Valerie verwirrt.

„Das … das muss Levrier sein!“, rief Abby überglücklich.

„Levrier?“

„Er ist so etwas wie Anyas … Freund. Er beschützt uns! Aber man kann ihn nicht sehen, weil er keinen Körper besitzt.“

Carolines schnarrende Stimme erklang. „Und wenn schon, dieser Schutzschild ist schwach! Lange wird er nicht halten. Wir müssen nur ein wenig warten … “

Valerie starrte Nick und Abby an, die sich um Anya kümmerten. Wenn sie bei Bewusstsein wäre, hätten sie vielleicht eine Chance und könnten sich einen Weg durch die Besessenen bahnen. Aber gegen so viele war wohl selbst eine Anya Bauer machtlos.

Was sollte sie nur tun?

 

Kämpfe, solange sein Schild euch beschützen kann!

 

Valerie schreckte zusammen. „Habt ihr das auch gehört?“

„Was?“, wollte Abby wissen.

„Diese … Frau?“

„Nein. Oder meinst du Caroline?“

„N-nein, schon gut.“ Valerie blinzelte verdutzt. Wen oder was hatte sie da gerade gehört? Sie solle kämpfen? Gegen wen? Caroline?

Die wartete samt ihrer Anhängerschaft mit einem finsteren Lächeln. Aber gesagt schien sie nichts zu haben. Und auf einmal kam Valerie eine Idee. „Hör zu! Ich mache dir einen Vorschlag! Wir duellieren uns um Anya!“

„Ach wirklich? Warum sollte ich das wollen? Ich hab sie doch schon und muss nur darauf warten, dass diese Barriere verschwindet. Was nicht lange dauern wird.“

„Bist du dir da wirklich so sicher? Wenn Anya erstmal aufgewacht ist, wird die Barriere viel stärker werden. Außerdem wird sie dann in der Lage sein, dich zu vernichten!“

Was redete sie da eigentlich, fragte sich Valerie irritiert.

„Du lügst.“ Doch hundertprozentig überzeugt hörte sich Caroline dabei nicht an.

„Ach ja? Die Chancen stehen 50/50. Klar, wenn Anya nicht aufwacht, sind wir alle verloren. Tut sie es aber, seid ihr die Dummen. Ich möchte mich aber nicht auf Eventualitäten verlassen! Entweder du trittst gegen mich in einem Duell an und lässt uns gehen, wenn du verlierst, oder wir warten jetzt schön ab und fordern das Schicksal heraus. Was sagst du dazu?“

Caroline legte ihre Stirn in tiefe Falten. Dann nickte sie. „Mir gefällt deine Denkweise. Nun gut, lass uns sehen, ob du deines Glückes Schmied sein kannst.“

 

Einer der Besessenen reichte Caroline eine Duel Disk. Valerie trug ihre bereits um den Arm, denn sie hatte ursprünglich vorgehabt, ihrer Freundin damit eine Freude zu bereiten. Sie hätte nie damit gerechnet, dass das Duell unter diesen Umständen stattfinden würde.

Die Schwarzhaarige wusste, dass dieses Wesen sich nicht an die Abmachung halten würde, wenn der Schutzschild erst einmal verschwunden war. Deswegen waren es tatsächlich Anya und ihr geheimnisvoller Freund, auf den sich Valerie verließ. Vielleicht konnte sie durch dieses Duell genug Zeit erkaufen, bis Anya aufwachte. Denn das Mädchen bezweifelte nicht, dass Caroline bereits irgendwie versuchte, die Barriere zu knacken. Was ihr in einem Duell womöglich schwerer fallen würde. Einen Versuch war es zumindest wert.

 

Von der unsichtbaren Mauer getrennt, bezogen die beiden jungen Frauen schließlich Stellung.

„Du wirst nicht gegen mich bestehen“, hauchte Caroline bittersüß.

„Wenn du dich so duellierst wie die echte Caroline es tut, dann würde ich keine solche Aussagen treffen!“

„Ich kann dir versichern, dass ich nicht wie sie bin. Also, fangen wir an?“

Valerie nickte und so riefen sie: „Duell!“

 

[Valerie: 4000LP / Caroline: 4000LP]

 

Nachdem beide ihre Starthand gezogen hatten, sprach Caroline: „Da du mich herausgefordert hast, möchte ich dieses Spiel beginnen.“

Valerie musterte skeptisch ihr Blatt und nickte. Sie hatte schon bessere Hände gehabt, aber vielleicht war das gar nicht so verkehrt, denn immerhin musste sie auf Zeit spielen. Gleich in die Vollen zu gehen würde am Ende nur auf sie zurückfallen.

„Ich setze eine Karte verdeckt. Damit beende ich meinen Zug“, rief Caroline. Vor ihr tauchte die gesetzte Karte auf.
 

Wortlos zog nun Valerie auf. Nur eine verdeckte Karte? Das bedeutete nichts Gutes. Vermutlich sann dieses Wesen darauf, dass sie kopflos Monster beschwor und angriff. Das wäre, was Anya tun würde. Aber die Gelegenheit war zu günstig, um sie einfach verstreichen zu lassen. Schon jetzt einen direkten Treffer zu landen, würde ihr einen großen Vorteil verschaffen.

Sollte sie es wagen? Valerie beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Früher oder später würde Caroline die Karte ohnehin aktivieren und da war ihr 'früher' lieber, wenn sie noch genug Ressourcen besaß.

„Ich rufe [Gishki Noellia]!“

Vor Valerie erschien eine finstere Zauberin mit feuerrotem Haar, die einen Stab schwang. Mit diesem zeigte sie auf die blaue Duel Disk ihrer Besitzerin.

 

Gishki Noellia [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

 

„Noellia wird nun die obersten fünf Karten meines Decks kontrollieren und alle Gishki-Monster und Ritualkarten auf den Friedhof schicken. Der Rest jener Karten wird danach unter mein Deck gelegt!“

Die Abbilder von fünf Karten erschienen vergrößert vor Valerie. Sie zeigten die Vorderseite beidseitig, damit auch Caroline alles mitverfolgen konnte.

Die Karten hießen, von links nach rechts, [Poseidon Wave], [Gishki Beast], [Evigishki Soul Ogre], [Mystical Space Typhoon] und [Gishki Aquamirror].

Sehr gut, dachte Valerie zufrieden und legte die drei Gishki-Karten auf ihren Friedhof, während sie die restlichen Karten unter ihr Deck schob. „Nun aktiviere ich den Effekt des Aquaspiegels auf meinem Friedhof! Ich schicke ihn in meinen Kartenstapel zurück und darf dafür ein Gishki-Ritualmonster vom Friedhof auf die Hand nehmen! Und die einzige mögliche Wahl ist [Evigishki Soul Ogre]!“

Nun hielt Valerie sechs Karten auf der Hand und besaß ein relativ starkes Monster auf dem Spielfeld. Trotzdem mangelte es ihr an dem nötigen Ritualzauber, um ihren Oger beschwören zu können.

Aber auch so würde sie es wagen und angreifen. Ohne mit der Wimper zu zucken, zeigte sie auf ihre besessene Freundin. „Noellia, direkter Angriff!“

Ihre Magierin richtete den Stab auf Caroline und ließ eine Wasserfontäne daraus hervor spritzen, die durch ihr Zielobjekt hindurch schoss.

 

[Valerie: 4000LP / Caroline: 4000LP → 2300LP]

 

Valerie war verwirrt. Sie hatte mit einem Konter gerechnet, doch dieses Wesen hatte den Angriff geschehen lassen. Sein Blatt konnte unmöglich so schlecht sein, dass es nicht einmal ein Monster zu seinem Schutz einzusetzen vermochte. Was also plante es?

„Ich setzte eine Karte verdeckt“, rief Valerie. Sie würde es sowieso herausfinden. Aber sie würde darauf vorbereitet sein! „Damit beende ich diesen Zug.“

„Bevor du das tust, aktiviere ich meine Schnellzauberkarte. [Fires of Doomsday]!“

Zwei kleine Gestalten aus schwarzen Flammen entstiegen aus dem Boden. Jedes von diesen puppenhaften Wesen besaß ein Auge, welches finster Valerie anstarrte.

 

Doomsday-Spielmarke x2 [ATK/0 DEF/0 (1)]
 

„Wie du siehst, hat meine Zauberkarte zwei Spielmarken erschaffen“, sagte Caroline von sich eingenommen. „Und wie ihr Name schon sagt, werden sie dein Untergang sein.“

Valerie kräuselte die Stirn. Warum hatte ihre Gegnerin diese Spielmarken nicht dazu benutzt, ihre Lebenspunkte zu schützen? Die Antwort war im Grunde simpel. Sie wollte sie für etwas Größeres opfern. Aber das Mädchen sah darin keine Bedrohung. Sollte Caroline es doch versuchen.

Stattdessen warf sie einen Blick auf Anya. „Wie geht es ihr?“

„Die ist vollkommen weggetreten“, meinte Abby besorgt. „Dass ich Anya mal so sehen würde … Ich möchte nicht dabei sein, wenn sie aufwacht.“

Falls sie denn noch aufwachen würde, dachte Valerie nervös. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spielfeld.
 

„Ich ziehe!“, kündigte Caroline an und lächelte dabei derart boshaft, dass Valerie eine Gänsehaut bekam. „Nun denn, sicher hast du es dir schon gedacht, aber ich werde meine Monster opfern! Sieh her, wie schwarzes Licht diese Welt regieren wird! Erscheine, [The Supremacy Sun]!“

Valerie wich zurück. Die Spielmarken lösten sich auf und gleichzeitig wurde es immer dunkler. Das ging soweit, dass sie ihre eigene Hand nicht mehr Augen sehen konnte. Dann leuchtete ein Symbol in der Ferne. Eine stilisierte Sonne. Es wurde wieder heller und man konnte sehen, dass sie inmitten des Körpers eines großen Wesens steckte. Mit ausgebreiteten, klauenbesetzen Händen erschien dieses schwebende Wesen wie ein finsterer Engel, denn leuchtende Schwingen traten aus dem schwarzen Leib hervor. Tatsächlich sah es in seiner Körperhaltung einer stilisierten Sonne ebenso ähnlich, wie das Pendant in seiner Körpermitte.

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 DEF/3000 (10)]
 

„Siehe, wie die Macht der schwarzen Sonne alles verbrennt!“, rief Caroline hysterisch.

„Dann löschen wir sie doch einfach!“, erwiderte Valerie entschlossen. Sie schwang den Arm aus. „Verdeckte Falle, [Torrential Tribute]! Wenn ein Monster beschworen wird, kann ich hiermit das gesamte Spielfeld von unseren Kreaturen befreien! Ich fürchte, deine Arbeit hat sich nicht ausgezahlt!“

Eine gewaltige Sturmflut schoss aus Valeries Falle und riss sowohl [Gishki Noellia], als auch [The Supremacy Sun] mit sich. Das Feld war wieder vollkommen leer.

Caroline schaute erstaunt auf die Stelle, die ihr Monster soeben noch eingenommen hatte. Dann sprach sie: „Gut gemacht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich setzte eine Karte verdeckt und lass dich gewähren!“

 

Valerie atmete tief durch. Das hatte doch wunderbar geklappt. Wenn das so weiter ging, konnte sie das Feld für eine Weile dominieren. Hoffentlich lange genug, damit Anya aufwachen konnte. Sie würde einen Ausweg finden, da war Valerie sich sicher. Denn ein Dickkopf wie sie würde sich bestimmt nicht von ein paar Zombies, oder was auch immer sie waren, einschüchtern lassen. Und wenn Abigail wirklich recht hatte, verfügte Anya über Kräfte, die vielleicht denen von Caroline gleich kamen. Es musste einfach so sein, denn warum sonst würde dieses Ding Anya umbringen wollen?

Das Mädchen musste schmunzeln. Obwohl eigentlich sie hier kämpfte, war es nicht ihre Rolle, die große Heldin zu sein. So war es schon auf dem Eis gewesen, als man Anya ihretwegen auf die Reservebank gesetzt hatte. Das hatte Valerie nicht gewollt. Aber damit war Anya den Kämpfen entkommen, während sie selbst um ihr Leben gefürchtet hatte. Es war nicht anders als jetzt.

Schade … in einem anderen Leben wären sie vermutlich die besten Freundinnen.
 

Schließlich widmete sie sich wieder dem Duell. Caroline würde bestimmt nicht so schnell aufgeben, dachte sie bitter. Das war bisher zu leicht.

„Alles klar“, rief Valerie erhaben, „ich ziehe!“

Mit Schwung nahm sie die nächste Karte auf. Doch bevor sie nur einen Blick darauf werfen konnte, wurde es wieder pechschwarz um sie herum. In der Dunkelheit war nur der Regen und Donner zu hören, doch selbst das Licht der Blitze konnte diese Finsternis nicht durchdringen.

Und dann war es wieder da! Das Symbol der Sonne!

Valerie schreckte auf, als das Licht zurückkehrte. Und mit ihm war die Kreatur gekommen, die sie eben erst vernichtet hatte!

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 DEF/3000 (10)]

 

Caroline lachte hysterisch und steckte eine ihrer Handkarten in den Friedhofsschacht ihrer Duel Disk. „Es ist zwecklos, Val! Egal wie oft du [The Supremacy Sun] vernichtest, sie wird jedes Mal während der Standby Phase vom Friedhof auferstehen, solange ich nur eine Karte abwerfe. Ein endloser Kreis aus Tod und Wiedergeburt!“

Schweiß stand auf Valeries Stirn. Der Anblick dieser finsteren Kreatur ließ sie erschaudern. War dieses Ding wirklich unsterblich? Nein! Sie würde einen Weg finden, wie sie diesen Kreis durchbrechen konnte!

„Du hattest die Wahl, Val. Nun sieh, wofür du dich entschieden hast!“, rief Caroline höhnisch.

Valerie musste grinsen. Sie hatte sich für das Leben entschieden. Und diesen Pfad würde sie mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft beschreiten, egal wer sich ihr da in den Weg stellte!

 

 

Turn 07 – The Holy Maiden

Valerie wird immer mehr von ihrer besten Freundin Caroline und deren Monster [The Supremacy Sun] in die Ecke gedrängt. Alle Versuche, diese mächtige Karte zu vernichten, scheitern kläglich. Doch plötzlich spricht eine Stimme zu Valerie, die sich als niemand anderes vorstellt als Joan of Arc – die heilige Johanna von Orléans – und ihre Hilfe anbietet. Ein Fünkchen Hoffnung entflammt in Valerie, die entschlossen ist, Anya und ihre Freunde zu beschützen.

Turn 07 - The Holy Maiden

Turn 07 – The Holy Maiden

 

 

Schweiß rann über Valeries sonst so makelloses Gesicht. Wie konnte sie bloß gegen eine Kreatur bestehen, die derart stark war und dazu noch fast unsterblich?

Da war es, vor Caroline, das schwarze Ungetüm mit den leuchtenden Schwingen, welches in seiner Körperhaltung wie eine dunkle Sonne wirkte. Daher auch sein Name.

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 DEF/3000 (10)]

 

Darüber hinaus verfügte die blonde Caroline noch über eine verdeckte Karte, wohingegen Valeries Spielfeldseite völlig leer war.

Das Mädchen sah auf ihren Lebenspunktezähler. Immerhin hier war sie im Vorteil.

 

[Valerie: 4000LP / Caroline: 2300LP]

 

Sie warf einen nervösen Blick über die Schulter. Anya war immer noch bewusstlos und von Nick und Abby umringt. Hinter der unsichtbaren Mauer, die im Moment das Einzige war, was sie schützte, lauerte eine ganze Horde Besessener. Dasselbe Schauspiel auf der anderen Seite der ehemaligen Galerie, die nunmehr nur noch ein steriler, weißer Gang war. Allen voran stand dort Caroline mit einem finsteren Lächeln und duellierte sich mit ihr. Nach wie vor war der Strom ausgefallen, dafür erhellten gelegentlich Blitze die Räumlichkeiten der Irrenanstalt Livingtons.

 

„Du siehst so nervös aus. Stimmt etwas nicht?“, säuselte Caroline hämisch.

„Alles bestens“, log Valerie. Gar nichts stimmte! Wenn Anya nicht bald aufwachte, würden sie alle sterben! Damit jene genug Zeit dafür bekam, duellierte sie sich schließlich. Denn sie wusste, dass das Duell um Anya nur eine Farce war und dieses Wesen sie alle töten würde, selbst im Falle von Valeries Sieg.

Diese warf einen Blick auf ihr Blatt. Immerhin war es ihr Zug. Und sie hatte etwas Großartiges gezogen!

„Okay, ich werfe jetzt [Gishki Shadow] von meiner Hand ab“, rief sie und hielt die Karte zwischen ihren Fingern. Wie gut, dass sie dieses Monster gezogen hatte! „Damit kann ich einen [Gishki Aquamirror] von meinem Deck auf die Hand nehmen!“

Und mit der Ritualzauberkarte in ihrem Besitz hatte sie alles, was sie brauchte, um sich gegen Carolines Monster zur Wehr zu setzen. „Diesen aktiviere ich jetzt! Und indem ich [Gishki Vision] von meiner Hand als Tribut für das Ritual anbiete, brauche ich keine weiteren Monster opfern, denn [Gishki Vision] füllt trotz seiner niedrigen Stufe den Rest der benötigten Level durch seinen Effekt aus! Komm nun aus endlosen Kristallfontänen herbei, [Evigishki Soul Ogre]!“

Zufrieden betrachtete Valerie, wie immer mehr Wassersäulen um sie herum aus dem Boden schossen. Aus dem entstehenden Kreis tauchte eine Kreatur auf, die auf zwei Beinen stand und in ihrer amphibischen Erscheinungsform auf so manchen furchteinflößend wirken mochte.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 DEF/2800 (8)]

 

„Monstereffekt!“, rief Valerie und deutete mit ihrem Zeigefinger auf das Ritualmonster. „Indem ich ein Gishki-Monster, wie zum Beispiel [Evigishki Mind Augus] von meiner Hand abwerfe, kann ich eine deiner offenen Karten zurück in Deck schicken. Und dreimal darfst du raten, wer-“

„Nicht so schnell. Willst du das wirklich tun? Also ich für meinen Teil würde das eher ungern sehen. Deswegen aktiviere ich meine verdeckte Schnellzauberkarte: [Forbidden Chalice]! Damit wird der Effekt deines Ogers diese Runde negiert, wofür er aber 400 Angriffspunkte erhält.“

Valerie erschrak, als die Karte vor Carolines Füßen aufsprang. Auf ihr war eine junge Frau in weißer Tunika abgebildet, die einen goldenen Kelch in der Hand hielt. Besagter Kelch erschien plötzlich in der Hand ihres Monsters und töricht wie es war, trank das Amphibienwesen gierig daraus. Nur um anschließend zu würgen.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 → 3200 DEF/2800 (8)]

 

Wütend ballte Valerie eine Faust. Das wäre die Gelegenheit gewesen, [The Supremacy Sun] außer Gefecht zu setzen, da diese nur vom Friedhof zurückkehren konnte. Doch Caroline hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Schwarzhaarige betrachtete ihre letzten beiden Handkarten. Mit ihnen würde sie nichts gegen dieses Wesen ausrichten können. Alles was sie im Moment tun konnte war anzugreifen. Also befahl sie: „Los Soul Ogre, Fountain Of Destruction! Vernichte ihr Monster!“

Ihr Oger hob die Arme und ließ unter [The Supremacy Sun] eine glühend heiße Fontäne sprießen, die das Wesen mit sich riss und verbrannte. Caroline blieb völlig unbeeindruckt.

 

[Valerie: 4000LP / Caroline: 2300LP → 2100LP]
 

„Mein Zug ist damit beendet“, sagte Valerie bitter.

Ihr Oger spuckte plötzlich den Wein aus, den er zu sich genommen hatte. Zwar konnte er seinen Effekt nun wieder aktivieren, doch würde er gewiss nicht lange genug leben, um noch einmal die Gelegenheit dazu zu bekommen …

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/3200 → 2800 DEF/2800 (8)]

 

„Mein Zug“, sprach Caroline gelangweilt und zog. Dann nahm sie eine Karte aus ihren Blatt und schickte sie auf den Friedhof. „Indem ich als Kosten diese hier abwerfe, wird [The Supremacy Sun] während der Standby Phase wiedergeboren!“

Der Gang der Irrenanstalt verfinsterte sich derart, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Dann leuchtete das Siegel in der Körpermitte und die Schwingen des schwarzen Wesens zeichneten sich immer deutlicher in der Dunkelheit ab, ehe das Licht zurückkehrte und mit ihm [The Supremacy Sun].

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 DEF/3000 (10)]
 

„Egal, wie oft du es auch versucht“, höhnte Caroline, „meine Kreatur der Finsternis wird immer wieder zurückkehren, und wenn du sie noch so oft zerstörst. Gib auf und erspare dir unnötige Qualen!“

„Niemals!“ Aufgeben würde sowieso nichts an den Tatsachen ändern. Außerdem wollte Valerie die anderen nicht im Stich lassen. Das hatte sie sich geschworen und nun würde sie sich daran halten. Bis zum bitteren Ende, wenn es sein musste!

„Gut, wie du willst. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, törichtes Weibsbild! Ich beschwöre [Double Coston] im Angriffsmodus!“

Zwei tanzende Schatten erschienen, die ineinander verkeilt waren. Beide hatten Schlitzaugen und kleine Münder, aus denen blaue Zungen ragten, mit denen sie ihre Feindin verhöhnten.

 

Double Coston [ATK/1700 DEF/1650 (4)]

 

„Und nun, [The Supremacy Sun], vernichte [Evigishki Soul Ogre]! Solar Flare!“

Die finstere Kreatur streckte seinen Körper durch und schoss aus dem Sonnenemblem auf seiner Brust einen gewaltigen Lichtstrahl, der Valeries Monster binnen eines Herzschlags versengte.

Das Mädchen spürte die Hitze am ganzen Leib und wandte sich aufgrund der Intensität des Strahls geblendet ab. Dabei schrie sie, denn das Licht schmerzte auf ihrer Haut – was vollkommen unmöglich war, es handelte sich doch nur um Hologramme!

 

[Valerie: 4000LP → 3800LP / Caroline: 2100LP]

 

„Oh, hat das ein wenig gebrannt?“, fragte Caroline zuckersüß. „Das tut mir leid. Eigentlich solltest du vor Schmerzen wahnsinnig werden. Aber dafür haben wir ja noch [Double Coston]. Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte!“

Valerie schreckte auf. Sie sah nur noch, wie die Schattenzwillinge durch sie hindurch schossen und sie dadurch zu Boden warfen. Hart kam sie auf ihrem Hinterteil auf und spürte gleichwohl Übelkeit in sich aufwallen. Wie ein Schwall ergoss es sich über sie, sie konnte nur noch den Mund öffnen, aus dem endlos viele Würmer auf ihr weißes Kostüm fielen.

Schreiend sprang sie auf, fasste sich in den Mund, wischte die Würmer von sich und schrie mit Tränen in den Augen.

Caroline lachte dabei nur hysterisch.

 

[Valerie: 3800LP → 2100LP / Caroline: 2100LP]

 

„Sieh an, sieh an. Ist das nicht eklig?“

Nachdem Valerie glaubte, keine Würmer mehr im Mund zu haben, sah sie ihre Gegnerin fassungslos an. Heiser brach sie hervor: „Wie geht das!? Das wirkte so real!“

„Schätzchen, das war real. Oder seit wann schmecken Hologramme nach Verwesung?“

Im Zuge dessen übergab sich Valerie noch einmal, dieses Mal jedoch richtig.

„Ich hatte dich gewarnt, Val, aber du wolltest ja nicht hören. Glaub mir, ich habe noch viel Schlimmeres parat. Noch kannst du es dir anders überlegen. Bis dahin beende ich meinen Zug aber.“

 

Mit zitternder Hand wischte sich Valerie über den Mund. Noch immer hatte sie den widerlichen Geschmack der Würmer auf den Lippen. Und Furcht breitete sich in ihr aus. Was, wenn diese Dinger noch in ihr waren? Wieder wurde ihr übel, doch sie konnte sich mit aller Mühe beherrschen.

Das war bestimmt nur ein Trick von diesem Ding!

„M-mein Zug“, stammelte sie und zog.

„Bist du okay“, fragte Abby sie besorgt.

„Geht schon, danke … Was ist mit Anya?“

Der brünette Hippie schüttelte den Kopf. „Immer noch nichts.“

„Werden die uns fressen?“, fragte Nick ängstlich. „Ich bin viel zu jung zum Sterben! Mach was, Valerie!“

„Ich versuche es“, sprach diese und fühlte sich dabei schrecklich hilflos. Wie konnte sie gegen ein Wesen wie dieses bestehen? Sie war nur ein Mensch! Und dass sie die Verantwortung für mindestens drei weitere Leben trug, machte alles nur noch schlimmer.
 

Sie betrachtete ihr Blatt. Nichts Gutes war darunter, um die Lage zu kippen. „Also gut. Ich aktiviere [Hand Destruction]! Damit werfen wir beide zwei Karten ab und ziehen dann zwei neue!“

Beide Mädchen legten aufgrund des Effekts von Valeries Zauberkarte ihr gesamtes Blatt ab, welches ironischerweise aus je genau zwei Karten bestand, und zogen auf.

„Schon besser“, murmelte Valerie. „Ich aktiviere [Salvage]! Damit kann ich zwei Wasser-Monster mit höchstens 1500 Angriffspunkten von meinem Friedhof bergen und auf die Hand nehmen! Ich entscheide mich für [Gishki Vision] und [Gishki Shadow]!“

Kaum hatte sie die beiden Monster auf der Hand, zückte sie die nunmehr dritte Zauberkarte in diesem Zug. „[Pot of Avarice]! Ich mische fünf Monster in mein Deck zurück und ziehe danach zwei Karten.“
 

Das Problem war, dass auf ihrem Friedhof sechs Monster lagen. Zwei davon waren Evigishki-Ritualmonster, die sie durch den Aquaspiegel auf ihrem Friedhof zurück auf die Hand erhalten, und mit den beiden Gishki-Monstern auf ihrem Blatt auch beschwören konnte. Die Frage war nur, für welches sollte sie sich entscheiden? Denn auf eines würde sie verzichten müssen und sie wusste nicht, was sie anschließend ziehen würde. Beide waren von der Angriffskraft her zu schwach, um sich mit [The Supremacy Sun] zu messen.

Mit Soul Ogre könnte sie Carolines finstere Kreatur ins Deck zurückschicken. Doch brauchte sie hierfür eine glückliche Hand, denn dazu müsste sie zusätzlich ein Gishki-Monster nachziehen. Mind Augus auf der anderen Seite konnte [The Supremacy Sun] vom Friedhof ins Deck mischen, womit dieses Wesen sicher nicht rechnete. Bloß dazu müsste Valerie etwas ziehen, womit sie Carolines Monster zerstören konnte.

Beide Karten bargen demnach ein gewisses Risiko, doch da Soul Ogre bereits einmal versagt hatte und Caroline diesen bereits kannte, wollte sie es nun mit ihrem anderen Ritualmonster versuchen! Hoffentlich war sie dieses Mal erfolgreicher …
 

„Okay“, rief sie und zeigte die fünf gewählten Monster vor. „Ich mische [Gishki Noellia], [Gishki Beast], die eben abgeworfenen [Gishki Reliever] und [Gishki Emilia] sowie [Evigishki Soul Ogre] in mein Deck zurück und ziehe zwei Karten!“

Und als sie dies getan hatte und die neuen Karten in ihrer Hand ansah, wusste sie, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte! In ihrem Inneren spürte sie etwas, es war wie eine Kraft, die ihr den Weg wies. Wenn sie ihr weiter folgen würde, konnte sie das Spiel vielleicht noch für sich entscheiden!

„Nun schicke ich [Gishki Aquamirror] von meinem Friedhof in mein Deck zurück, um das Ritualmonster [Evigishki Mind Augus] von dort auf meine Hand zu bringen. Doch da wird mein Spiegel nicht lange bleiben, denn ich werfe [Gishki Shadow] ab, um ihn mir sogleich wieder auf die Hand zu holen!“

Mit der Ritualzauberkarte in den Händen hatte sie nun alles beisammen, um [The Supremacy Sun] zu besiegen.

„Was immer du auch tust, du wirst scheitern“, versprach Caroline hochmütig. „Ein schwacher Mensch wie du kann gegen solche wie mich nicht bestehen. Und das weißt du auch.“

„Probieren geht über studieren sagt man doch immer! Deswegen würde ich mich gerne selbst davon überzeugen“, erwiderte Valerie entschlossen. Es gehörte bei Duel Monsters praktisch zum guten Ton, seinen Gegner psychisch unter Druck zu setzen, deswegen machte sich das Mädchen nichts aus den Worten dieses Dings. Sie hatte ein Ziel vor Augen und würde es verfolgen, egal was dieses Wesen sagte.

„Und jetzt aktiviere ich den Zauber [Smashing Ground]! Er zerstört das Monster mit der höchsten Verteidigung auf deiner Spielfeldseite! Und das ist eindeutig [The Supremacy Sun]!“

In einer Explosion ging die schwarze Sonne unter. Doch wie nicht anders zu erwarten war, berührte dies Caroline nicht weiter. Hatte sie schließlich keinen Grund zur Sorge – noch nicht!

„Nun aktiviere ich [Gishki Aquamirror]! Mit ihm beschwöre ich jetzt [Evigishki Mind Augus], indem ich [Gishki Vision] als Opfer anbiete. Dabei trägt es abermals alle Kosten des Rituals! Entsteige aus der Tiefe, Mind Augus!“

Aus dem Boden begann Wasser zu schwappen. Es überflutete kurzerhand den gesamten Gang, ehe aus einer Fontäne ein riesiger Fisch auftauchte, dessen Seitenflossen wie Flügel wirkten, die ihn durch die Lüfte trugen. Auf ihm saß eine blauhaarige Zauberin, welche ihn kontrollierte.

 

Evigishki Mind Augus [ATK/2500 DEF/2000 (6)]

 

„Effekt von Mind Augus aktivieren!“, befahl Valerie gebieterisch. „Ich kann nun fünf Karten von beiden Friedhöfen in die Decks ihrer Besitzer zurückschicken! Und du weißt, was das heißt!“

„Natürlich“, antwortete Caroline leise. „Und genau deswegen werde ich es nicht zulassen! Ich aktivere [Effect Veilers] Fähigkeit von meiner Hand!“

Valerie sah fassungslos mit an, wie eine winzige Fee ganz in Weiß vor ihrer Fischkreatur auftauchte und ihre kleine Hand auf ebenjene legte.

„Indem ich sie abwerfe, werden die Effekte deines Monsters bis zum Ende des Zuges annulliert! Dachtest du, ich wüsste nicht, wie dein Deck funktioniert? Immerhin kann ich frei auf die Erinnerungen deiner kleinen Freundin zugreifen!“

Die Schwarzhaarige starrte aufgelöst ihre besessene Freundin an. Draußen schüttete es wie aus Gießkannen, es blitzte und donnerte. Doch sie hörte es nicht. Denn ihre Gedanken kreisten sich allein darum, wieder am Versuch, dieses grässliche Wesen zu versiegeln, gescheitert zu sein. Vielleicht gab es gar keinen Weg [The Supremacy Sun] endgültig zu vernichten?

Caroline schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn sie sagte: „Verstehst du es endlich? Der Kreislauf von Tod und Wiedergeburt darf nicht unterbrochen werden. Genau wie der Wechsel zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Wer sich daran zu vergehen versucht, wird seines Lebens nie wieder froh werden. Und solche wie du, die nicht einmal die Kraft besitzen, die Gesetze der Natur zu brechen, sollten es auch gar nicht erst versuchen.“

„Nein!“, donnerte Valerie. „Nein! Ich kann jetzt nicht aufgeben! Das wäre Verrat an Abigail, Nick und auch an Anya! Und 'er' würde mir auch sagen, dass ich mein Bestes geben soll! Also werde ich das auch! [Evigishki Mind Augus], zerstöre [Double Coston]! Serenade Of The Abyss!“

In der Hand der blauen Zauberin auf dem Fischwesen erschien eine goldene Harfe. Auf ihr spielte sie eine wunderschöne Melodie, welche das Monstrum dazu brachte, einen gewaltigen Wasserstrahl auf die Schattenzwillinge abzufeuern. Diese verschwanden einfach innerhalb des Stroms.

 

[Valerie: 2100LP / Caroline: 2100LP → 1300LP]

 

Valerie sah ihre letzte Handkarte an. Die Falle war keine Lösung für ihr Problem, aber zumindest konnte sie sich damit vielleicht noch einen oder zwei Züge erkaufen. Sie legte die Karte in ihre Duel Disk ein, worauf sie vor ihren Füßen erschien, und rief: „Damit bin ich fertig!“

„Oh, glaub mir, das bist du in der Tat“, murmelte Caroline bitterböse.

 

Plötzlich erklang Gestöhne hinter Valerie, die regelrecht herumwirbelte.

Blinzelnd schlug Anya die Augen auf und fasste sich an den Kopf. „Ich fühle mich, als hätte mich ein Laster überrollt …“, krächzte sie dabei.

„Anya!“, strahlte Abby überglücklich und half ihr, sich aufzurichten. „Oh dem Himmel sei Dank, du bist wach! Ich dachte schon-“

Doch das Gesicht ihrer Freundin verfinsterte sich plötzlich, denn die Erinnerungen kehrten zurück.

„Okay, Masters, wer wird jetzt gleich ins Gras beißen!?“, fragte Anya herrisch und hielt sich ihre pochende Stirn. Als sie dann Blut an ihren Fingern sah, war es vorbei. Mit einem Wutschrei, der eher einem verletzten Tiger denn einer jungen Frau gehörte, sprang die Blondine auf und torkelte flankiert von Nick und Abby zu Valerie.

„Alter, war sie das!?“, wollte sie dabei wissen und zeigte auf Caroline.

Doch Valerie konnte nur lächeln. Anya war wach! Es gab also noch Hoffnung!

„Ja, sie hat dich angegriffen. Aber irgendetwas hat von ihr und den anderen Besitz ergriffen. Sie wollen dich töten!“

„Mich? Töten!? Niemand tötet eine Anya Bauer, ja wagt es auch nur daran zu denken! Wenn ich mit diesem Püppchen fertig bin, passt sie wieder in den Uterus ihrer Mutter!“

„Wirst du jetzt deine Kräfte einsetzen?“, fragte Valerie in einer Mischung aus Freude, Faszination aber auch Zweifel, denn sie hatte keine Ahnung, zu was Anya überhaupt imstande war – abgesehen von einer Vielzahl an kreativen Beleidigungen und Gewaltakten natürlich. „Aber bitte, du darfst die Leute hier nicht verletzten, sie sind unschuldig!“

„Kräfte? Klar! Denen schraube ich die Schädel ab und benutz' sie als Deko für Halloween! Und aus den übrigen Knochen baue ich mir einen Thron, den ich mit ihren Häuten überspannen werde!“

Die Schwarzhaarige schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, nicht diese Art von Kraft! Deine … anderen Kräfte. Du weißt schon, die, die diese Barriere erzeugen?“

Anya blinzelte sie voller Unverständnis an. „Andere Kräfte? Barriere? Sag mal, Redfield, hat diese Dumpfralle dir auch was übergezogen? Ich versprühe keinen Feenstaub, so wie du! Höchstens Terror!“

„Aber-!? Ich dachte, du kannst-“

„Hast du was an den Ohren, Redfield?“, herrschte Anya sie an. „Ich sagte gerade, dass ich keine anderen Kräfte habe! Wie kommst du überhaupt auf diese seltendämliche Annahme? Außerdem werde ich auch gar keine Zauberkräfte brauchen, um dieser Hupfdohle und ihrer kleinen Privatarmee die Lichter auszuknipsen!“

Um ihre Drohung möglichst schnell wahr zu machen, stampfte Anya auf Caroline zu. Doch auf halben Wege knickte sie zur Seite und wurde gerade noch rechtzeitig von Nick aufgefangen.

„Anyas fallen vom Himmel“, gluckste der.

„Ich glaub ich muss kotzen“, meinte Anya mit schwacher Stimme. „Mein Schädel platzt gleich. Scheiß Gehirnerschütterung!“
 

Valerie indes war fassungslos. Anya war ihre einzige Hoffnung gewesen und jetzt behauptete sie, keine besonderen Fähigkeiten zu besitzen!?

Das Mädchen betrachtete ihre Hände. Dann war ihr Kampf sinnlos. Sobald die Barriere zerstört war, würde dieses Wesen sie alle töten.

Wie hatte sie nur so naiv sein können!? Natürlich besaß Anya keine Superkräfte, wie kam sie überhaupt auf diesen Gedanken? Sie fühlte sich so dumm!
 

Niedergeschlagen ließ sie den Kopf hängen.

„Sieht ganz danach aus, als ob du dich verschätzt hast, Val“, flötete die besessene Caroline triumphierend. „Deine Geheimwaffe hat sich als Niete erwiesen.“

„Komm her, du Miststück, dann zeige ich dir, wer hier 'ne Niete- Ohhhhh!“ Anya hielt sich den Kopf und fluchte leise, weil sie in ihrem Zustand nicht in der Lage war, ihren Drohungen Taten folgen zu lassen.

„Es dauert nicht mehr lange, dann ist die Barriere fort“, sprach Caroline weiter. „Bis dahin werde ich dich noch etwas quälen. Du bist schon viel zu lange ein Hindernis und jene mag ich gar nicht. Draw!“

Sogleich fügte sie die aufgezogene Karte ihrem Blatt hinzu, nahm die andere ihrer beiden Handkarten und legte sie anschließend auf den Friedhof. „Wirf dein schwarzes Licht über uns, [The Supremacy Sun]!“

Wie schon zuvor, wurde es wieder dunkel und aus der Finsternis erschien die düstere Kreatur, deren gleißende Schwingen ganz im Kontrast zum schwarzen Körper standen.

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 DEF/3000 (10)]

 

„Jetzt vergehe in Verzweiflung“, rief Caroline schrill. „Ich aktiviere [Axe of Despair]! Damit kann ich [The Supremacy Sun] ausrüsten, um ihre Angriffskraft um weitere 1000 Punkte zu erhöhen! Nun ist sie unbesiegbar!“

In der rechten Hand des Wesens erschien eine Axt aus Holz, auf deren Blatt das Gesicht einer dämonischen Kreatur abgebildet war, welche hinterlistig kicherte.

 

The Supremacy Sun [ATK/3000 → ATK/4000 DEF/3000 (10)]

 

„Nun vernichte [Evigishki Mind Augus]! Solar Flare!“, brüllte Caroline hysterisch und zeigte auf den überdimensionalen Fisch und seine Reiterin.

Valerie sah auf, als die schwarze Sonne in ihrer Brust Licht auflud. Mit ihrer Falle könnte sie den Angriff verhindern und ihnen allen zumindest noch ein wenig Zeit erkaufen. Genug Zeit, um sich mit ihrem bevorstehenden Schicksal auseinander zu setzen …
 

Tu es nicht!

 

Valerie schreckte auf. Diese Frauenstimme hatte sie schon einmal gehört. Sie warf einen Blick auf Nick und Abigail, die mit Anya zu ringen hatten, weil jene sich nicht mit ihrer gesundheitlichen Lage anfreunden konnte. Die Drei schienen nichts gehört zu haben.
 

Lass den Angriff geschehen und folge meinen Anweisungen. Ich werde dich beschützen!

 

Irritiert fasste das Mädchen sich am Kopf. Hatte sie während ihres Duells auch etwas abbekommen, so wie Anya sagte? Vielleicht war es auch ein Trick von Caroline, die irgendetwas plante?
 

Vertraue mir, egal wie schwer es dir auch fällt. Ich wurde gesandt, um dich zu leiten!

 

„Gesandt? Von woher?“, fragte Valerie leise.

Dann sah sie, wie der Lichtstrahl auf ihr Monster abgefeuert wurde. Sie musste sich jetzt entscheiden. Entweder tat sie, was diese Frau von ihr verlangt hatte, oder sie kämpfte weiter gegen Windmühlen an. Daraufhin erinnerte sich die junge Frau an ihren Schwur, nichts unversucht zu lassen, um die Drei zu beschützen. Also warum sich nicht darauf einlassen, wenn man ihr schon Hilfe in einer aussichtslosen Lage anbot?

Ihre Fischkreatur wurde durch den Strahl regelrecht vaporisiert, welcher diesmal so extrem war, dass Valerie vor Hitze nicht mehr atmen konnte. Die Explosion ihres Monsters löste eine Druckwelle aus, die sie von den Beinen riss. Und während ihr schwarz vor Augen wurde, hörte sie nur noch ein grausames Lachen und die Worte: „Zug beendet.“

Die Rufe der anderen nahm sie nicht mehr wahr.

 

[Valerie: 2100LP → 600LP / Caroline: 1300LP]

 

Wo war sie? War sie tot?

Valerie stand inmitten einer Welt aus purer Finsternis. Das einzige Licht drang durch ein Mosaik zu ihren Füßen, das eine goldene Sonne darstellte. Die vielen gelben und orangefarbenen Steine glühten regelrecht und Valerie befürchtete, dass ihre Hitze die Sohlen ihrer weißen Stiefel verbrennen könnte.

 

Du bist nicht tot. Ich habe dich zu mir gerufen.

 

Aus dem Nichts schritt eine Gestalt über das Mosaik, direkt auf sie zu. Die Frau besaß dunkelblondes, kurzes Haar, welches sie durch ihren markanten Schnitt wie einen Jungen aussehen ließ. Generell wirkte die Fremde sehr burschikos, denn sie trug eine Ritterrüstung und hielt ihren mit weißen Federn verzierten Helm unter dem Arm. An ihrer Hüfte hing ein Waffengurt, dessen Höhepunkt ein langes Schwert in seiner Scheide war.

„Wer bist du?“, schoss es ehrfürchtig aus Valerie heraus.

„Eine Gesandte des Herrn. Mein Name lautet Joan of Arc.“ Sie lächelte freundlich. „Vielleicht hast du schon von mir gehört?“

Und ob Valerie das hatte! Aber sie konnte es nicht glauben. Vor ihr stand Jeanne D'Arc, die heilige Johanna von Orléans! Eine der größten Märtyrerinnen der katholischen Kirche, welche zu Lebzeiten behauptet hatte, Gottes Stimme hören zu können und schließlich als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden war.

„W-wieso bist du hier? I-ich muss träumen, oder?“

„Nein.“ Die junge Frau schüttelte betrübt den Kopf. „Was um dich herum geschieht, ist traurige Wahrheit. Deine Heimat wird von Dämonen heimgesucht, die finstere Absichten hegen.“

„W-was für Absichten?“

Die Heilige schloss die Augen. „Ich weiß es nicht. Das weiß nur Gott und in seiner unendlichen Weisheit hat er mich nicht in seine Pläne eingeweiht.“

Valerie verstand nicht. Warum war ihr Johanna von Orléans erschienen? Ausgerechnet ihr? An ihr war doch gar nichts Besonderes!

„Der Herr hat mich geschickt, dich durch die Finsternis zu geleiten“, erklärte die Ritterin nun ernst, fast als habe sie Valeries Gedanken gelesen. „Ich werde dir eine Kraft verleihen, die stark genug ist, um den Willen des Dämons aus deinen Freunden zu vertreiben.“

„W-wille des Dämons?“

Johanna nickte. „Das, gegen welches du kämpfst, ist nicht der wahre Dämon. Es ist nur einer seiner Abkömmlinge, dem die Aufgabe zugewiesen wurde, Anya Bauer zu töten. Wenn er diesen Zweck erfüllt, wird er verschwinden und alle Seelen mit sich nehmen, die er besetzt hält. Deswegen darfst du jetzt nicht aufgeben!“

„Was was kann ein normaler Mensch wie ich schon tun?“, fragte Valerie verzweifelt und legte ihre rechte Hand auf die Brust. „Ich bin schwach!“

„Niemand ist schwach, Valerie“, sagte Johanna sanft, trat zu ihr und nahm ihre andere Hand. „In dir brennt eine starke Seele, die im Sinne der Gerechtigkeit kämpft. Gott hätte mich nicht zu dir geschickt, wenn er nicht wüsste, dass du deine Freunde retten kannst. Alles was du brauchst ist ein Hoffnungsschimmer und diesen will ich dir geben.“

Valerie nickte, wobei ihr Tränen in den Augen standen. „Danke, Joan of Arc!“

Die heilige Ritterin lächelte gütig. „Danke nicht mir, sondern unserem Schöpfer. Nun, Valerie, nimmst du sein Geschenk an?“

„Natürlich!“, rief sie entschlossen.

„So sei es!“

 

Gleißendes Licht blendete Valerie. Dabei spürte sie eine Kälte ihren Arm hoch kriechen, die sie so noch nie gespürt hatte. Obwohl sie glaubte, zu Eis zu erstarren, fühlte es sich nicht unangenehm an.

Als das Licht verschwand, war auch die heilige Johanna verschwunden. Erst wusste Valerie nicht, was geschehen war, doch dann fiel ihr Blick auf ihren rechten Unterarm.

„Was!?“

Ein blaues Symbol zierte nun jenen. Es war ein fünfzackiger, marineblauer Stern, um den zwei Kreise gezogen waren. Unter ihrer Haut leuchtete er noch ein wenig, doch der Schimmer erlosch schnell. Und als er das tat, zersprang das Mosaik der Sonne in tausende Stücke und Valerie begann zu fallen.

 

Fürchte dich nicht! Du bist stärker als du es dir vorstellen kannst!

 

Die Worte der heiligen Johanna hörend, schloss Valerie die Augen und ließ sich im ungewissen Nichts treiben. Sie wusste nun, dass ihr nichts geschehen konnte.

 

Valerie schlug die Augen auf. Sie lag am Boden, umringt von Abigail und Nick, die ihr langsam aufhalfen, während im Hintergrund Anyas hämisches Gelächter ertönte.

„Was ist das?“, fragte Abigail verwundert und deutete auf Valeries Arm. „Das sieht doch aus wie-“

Die Schwarzhaarige bemerkte es auch. Das Mal auf ihrem Unterarm war immer noch da. Und in ihrer Hand, da hielt sie eine Karte.

„Das kann doch nicht-!“, erschrak sie und betrachtete das Monster genauer. Mit ihm konnte sie-!

„Steh auf“, herrschte Caroline sie an. „Oder willst du das am Ende gar nicht mehr? Auch gut!“

„Nichts dergleichen!“, donnerte Valerie selbstbewusst und stand auf. Sie fühlte sich stark wie nie zuvor, als sie sich schwor, alle Anwesenden hier zu beschützen. Wenn Gott an sie glaubte, konnte sie gar nicht verlieren!
 

Sie schob Johannas Geschenk in den Schacht ihres Extradecks und trat einen Schritt vor.

„Mein Zug!“, rief Valerie entschlossen. Sie riss die Karte von ihrem Deck und musste sie nicht einmal ansehen, um zu wissen, was sie gezogen hatte. Denn sie konnte es fühlen. „Verdeckte Falle! [Curse Of Anubis]! Mit ihr wechsle ich alle Effektmonster auf dem Spielfeld in die Verteidigungsposition und lasse ihre Verteidigungspunkte für diesen Zug auf 0 sinken!“

Hinter [The Supremacy Sun] erschien das durchsichtige Abbild einer riesigen Statue, die einen liegenden, schwarzen Schakal zeigte. Dessen Augen blitzten rot auf und sorgten so dafür, dass Carolines Kreatur seine Arme gekreuzt vor seine Brust hielt und aufhörte zu leuchten.

 

The Supremacy Sun [ATK/4000 DEF/3000 → 0 (10)]
 

„Was auch immer“, meinte Caroline arrogant. „Selbst wenn du die schwarze Sonne zerstört, wird sie schon bald wieder aufgehen und dich endgültig verschlingen!“

„Das bezweifle ich stark!“, rief Valerie entschieden und knallte ihre gezogene Karte auf die Duel Disk. „Komm herbei, [Gishki Beast]! Wenn es beschworen wird, kann ich ein Gishki-Monster der Stufe 4 oder weniger von meinem Friedhof in Verteidigungsposition beschwören. So wie [Gishki Shadow], ich rufe dich!“

Eine amphibische Gestalt erschien vor Valerie, halb Seeungeheuer, halb Echse. Um seinen Hals trug das Ungetüm ein Pendant, welches es berührte und brüllte. Kurz darauf erschien neben ihm ein alter Fischmann, gekleidet in einer schwarzen Robe.

 

Gishki Beast [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

Gishki Shadow [ATK/1200 DEF/1000 (4)]

 

„Und jetzt“, sprach Valerie ganz ruhig und fixierte den Blick auf ihre nichtsahnende Gegnerin, „erschaffe ich das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Monster vom Rang 4! Xyz-Beschwörung! Höre meinen Ruf, oh Wesen aus tausend Legenden! Zeige dich, [Evigishki Merrowgeist]!“

Ein schwarzer Wirbel tauchte mitten auf dem Spielfeld auf. Valeries Monster wurden zu blauen Strahlen, die in das Loch gezogen wurden, aus dem nun eine völlig neue Gestalt trat. Wehendes, rotes Haar schmückte das Antlitz der Meerjungfrau, die auf ihrem Rücken zwei Flossen besaß, welche breit wie die Schwingen eines Vogels waren. Wütend peitschte sie mit ihrer Schwanzflosse und richtete ihren Zauberstab entschlossen auf Carolines Monster. Um sie herum tanzten zwei Lichtkugeln.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

Doch die Besessene brach nur in schallendes Gelächter aus. „Mehr hast du nicht auf Lager? Oh du dummes Kind, wann wirst du es endlich lernen? Du kannst mich niemals besiegen!“

Valerie schüttelte den Kopf. „Ich werde dich nicht nur besiegen, sondern auch den Körpern dieser unschuldigen Menschen vertreiben! Los, [Evigishki Merrowgeist], greife [The Supremacy Sun] an! Sceptre Of Foresight!“

Ihre Meerjungfrau hob den Stab in ihren Händen in die Höhe und ließ daraus ein blaues Licht hervortreten. Dieses schoss auf Carolines Kreatur zu und ließ sie in einer lauten Explosion untergehen.

„Du Närrin! Nächste Runde wird [The Supremacy Sun] wiederkehren und dann ist dein Leben verwirkt!“, begehrte das Wesen in ihrer Freundin auf.

„Da liegst aber falsch“, meine Valerie selbstsicher. „Ich aktiviere den Effekt von Merrowgeist! Indem ich jetzt, da sie ein Monster im Kampf zerstört hat, eines ihrer Xyz-Materialien abhänge, kann ich besagtes Monster in das Deck seines Besitzers zurückschicken, statt auf den Friedhof!“

„WAS!?“

Valerie lächelte zufrieden. „Ganz genau. Es sieht wohl ganz danach aus, als hätte ich den endlosen Kreis aus Tod und Wiedergeburt durchbrochen. Los, Merrowgeist!“

Wieder hielt ihre Meerjungfrau ihr Zepter in die Höhe und absorbierte nun eine der beiden Lichtkugeln um sich herum, ehe sie mit ihrer Waffe auf Carolines Deck zeigte. Dieses leuchtete bläulich auf, mischte sich automatisch, dann war das Werk vollendet.

„Damit beende ich meinen Zug“, sprach Valerie zuversichtlich. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Sofort sprach sie ein stilles Gebet an den Herrn, welcher ihr dies erst ermöglicht hatte.

 

„Das ist unmöglich“, schrie Caroline förmlich mit bebender Stimme und betrachtete ihr Deck. Sie hatte keine anderen Handkarten mehr. „Aber noch bin ich nicht geschlagen! Draw!“

Als sie ihre Karte gezogen hatte, starrte sie diese mit fassungsloser Mimik an. „D-das muss ein Fehler sein! D-das ist-!“

In ihrer Hand hielt sie [The Supremacy Sun]!

„Hat da jemand seine gerechte Strafe erhalten?“, hakte Valerie triumphierend nach. „Das ist Gottes Urteil! Da du anscheinend nichts tun kannst, bin ich so frei, und führe das Duell mit meinem Zug fort!“

Sie zog eine Karte, doch beachtete sie gar nicht. Stattdessen zeigte sie unbarmherzig mit dem Finger auf ihre besessene Freundin. „Du hast Caroline lange genug besetzt! Jetzt ist es Zeit, dass du sie und alle anderen gehen lässt! [Evigishki Merrowgeist], beende dieses Duell! Sceptre Of Foresight!“

„Nein!“, brüllte Caroline, doch das Monster ihrer Gegnerin hatte schon das Zepter erhoben und schoss eine blaue Lichtkugel auf sie, was in einer heftigen Explosion endete.

 

[Valerie: 600LP / Caroline: 1300LP → 0LP]

 

Caroline lag regungslos am Boden.

Es dauerte einen Augenblick, bis Valerie erkannte, dass sie es geschafft hatte. Sie hatte tatsächlich gewonnen!

„Unglaublich!“, frohlockte Abigail mit klatschenden Händen und fiel Valerie von hinten um den Hals. Die beiden lachten fröhlich und Nick jubelte darüber, doch nicht als Dämonensnack enden zu müssen.

Nur eine hatte schlechte Laune.

„Ach, jetzt spiele dich nicht so auf, Redfield! Das hätte doch jeder gekonnt! Wenn ich-!“ Doch Anyas Schädel brummte so sehr, dass sie wieder nach hinten kippte und von Nick gehalten werden musste.
 

Plötzlich richtete [Evigishki Merrowgeist] ihr Zepter abermals in die Höhe und löste eine Welle des Lichts aus, die sämtliche Anwesenden auf dem Gang erfasste. Und während Anya, Valerie, Nick und Abby davon völlig unberührt blieben, kippten die Patienten samt Caroline um wie Dominosteine. Letztere schrie ein letztes Mal, wobei aus ihrem Mund ein schwarzer Schatten quoll, ehe auch sie das Bewusstsein verlor. Der Schatten löste sich in Rauch auf, genau wie Valeries Monster, welches zu schwarzen Partikeln zerfiel und verschwand.

„Sind sie jetzt wieder normal?“, fragte Abigail besorgt.

„Ich … ich denke schon“, antwortete Valerie.

Und als Caroline sich regte und sie verwirrt ansah, wusste das Mädchen, dass der Wille des Dämons fort war. Sie machte sich von Abigail los und kam der verdutzen Caroline überglücklich entgegen, umarmte sie fest. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“

„Aber Valerie, was ist denn passiert? Warum bin ich nicht in der Schule?“

„Ich werde es dir später erklären! Alles wird gut“, hauchte Valerie in das Ohr ihrer Freundin und strich über ihr blondes Haar.

 

Auch die anderen Patienten kamen langsam zu sich. Lautes Gemurmel ertönte von den verwirrten jungen Menschen, die nicht wussten, wie sie hierher gelangt waren.

Mittlerweile hatte es auch aufgehört zu regnen, sodass einzelne Lichtstrahlen von draußen in das Gebäude fielen.

„Ob sie sich wohl erholen werden?“, fragte Abby besorgt und sah sich um. „Sieht ganz danach aus, als könnten sie sich an nichts vom dem erinnern, was nach dem Eishockeyspiel geschehen ist.“

„Die Glücklichen“, brummte Anya und erhob sich. Denn was sie anging, würde sie am liebsten sämtliche Erinnerungen bezüglich Valeries Heldentat unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis streichen.

„Anya!“, rief Abby schließlich erschrocken und deutete auf die Stirn ihrer Freundin. „Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen. Das muss genäht werden!“

„Hab dich nicht so, Masters, das ist nur'n Kratzer!“

„Aber eine Gehirnerschütterung ist eine ernstzunehmende Sache! Du könntest-!“

Anya schnaufte wütend, während sie Nick von sich weg schubste, da sie auch sehr gut alleine stehen konnte. „Nichts aber, da kommt'n Pflaster drauf und gut is'!“

Mehr entgegen kommen konnte Anya ihnen nun wirklich nicht!

Ihre Freundin seufzte resignierend. Es war sinnlos, diesen Dickkopf vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Sollte sie doch sehen, was sie davon hat!

Derweil raunte Anya wütend: „Das alles wäre gar nicht erst passiert, wenn Levrier uns vorgewarnt hätte! Wieso hat der sich nicht eingemischt und diese Napfsülzen zu Stein erstarren lassen oder so!?“

 

Ich habe die Präsenz dieses Wesens nicht bemerkt. Seit wir unseren Pakt geschlossen haben, haben meine Kräfte stark abgenommen, da sie mein Einsatz unseres Vertrags sind. Einzig eine Barriere zu eurem Schutz konnte ich errichten. Es tut mir leid.

 

„Es tut dir leid!?“, donnerte Anya zornig. „Alter, du bist ja mal so was von nutzlos! Das nächste Mal, wenn mir irgendein Spinner 'nen Pakt, Vertrag oder was-auch-immer andrehen will, werd' ich ihn ausweiden und seine Organe an Abbys Katze verfüttern!“

„Nein!“, protestierte Abby entsetzt mit offen stehendem Mund.

Caroline und Valerie traten zu ihnen. „Spricht Anya mit ihrem … Freund?“, fragte Letztere.

Nick gluckste. „Ja. Aber manchmal glaub ich, sie führt nur Selbstgespräche.“

„Das sind wohl die Momente, in denen sie mein Ableben plant?“, hakte Valerie gut gelaunt nach.

„Vollkommen richtig, Redfield!“, zischte Anya sie an und bespuckte sie dabei wieder einmal 'versehentlich'.

Sich das Gesicht angewidert mit einem Stofftaschentuch aus der Tasche ihres Kostüms abwischend, meinte ihre Erzfeindin: „Ich habe jetzt auch ein ähnliches Mal wie du. Und eine neue Freundin!“

„Schön für dich, Redfield! Mich kannst du damit wohl kaum meinen! Und die zwei hier stehen auch nicht zum Verkauf!“, fügte Anya noch hinzu und drückte ihre beiden Freunde fest an sich, als würden sie andernfalls wegrennen.

Valerie lachte. „Nein, meine neue Freundin … ach egal. Wir sollten jetzt erst einmal das Personal befreien. Über die Dinge, die heute geschehen sind, reden wir ein anderes Mal, okay?“ Ihr Ausdruck wurde ernst. „Da gibt es so Einiges, was ihr mir erklären müsst …“

„Keine Lust!“, murrte Anya und zog eine trotzige Schnute. Dabei dachte sie noch: alles bloß das nicht!

 

 

Turn 08 – Murphy's Law

Nachdem Valerie nun die heilige Johanna von Orléans an ihrer Seite hat, ist Anyas Konkurrenzdenken schlimmer denn je. Um Marcs Aufmerksamkeit zu gewinnen, ohne dabei in einem schlechten Licht dazustehen, schreibt sie ihm in ihrer emotional unbeholfenen Art einen Liebesbrief. Unzufrieden damit, schmeißt sie ihn weg, nur damit er Nick in die Hände fällt. Der jedoch denkt, der Brief sei für ihn bestimmt und versucht Anya nahezukommen. Und sorgt im Zuge dessen dafür, dass Marc Anyas geschriebenes Wort hört. Was folgt, ist ein Duell um Nicks Leben.

Turn 08 - Murphy's Law

Turn 08 – Murphy's Law

 

 

„Joan of Arc!?“, polterte Anya und fiel aus allen Wolken. Dann brummte sie grimmig: „Nie von gehört. Wer soll das sein?“

„Passt du denn nie in Geschichte auf?“, fragte Valerie mit klagendem Tonfall und ließ ihre Hand durch das seidige, endlos lange, schwarze Haar gleiten.

Nein, dachte Anya boshaft, das geht schließlich schlecht, wenn ich mir ausmale, wie ich dir dummen Pute den Hals umdrehe, dich dann die Toilette herunterspüle und anschließend aus der Kloake fische, nur um dich an den weißen Hai zu verfüttern.

Ihre tatsächliche Antwort fiel aber um einiges kürzer aus. „Nein.“

Abby räusperte sich besserwisserisch. „Joan of Arc, oder auch Jeanne D'Arc, ist eine-“

„Mir doch egal, komm zum Punkt, Redfield!“

 

Zusammen saßen die Drei und Nick unter der großen Eiche auf Abbys roter Wolldecke. Dass der Sommer allmählich zu Ende ging, schien in Livington noch nicht angekommen zu sein. Seit Tagen litt die kleine Vorstadt wieder unter sengender Hitze. Was besonders Anya ein gewaltiger Dorn im Auge war, trug ihre Erzfeindin nun bauchfreie Tops mit Ausschnitten, aus denen Mann, wenn Mann erst einmal hineinfiel, nie wieder herausfinden würde. Und Nick schien bereits seine Bergsteigerausrüstung im Gedanken zusammenzupacken, wenn man seinen geifernden Blicken folgte.

 

„Der Punkt ist, dass sie uns gerettet hat! Ich meine … wir haben es hier mit einer Gesandten von Gott zu tun! Ist das nicht total aufregend?“, fragte Valerie begeistert und faltete die Hände ineinander. Etwas geknickt fügte sie hinzu: „Schade, dass wir das für uns behalten müssen.“

Anya hingegen blieb wortkarg. „Nein, ist es nicht.“

„Es ist schon erstaunlich. Erst schließt Anya einen Pakt mit Levrier und nun steht Joan of Arc an Valeries Seite. Dazu tragen beide ein Mal, auch wenn sie ganz verschieden aussehen“, meinte Abby und durchsuchte nebenbei ihr Geschichtsbuch nach Bildern der heiligen Johanna.

„Mir doch egal, welche Dumpfralle euch gerettet hat!“, tönte Anya miesepetrig. „Ich für meinen Teil hätte diese Zombies auch ohne göttlichen Schnickschnack umgepustet!“

Valerie spitzte die Lippen abfällig. „Nachdem sie dich zuerst umgepustet haben?“

„Na und? Hat fast gar nicht weh getan! Außerdem geht’s mir wieder gut!“

Schwer seufzend, legte Abby ihr Buch beiseite. „Sollte es aber nicht. Die Prellungen an deiner Stirn waren am nächsten Morgen verschwunden, oder? Das ist höchst ungewöhnlich, normalerweise kann das Wochen dauern.“

„Ich bin eben gut“, brummte Anya und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.

„Komisch ist nur, dass Joan sich seitdem nicht mehr bei mir gemeldet hat“, sprach Valerie mit unterschwelliger Besorgnis.

„Immerhin sind unsere Mitschüler jetzt wieder sie selbst und konnten Victim's Sanctuary verlassen.“ Abby blickte nachdenklich in den blauen Himmel. „Irgendwie hab ich mittlerweile richtig Angst vor schlechtem Wetter. Jedes Mal, wenn ein Gewitter über unsere Stadt zieht, passiert etwas Schreckliches. Ob das Omen sind?“

„Nein, Wolken! Mit viel Wasser drin!“, raunte Anya gallig und wandte sich an Valerie. „So, da wir jetzt wissen, was uns sowieso nie interessiert hat, könntest du jetzt endlich mit deinem Schickimickiarsch abheben und Leine ziehen?“

„Ich dachte, wir wären jetzt Freunde?“, empörte Valerie sich und sprang mit verschränkten Armen auf.

„Das ist dein Problem, Schneewittchen. Du denkst zu viel!“

„Lieber zu viel, als gar nicht, so wie du! Aber wenn du unbedingt darauf bestehst, werde ich jetzt gehen!“, erwiderte Valerie beleidigt und zog wie ein Sommergewitter von dannen. Sie hatte es satt, sich immer wieder Anyas Frechheiten ausgesetzt zu sehen.

Vorwurfsvoll sah Abby ihre Freundin daraufhin an. „War das jetzt wirklich nötig? Du solltest dankbar sein, dass sie und Joan uns gerettet haben! Stattdessen bist du noch ekliger zu ihr als sonst!“

Anya gab nur ein böswilliges Grunzen von sich.
 

Denn seit Valerie göttliche Unterstützung an ihrer Seite hatte, war sie in Anyas Gunst noch tiefer gesunken. Was bisher als unmöglich galt. Nicht nur, dass sie seit den Erlebnissen in Victim's Sanctuary einen auf gläubig machte – Anya wusste schließlich nicht, dass Valerie seither Katholikin war – nein, sie fühlte sich nun auch noch unbesiegbar und war dadurch mehr als nur unerträglich! Sie war vernichtungswürdig, um es mit den Worten dieses Dämonjägers Alastair auszudrücken.

Das Ganze wurde auch nicht dadurch besser, dass alle Valeries Mal bewunderten, während keiner auch nur ein Wort über ihres verlor. Anya war frustriert, denn mit Jeanne D'Arc auf ihrer Seite, stand Valerie jetzt eine Stufe über ihr im Highschool-Kastensystem. Ein Zustand, den das Mädchen so nicht dulden wollte. Nicht etwa weil sie beliebt sein wollte, nein! Aber niemand stand über ihr, absolut niemand!

Außerdem sah die Sachlage so aus, dass Valerie eine Art Engel an ihrer Seite hatte. Und die letzte Person, die so etwas von sich behauptete, hatte sie umbringen wollen! Demnach waren Anya und Valerie sozusagen Feinde. Selbst das Schicksal wollte es so! Was insofern natürlich gar nicht so übel war, denn dann konnte Anya vor Gericht auf Notwehr plädieren, während die Gerichtsmediziner das einzig von Valerie übrig gebliebene Körperteil – ihre falschen Fingernägel – auf Anyas DNA-Spuren testeten.

Und dann war da natürlich noch Marc – ihr Marc! – der nur noch Augen für Valerie, oh Valerie hatte. Die konnte man mittlerweile nicht mehr von seinem Schatten unterscheiden, ergo nicht mehr von ihm wegdenken, wenn sie nicht gerade Anya und ihren Freunden mit ihrer Gerechtigkeitskacke auf den Keks ging. Alleine traf man Marc praktisch nicht mehr an. Das Dumme an der Sache war, dass Anya sie nicht einfach so aus dem Weg räumen konnte, denn der Verdacht würde sofort auf sie fallen. Demnach hatte sie ihren Plan, welcher einen Mixer und einen Backofen beinhaltete, leider aufgeben müssen.

Aber es gab immer noch die Möglichkeit mit der Notwehr durch Schicksalsergebenheit!

 

„Anya, wir müssen zum Unterricht. Die Pause ist vorbei“, meinte Abby und packte ihre Sachen in ihre Beuteltasche.

Die Blondine verzog finster das Gesicht. Irgendetwas musste ihr einfallen, um ihre Erzfeindin in Punkto Marc auszustechen. Abzustechen stand ja leider nicht zur Auswahl. Doch ihren Freunden konnte sie sich nicht anvertrauen. Da war guter, diskreter Rat wirklich teuer. Man sollte schließlich nicht denken, dass sie sich nicht selbst zu helfen wusste.

Doch Anya musste insgeheim verbittert zugeben, dass genau dies der Fall war.

 

~-~-~

 

Frustriert pfefferte Anya ihren Rucksack in die Ecke. Was waren schon 21 von 100 Punkten im Mathetest? Nick hatte ganze zwei Punkte erreicht und war somit als Einziger noch schlechter als sie. Immerhin war in dieser Hinsicht Verlass auf den Trottel.

Trotzdem, dachte sie und ließ sich dabei auf ihrer schwarze Ledercouch in der Ecke des Zimmers fallen. Um wen hatten sich mal wieder alle gedrängt, weil sie eine volle Punktzahl erreicht hatte? Valerie Redfield! Dabei hatte Abby dasselbe Ergebnis erreicht, aber für sie interessierte sich nur der pickelige Adam. Es war zum Haare raufen! Valeries, verstand sich.

„Warum bist du nicht irgendso'ne Supertussi, die vor ein paar hundert Jahren mal Hallus hatte?“, richtete Anya wütend ihre Worte an Levrier. Denn sie war sich sicher, dass Valerie Marc alles erzählt hatte, nur um vor ihm anzugeben.

 

Weil ich offensichtlich zu dieser Zeit nicht in Frankreich war.

 

„Hast du nicht auch irgendwelche tollen Tricks auf Lager? Irgendwas Cooles?“ Anya verschränkte die Arme und grübelte. „Und wenn du nur ihre Euter schrumpfen lässt!“

 

Selbst wenn ich das könnte, würde ich es nicht tun. Kräfte wie die meinen sind nicht dazu gedacht, andere Menschen zu terrorisieren. Und ich glaube, dieses Handwerk beherrscht du auch ohne meine Unterstützung bestens.

 

„Danke für das Lob“, brummte Anya beiläufig. Aber ihre Laune besserte das kein bisschen. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wie sie Marcs Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ohne dass dabei Valeries Knochen zu Bruch gingen.

„Hast du nicht 'ne Idee?“, sprach sie in einem Moment tiefster Verzweiflung und bereute es sofort. Eine Anya Bauer bat nicht um Hilfe, sie half dir nur – ins Grab! Aber der Schaden war schon angerichtet …

 

Besitzt du denn ein besonderes Talent?

 

„Eishockey, zocken, fernsehen, Leute verdreschen …“

Anya überlegte. Hatte sie etwas vergessen? Nein, eigentlich nicht.

 

Ich dachte da eher an etwas Brauchbares. Kannst du singen? Oder beherrscht du zumindest ein Instrument?

 

„So'n High Society-Bockmist hab ich nicht nötig!“
 

Verstehe. Hast du wenigstens eine schöne Handschrift?

 

Anya schnaufte. „Man kann es lesen.“
 

Sehr gut. Dann schreib deinem Geliebten doch einen Brief. Das ist etwas Persönliches und macht besonders in deinem Falle einen guten Eindruck. Der Autor offenbart durch das geschriebene Wort einen Teil seiner Seel-
 

„Ja, ja, ich hab's kapiert.“

Eigentlich war die Idee gar nicht so übel, sagte sich Anya. Auch wenn sie noch nie einen Brief geschrieben hatte – Erpresserbriefe mal außen vor gelassen. Bloß was sollte sie Marc schreiben? Wenn sie ihn beeindrucken wollte, musste es schon etwas Längeres sein.

Sie nickte. Ihr würde schon etwas einfallen.

 

Und so kramte sie aus ihrem Rucksack einen Schreibblock sowie ein paar Stifte und setzte sich an ihren Schreibtisch vor dem Fenster. Welcher schon Staub angesammelt hatte, weil er nie vollständig eingeräumt, geschweige denn häufig benutzt worden war.
 

Normalerweise nimmt man dafür richtiges Briefpapier.

 

„Na und? Ich nehme eben dieses! Wen interessiert schon, dass da am Rand ein paar Bildchen sind?“

Es würde schon keiner erkennen, dass das Valerie sein sollte, die gerade durch einen Fleischwolf gedreht wurde.
 

Wenn du meinst.

 

„Ja, tu ich!“

Also machte sich Anya an die Arbeit. Sie starrte auf ihr Blatt … und starrte … und wartete darauf, dass irgendwas geschah.
 

Du bist wirklich ahnungslos, oder? An deiner Stelle würde ich mit einer Anrede und anschließenden Einleitung beginnen. Der arme Kerl soll doch nicht ins kalte Wasser geschmissen werden.

 

„Halt die Klappe, ich kann das selbst!“

Das Privileg mit dem kalten Wasser galt wenn, dann nur Valerie.

Und so machte sich Anya über den Brief her und schrieb einfach alles auf, was ihr dabei einfiel.
 

Etwa sechs Stunden später, es war längst nach Mitternacht, hatte sie ihr Werk nach mehreren Korrekturen vollendet und hielt den Brief samt Eselsohr, Tintenflecken, hauseigenen Milben und kleinen Bildchen stolz in den Händen.

„Den parfümiere ich morgen früh mit Mums 'Oh de Tolett' noch ein bisschen ein und dann gebe ich ihn Marc“, sagte sie so gut gelaunt, wie schon lange nicht mehr.
 

An deiner Stelle würde ich ihn zumindest einmal laut vorlesen.

 

„Huh? Wozu soll das gut sein?“ Sie runzelte die Stirn. „Na ja, von mir aus …“

Also legte sie den Brief vorsichtig wieder auf den Schreibtisch und begann zu lesen.

 

Hey Alter,

 

ich muss dir sagen, dass ich dich voll in Ordnung finde. War schon immer so, besonders weil du verdammt genial aussiehst. Besonders nach dem Training, wenn du völlig verschwitzt bist. Dieser Moment ist echt das Beste am Eishockey. Na ja, außer wenn ich Valerie 'nen deftigen Hieb verpassen kann, aber das mache ich ja schon lange nicht mehr. Ich finde es nicht fair, dass ich mich nicht bei den Jungen umziehen darf, denn eigentlich bin ich das einzige Mädchen im Team, was uncool ist. Valerie zählt nicht. Dabei spiele ich besser als die meisten Jungen aus unserem Team, wobei du natürlich eine Ausnahme bist. Bloß so können wir uns leider nie unterhalten, weil du immer so schnell weg bist. Scheiße, ich verlange Gleichberechtigung!

Was ich sagen wollte ist, dass dein Tackle letzten Monat gegen diesen bekloppten Typen von den Queensport Champions echt rattenscharf war. Ich hätte ja mit dem Eishockey-Schläger nachgesetzt, aber leider habe ich damals zu dem Zeitpunkt mit Coach Bergmann diskutiert, weil ich Valerie versehentlich den Puck gegen den Helm gedonnert hatte. Ich schwöre dir, das war keine Absicht, aber sie stand halt im Weg! Wie soll ich auf diese Entfernung auch treffen können, wenn diese dumme Pute will, dass ich ihr einen Pass zuspiele?

Egal, Schnee von gestern. Was ich dich fragen wollte war, ob du nicht mal Lust hättest, etwas mit mir zu unternehmen? Ich würde ja Kino vorschlagen, aber das klingt so kitschig. Außerdem hasse ich Kino wie die Pest, denn dauernd muss man den Saal verlassen, weil irgendwelche Vollidioten nicht auf meine freundlichen Anmerkungen hin still sein wollen, da sie zu sehr damit beschäftigt sind, sich und ihre blondierte Assifreundin zu fotografieren. Und dann krieg' ich den Anschiss, weil ihre 400$ teuren Extentions überall im Saal verteilt liegen. Ich frag dich, ist das fair?

Deswegen wollte ich vorschlagen, dass wir einen cooleren Ort aufsuchen. Ich kenne da einen tollen Schrottplatz, gleich um die Ecke vom Einkaufszentrum. Da hole ich immer Sachen für Barbie. Das ist mein Baseballschläger, weißt du? Und Barbie mag es, wenn man ihr ein paar hübsche Nägel mitbringt, um sie neu einzukleiden.

Überleg' es dir einmal. Würde mich echt freuen.
 

Hau rein,

Anya“

 

„Na, wie findest du ihn?“, fragte Anya stolz.
 

… kreativ.

 

„Sag ich doch, ich kann das!“

Ungeschickt faltete Anya den Brief und stopfte ihn in ihren Rucksack. Wollen doch mal sehen, wer dann die Nase vorn haben würde, dachte sie schadenfroh.

 

~-~-~

 

Egal wie sehr sie das Papier auch drückte und quetschte, es fühlte sich einfach nicht wie Valerie Redfields Hals an.

Anyas Lippen waren so schmal, dass man meinen konnte, sie würden jeden Moment verschwinden. Mit hasserfüllten, kleinen Augen beobachtete sie Valerie, wie sie Marc heimlich einen kleinen Zettel reichte, während Mr. Gibson irgendetwas Belangloses schwafelte und dabei an der Tafel schrieb. Anya wusste nicht einmal, was für ein Kurs das überhaupt war.

Ihre Fingernägel krallten sich in ihr Pult, doch leider weigerte sich das Holz, ihrem Druck nachzugeben.

Diese dämliche Ziege war ihr wieder einmal zuvorgekommen! Und dieser Blick, den die beiden sich dabei zuwarfen! Die sahen doch eindeutig verliebt aus! Oh, sie würde Redfield-
 

Es klingelte.

„Denkt an eure Referate“, mahnte Mr. Gibson die Schülerschaft eindringlich.

Die Jungs und Mädchen erhoben sich daraufhin. Nur Anya blieb sitzen und stellte sich vor, was sie alles tun würde. Schade, dass es nur eine Valerie Redfield auf diesem Planeten gab, denn ihr Einfallsreichtum reichte aus, um einen ganzen Bundesstaat voller Valeries in eine unbewohnbare Ruine zu verwandeln. Mindestens!

Als Anya schließlich frustriert ihre Sachen eingepackt hatte, gluckste plötzlich jemand hinter ihr und hielt ihr die Augen zu. „Wer bin ich? Ein Tipp: ganz bestimmt nicht Nick!“

Anya riss an seinem Arm, schleuderte ihn über das Pult zu Boden und stampfte mit geschultertem Rucksack wortlos über ihn hinweg.

„Woher hast du das gewusst?“, röchelte er ihr hinterher.

Frustriert warf Anya das, was einmal ihr Brief gewesen war, in den Papierkorb und verließ das Klassenzimmer. Sie musste sich jetzt dringend an jemandem abreagieren.

 

Derweil erhob sich Nick und lief verwundert zu besagten Papierkorb. Er zog eine Bananenschale hervor, doch schüttelte den Kopf. „Neee, davon hab ich schon welche.“

Dann hielt er Anyas Brief in den Händen. „Hehe, wieder was für meine Sammlung!“

Was besagte Sammlung anging, besaß er schon Anyas Radiergummi, den sie in der Fünften weggeschmissen hatte, weil er nicht in Lily McDonalds Ohr gepasst hatte oder auch, sein persönliches Highlight, ein unangerührtes Sandwich von Anya. Jenes würde in so manchen Ländern schon als volljährig betrachtet werden.

Neugierig friemelte er den Brief auseinander und begann zu lesen, wobei er einige Passagen selektiv ausblendete. Und als er geendet hatte, strahlte er wie ein Honigkuchenpferd in der Zuckerfabrik.

 

~-~-~

 

„Bitte lass mich gehen, ich hab doch nur noch 23 Zähne!“, jammerte Ernie Winter, während Anya ihm am Kragen gepackt hielt und zuschlagen wollte.

„Ich hab dich über mich lästern hören! Du hast über mich gelästert, huh? Sag, dass du über mich gelästert hast!“

„Aber ich hab doch Anna gesagt und nicht Anya!“

Anya schnaufte und ließ das schmächtige Weichei los. Selbst das machte ihr keinen Spaß mehr! Wie sollte sie denn ihre Wut auslassen, wenn sämtliche 'Sportarten', die sie in den letzten 19 Jahren erfunden hatte, sie auf einmal nur noch langweilten?

Während Ernie eilig davon krabbelte und seine Hose einsammelte, verschränkte Anya die Arme und ging an den Schülern vorbei, die zugesehen hatten. Unnötig zu erwähnen, dass die einen nicht zu verachtenden Sicherheitsabstand hielten.

Anya sah sich auf dem Campusgelände um. Wo zur Hölle war Abby, wenn man sie mal brauchte? Ihr würde bestimmt etwas Kluges einfallen, wie Anya sich ihre Zeit vertreiben konnte. Oder, nein, ihre Ideen wären nur noch langweiliger. Aber wo war sie? Den ganzen Tag schon bekam man sich nicht zu Gesicht!
 

„Oh holde Maid~“

Anya überlegte. Ob Abby sich mal wieder in der Bibliothek verschanzt hatte? Aber nein! Abby und Schule schwänzen in einem Satz zu nennen war wie Valerie Redfield die Haare anzuzünden. Leider unmöglich. Was trieb das Mädel also?

„Im schönsten Sommerkleid~ äh Hose~“

Ob sie-

„Frisch aus der Dose~“

Jetzt reicht's!

 

Anya wirbelte um, damit sie diesem Schreihals eins auf die Zwölf geben konnte. Hinter ihr kniete Nick, mit Hand auf der Brust, die sinnlosesten Textzeilen trällernd.

„Was soll das denn!?“, herrschte sie ihn an und stellte verärgert fest, dass schon aus allen Richtungen neugierige Blicke auf ihnen lagen.

„Na ich werbe um dich~“

Anya kratzte sich an der Stirn, da ihre rhetorischen Fähigkeiten nicht ausgeprägt genug waren, um Nicks Worte in ihrer vollen Grausamkeit zu verinnerlichen. „Häh?“

„Weil ich dich liebe~“

Fassungslos starrte sie ihren -ehemaligen- Freund an. „Todessehnsucht, du!?“

„Und verehre~“

„Wie kommst du auf die grenzdebile Idee, mir so etwas zu sagen, du Holzkopf!? Alter, ehe ich mit dir gehe, zieh ich in'n Kloster und werd' 'ne beschissene Nonne!“

„Aber“, stammelte Nick nun getroffen und holte den Brief aus seiner Hosentasche. Mittlerweile hatte sich eine ganze Traube von Schülern um sie gebildet und zu Anyas Leidwesen waren auch Valerie und Marc darunter. „Aber hier steht, dass du mit mir zum Schrottplatz willst!“

Anya klappte die Kinnlade hinunter. Der Trottel hatte doch tatsächlich … ! „Gib diesen Brief her!“

„Da steht, dass du gerne mit mir in der Männerumkleide duschen würdest!“

„Der ist doch nicht für dich, du Blödian!“, fauchte Anya und schnappte nach dem Brief, doch da Nick über einen Kopf größer war als sie, bekam das Mädchen ihn nicht zu fassen, als er ihn hochhielt.

„Aber, aber … und dass du mich magst?“ Nick schien den Tränen der Enttäuschung nahe. Er wedelte mit dem Brief. „Das steht doch da!“

„Gib-her!“, brüllte sie, gab ihm einen saftigen Tritt gegen das Schienbein, gefolgt von einem Schlag in die Nieren und riss ihm den Brief in seinem schwachen Moment aus der Hand.

„Sag bloß, der ist … der ist für Marc?“, stammelte Nick unter höllischen Schmerzen frustriert.

 

Es war mucksmäuschenstill. Jeder der Anwesenden wusste, dass es gleich sehr laut werden würde. Das war wie bei einem Vulkan, der kurz davor stand auszubrechen. Aber statt Lava würde in diesem Falle Nicks Blut fließen.

Selbst dieser erkannte, dass er gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte. Er rannte weg, Anya folgte ihm nicht. Sie ballte eine Faust. Dann nahm sie ihre Duel Disk aus dem Rucksack und schleuderte sie selbst auf große Distanz mit vollem Karacho zwischen Nicks Beine. Dieser stolperte und fiel, stand wieder auf und rannte um sein Leben, als Anya ihn wie von der Tarantel gestochen zu verfolgen begann. Unter den wüstesten Beschimpfungen, die die Livington High je erlebt hatte.
 

Die Jagd erstreckte sich über den Hof, das Gebäude der Unterstufe, dann das der Oberstufe, um den Sportplatz und die beiden Hallen herum zurück zum Campusgelände. Und würden dabei Sägeblätter um Anyas Körper kreisen, hätte sie unlängst eine blutige Schneise durch die ganze Schule gezogen. Aber auch so konnten sich genug Schüler, die nicht schnell genug ausgewichen waren, über ungewollten Zwangsurlaub aufgrund diverser Prellungen freuen.
 

„Komm … her … ich krieg' dich … ja doch!“, brüllte Anya und staunte, wie gut Nicks Beine doch funktionierten. Dahinter steckte vermutlich jahrelange Übung, was in direktem Kontakt mit Anya wohl unvermeidlich war.

Erschöpft blieb das Mädchen vor der Traube Schaulustiger stehen, keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nick fiel etwas weiter weg von ihr auf die Knie. „Oh man! Fangen spielen ist ganz schön anstrengend.“

„Ich … würde dich ja vernichten … aber … ich kann nicht mehr“, presste Anya hervor.

Neben ihr lag die Duel Disk, die sie nach Nick geworfen hatte. Sollte sie wirklich noch weiter hinter ihm her rennen? So ungern sie es auch zugab, war Nick aufgrund seiner langen Beine und seiner Erfahrung in Punkto Abhauen ihr gegenüber arg im Vorteil. Wenn das so weiterging, würde sie ihn nie zu fassen kriegen. Aber sie musste sich abreagieren, jetzt, sofort! Außerdem war dieser Idiot den Schweiß auf ihrer Stirn nicht wert! Ein weiterer, missmutiger Blick fiel auf die Duel Disk. Also blieb nur eines. „Wir … duellieren uns … und wenn du stirbst … ich meine verlierst … stirbst du.“

Nick sprang auf und strahlte. „Cool! Ich glaube, ich habe mich noch nie mit dir duelliert!“

Was vornehmlich daran lag, dass jeder, dem etwas an seiner Gesundheit lag, darauf verzichtete, sich mit Anya zu duellieren. Gewann sie, hatte man seinen Stolz verloren. Verlor sie aber, konnte man froh sein, wenn am Ende wenigstens noch der Stolz von einem übrig blieb. Anya hasste es zu verlieren.

„Könnt ihr euch nicht vertragen?“, mischte Valerie sich ein. „Er hat dich doch nicht absichtlich blamieren wollen.“

„Schnauze, Redfield!“ Denn grundsätzlich glaubte Anya nicht an Zufälle. Wenn jemand ihr ein Leid zufügte, dann ausschließlich mit Absicht!

 

Indes hatte Nick sich schon eine Duel Disk ausgeliehen und umgeschnallt. „Ich bin fertig!“

Anya las die ihre auf und schob ihr Deck in den dazugehörigen Schacht. „Du bist nicht nur fertig, du bist reif fürs Recycling, wenn ich dich auseinander gerupft habe!“

„Cool!“

Dann riefen beide: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Nick: 4000LP]

 

„Ich fang' an“, verkündete Nick freudig und hatte Glück. Denn Anya war zu sehr damit beschäftigt, Marc anzustarren, der ihr einen undeutbaren Blick zuwarf, um zu widersprechen.

„Äh, wie macht man das? Ich rufe … ahja, genau, ich rufe jetzt erstmal meine Mum an und frag sie, was ich spielen soll!“

„Harper!“

„Hehe, nur'n Witz! Ich rufe [Wind-Up Soldier]!“

Ein kleiner, futuristischer Spielzeugsoldat erschien vor Nick. Aus seinem Rücken ragte ein großer Aufziehschlüssel.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Dann setze ich noch eine Fallenkarte verdeckt!“, rief Nick gut gelaunt und legte sie auf die Monsterkartenzone der Duel Disk. Und während Marc ihn freundlich darauf hinwies, wie er es richtig zu machen hatten, stöhnte Anya laut auf. Wenn das so weiter ging, würde das selbst für ihren Geschmack zu leicht werden.
 

„Ich bin dran“, zischte sie im Anschluss böse und zückte ihre Lieblingskarte. „[Gem-Knight Fusion]! Aus [Gem-Knight Garnet] und [Gem-Knight Emerald] wird [Gem-Knight Citrine]!“

Vor ihr tauchte aus einem Wirbel aus Edelsteinen ein Ritter in einem blauen Umhang auf, welcher mit seinen rot glühenden Armen ein riesiges Breitschwert schulterte – einhändig.
 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 DEF/1950 (7)]

 

„Falle aktivieren“, rief Nick fröhlich. „[Fissure]!“

Vor ihm sprang eine Karte auf … mit grünem Rand.

„Du Volltrottel, das ist 'ne Zauberkarte!“, donnerte Anya, während Nicks Zauber wieder mit dem Kartenbild nach unten glitt. Lautes Gestöhne ging durch die Zuschauerschar.

Die Blondine schwang den Arm aus. „Citrine, mach Hackfleisch aus dieser Witzfigur von Monster!“

Mit nur einem Schwerthieb wurde Nicks Spielzeug in seine Einzelteile zerlegt.

 

[Anya: 4000LP / Nick: 4000LP → 3600LP]
 

„Ohhhhhh …“, jammerte Nick und trauerte seiner Karte nach.

Anya indes nahm eine Karte von ihrem Blatt und setzte sie verdeckt. Sie erschien vor ihren Füßen, während das Mädchen sprach: „Dein letztes Stündlein hat geschlagen, Harper! Mach deinen letzten Zug!“
 

Der junge Mann schien sich der Gefahr, in der er schwebte, gar nicht bewusst zu sein. Er zog und drückte dann einen Knopf an seiner Duel Disk. „Aber jetzt! [Fissure]! Damit zerstöre-“

„Gar nichts zerstörst du! Konterfalle! [Paradox Fusion]! Indem ich ein Fusionsmonster, wie Citrine eines ist, für zwei Runden aus dem Spiel verbanne, kann ich die Aktivierung einer Karte annullieren! So bringe ich Citrine vor deiner Karte in Sicherheit!“

Ihr Ritter löste sich in Luft auf, während Nicks Zauberkarte in tausend Stücke zersprang. „Ohh! Dann spiele ich jetzt [Wind-Up Magician] verdeckt!“

Vor Nick tauchte ein Aufziehmagier auf, welcher mit seinen Zangenhänden einen Zauberstab hielt. Lautes Gemurmel erklang um die beiden Duellanten herum und ein paar mutige Seelen wagten es sogar zu lachen.

 

Wind-Up Magician [ATK/600 DEF/1800 (4)]

 

„Zug beendet!“
 

Anya ballte eine Faust. Es war wohl nicht genug, dass dieser Idiot sie vor allen gedemütigt hatte. Nein, das hätte sie ihm noch verzeihen können, nachdem sie seine Haut abgezogen und als Bettvorleger benutzt hätte. Aber dass er sich nicht die geringste Mühe gab, sein kümmerliches Leben zu retten, machte sie rasend.

„Wie kannst du es wagen …“, murmelte sie vor sich hin. Die Wut in ihr war so groß, dass sie sie förmlich greifen konnte. Wie ein Licht erschien sie ihr und alles, was sie zu tun hatte, war zuzupacken. Und wenn man es hielt, fühlte man die Kraft in sich pulsieren. Ein großartiges Gefühl.

 

„Draw!“, schrie sie laut. „Von meinem Friedhof: [Gem-Knight Fusion], für die ich Emerald verbanne, damit ich sie auf die Hand bekomme! Und ich aktiviere sie, um [Gem-Knight Sapphire] und [Gem-Knight Iolite] von meiner Hand zu verschmelzen und dadurch [Gem-Knight Amethyst] zu beschwören!“

Aus dem funkelnden Edelsteinwirbel tauchte ein blauer Ritter auf, aus dessen Handrücken eine riesige Lanze aus Eis wuchs. Zu seinem Schutz trug er in der anderen Hand einen großen Rundschild.

 

Gem-Knight Amethyst [ATK/1950 DEF/2450 (7)]

 

„Als Normalbeschwörung rufe ich jetzt [Gem-Knight Alexandrite]! Aber er wird nicht lange bleiben, denn ich biete ihn durch seinen eigenen Effekt als Opfer an und rufe so [Gem-Knight Crystal] von meinem Deck!“

Der Ritter in weißer Rüstung, welcher vor Anya erschien, verschwand kurz darauf wieder und hinterließ einen stolzen Krieger in Weiß, welcher seine Hände in die Hüften stemmte.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Oh oh“, nuschelte Nick ängstlich. „Verliere ich jetzt?“

„Verdammte Scheiße, ja!“, fauchte Anya ihn in ihrer Rage an. „Du hast alles versaut, alles! Jetzt denkt auch der Letzte, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe! Wegen dir habe ich jede Chance … jede … Chance, ihn …“

Die Wut pulsierte so sehr in Anya, dass sie kaum mehr Luft bekam. „Los, Amethyst, vernichte dieses Drecksvieh von Magier!“

Ihr Ritter holte mit seiner Lanze zum Schlag aus und spießte die kleine Kreatur vor Nick gnadenlos auf. Heftiger Wind fegte über das Gelände und ließ Anyas Pferdeschwanz wild durch die Luft tänzeln.

 

[Anya: 4000LP / Nick: 3600LP → 2250LP]

 

„Ich werde dir nie verzeihen, was du heute getan hast“, sprach sie hasserfüllt. „Nie, hörst du!?“

„Aber-!“

Sie hielt es nicht mehr aus. Das, was in ihr steckte, musste einfach hinaus! „Los Crystal, beende diesen Scheiß! Clear Punishment!“

Ihr stolzer Ritter schlug mit seiner Faust auf den Boden und ließ die Erde erzittern. Überall brach sie donnernd auseinander, sodass einige Schüler umkippten. Auf Nick zischte unter lautem Getöse in ungeahntem Tempo ein Riss im Boden zu, aus dem kurz darauf endlos viele Kristalldornen schossen und ihn an Armen und Beinen trafen.

 

[Anya: 4000LP / Nick: 2250LP → 0LP]

 

Keuchend atmete Anya und hielt sich ihr Mal, welches auf einmal fürchterlich brannte. Die Hologramme verschwanden … doch der Schaden nicht! Überall war die Erde aufgerissen, der Rasen glich einem Schlachtfeld.

Und Nick? Er sank auf die Knie, gezeichnet von etlichen Schnittverletzungen. Irritiert und zugleich auch vorwurfsvoll sah er Anya an, ehe er den Kopf hängen ließ und sich wimmernd die blutenden Stellen hielt.

Anya wandte sich gleichgültig von ihm ab und schritt davon. Jeder, dem sie zu nahe kam, ging ihr mit Angstschreien fluchtartig aus dem Weg. Sie realisierte es gar nicht, das Chaos um sie herum, fasste keinen klaren Gedanken. Zu groß noch war der Zorn, der in ihr pulsierte und weiter herumwüten wollte.
 

Sie achtete kaum auf den Weg und fand sich irgendwann in einem der Gänge des großen Schulgebäudes wieder. Hier war sie zumindest allein mit sich selbst.

Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand neben den Spinden und hielt sich ihren Arm. Er brannte nicht mehr. Erst jetzt realisierte sie, was tatsächlich geschehen war. Sie hatte … den halben Schulhof zertrümmert!

„Genial!“, entfleuchte es ihr ehrfürchtig.

Wie hatte sie das angestellt? Doch nicht etwa wegen diesem Ding? Sie betrachtete das schwarze Kreuz mit dem Dornenring neugierig. War das etwa auch in dem Pakt mit Levrier inbegriffen? Wenn ja, bereute sie nun keine Sekunde mehr, ihn abgeschlossen zu haben. Damit konnte sie-
 

„Anya?“

Das Mädchen schaute auf und erschrak. „Marc!?“

Vorsichtig näherte er sich ihr. Wie immer sah er so verdammt gut aus in seiner Sportjacke, mit diesen wunderschönen Augen und seinem Kinnbart. Anya spürte, wie es nun eindeutig ihr Herz war, das pulsierte.

„Was ist da gerade passiert?“, fragte er etwas unsicher und deutete auf den Ausgang, welcher zum Sportplatz führte. „Nick braucht einen Krankenwagen.“

„Ich habe … keine Ahnung“, log sie. „Muss wohl … an den Rohren gelegen haben. Unten … in der Erde … und so.“

„Ah“, gab er einsichtig von sich. „Das also war es.“ Er lachte zögerlich. „Stimmt, eigentlich ist das logisch. Hologramme können keinen realen Schaden anrichten, nicht wahr?“

„N-nein.“

Warum fühlte sie sich auf einmal so schwach? Plötzlich fiel ihr nicht ein einziger Spruch oder auch nur eine coole Beleidigung ein, die sie in das Gespräch mit einfließen lassen konnte!

 

Marcs Gesicht nahm plötzlich betrübte Züge an. Er atmete tief durch und sagte dann: „Hör mal, ich … also es geht um diesen Brief.“

Anya erstarrte. Selbst Denken fiel ihr plötzlich unendlich schwer – dabei wollte sie es dieses eine Mal sogar! Jetzt durfte sie sich keinen Fehler erlauben!

Sichtlich schien ihr Gegenüber mit sich zu ringen, ehe er schließlich ihren Blick mied. „Es ist sehr lieb von dir, dass du mir das geschrieben hast. Ich hab ihn gelesen, nachdem du gegangen bist.“

„O-oh! Nein, nein, nein, ich-!“

Marc lachte, doch es klang künstlich. „Er war sehr … interessant. Und ich weiß die Mühe zu schätzen, die du dir damit gemacht hast. Aber …“

Aber? Aber! Abers waren nie gut!

Er seufzte. „Es ist nicht so, dass ich dich nicht mag. Du bist anders, als die anderen Mädchen an dieser Schule. Jemanden wie dich trifft man sonst nirgendwo und irgendwie bist du auf deine Weise beeindruckend.“

Strike!

„Aber-“

Shit!

„Nun, ich würde gerne hinter deine Fassade blicken. Bloß bin ich mir nicht sicher, ob ich dahinter überhaupt etwas finden werde. Ob da überhaupt eine Fassade ist. Denn wenn dem nicht so wäre, also …“

Anya verstand kein Wort. Fassade? Wovon redete Marc da überhaupt?
 

Der schwarzhaarige Footballspieler fasste sich. „Ich denke, wir sollten unsere Beziehung so lassen, wie sie ist. Das wäre wohl das Beste für uns alle. Dass du Valerie nicht magst, kann ich irgendwo nachvollziehen. Doch lass sie in Zukunft bitte in Ruhe, denn sie ist ein aufrichtiger, wundervoller Mensch und hat es nicht verdient, so behandelt zu werden.“

„'kay“, murmelte Anya tonlos und ballte hinter ihrem Rücken eine Faust.

„Ich denke, das war alles, was ich dir sagen wollte“, meinte Marc. Er wollte Anya eine Hand auf die Schulter legen, doch sie wich zurück. „Tut mir leid. Hier, dein Brief. Ich … gehe dann besser.“

„Tu das …“, antwortete Anya tonlos und nahm das zerknüllte Stück Papier entgegen.
 

Und so drehte er Anya den Rücken zu und ging. Sie sah ihm nicht hinterher, sondern starrte mit gesenktem Haupt ihre Schuhe an. In ihrem Kopf herrschte Stille. Da waren weder Beleidigungen noch Gewaltfantasien. Nichts. Nicht einmal Wut. Da war etwas noch viel Schrecklicheres, nämlich gar nichts zu fühlen. Und Anya wollte etwas fühlen, irgendetwas, nur nicht nichts.
 

Sie schrie, was die Lungen hergaben und schlug mit der Faust die Tür des nächstgelegenen Spinds ein. Das dünne Metall gab nach, also ging sie zum nächsten und zertrümmerte auch ihn. Keinen ließ sie aus, auch als ihre Knöchel schon bluteten. Sie machte weiter, solange, bis die Wut zurückkehrte und sie noch mehr antrieb.

Als sie ihr Werk getan hatte, verließ Anya seelenruhig das Gebäude. Und hinterließ dabei ein regelrechtes Schlachtfeld aus zerfetzten Büchern, ausgerissenen Spindtüren und anderen Gegenständen, die überall auf dem Boden verstreut lagen.

 

 

Turn 09 – Abby

Nachdem Abby auch am nächsten Tag nicht in der Schule aufgetaucht ist und nicht an den Nachforschungen rund um Anyas neuen „Mitbewohner“ Levrier teilnimmt, geht Anya alleine auf die Suche nach ihr. Als sie Abbys Zuhause verlassen und völlig chaotisch vorfindet, beschleicht sie ein schrecklicher Verdacht.

Turn 09 - Abby

Turn 09 – Abby

 

 

Anya langweilte sich. Sie war sogar schon dazu geneigt, eines der Bücherregale umzuwerfen, nur um zu sehen, was dann geschah. Aber sie riss sich zusammen, was die Blondine mehr Mühe kostete, als sich eine Art auszudenken, wie sie Valerie Redfield um die Ecke bringen konnte, welche sie nicht schon tausendmal in ihrem Kopf abgespielt hatte.

Nun saß sie hier in dieser antiken Grabkammer – den meisten eher als Bibliothek bekannt – und klopfte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch.

Am letzten Wochenende hatten sie, Abby und Nick sich für heute hier verabredet, um zu versuchen, doch noch mehr über Levrier und Eden herauszufinden, nachdem sie festgestellt hatten, dass zwei Monate eine verdammt kurze Zeitspanne waren. Und die Uhr tickte gnadenlos Richtung 11. November, war doch bereits die erste Hälfte des derzeit anhaltenden, milden Septembers wie im Flug vergangen.

 

Aber wer war nicht aufgetaucht? Richtig: Abigail Masters! Anya würde ihr dafür die Hölle heiß machen, wenn sie erstmal hier auftauchte!

Und wen hatte sie achtkantig rausschmeißen müssen? Nick!

Im Moment war sie noch nicht in der Stimmung, dieselbe Luft zu atmen wie er, was gerade im Unterricht lästig sein konnte. Das Mädchen wusste, dass sie ihm früher oder später verzeihen würde. Eher später, denn Anya war sehr, sehr nachtragend. Doch bis es soweit war, wollte sie ihn so weit wie möglich auf Abstand halten – auch um seiner Gesundheit willen. Und da konnte er sich noch so oft bei ihr entschuldigen!

 

Die Sache mit dem ruinierten Campusgelände hatte man ihr nicht ankreiden können, dachte Anya zufrieden. Levrier hatte ihr erklärt, dass diese Kräfte tatsächlich Teil ihres gemeinsamen Paktes waren. Doch Anya konnte sie nicht beherrschen und Levrier weigerte sich strikt, sie in die Geheimnisse zum Kontrollieren dieser Kräfte einzuweihen. Was für ein Langweiler! Aber sie würde es schon selbst herausfinden, irgendwann. Und dann war Partytime angesagt.
 

Was Marc und seine Worte anging, machte Anya sich darum keine Gedanken mehr. Die Hälfte hatte sie ohnehin längst vergessen und den Rest dank ihres natürlichen Selbsterhaltungstriebes so abgeändert, dass sein Korb nunmehr wie eine verschlüsselte Interessensbekundung klang. Einzig ihr Versprechen ihm gegenüber, dieser dummen Schnepfe Valerie – ihr Name sei auf ewig verflucht – kein Haar zu krümmen, war davon nicht betroffen. Das war unfair! Wie sollte sie sich jetzt an all den bunten Bildern in ihrem Kopf erfreuen, wenn sie wusste, dass sie die nie in die Tat umsetzen konnte?

Aber ein Versprechen, das Anya Bauer gab, wurde nicht gebrochen. Schon gar nicht, wenn Marc involviert war!

 

„Man, Masters, wo bleibst du denn?“, murmelte sie genervt.

Verstohlen schielte sie das Regal direkt vor ihrem Tisch an. Sollte sie es wagen? Ob die alte Schrulle Mrs. Wilson die Polizei rufen würde? Anya war schon lange nicht mehr auf dem örtlichen Polizeirevier gewesen. Das letzte Mal, als sie Jonathan – oder was noch von ihm übrig war – gefunden hat. Wenn Anya nur daran dachte, fühlte sie sich unwohl. Jetzt wusste sie, wie eine echte Leiche aussah. Fast konnte man da Mitleid mit den Menschen aus ihren Fantasien haben – aber nur fast!

 

Vielleicht solltest du sie suchen gehen? Täusche ich mich, oder war sie heute auch nicht in der Schule? Womöglich ist sie krank.

 

Anya brummte leise. Und warum hatte sich Abby dann nicht bei ihr gemeldet? Normalerweise war in solchen Fällen immer Verlass auf sie. Aber jetzt, wo Levrier es sagte, erkannte Anya, dass sie ihre Freundin seit vorgestern Nachmittag nicht mehr gesehen hatte.

„Hast gewonnen“, meinte sie in nörgelndem Tonfall und erhob sich.

Anya entschloss sich, zuerst Abbys Zuhause aufzusuchen, da man sie dort am ehesten in ihrer Freizeit antraf. Und weil Anya keine Alternative wusste.

 

~-~-~

 

Mit skeptischem Blick musterte die Blondine das Haus vor ihr. Obwohl sie es schon so oft gesehen hatte, passte es immer noch nicht wirklich zusammen.

Ursprünglich war es relativ klein gewesen, ohne Obergeschoss. Das war vor vielen Jahren dazugekommen, nachdem Abbys Stiefmutter zum siebenten Mal schwanger geworden war. Seine moderne Bauart passte nicht zu dem kleinen Holzhäuschen und Anya überlegte schon, Wetten abzuschließen, wann das ganze Gebilde wohl zusammenbrechen würde. An der rechten Seite war ebenfalls angebaut worden und auch hier passte nichts zum ursprünglichen Haus, denn dieser Teil sah aus wie ein Gewächshaus mit Vorhängen – ihre Version eines Wintergartens.
 

Anya betrat das Grundstück, dessen Rasen ihr schon zu den Knien reichte und schritt über einen kleinen Steinweg zur Haustür. Ungeduldig drückte sie den Klingelknopf mindestens eine halbe Minute und wartete ab. Nichts. War niemand zuhause?

Nun, die meisten Kinder der Familie Masters waren schon alt genug, um etwas in der Stadt zu unternehmen, während ihre Eltern arbeiten gingen. Einzig Michael, der jüngste Spross der Familie, brauchte noch einen Babysitter. Meistens waren das Abby oder ihre Nachbarin, Mrs. Rapatolli.

 

Verärgert runzelte Anya die Stirn. Wenigstens Michael müsste doch zuhause sein. Sie klopfte gegen die Tür – und blinzelte verdutzt, als diese nachgab und einen Spalt zur Seite schwang.

„Oh shit!“, donnerte Anya, als sie bemerkte, dass das Schloss aufgebrochen war. „Einbrecher!“

Ohne nur einen Moment nachzudenken, schlich Anya sich auf Zehenspitzen in den Flur des Hauses.

Mit zusammengekniffenen Augen suchte das Mädchen aufmerksam nach dem Übeltäter, der seines Lebens nicht mehr froh werden sollte.

Als sie im großen Gemeinschaftssaal – so nannten Abbys Eltern das Wohnzimmer – ankam, gab sie einen überraschten Laut von sich. Die Sitzkissen lagen willkürlich verstreut im Zimmer, einer der orangefarbenen Vorhänge war abgerissen und lag auf dem Boden, während der andere das Fenster bedeckte und so einen Teil des Zimmers in warmes, oranges Licht tauchte. Selbst der kreisrunde, kniehohe Gemeinschaftstisch war umgeworfen worden. Man musste dazu wissen, dass es hier keine Stühle gab, nur Kissen.

„Alter Falter“, murmelte Anya fassungslos und wünschte sich, dass 'Barbie' jetzt hier wäre.

Was war denn mit diesem durchgeknallten Exemplar von Einbrecher los?

 

Anya eilte zurück zum Flur und trampelte die Treppen hoch, damit der Kerl wusste, was ihm blühen würde. In Abbys Zimmer angekommen, das von Tierpostern und Bildern von Che Guevara zugedeckt war, musste Anya feststellen, dass alles in bester Ordnung war. Das Bett gemacht, der Schreibtisch eingeräumt, jedes ihrer Bücher in den Regalen reihte sich perfekt in alphabetischer Reihenfolge an das nächste. Davon bekam man ja Ausschlag, dachte sich das Mädchen dabei, welches von solcher Ordnung nichts hielt.
 

Nachdem sie auch die anderen Zimmer abgesucht und vollkommen unberührt vorgefunden hatte, kehrte sie schließlich frustriert wieder zum Gemeinschaftssaal zurück. War diese miese Made ihr entkommen? Und wo waren Abby und Michael?

Nun blieb ihr nur noch der Wintergarten – das Unterhaltungszimmer, oder auch Sonnenschrein, der Familie Masters. Anya folgte dem kurzen Gang vom Wohnzimmer aus dorthin und runzelte die Stirn. Rechts von ihr waren die Vorhänge zugezogen, damit man von der Straße aus nicht in das Zimmer hineinschauen konnte. Auf der anderen Seite kam Sonnenlicht durch die endlos vielen Fenster, aus denen sogar das Dach bestand. Daher der Name dieses Raums.

Anya trat eine Barbiepuppe beiseite, denn Michael spielte gerne mit Barbies. Schon lange plante das Mädchen, ihm mal ihre 'Barbie' vorzustellen. Das war wenigstens Spielzeug nach ihrem Geschmack.

Ansonsten lagen noch Modellautos, ein Zeichenblock und Stifte herum. In der Ecke stand ein Fernseher samt Konsolen und anderem Technikschnickschnack, denn im Gemeinschaftssaal wurde so etwas nicht geduldet. Anya fragte sich bis heute, wie man einrichtungstechnisch nur so versagen konnte.

Aber auch hier fand sie niemanden. Merkwürdig.

 

Anya Bauer! Ich spüre die Reste eines Zaubers in diesem Raum.

 

„Und ich spüre meinen Magen knurren! Was soll das heißen?“

 

Nicht weit von dir. Auf dem Boden.

 

Anya runzelte die Stirn und suchte. Neben dem Zeichenblock entdeckte sie eine weiße Karte, deren Bildmitte ausgebrannt war. Sie hob das Stück Pappe auf und drehte es zwischen ihren Fingern. Die Rückseite war auch weiß.

„Das kenne ich doch irgendwoher“, brummte sie.

 

Der Dämonenjäger. Das ist ein Teleportationszauber derselben Machart, wie Alastair ihn genutzt hat, um zu entkommen.

 

„Der!?“

Wütend zerknüllte Anya die Karte. Also war er der Einbrecher! Dem würde sie sämtliche Knochen brechen!

„Hast du 'ne Idee, wo der jetzt ist?“, zischte sie.

 

Nein. Aber es sieht so aus, als wäre er für das Verschwinden von deiner Freundin verantwortlich. Den Resten der Magie nach zu schließen, ist er schon gestern hier gewesen.

 

Anya ballte ihre Fäuste und wünschte sich, die narbige Hackfresse dieses Mistkerls damit ordentlich bearbeiten zu können. Aber erst musste sie Abby und Michael finden! Die würden vielleicht wissen, wo Alastair sich aufhielt.

„Okay, wir gehen!“
 

Man könnte sagen, ich bin direkt hinter dir.

 

„Fass mich an und du bist tot!“

 

Ich würde nie auf den Gedanken kommen.

 

~-~-~

 

Anya hätte vor Wut schreien können. Sie hatte jetzt fast die halbe Stadt abgesucht. Ob Kinos, die Gegend um das Campusgelände, die Lagerhäuser am Stadtrand, aber egal wo sie gesucht und dabei gegen mindestens drei Gesetze verstoßen hatte, Abby und das Narbengesicht waren nicht zu finden.

Der Himmel stand schon in warmem Orange, als Anya sich frustriert auf einer Bank inmitten des schönen Parks fallen ließ.

„Ich habe jetzt fast alles abgesucht“, sprach sie schlecht gelaunt und stemmte ihre Faust gegen die Wange. „Wo sind die bloß?“
 

Wenn Alastair deiner Freundin wirklich ein Leid zufügen möchte, glaube ich nicht, dass wir ihn finden werden. Womöglich hat er seine Arbeit längst getan.

 

„Denk nicht mal dran“, donnerte Anya und sprang auf. „Abby geht es gut, verstanden!?“

 

Ich wünschte, ich könnte dir Gewissheit schenken. Aber- Anya Bauer!

 

Die Blondine runzelte die Stirn. „Was ist denn?“
 

Ich spüre etwas, nicht weit von hier. Ein Zauber, welcher dem gleicht, den Alastair genutzt hat, um uns in seinem Bannkreis einzuschließen. Es ist schwach, aber vorhanden, da bin ich mir sicher!

 

„Wo genau!? Dem werd' ich ein Gratisticket in die Hölle schenken!“

 

Der Schrottplatz. Aber ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, um in den Bannkreis einzudringen!

 

Anya erstarrte. Der Schrottplatz … dort hatte sie vor lauter Aufregung nicht nach Abby gesucht! Wie hatte sie den vergessen können!?

„Das werden wir gleich herausfinden!“, meinte sie wütend zu Levrier. „Von hier sind es nur zehn Minuten! Ich schwöre dir, wenn der Abby ein Haar gekrümmt hat, wird er-“
 

Hör auf zu reden und beeile dich lieber!

 

Schnaufend nickte Anya und begann durch den grünen Park zu rennen, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.

Wenn Abby etwas geschah, dann würde sie sich das nie verzeihen können! Seit sie sich kannten, beschützte Anya ihre Freundin und wenn sie jetzt ihr Versprechen von damals brach, wäre sie nicht besser als-

Sie musste sich beeilen!

 

~-~-~

 

Derweil, wenige Minuten zuvor auf dem Schrottplatz, lief Abby aufgeregt zwischen den Bergen aus Müll umher und suchte -ihn-.

 

Wie hatte das nur geschehen können? Und warum ausgerechnet ihre Familie? Warum verlangte der Dämonenjäger etwas so Schreckliches von ihr? Sie konnte das nicht! Auch wenn sie einen Tag Bedenkzeit bekommen hatte, war das etwas, was er unmöglich von ihr erwarten konnte!

 

Obwohl es eben noch gedämmert hatte, war, als sie den Schrottplatz betreten hatte, binnen eines Herzschlags tiefste Nacht über sie herein gebrochen. Abby wusste von Anyas Schilderungen über Alastair, dass sie vermutlich in eine Art abgeschnittene Dimension eingetreten war. So hatte Levrier es Anya erklärt gehabt.

Der Bannkreiserzeuger bestimmte, wie weit das Gebiet der Barriere sich erstreckt und wer es betreten darf. Je größer das Areal, desto mehr Kraft verbrauchte so ein Bannkreis. Wieder verlassen konnte ihn aber nur sein Erzeuger und wenn er dies tat oder ums Leben kam, brach der Zauber in sich zusammen und verschwand. Fremde konnten nur dann einen Ausweg finden, wenn der Erschaffer es ihnen gestattete oder aber der Bannkreis zusammenbrach.

Sie saß also in der Falle! Aber damit hatte sie ohnehin gerechnet gehabt.

 

Abby fühlte sich unwohl zwischen all den Hügeln aus kaputten Elektrogeräten, Metallplatten und anderen weggeworfenen Dingen. Ab und zu kam sie an ein paar Autowracks vorbei, die teilweise von Unfallstellen hierher gebracht worden waren. Abby konnte nicht verstehen, was Anya so toll an diesem Ort fand. Gerade im Dunklen mutete er ziemlich unheimlich an.

 

„Du bist gekommen“, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme und wirbelte um. „Gut!“

Auf einem niedrigen Hügel stand eine hochgewachsene Gestalt, die sich durch das wenige falsche Mondlicht wie ein Schatten abzeichnete. Einen schwarzen Mantel trug sie, welcher nicht recht zu der Maske passen wollte, die der Fremde trug. Sie war aus weißem Porzellan und zeigte eine grinsende Fratze. Aus den Augenhöhlen starrten sie zwei graue Pupillen an, die jedoch nur schwer zu erkennen waren.

 

Abby faltete ängstlich die Hände zusammen und hielt sie vor ihrem Schoß. „Wo ist Michael?“

„Auch hier. Es geht dem Knirps gut, genau wie ich es versprochen hatte. Und? Hast du über mein Angebot nachgedacht?“

Ruckartig sah das Mädchen zur Seite und schnaufte leise.

„Ich weiß, wie schwer das ist, was ich von dir verlange. Aber es muss sein!“

„Ich kann das aber nicht“, begehrte Abby plötzlich verzweifelt auf und trat einen Schritt näher. „Ich kann sie nicht verraten!“

„Obwohl du weißt, was dann geschieht?“

„Geschehen könnte!“, widersprach das Mädchen. „Du hast gesagt, du wüsstest es nicht genau! Was, wenn du dich irrst?“

Der junge, maskierte Mann stöhnte mitfühlend und fasste sich dabei an die Stirn der Maske. „Ich wünschte, ich würde mich irren. Aber wenn auch nur die winzigste Chance besteht, dass das eintreten könnte, was ich dir vor Augen gehalten habe … dann muss es sein!“

„Aber Anya ist meine Freundin!“

„Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich hatte selbst eine Freundin, die ich nie im Stich lassen wollte. Aber es musste sein, andernfalls … vergiss es.“

Abby breitete verzweifelt die Arme aus. „Aber von dir hat bestimmt niemand verlangt, dass du dabei hilfst, sie umzubringen!“

„Verdammt, verstehst du es immer noch nicht!?“, donnerte der Dämonenjäger aufgebracht. „Wenn deine Freundin zu Eden wird, dann- Du weißt was dann ist! Retten kannst du sie so oder so nicht! Und ich werde dich und deinen Bruder erst gehen lassen, wenn du dich uns angeschlossen hast!“

„Aber es gibt keine Gewissheit!“

„Nichts im Leben ist gewiss! Warum sonst ist es so schwer, Entscheidungen zu treffen!?“

 

Abby schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie sich, das war zu viel von ihr verlangt. Sie wollte nicht glauben, dass der einzige Weg, Anya zu retten, der war, sie umzubringen. Es musste eine Möglichkeit geben, sie aus dem Vertrag mit Levrier zu lösen. Denn wenn die Zeit abgelaufen war und sie nicht zu Eden wurden, dann- Abby wollte sich das nicht vorstellen. Es war zu schrecklich.

 

„Wenn du selbst keine Entscheidung treffen kannst“, sagte der Mann plötzlich resignierend. „Lass das Schicksal unsere Zukunft bestimmen. Es bringt nichts, dich zwingen zu wollen, denn wie ich dir schon erklärt habe, wärst du unter Zwang nutzlos. Du musst es wollen.“

Abby schreckte auf. „Was willst du damit sagen?“

„Kämpfe gegen mich! Und kämpfe um deinen Bruder! Solltest du nämlich an mir scheitern, wird er derjenige sein, der darunter leidet! Es liegt in deiner Hand.“

„Was!?“ Abbys Herz trommelte wild in ihrer Brust. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen! Michael war ein kleiner Junge, er konnte doch nicht-

„Gewinnst du aber, lasse ich Michael gehen. Ich verspreche, mein Wort nicht zu brechen.“

Das brünette Mädchen fühlte sich unsagbar hilflos. Wieso ihr kleiner Bruder? Was hatte er überhaupt mit den Plänen der Dämonenjäger zu tun? Das war nicht fair! „Warum tust du das? Was bezweckst du damit?“

„Das wirst du womöglich verstehen, wenn wir uns duellieren. Was es bedeutet, Verantwortung zu tragen.“

„Ich bin fast mein halbes Leben für Michael verantwortlich gewesen!“

„Aber musstest du ihn jemals vor etwas beschützen, was du selbst nicht zu begreifen vermochtest? Musstest du, um ihn zu beschützen, jemals Opfer bringen?“ Der Fremde wurde schlagartig wieder laut. „Wie kannst du glauben, das alles gut wird, wenn du uns und der Welt den Rücken zukehrst!? Könntest du dann nachts noch schlafen!? Ich werde dir beweisen, dass man manchmal nicht die Wahl hat, alle zu beschützen! Und deswegen wird, wenn du gewinnst, dein Freund Nick sterben!“

„Was?“, hauchte Abby. Wie konnte … wie konnte Nick hier sein?
 

Plötzlich schwebten hinter dem Schrotthügel, auf dem der Fremde stand, zwei Lichtkreuze hervor. An einem von ihnen hing ein kleiner, schwarzhaariger Junge in kurzer Hose. Sein Kinn lag auf der Brust, er war bewusstlos. Neben ihm hing der lang gewachsene Nick und schien ebenfalls zu schlafen.

Abby schlug erschrocken die Hände vor den Mund.

 

„Wenn du dich weigerst, dich mit mir zu duellieren, werden beide sterben!“, erklärte der Dämonenjäger eiskalt. „Das wäre genauso, als würdest du uns deine Hilfe verweigern und so unbeschwert weiterleben, wie du es gekannt hast. Kämpfst du aber, wirst du einen von diesen beiden unwiderruflich verlieren müssen. Es liegt an dir zu entscheiden, wer das sein soll. Dein Stiefbruder oder dein bester Freund. Du triffst die Entscheidung!“

„Ich kann das nicht!“, weigerte sich Abby unter Tränen. Das war einfach zu grausam, sie konnte doch nicht zwischen den beiden wählen!

„Du wirst sehen, dass es etwas anderes ist, nicht für das eigene, sondern das Leben anderer zu kämpfen. Es ist schwerer, denn man weiß nie, ob die eigenen Entscheidungen nicht am Ende bewirken, was man ursprünglich verhindern wollte!“

In ihrer Hilflosigkeit fiel Abby auf die Knie. „Aber-!“

„Auch wenn ich dir jetzt grausam erscheine, verdammt, es muss sein! Je früher du mit Verlusten umzugehen lernst, desto leichter wird es dir fallen, wenn du Anya gegenüberstehst und dich entscheiden musst!“
 

Der Dämonenjäger streckte seinen Arm unter seinem Mantel hervor und offenbarte ein flaches, schwarzes D-Pad. Abby betrachtete hin und her gerissen ihre Duel Disk, denn etwas in ihr hatte bereits geahnt, dass ihr ein Duell bevorstehen würde. Doch unter diesen Bedingungen …

Schluchzend wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie musste kämpfen, denn ansonsten würde dieser Mann beide töten! Aber wie nur konnte sie zwischen Nick und Michael wählen!?

„Steh auf und kämpfe, verdammt!“, schrie ihr Gegenüber sie an.

„Gibt es denn keinen Weg für mich, beide zu retten!?“, begehrte Abby auf.

Der Fremde nickte. „Sicherlich. Hilf uns, dann sind beide frei.“

„Aber das hieße, dass Anya-“

„Exakt.“

Es würde im Endeffekt wieder darauf hinauslaufen, dass sie einen ihrer Freunde verlieren würde, erkannte Abby. Und Anya unter Verrat … nein, diese Schuld wäre viel zu groß!
 

Langsam erhob sich das Mädchen schluchzend und aktivierte ihre Duel Disk. Was für eine Wahl hatte sie schon? Sie konnte die beiden Jungs doch nicht im Stich lassen! Wenn sie gar nichts tat, würden beide sterben!

„Glaub mir, ich hasse mich mehr dafür, als du es vermutlich tust“, sagte der Dämonenjäger mit traurigem Unterton. „Aber es muss sein! Duell!“

Abby schwieg dazu nur.

 

[Abby: 4000LP / ????: 4000LP]

 

„Ich beginne!“, entschied der Fremde kurzerhand und starrte von seiner erhöhten Position auf Abby herab. Wenn er doch wenigstens die Maske abnehmen würde, dachte die sich. Sie wollte dem Menschen, der ihr etwas so Schreckliches anzutun gedachte, ins Gesicht sehen können!

Nachdem beide ihr Startblatt gezogen hatten und der Dämonenjäger seine sechste Karte in der Hand hielt, legte er eine Monsterkarte auf sein D-Pad. „Ich setzte dieses hier verdeckt. Zug beendet!“

Vor ihm erschien in horizontaler Lage eine Karte, die mit dem Bild nach unten zeigte.
 

Abby schluckte. Man kämpfte, um zu gewinnen, doch in ihrem Fall … würde sie etwas verlieren, wenn sie ihn besiegen konnte. Das war nicht fair!

„Draw“, murmelte sie gebrochen vor sich hin. Was für einen Sinn ergab ein Kampf, von dem man nicht wusste, ob man ihn gewinnen wollte oder nicht? Aber … sie würde sich entscheiden müssen. Das wusste sie. Und das machte alles so unendlich schwer. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es vor Angst jeden Moment stehen bleiben. War es das, was dieser Kerl bezwecken wollte? Ihr wahre Furcht zu lehren?

„Ich beschwöre [Naturia Cliff]“, sagte sie teilnahmslos und legte ihr Monster auf die Duel Disk.

Vor ihr schoss aus dem Boden eine menschenhohe Felsplatte mit zwei großen Kulleraugen. Das rote Moos auf seinem Haupt wirkte wie Haar und gab ihm so noch menschlichere Züge.

 

Naturia Cliff [ATK/1500 DEF/1000 (4)]

 

„Ich aktiviere danach den Spielfeldzauber [Gaia Power]. Sie schenkt allen Erde-Monstern 500 Angriffspunkte, reduziert aber ihre Verteidigung um 400.“

Ein riesiger Baum wuchs hinter Abby aus dem Boden und überragte sämtliche Schrottberge in seiner majestätischen Größe.

 

Naturia Cliff [ATK/1500 → 2000 DEF/1000 → 600 (4)]

 

„Greif sein verdecktes Monster an“, sagte Abby träge. Es war, als stünde sie neben sich und beobachtete alles aus der Ferne. Und doch wusste sie, dass alles von ihren Entscheidungen abhing. Keine Foltermethode könnte schlimmer sein.

Derweil ließ ihr Monster sich einfach auf die Kreatur ihres Gegners fallen. Ein schriller, kehliger Schrei ertönte.

„Das war's dann wohl mit [Steelswarm Scout]“, meinte ihr Gegenüber.

 

Steelswarm Scout [ATK/200 DEF/0 (1)]

 

„Ich beende meinen Zug“, sprach Abby tonlos.

„Warum kämpfst du nicht mit vollem Einsatz!?“, herrschte der Dämonenjäger sie an. „Es geht um zwei Menschen, die dir sehr wichtig sind und du lässt es dir gefallen!?“

Keine Antwort.

„Wenn du nicht einmal für sie einstehen willst, bist du vielleicht die Falsche für den Job! Du willst dich nicht zwischen den beiden entscheiden? Fein! Dann tu ich es!“

In seiner Wut riss der Maskierte seine Karte förmlich vom Deck. Dann streckte er den Arm aus. „Während meiner Main Phase 1, wenn [Steelswarm Scout] auf meinem Friedhof liegt und ich keine Karten in meiner Zauber- und Fallenkartenzone liegen habe, kann ich ihn von dort beschwören! Kehre zurück!“

Hinter seinem Bein kam eine kleine Gestalt hervor gekrabbelt. Sie sah aus wie ein Insekt im Körper eines Kindes. Dunkel wie sie war, trug sie eine riesige Brille, die seine Insektenaugen überdimensional groß erschienen lassen.

 

Steelswarm Scout [ATK/200 DEF/0 (1)]

 

„Der Preis hierfür ist, dass ich keine Spezialbeschwörung diese Runde mehr durchführen kann. Hey, hörst du mir überhaupt zu!?“

Abby nickte schwach. Sie wollte einfach nicht kämpfen, sie war anders als beispielsweise Anya. Die würde alles tun, um ihrem Gegner das Leben schwer zu machen. Aber wer war sie schon? Die langweilige Streberfreundin! Wo war die Harmonie, die sie so sehr liebte? Die konnte ihr auch nicht helfen!

„Fein, du bist wohl völlig weggetreten. Das wird die Schuldgefühle später aber nur schlimmer machen, glaub mir!“ Der Fremde stöhnte, fasste sich an die Stirn seiner Maske und schüttelte den Kopf. „Aber ganz wie du willst, ich kann dich zu nichts zwingen! Ich biete jetzt meinen Scout als Tribut an und beschwöre [Steelswarm Girastag]! Und obwohl er der Stufe 7 angehört, braucht es nur ein Steelswarm-Monster, um ihn zu beschwören! Erscheine!“

Das kleine Insekt löste sich auf und machte einem viel größeren, eindrucksvolleren Exemplar Platz. Obwohl es einen humanoiden Körperbau besaß, erinnerten gerade die Brust und sein Haupt an einen gehörnten Käfer. Ein wilder Schweif peitschte auf den Boden.

 

Steelswarm Girastag [ATK/2600 DEF/0 (7)]
 

„Wenn Girastag als Tributbeschwörung gerufen wird, kann ich eine beliebige Karte meines Gegners wählen und auf den Friedhof legen! Und damit deine Monster meine nicht an Stärke übertrumpfen, vernichte ich [Gaia Power]!“

Aus der Kanone an seinem Arm schoss der Insektenmann einen Feuerball, der den riesigen Baum hinter Abby in Brand steckte und binnen Sekunden vernichtet hatte.

 

Naturia Cliff [ATK/2000 → 1500 DEF/600 → 1000 (4)]
 

„Außerdem erhalte ich noch 1000 Lebenspunkte dafür!“

 

[Abby: 4000LP / ????: 4000LP → 5000LP]

 

Abby sah weg. Selbst wenn sie sich Mühe geben würde, wäre dieser Kerl vermutlich trotzdem zu stark für sie. Als Duellantin mochte sie Anya oder Nick besiegen können, doch wer war sie schon im Vergleich mit einem Dämonenjäger?

„Bist du immer noch nicht zum Kämpfen aufgelegt?“, herrschte der junge Mann sie an. „Vielleicht rüttelt dich ja das hier wach! Girastag, greife [Naturia Cliff] an!“

Wieder erhob der Käferdämon seinen Kanonenarm und schoss eine Salve Feuerkugeln auf Abbys Felsmonster, welches unter dem Druck einfach auseinander brach.

 

[Abby: 4000LP → 2900LP / ????: 5000LP]

 

„Monstereffekt“, sagte Abby traurig. „Wenn [Naturia Cliff] auf den Friedhof gelegt wird, kann ich ein Naturia-Monster mit maximal 4 Stufensternen beschwören. Also erscheine, [Naturia Rosewhip]!“

Es war das erstbeste Monster, welches sie in ihrem Deck gefunden hatte.

Vor ihren Füßen wuchs eine wunderschöne Rose mit einem grinsenden Gesicht auf den Kelchblättern aus dem Boden. Sie besaß dornige Peitschen, die sie in ihren Blatthänden durch die Gegend schwang.

 

Naturia Rosewhip [ATK/400 DEF/1700 (3)]
 

„Gut! Ich aktiviere jetzt meine Schnellzauberkarte [First Step Towards Infestation]! Damit erhalte ich ein als Tributbeschwörung gerufenes Steelswarm-Monster auf die Hand und darf eine Karte ziehen!“

Er nahm seinen Girastag vom D-Pad ins Blatt zurück, woraufhin das Hologramm des Käfermannes verschwand. Dann rief der Dämonenjäger, nachdem er gezogen hatte: „Um meine Lebenspunkte zu schützen, aktiviere ich [Swords Of Revealing Light]!“

„Solange Rosewhip auf dem Spielfeld liegt, kann mein Gegner pro Zug nur einen Zauber oder eine Falle aktivieren“, erklärte Abby kaum verständlich.

„Was?“ Der Kerl lachte verdutzt über sich. „Verdammt, das habe ich wohl übersehen. Egal! Ich setzte eine Karte verd-“

 

„Hey, Maskenfresse, wenn du nicht augenblicklich aufhörst, meiner Freundin Angst zu machen, wirst du Zeit deines Lebens auf dieses hässliche Ding angewiesen sein, du Nulpe!“

Abby wirbelte erschrocken um. Keine zehn Meter von ihr entfernt stand Anya, stützte sich an ihren Knien ab und keuchte erschöpft.

„Was ist los, Masters? Seit wann lässt du dich von so'nem Schisser herumschubsen!?“

Das Hippiemädchen ballte eine Faust, die sie hinter ihrem Rücken verbarg. „Nein, Anya! Du verstehst das nicht! Er hat Nick und Michael! Bitte … geh!“

Die Blondine richtete sich auf. „Na und!? Dann gewinn' eben und rette die beiden!“

Nun schaltete sich auch der Maskenträger ein. „Wenn du durch meinen Bannkreis gekommen bist, musst du wohl Anya Bauer sein. Ich würde ja sagen, nett dich kennenzulernen, aber das wäre wohl gelogen. Verschwinde von hier, du hast hier nichts verloren!“

„Nen Teufel werd' ich!“

„Anya“, flehte Abby und trat einen Schritt auf sie zu. „Bitte tu, was er sagt. Du kannst hier nicht helfen!“

Die Blondine hob stutzig eine Augenbraue. „Warum nicht?“

„Weil er einen von beiden umbringen wird, je nachdem, ob ich gewinne oder verliere!“

„Dann bringe ich ihn eben zuerst- HEY!“

 

Der Fremde hatte ihr eine weiße Karte vor die Füße geworden, aus der plötzlich leuchtende Stangen erschienen. Anya saß kurz darauf in einem Käfig aus purem Licht gefangen und rüttelte wie eine Wahnsinnige an den Gitterstäben.

„Damit ist die erstmal außer Gefecht gesetzt“, meinte der Dämonenjäger erleichtert. „Wie gut, dass man sie durch die Stäbe nicht hören kann. Alastair hat mir erzählt, dass sie sehr aufbrausend und beleidigend werden kann.“

Verwirrt wirbelte Abby um. „Was!? Du bist nicht Alastair? Aber ich dachte-“

„Nein.“ Er nahm die Maske ab und ließ sie fallen. Das weiße Porzellan zersprang an einer ausrangierten Mikrowelle.

Der junge Mann hatte graue Augen und harte Gesichtszüge, die aber gut zu seinem kantigen Gesicht passten. Seine Lippen waren schmal und das eine Handbreite lange, schwarze Haar nach hinten gekämmt. Leider machte es ein sehr widerspenstigen Eindruck und stand leicht ab. „Mein Name lautet Matt. Matt Summers.“

„Aber ich dachte, du-“

„Ich habe nie behauptet, Alastair zu sein. Aber wir sind befreundet, ja. Ich handle in seinem Sinne, wenn man so will. Aber ich bin mein eigener Herr, bevor du etwas anderes denkst.“ Er grinste verschlagen. „Sorry wegen der Maske, aber ich zeige mein Gesicht nur ungern der Öffentlichkeit, anders als Alastair.“ Seine Züge versteiften sich. „Man könnte sagen, dass einige mich gerne in einer Zelle sitzen sehen würden. Du verstehst?“

Abby presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. „Bei deinen Methoden kein Wunder!“

Er stöhnte und zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht deswegen … aber egal. Ich will dich ja nicht mit meiner tragischen Vergangenheit langweilen. Also, wo war ich? Ach ja, ich war dabei, eine Karte zu setzen. Damit gebe ich ab.“

Vor seinen Füßen erschien die Karte. Er verschränkte die Arme und musterte erst Abby, dann die gefangene Anya. Jene schrie sich fast die Seele aus dem Leib und sah ganz danach aus, als würde sie jeden Moment versuchen, sich einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Wieder grinste er.

„Hoffentlich beschäftigt das den Dämon in ihr wenigstens so lange, bis wir hier fertig sind. Was wohl nicht mehr lange dauern wird, wenn du so weitermachst.“ Er deutete auf den am Kreuz hängenden Nick. „Ich habe ja anfangs auf ihn getippt, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher.“

 

Abby betrachtete ihre Hände, die wie Espenlaub zitterten. Was hatte sie getan, um sich so ein schlechtes Karma aufzubürden? Sie war den Menschen immer freundlich und friedfertig begegnet, selbst in ihren Hochzeiten als Punk. Warum quälte das Schicksal sie jetzt so?

„Ich will nicht kämpfen“, presste sie weinend hervor.

„Du musst aber“, sagte Matt mitfühlend. „Jeder muss kämpfen. So ist unsere Welt und wäre sie anders, nun, dann wäre sie wohl perfekt. Tch! Dass ausgerechnet ich mal so etwas sagen würde …“

Doch das Mädchen sank auf die Knie. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie liebte Michael so sehr, obwohl sie nicht blutsverwandt waren. Aber konnte sie deswegen Nick opfern? Nein! Er war vielleicht nicht der Klügste, doch viel zu gutmütig, um ihn einfach so über die Klinge springen zu lassen!

„Was soll ich nur tun?“, wimmerte sie. Nicht einmal Anya konnte ihr helfen …

 

 

Turn 10 – Hands Off My Prey

Das Duell zwischen Abby und Matt dauert an. Abby, vollkommen verzweifelt, unternimmt nur halbherzige Versuche, ihren Gegner zu bezwingen. Derweil kann Anya nur zusehen, wie Matt Abby zunehmend in eine tiefe Gewissenskrise stürzt. Dieser erzählt aus seinem Leben und wie er zu einem Dämonenjäger geworden ist. Und plötzlich ist Abbys Kampfbereitschaft geweckt – und ein Sturm ungeahnten Ausmaßes entfacht …

Turn 10 - Hands Off My Prey

Turn 10 – Hands Off My Prey

 

 

Abby war auf die Knie gefallen und wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Wie lange willst du noch heulen?“, fragte der Dämonenjäger Matt harsch und starrte verächtlich von dem Schrotthügel, auf dem er stand, auf seine Gegnerin herab.

Die erhob sich und blickte zu Anya, die in ihren Käfig aus purem Licht im Schneidersitz saß und dabei etwas murmelte. Da jedoch kein Laut aus ihrem Gefängnis hervor drang, blieben den beiden Duellanten ihre unschönen Flüche erspart – auch wenn Abby sie, zum ersten Mal seit sie denken konnte, vermisste. Dann hätte sie wenigstens das Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein.

Neben Matt schwebten an großen Lichtkreuzen genagelt, ein kleiner Junge – Abbys Stiefbruder Michael – und Nick. Und sie musste sich zwischen ihnen entscheiden. Verlor sie, würde Michael sterben, gewann sie, traf es Nick. Eine Wahl, die sie einfach nicht treffen konnte. Und erst recht nicht wollte.

 

[Abby: 2900LP / Matt: 5000LP]

 

Abby kontrollierte nur [Naturia Rosewhip], die kleine Rose vor ihren Füßen.

 

Naturia Rosewhip [ATK/400 DEF/1700 (3)]

 

Matts Feld hingegen war, abgesehen von einer verdeckten Karte, sogar komplett leer. Und es war Abbys Zug. Zögerlich fügte sie ihrer Hand eine neue Karte hinzu und schluckte, während sie auf zittrigen Beinen aufstand.

„Was ist? Wie lange willst du noch Maulaffen feil halten? In einem richtigen Kampf wirst du keine Zeit haben, um dich selbst zu bemitleiden!“

Abby zuckte zusammen. „J-ja … ich beschwöre … [Naturia White Oak].“

Neben ihrer Rose wuchs ein großer Baum mit einem lächelnden Gesicht aus dem Boden.
 

Naturia White Oak [ATK/1800 DEF/1400 (4)]

 

Ängstlich kaute Abby an ihren Fingernägeln. Sollte sie -es- tun?

„Worauf wartest du!?“, brüllte Matt sie herzlos an.

Das Mädchen schloss die Augen. „O-okay! I-Ich … ich … ich stimme meine Stufe 3 [Naturia Rosewhip] auf meine Stufe 4 [Naturia White Oak] ein.“ Sie stockte. „Oh great god of the north … Give us shelter within your soul … Synchro Summon … Be born … [Naturia Landoise] …“

Ihre beiden Monster flogen in die Luft, wo Abbys Rose in drei grüne Ringe zersprang, in die ihre Eiche eintauchte. Dann gab es einen Lichtblitz.

Gestein brach aus dem Boden vor Abby hervor. Es formte eine riesige Schildkröte mit moosüberzogenem Panzer, auf welchem sogar ein Baum thronte.

 

Naturia Landoise [ATK/2350 DEF/1600 (7)]

 

Abby streckte den Arm aus. „Und nun greife-“

Aber sie zog ihn wieder zurück. Nein, denn wenn sie jetzt angriff, würde sie Michaels Leben über dem von Nick stellen. Sie war nicht Gott, sie durfte nicht entscheiden, wer leben und sterben durfte! Schon gar nicht, wenn es dabei um die Menschen ging, die ihr wichtig waren.

„Ich beende meine Battle Phase“, murmelte sie kaum verständlich, „und aktiviere [Naturia Forest], einen Spielfeldzauber. Dazu setze ich noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“

Überall um sie herum wuchsen Sträucher, Bäume und Gras. Die Müllhalde verwandelte sich in einen grünen Ort voller Leben, überall versteckten sich Naturia-Monster und sahen dem tragischen Schauspiel zu. Abby, die noch zwei weitere Handkarten besaß, fühlte sich anders als sonst nicht geborgen im Refugium ihrer Lieblingsmonster.

Matt, der jetzt auf einem Erdhügel stand, donnerte: „Was soll das!? Du besitzt ein starkes Monster, während meine Lebenspunkte völlig ungeschützt sind, und greifst nicht an!?“

Abby schwieg.

„Wie selbstsüchtig bist du eigentlich!? Du willst wirklich, dass ich entscheide, welcher deiner geliebten Menschen stirbt? Du willst nichts tun, um wenigstens einen zu retten!?“

„Nein!“, begehrte Abby auf. „Hör auf! Lass sie doch bitte gehen! Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann!“

„Vergiss es! Das sind die Regeln dieses Spiels! Du kannst doch nicht ernsthaft einen anderen darüber entscheiden lassen, wer es wert ist, gerettet zu werden!“
 

Abby zuckte zusammen. Sie wusste, dass ihr Gegner recht hatte. Und doch! Sie konnte nicht wählen. … oder? Blieb ihr denn überhaupt eine andere Wahl? Was würde geschehen, wenn Matt sich entschied, dass das alles zu nichts führte? Er würde … beide töten! Und das wäre noch hundertmal schlimmer.

Hilflos sah sie die beiden Gefangenen an, die an den Kreuzen hingen. Welcher von ihnen hatte es verdient, weiterzuleben? Beide! Aber … das stand nicht zur Debatte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Michael … war ein kleiner Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Nick hatte zumindest das erste Viertel seines Lebens glücklich verbracht. Aber Michael? Er hatte eine Zukunft verdient.

Das war nicht fair! Sie … musste ihren Bruder wählen. Eine emotionale Wahl konnte sie nicht treffen, also musste es eine rationale sein. Und ihr Verstand sagte ihr, dass die Argumente für ihren Stiefbruder besser waren.
 

„Verzeih mir … Nick …“, murmelte sie, als sie sich entschieden hatte. „Bitte … verzeih … mir.“

„Sieht so aus, als hättest du dich endlich mit dir geeinigt. Gut! Dann können wir ja jetzt weitermachen!“, sprach Matt, als würde ihn das alles gar nicht berühren. Er zog auf sechs Handkarten auf und rief: „Mein Zug! Ich beschwöre [Steelswarm Cell] von meiner Hand als Spezialbeschwörung, da ich keine Monster kontrolliere!“

Vor ihm und seiner gesetzten Karte tauchte ein dicker, schwarzer Käfer auf. Aus seinem kreisrunden, von spitzen Zähnen besetzten Maul kamen unheimliche, schrille Laute hervor.

 

Steelswarm Cell [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Abby versuchte mit aller Macht, die Tränen zurückzuhalten. Sie musste sich jetzt konzentrieren und gewinnen, damit wenigstens Michael nichts geschah. Das schlechte Gewissen gegenüber Nick war jedoch so erdrückend, dass sie kaum atmen konnte.

„Wie du weißt, habe ich letzte Runde meinen [Steelswarm Girastag] auf die Hand zurück gerufen! Nun biete ich Cell als Tribut an, wobei Girastag, wie du ebenfalls weißt, trotz seiner hohen Stufe nur ein Tribut erfordert, solange dieses eines seiner Artgenossen ist. Erscheine!“

Der kleine, kugelrunde Käfer verschwand. Dann war es plötzlich wieder da. Dieser humanoide, schwarze Käferdämon mit dem Kanonenarm. Wütend peitschte sein bestialischer Schweif über das Gras.
 

Steelswarm Girastag [ATK/2600 DEF/0 (7)]

 

„Effekt aktivieren! Wenn Girastag beschworen wird und sein Opfer ein Steelswamer war, lege ich eine deiner Karten auf-“

„Nein“, erwiderte Abby leise, aber bestimmend. „Ich kontere mit Landoises Fähigkeit! Indem ich eine Zauberkarte“, sie zeigte [Landoise's Luminous Moss] vor, „abwerfe, kann ich die Aktivierung eines Monstereffekts verhindern und besagtes Monster zerstören!“

Matt schreckte zurück, als Landoise ein ohrenbetäubendes, tiefes Gebrüll von sich gab und sein Monster damit zum Explodieren brachte. Gleichzeitig stiegen hunderte kleiner Lichtfunken rund um den Wald auf.

„Wenn ein Karteneffekt annulliert wird, kann ich dank [Naturia Forest] ein Naturia-Monster mit einer Höchststufe von 3 von meinem Deck meiner Hand hinzufügen“, erklärte Abby und zeigte die Stufe 3 [Naturia Marron] vor.

Ihr Gegner lachte. „Verdammt, da habe ich mich wohl verschätzt! Aber hey, wenn du dir Mühe gibst, bist du gar nicht so übel!“

„Das ist alles deine Schuld!“, klagte Abby ihn bitter an. „Wenn du nicht wärst-“

„Ich bin aber! Und ich werde auch nicht so schnell wieder verschwinden! Und um dir das zu beweisen, aktiviere ich jetzt meine [Swords Of Revealing Light]! Mit ihnen-!“

„Konterfalle, [Exterio's Fang]!“, donnerte Abby aufgewühlt. „Mit ihnen annulliert eines meiner Naturia-Monster jede beliebige Zauber- oder Fallenkarte! Nur muss ich dafür eine Karte abwerfen!“

Sie nahm [Glow-Up Bulb], ein Monster, und legte es auf den Friedhof. Das Abbild der Zauberkarte vor Matt zersprang, bevor Abby von den Lichtschwertern eingekreist werden konnte.

„Dazu erhalte ich aufgrund des Effekts von [Naturia Forest] wieder ein Naturia-Monster von meinem Deck! [Naturia Fruitfly], Stufe 3!“

Matt zog die Stirn kraus und starrte aus funkelnden Augen auf seine Gegnerin herab. „Junge, du kannst ja richtig garstig werden! Aber wie heißt es so schön? Beurteile niemanden allein nach dem Aussehen. Nun denn, ich setze eine Karte verdeckt und beende den Zug.“

Neben seiner ersten, verdeckten Zauber- oder Fallenkarte erschien nun noch eine zweite.

 

„Macht dir das Spaß?“, klagte Abby bitter und sah ihm fassungslos in die Augen. „Macht es dir Spaß, mich so zu quälen? Nur weil du willst, dass ich-“

Sie sah zu Anya herüber. Ihre Freundin war so ahnungslos und hockte frustriert in ihrem Lichtkäfig. Die Blondine bemerkte ihren Blick, fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und deutete auf Matt.

Dieser antwortete auf die Frage hin: „Nein, bestimmt nicht. Aber ich habe lernen müssen, dass man manchmal zum Mörder werden muss, um andere zu beschützen.“

„Was soll das heißen!?“, fragte seine Gegnerin aufgebracht. „Dass es okay ist, über Leben und Tod zu entscheiden, nur weil es einem gerade so in den Kram passt!?“

Das war nicht die Welt, in der Abby leben wollte. Jedes Lebewesen war ihrer Ansicht nach gleichberechtigt und jemand wie Matt, der ganz offenherzig über andere richten wollte, war für sie die Verkörperung eines wahren Dämons. Obwohl er von sich behauptete, jene zu jagen. Er war viel schlimmer …

„In den Kram passt!?“, donnerte der Schwarzhaarige ungläubig. „Denkst du, ich habe meinen Vater ermordet, weil mir gerade danach war!?“

Abby erstarrte. „W-was … ?“

„Du hörst schon richtig“, erwiderte Matt bitter und ließ den Kopf hängen. „Vor sechs Jahren. Er war … ein mieser Scheißkerl. Hat meine Schwester geschlagen. Jahrelang. Niemand hat davon gewusst, nicht mal unsere Mutter. Als sie es herausfand, hat er auch bei ihr angefangen und sie … hat sich kurz darauf umgebracht. Von da an waren Sophie und ich diesem Etwas ausgeliefert.“

 

Dem Mädchen stockte der Atem. Dieser Mensch vor ihr, er hatte sein eigen Fleisch und Blut auf dem Gewissen. Egal, was die Hintergründe waren, er hatte einfach Selbstjustiz ausgeübt und seinen Vater ermordet.

Wo sie doch alles dafür geben würde, um ihre leiblichen Eltern noch einmal sehen zu können …

 

Matt starrte Abby hasserfüllt an, doch das Funkeln in seinen grauen Augen galt nicht ihr, sondern seinen Erinnerungen. „Du kannst dir sicherlich denken, was dann passiert ist? Manche Dinge sind unvermeidlich, das habe ich dir schon neulich erklärt. Ich musste ihn umbringen, sonst hätte neben dem Grab unserer Mutter irgendwann noch Sophies Grab gestanden.“

„Aber das gibt dir doch kein Recht-!“

„Das Recht ist nicht immer auf der Seite der Schwachen!“, polterte er aufgewühlt und streckte weit die Arme aus. „Denkst du denn, die Polizei hätte irgendetwas unternommen? Wenn mein Vater doch alle Fäden in der Hand hatte!? Ja, ich habe ihn umgebracht! Aber ich hatte keine Wahl! Meiner Schwester geht es jetzt gut, weil ich mich für sie geopfert habe! Dafür musste ich meine Freundin Tara zurücklassen, bin jahrelang untergetaucht und jedes Mal erstarrt vor Angst, wenn ich Polizisten gesehen habe!“

„Und jetzt willst du mich dazu zwingen, dasselbe durchzumachen!?“, fragte Abby atemlos.

„Ich habe dir schon gesagt, was ich dir verständlich machen möchte! Dass man manchmal keine andere Wahl hat!“

„Man hat immer die Wahl!“

Matt lachte höhnisch auf. „Das ist doch naiv …“

 

Abby spürte, wie ihr Herz wild in ihrer Brust trommelte. Dieser Dämonenjäger, er war völlig durchgedreht! So selbstgerecht über sein Verbrechen zu reden, zu glauben, dass das der einzige Weg gewesen sei, seine Schwester zu beschützen. Natürlich musste man die Familie beschützen, doch nicht, indem man seinen Vater umbringt!

Dem Mädchen standen die Tränen in den Augen. Dieser Dummkopf wusste gar nicht, wie kostbar die eigene Familie war. Warum hatte er nicht versucht, mit seinem Vater zu reden? Für dessen Verhalten musste es doch schließlich einen Grund gegeben haben!

Sie wäre überglücklich, wenn ihre leiblichen Eltern noch leben würden. Aber die waren gestorben, als Abby noch ein kleines Kind gewesen war. Bei einem Autounfall, den sie als Einzige überlebt hatte. Ihr Bruder, ihre Mutter, ihr Vater … sie konnte sich kaum an sie erinnern. Nur Bilder waren ihr geblieben, als die befreundete Familie Masters sie bei sich aufgenommen hatte. Sie behandelten sie wie ihre eigene Tochter und doch war sie immer ein Außenseiter gewesen. Das adoptierte Kind, die durchgeknallte Abby, die dauernd ihren Lebensstil änderte, weil sie nicht wusste, wo sie hingehörte.

Sie ballte eine Faust. Was wusste dieser Kerl vom Wert eines Leben!? Wie selbstgerecht konnte man sein, um nicht nur die eigene, sondern auch andere Familien ins Chaos zu stürzen!? Dachte er denn nicht an Nicks Eltern, wenn sie erfuhren, dass ihr Sohn ums Leben gekommen war? Nur wegen einer sinnlosen Lektion, die dieser Abschaum ihr erteilen wollte? Sie hasste ihn! Nie hatte sie gegenüber einem Menschen derart viel Abscheu empfunden, wie es bei Matt der Fall war.

Sie wünschte sich, dass er … dass dieser … einfach … !

 

Ohne Vorwarnung stieß sie einen schrillen Schrei aus. Es brannte, ihr ganzer Körper brannte wie Feuer. Sie bekam keine Luft mehr, hielt sich den Hals und röchelte. Ihr wurde schwarz vor Augen, doch Abby bemühte sich um Halt, torkelte einen Schritt zurück.
 

Derweil konnte Anya nicht glauben, was sie gerade mitansah. Man konnte sie selbst durch den Käfig aus Licht zwar nicht hören, aber sie hingegen verstand jedes Wort von außen. Und der Schrei ihrer Freundin bereitete selbst der Blondine eine Gänsehaut.

Viel mehr aber noch, was mit ihr geschah. Eine leuchtend blassgelbe Aura breitete sich um Abby aus, ihr Haar begann zu wachsen. Wie Schlangen bewegten sich die einzelnen Strähnen in der Luft, peitschten und verloren immer mehr an Farbe.

Dann kam die Druckwelle. Anya wurde aus ihrem Schneidersitz gerissen und hart gegen die Stäbe ihres Gefängnisses gepresst.

„Alter, was geht'n hier ab“, ächzte sie unter dem starken Sturmwind.
 

Deine Freundin! Sie ist eine Sirene!

 

„Eine was!?“

 

In ihren Adern fließt das Blut der Sirenen. Ich habe es nicht bemerkt, weil es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht aktiv war, aber Abby ist zur Hälfte eine Sirene. Ihre Mutter muss ein Reinblut gewesen sein, sonst könnte das Kind seine Kräfte nicht erwecken.

 

„Und was ist 'ne Sirene? Ist das was Gutes?“ Anya spürte dabei unter Schmerzen, wie sie mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe gepresst wurde.

Auch Matt musste mit dem Sturm kämpfen. Er hielt sich mit wehendem Mantel die Arme vor das Gesicht, sein schwarzes Haar war nicht zu bändigen.

 

Sirenen sind unglaublich mächtige, gleichwohl aber seltene Geschöpfe. Schon seit Jahrhunderten hört man nichts mehr von ihnen, da sie von Dämonenjägern gejagt wurden und infolgedessen untertauchen mussten. Es dürfte heute nicht mehr als eine Handvoll von reinblütigen Sirenen existieren.

 

„Warum hat Abby nie ein Wort gesagt!?“

 

Weil sie selbst nicht um ihr Geheimnis gewusst zu haben schien. Hüte dich, Anya Bauer, denn Sirenen sind sehr gefährlich. Sie kennen in der Regel weder Freund, noch Feind und ziehen die Unachtsamen in ihren Bann. Meide direkten Blickkontakt, wenn du ihr nicht verfallen willst, denn es ist zu bezweifeln, dass dieses Mädchen ihre Kräfte zu beherrschen weiß!
 

„Ich bin doch nicht lesbisch!“

 

Eine Sirene macht keinen Unterschied zwischen Mann und Weib. Hüte dich vor ihr, denn ich kann dich nicht vor ihr schützen! Selbst als Halbblut ist sie unglaublich gefährlich!

 

Der Sturm verebbte langsam. Doch noch immer tanzte ein Teil Abbys neuer, weißer Haarpracht durch die Luft. Einige Strähnen hatten sich um ihr hellbraunes Kleid gewickelt, andere um ihre Arme.

Sie drehte sich zu Anya um, wobei ihre getönte Brille auf den Boden fiel. Ihrer Freundin hingegen fiel beim Anblick Abbys die Kinnlade herab. Deren runde Gesichtszüge waren noch immer dieselben, doch auf gewisse Weise viel feiner und schärfer als zuvor. Die Lippen hingegen hatten einen hauchzarten, blauen Teint bekommen, was aber nichts gegen die Augen war. Rosa waren sie, Schlitzaugen und voller Stolz. Anya spürte instinktiv, dass Levriers Warnung ernstzunehmen war und folgte ihr, indem sie sofort wegsah.

Die Sirene schnippte mit den Fingern, deren Nägel um Einiges gewachsen waren. Neben Matt verschwanden die beiden Kreuze samt der Geiseln und tauchten je links und rechts neben Anyas Käfig wieder auf.

„Alter Falter“, staunte die. „Das ist ja mal fett!“

 

Derweil schreckte Matt zurück. „Auch das noch! Du bist eine Sirene!?“

Süffisant grinste die neue Abby. „Die Spielregeln haben sich geändert“, hauchte sie mit widerhallender, verführerisch tiefer Stimme. „Jetzt werde ich -dir- eine Lektion erteilen.“

Ihrem Gegner lief der Schweiß von der Stirn. Er wusste, dass er sie nicht zulange anstarren durfte, wenn er nicht ihrem Zauber erliegen wollte.

„Warum machen wir nicht weiter?“, fragte die Sirene und deutete auf das Spielfeld mit ihren abnormalen, langen Fingern. „Nur bist du jetzt meine Beute.“

„Dir ist klar, dass ich dich jetzt töten muss, oder?“, presste Matt in seiner Aufregung hervor.

 

Er hatte ja mit vielem gerechnet, aber dass hier? Das war selbst für ihn eine Nummer zu groß! Selbst Alastair hatte noch nie gegen eine Sirene gekämpft! Aber an Flucht war gar nicht zu denken, denn wenn Anya sich mit ihr verbündete, würde das sein und Alastairs Vorhaben, Anya Bauer zu vernichten, um Einiges erschweren. Er hatte praktisch keine andere Wahl als sich ihr zu stellen.

 

„Warum musst du mich denn töten? Weil ich kein Mensch bin? Ist alles Unnormale, Unbegreifliche schlecht? Verdient es den Tod, nur weil du es fürchtest?“

„Du bist ein Monster! Solche wie du töten völlig grundlos Unschuldige!“

„Und das weißt du mit solcher Sicherheit?“ Sie lächelte kalt. „Aber wenn du so sehr daran glauben möchtest, werde ich dich nicht enttäuschen.“

„Wenn du meinst …“ Er musste sich ihren Worten verschließen, oder er wäre verloren! „Spiel weiter!“

 

Die Sirene nickte. „Ganz wie du wünscht. Mein Zug beginnt.“

Allein mit ihren Fingernägeln zog sie die nächste Karte und lächelte finster. Dann aktivierte sie sie. „Ich benutze [Monster Reborn], oh, welch ein ironischer Zufall, und belebe [Naturia Rosewhip] von meinem Friedhof wieder. Genau, wie ich wiedergeboren wurde.“

Vor ihren Füßen wuchs die kleine Rose aus dem Boden und grinste fröhlich. Abby bückte sich zu ihr und streichelte mit verträumter Mimik über die roten Blätter.

 

Naturia Rosewhip [ATK/400 DEF/1700 (3)]

 

Matt stöhnte leise. „Verdammt, sie benutzt ihre Kräfte, um aus Illusionen Realität zu machen. Und sie kann meine Zauber neutralisieren … das ist schlecht.“

„Exakt“, antwortete seine Gegnerin mit ihrer widerhallenden, rauchigen Stimme. „Damit du den Schmerz spürst, den du mir zufügen wolltest.“

„Du machst mir keine Angst!“, entgegnete er mutig.

„Wart es nur ab“, hauchte sie ihm jedoch zwinkernd entgegen und nahm eines ihrer beiden Monster aus ihrer Hand hervor. „Erscheine, [Naturia Fruitfly]!“

Eine kleine Fliege summte um Abby herum. Ganz ihrem Namen nach bestand ihr Körper aus Trauben und einer Erdbeere – eine wahre Fruchtfliege.

 

Naturia Fruitfly [ATK/800 DEF/1500 (3)]

 

„Dann lass uns sehen, was du hiervon hältst“, murmelte die Weißhaarige geheimnisvoll und streckte den Arm in die Höhe. „Ich stimme meine Stufe 3 [Naturia Rosewhip] auf meine Stufe 3 [Naturia Fruitfly] ab! Oh great god of the east! Scare my enemies with your mighty presence! Synchro Summon! Descent down, [Naturia Barkion]!“

Ihre Rose zersprang in drei grüne Lichtringe, die die Fliege durchquerte. Ein Lichtstrahl ließ jene anwachsen und machte aus ihr einen eindrucksvollen, schlangenhaften Drachen. Dieser brüllte majestätisch, während sich der Kamm aus Holzrinde auf seiner grauen Haut bewegte.

 

Naturia Barkion [ATK/2500 DEF/1800 (6)]

 

Er gesellte sich zu [Naturia Landoise].

Matt wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Na toll! Noch so eins …“

Indes zeigte Abby ausdruckslos in ihrer neuen Schönheit auf ihren Gegner. „Los meine Monster, direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! Lehrt ihn, Respekt vor Mutter Natur und all ihren Geschöpfen zu haben, ob Dämonen oder Menschen!“

Doch der Schwarzhaarige grinste nur selbstsicher. Er schwang seinen Arm aus. „Dazu wird es nicht kommen! Ich aktiviere [Call Of The Haunted]! Damit kann ich ein x-beliebiges Monster von meinem Friedhof reanimieren, solange meine Falle wirkt! Und dieses Monster wird [Steelswarm Girastag] sein!“

Die Sirene aber schüttelte den Kopf. „Ich habe andere Pläne. [Naturia Barkion], annulliere seine Falle! Ich verbanne zwei Karten von meinem Friedhof, um deinen Effekt zu aktivieren!“

Sie hielt die Zauber [Landoise's Luminous Moss] und [Gaia Power] zwischen ihren langen Fingernägeln und schob sie in einen Extraschlitz unter dem Friedhof ihrer schwarzen Duel Disk. Matts Falle zersprang nach einem eindrucksvollen Gebrüll des grauen Drachen.

„Verdammt!“, schrie der und sah sich plötzlich zwei riesigen Monstern gegenüber.

Die Schildkröte stampfte nur einmal mit dem Fuß auf, um die Erde erbeben zu lassen. Zeitgleich verpasste Abbys Drache Matt einen schmerzhaften Hieb mit dem Schweif, der ihn mehrere Meter weit über den Hügel schleuderte.

Hart schlug er auf das Gras auf, welches nur ein Hologramm war und tatsächlich Schrott überdeckte und rollte den ganzen Hang hinab. Einen Schmerzensschrei von sich gebend, blieb er hinter dem getarnten Schrottberg liegen.

 

[Abby: 2900LP / Matt: 5000LP → 150LP]

 

Fassungslos zog er sich eine große Scherbe aus dem linken Oberschenkel. Blut sickerte unter seiner schwarzen Hose hervor. Er stöhnte vor Schmerz, denn der Fall hatte ihm gewiss einige Rippen gebrochen und schlimme Prellungen zugefügt. Seine rechte Wange war blutverschmiert.

Trotzdem stand er auf und schleppte sich den Hügel hinauf, bis er wieder an der Spitze stand, vor seiner verdeckten Karte.

„Netter Treffer“, lobte er die Sirene kühl. „Aber so leicht kippe ich nicht aus den Latschen.“

Abby lächelte nur wissend. „Das will ich auch gar nicht.“ Sie zeigte zwischen ihren Fingern eine Monsterkarte hervor. „Da ich abermals die Aktivierung einer deiner Karten annulliert habe, schenkt mir [Naturia Forest] ein Monster. [Naturia Cosmobeet] wird es genannt. Damit beende ich meinen Zug, indem ich eine Karte setze.“

„Auch besser so … für mich“, lachte Matt selbstironisch, als sich die Karte vor Abby materialisierte.

 

Anya indes staunte wahre Bauklötze, während sie mitansah, wie Abby mit diesem Dreckskerl umging. Gut, sie sah jetzt zwar aus, als wäre sie der „Rocky Horror Picture Show“ entsprungen, aber solange sie diese fiese Kröte zu Gulasch verarbeitete, war Anya das nur recht.

 

Die Kraft des Käfigs wird schwächer. Vermutlich, weil dieser Matt schwere Verletzungen erlitten hat. Gib mir noch ein wenig Zeit, dann befreie ich dich.

 

„Beeil' dich 'n bisschen!“, schnauzte Anya Levrier an. „Ich will auch noch was von dem abhaben, 'kay?“
 

Ich tue schon mein Bestes. Etwas mehr Dankbarkeit wäre angebracht.

 

„Klappe!“ Das Mädchen verschränkte im Schneidersitz die Arme. „Wenn das so weitergeht, dreht Abby noch völlig durch …“

 

Höre ich da Besorgnis in deiner Stimme?
 

„Keine Ahnung, was du meinst! Und jetzt mach hinne, mir jucken schon die Finger!“

Anya war sich nicht sicher, ob sie Abby überhaupt noch beruhigen konnte. Was, wenn sie jetzt für immer in dieser Form bleiben würde? Wäre sie dann überhaupt noch ihre Freundin? Sie war so verdammt anders als Sirene …

 

Während die Blondine sich den Kopf über Abbys Situation zerbrach, hatte Matt ganz andere Sorgen. Er zog von seinem Deck und musterte nervös sein Blatt. Er musste diesen Albtraum beenden, schnell! Und er musste Abby töten, egal wie schwer es ihm fallen würde. Sie war nicht mehr die, die er gestern kennengelernt hatte. Alles hatte sich mit einem Schlag verändert! Das Mädchen war jetzt eine Kreatur der Finsternis, wie Alastair sagen würde. Und es war ihr Job als Dämonenjäger, die Menschen vor solchen wie diesen zu beschützen!

„Okay“, murmelte er leise. „Ich aktiviere den Zauber [Recurring Nightmare]! Damit erhalte ich zwei Finsternis-Monster von meinem Friedhof. Die einzige Bedingung dabei ist, dass sie 0 Verteidigungspunkte haben dürfen. So wie [Steelswarm Cell] und [Steelswarm Girastag]!“

Tief durchatmend fügte er sie seinem Blatt hinzu. „Du solltest wissen, dass Girastag nur eine meiner besseren Karten ist. Jetzt wirst du eine weitere kennenlernen! Doch zunächst beschwöre ich Cell, da ich keine Monster kontrolliere, von meiner Hand als Spezialbeschwörung! Danach reanimiere ich [Steelswarm Scout] durch den Zauber von [Monster Reborn], da ich noch eine Karte in meiner Backrow kontrolliere und ihn daher nicht durch seinen eigenen Effekt reanimieren kann!“

Vor ihm tauchten der dicke, schwarze Käfer und das kleine Insektenkind mit den riesigen Facettenaugen wieder auf.

 

Steelswarm Cell [ATK/0 DEF/0 (1)]

Steelswarm Scout [ATK/200 DEF/0 (1)]

 

„Nimm dich in Acht!“, rief Matt stolz und nahm die Monster von seiner Duel Disk, um für sie ein neues hinzulegen. „Ich biete diese Monster als Tribut an und beschwöre [Steelswarm Caucastag]! Reiß unsere Feinde mit deiner Macht entzwei!“

Matts Kreaturen lösten sich auf. Um ihn herum begann das Gras welk zu werden, zerfiel zu Staub.

Aus dem Nichts erhob sich eine gewaltige, humanoide Gestalt. Wie alle Steelswarm-Monster war sie pechschwarz und ein Insektoid, ähnelte in diesem Fall einem Hirschkäfer. Auch er besaß einen langen Schweif, der hinter seinen Flügeln hervorlugte. An seiner Spitze ruhte der Lauf einer Laserkanone.

 

Steelswarm Caucastag [ATK/2800 DEF/0 (8)]

 

Abby hingegen zuckte nicht einmal mit den Wimpern. „Du hast eine Normalbeschwörung durchgeführt. Deswegen werde ich [Naturia Cosmobeet] von meiner Hand als Spezialbeschwörung rufen.“

Zwischen ihrer Schildkröte und dem Drachen zeigte eine vergleichsweise winzige Gestalt plötzlich ihr Antlitz. Auf dem Haupt des kugelrunden, schwebenden Erdklumpens mit Knopfaugen wuchsen drei Blumen.

 

Naturia Cosmobeet [ATK/1000 DEF/700 (2)]

 

Matt aber lachte nur bissig. „Pah! Das war ein Fehler, denn Caucastag wird es und all deine anderen Monster sowieso gleich vernichten! Denn wenn er beschworen wird, und dabei zwei Steelswarmer als Tribut angeboten worden sind, kann er entweder alle anderen Monster oder alle Zauber- und Fallenkarten auf dem Feld vernichten!“

Und der Schwarzhaarige wusste genau, dass [Naturia Landoise] ihm dabei nicht in die Quere kommen konnte, denn die einzige Karte auf der Hand seiner Gegnerin war ein Monster namens [Naturia Marron]!

Sein Hirschkäferdämon hob seinen Schweif an und schoss einen roten Laserstrahl ab. Dieser brachte bei Kontakt nach und nach alle von Abbys Monstern zum Explodieren.

„Sieh, wie du dich an den Lebewesen vergehst!“, beklagte die sich. „Ich werde dem ein Ende setzen!“

„Komisch, so etwas Ähnliches wollte ich auch gerade sagen“, gab Matt sich trotz seiner Schmerzen selbstbewusst. „Caucastag, direkter Angriff!“

Wieder hob sein Monster seinen Schweif und bombardierte sie mit einer Salve leuchtend roter Kugeln, die überall um sie herum einschlugen. Die verdammte Sirene wich flink zurück und konnte tänzelnd jedem Angriff entkommen. Trotzdem hatte er ihren Lebenspunkten großen Schaden zugefügt!

 

[Abby: 2900LP → 100LP / Matt: 150LP]

 

Matt betrachtete seine letzte Handkarte, [Steelswarm Girastag], dann seine verdeckte Falle. Egal was sie ihm entgegenbringen würde, er hatte die Oberhand! Er würde sie vernichten, damit es eine niederträchtige Kreatur weniger auf dem Planeten gab!

„Ich beende meinen Zug!“

 

Ganz langsam zog Abby die nächste Karte und betrachtete sie aus ihren rosafarbenen Katzenaugen. Dann schmunzelte sie. „So ist das also. Gut.“

„Was ist?“, fragte Matt.

„Mein Karma ist stark wie nie zuvor“, hauchte sie verführerisch. „Deines hingegen … nicht so sehr. Ich beschwöre [Naturia Marron]. Durch ihren Effekt lege ich eine Naturia-Monsterkarte vom Deck auf den Friedhof. Das wäre [Naturia Guardian]!“

Während Abby tat, was sie angekündigt hatte, tauchte vor ihr eine stachelige Kastanie auf.
 

Naturia Maron [ATK/1200 DEF/700 (3)]

 

„Nun mische ich [Naturia Barkion] und [Naturia Landoise] in mein Deck, in diesem Fall das Extradeck, zurück und ziehe eine Karte“, erklärte die Weißhaarige weiterhin seelenruhig. Mit ihren langen Fingernägeln zog sie eine Zauberkarte und lächelte böswillig.

Matt indes hielt sich seine Wunde am Bein, die immer noch blutete.

„Ich aktiviere [Barkion's Bark]“, erklärte Abby weiter und zeigte die gezogene Zauberkarte vor. „Mithilfe eines Naturia-Monsters auf meinem Spielfeld sind jetzt alle Fallenkarten nutzlos für diese Runde!“

„Verdammt!“ Matt schreckte zurück. Jetzt konnte er [Infestation Wave] nicht mehr dazu benutzen, um einer drohenden Gefahr aus dem Weg zu gehen! Aber er hatte immer noch seinen Caucastag!

„Nun, da ich den Effekt eines Naturia-Monsters aktiviert habe, kann ich [Naturia Hydrangea] von meiner Hand als Spezialbeschwörung beschwören.“

Um Abby herum wuchs ein Beet aus wunderschönen Hortensien. Eine der Blumen besaß Augen und blinzelte neugierig.

 

Naturia Hydrangea [ATK/1900 DEF/2000 (5)]

 

Matt wusste nicht, was seine Gegnerin damit bezwecken wollte. Sie hatte jetzt keine Handkarten mehr und zwei schwache Monster auf dem Spielfeld – beides Nicht-Empfänger und dazu unterschiedlicher Stufe. Was plante sie? Ihm behagte nicht bei dem Gedanken, dass sie vielleicht noch ein geheimes Ass im Ärmel haben könnte.

„Ich aktiviere jetzt einen weiteren Effekt, jedoch von meinem Friedhof. Indem ich die oberste Karte meines Decks abwerfe, kann ich [Glow-Up Bulb] einmal während des Duells auferstehen lassen! Also erscheine!“

Sie steckte die Karte in den Friedhofsschlitz ihrer Duel Disk und ließ eine Blumenzwiebel mit weißer Blüte vor sich erscheinen.

 

Glow-Up Bulb [ATK/100 DEF/100 (1)]

 

Er hatte es geahnt, dachte Matt sauer. Das hatte sie also vor: ein weiteres Synchromonster zu beschwören.

Und genau das kündigte Abby nun an. „Ich stimme meine Stufe 1-[Glow-Up Bulb] auf meine Stufe 5-[Naturia Hydrangea] und Stufe 3-[Naturia Maron] ab!“

Nun schon zum dritten Mal verwandelte sich eines ihrer Monster, die Blumenzwiebel, in einen grünen Kreis und ließ die anderen beiden ebenjenen durchqueren. „When the blood of the wild is spilled, earth-breaking power will awaken! Synchro Summon! Mother Nature's Power, [Naturia Leodrake]!"

Aus dem Nichts kam ein Löwe mit Fell aus grünen Blättern hinter Abby hervorgesprungen. Seine Mähne war rot wie Herbstlaub, denn genau daraus bestand sie auch. Das anmutige Tier brüllte ohrenbetäubend laut und stellte sich schützend vor die Sirene.

 

Naturia Leodrake [ATK/3000 DEF/1900 (9)]

 

Matts Gesichtszüge entglitten ihm und wurden zu einer fassungslosen Fratze. „Unmöglich!“

Doch Abbys kalte, blaue Lippen formten nur stumme Worte, welche das Ende des Duells besiegeln sollten. Denn ein Angriff genügte, um Matts restliche Lebenspunkte auszulöschen.

Verzweifelt sah dieser sein Blatt an, als sein Caucastag mit einem Hieb der wuchtigen Pranke des Löwen einfach niedergerungen wurde. Dann stürmte das Ungeheuer auf ihn zu. Er schloss die Augen, denn weglaufen war zwecklos. So stellte er sich dem Schicksal und wurde hart zu Boden geworfen.

 

[Abby: 100LP / Matt: 150LP → 0LP]

 

Die Zähne des Tieres verkeilten sich tief in seinem rechten Unterarm, den er zum Schutz erhoben hatte, während der Löwe ihn mit seiner anderen Pranke auf den Schrotthaufen drückte.

Anschließend verschwanden die Hologramme von Abbys verdeckter, ungenutzter Fallenkarte sowie Matts gesetzter [Infestation Wave]. Doch nicht so [Naturia Leodrake], der weiter mit Matt rang, während das falsche Mondlicht seines Bannkreises die Hügel voller Abfall in silbriges Licht tauchte. Matt kämpfte schreiend um sein Leben, während Abby ruhigen Gewissens zusah.

„Zerfalle zu Asche und werde mit Mutter Erde wieder eins“, flüsterte sie nur boshaft und sah zu, wie ein Stofffetzen von Matts Mantel durch die Luft flog.
 

Plötzlich wurde sie zu Boden geworfen und umgedreht.

„Hör auf damit!“, brüllte Anya, die endlich aus ihrem Gefängnis entkommen war, sie zornig an.

Die Sirene umfasste die Oberarme des Mädchens mit ihren langen Fingern und drückte sie mühelos von sich weg. „Womit? Willst du sagen, dass eine Bestie wie er es verdient hat zu leben?“

Ein feines Rinnsal von Blut lief dank Abbys spitzer Fingernägel über Anyas aufgekratzten, rechten Arm, als sie diesen hob und mit voller Wucht eine Faust auf das feine Gesicht ihrer Freundin niedersausen ließ. Abbys Kopf wurde mit einem Ruck zur Seite geschlagen.

„Nein! Am liebsten würde ich dieser Ratte sämtliche Knochen brechen!“, zischte Anya wütend und rang mit Abby. Kräftemäßig mochte sie einer Sirene zwar unterlegen sein, doch blieb die Blondine hartnäckig. „Aber du bist nicht diejenige, die so etwas zu entscheiden hat!“

Mit einer gezielten Ohrfeige des Handrückens wurde Anya regelrecht von Abby heruntergerissen, die sich nun ihrerseits auf das Mädchen stürzte und sie zu würgen begann. Im Hintergrund drangen die Schreie von Matts Todeskampf zu ihnen. „Das war damals! Sieh mich an und erkenne, was ich bin!“

Wieder traf sie eine Faust im Gesicht, dieses Mal Anyas Linke. „Idiot! Hast du mein Versprechen dir gegenüber etwa vergessen?“

Abby hielt inne und wurde infolgedessen von einem saftigen Knietritt in die Nieren wieder umgeworfen, sodass Anya sich auf sie hockte und erneut zuschlug. „Ich habe versprochen, dich nie alleine zu lassen, als du deine Eltern verloren hast! Dich zu beschützen, egal vor wem! Wenn es jemandes Aufgabe ist, diesen Kerl ins Jenseits zu befördern, dann verdammt nochmal meine!“

Noch eine Faust traf die Sirene ins Gesicht. „Und ich hasse es, wenn du einen auf egoistisch machst und mir meine Aufgaben abnehmen willst! Ich kann das sehr gut alleine!“

Wieder wollte Anya zuschlagen, doch sie stoppte ihre Faust kurz vor Abbys Nase.

„Es tut mir leid“, wimmerte die unter Tränen. Das Unglaubliche war geschehen, so schnell, dass Anya es gar nicht bemerkt hatte.

Abby war wieder völlig sie selbst, das Haar kürzer und braun, die Gesichtszüge weniger scharf und die Augen die eines Menschen. „Ich weiß nicht, was in mich gefa-“

Anyas nächster Schlag ins Gesicht ließ sie abrupt verstummen. „Mach das nie wieder, hörst du!? ICH bin hier die, die die Kommandos gibt, 'kay? Also sag ich, was mit dem Kerl passiert und wie es passiert!“

 

Du bist eine schlechte Schauspielerin. In Wirklichkeit willst du doch nur nicht, dass Abby einen Mord begeht, denn das würde ihrer Seele auf ewig schaden.

 

„Es tut mir leid.“ Abby vergrub ihr geschundenes Gesicht in die Hände und weinte bittere Tränen.

Anya seufzte resignierend und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter, ehe sie sich von ihr erhob. Dann drehte sie derart ruckartig den Kopf zur Seite, dass so mancher Exorzist bei ihrem Anblick die Beine in die Hand nehmen und davon rennen würde. „So, und jetzt zu dir, Kackbratze!“

 

Zu spät. Er ist weg. Oder was noch von ihm übrig geblieben ist.

 

„Was!?“

 

Nachdem Abigail Masters sich zurückverwandelt hat, ist auch ihr Monster verschwunden. Mit letzter Kraft hat der Dämonenjäger einen Teleportationszauber benutzt, um zu entkommen. Aber ich schätze, er ist noch irgendwo in der Stadt, genau wie Alastair.

 

In einer Welle von Flüchen fiel Anya aus allen Wolken. Wieder war ihr einer dieser Mistkerle entkommen! Wieso hatte immer sie so ein verdammtes Pech!?

Abby erhob sich auf wackeligen Beinen neben ihr und hielt sich die geschwollene Wange. „Er ist weg, oder?“

Nur ein unmenschlicher Grunzlaut kam als Antwort.

„Das ist gut … oh! Nick, Michael …!“

Abby eilte zu den beiden, die am Boden lagen und friedlich zu schlafen schien. Unter Tränen schloss sie ihren kleinen Bruder, welcher müde die Augen aufschlug, in die Arme. Dabei betrachtete sie überglücklich Nick, der schnarchte und gar nicht mitbekommen zu haben schien, was um ihn herum vor sich ging.

 

Derweil warf Anya einen skeptischen Blick über ihre Schulter, während die Sonne am Horizont schon fast untergegangen war und den Schrottplatz in warmes, orangefarbenes Licht tauchte. Der Bannkreis war längst fort und mit ihm die falsche Nacht.

„Wird sie sich wieder in eine Sirene verwandeln?“, fragte sie Levrier dabei ernst.

 

Höchstwahrscheinlich, eines Tages. Wenn ich richtig liege, ist unbändiger Hass der Auslöser für ihre Transformation gewesen. Als ihr dieser durch deine Worte genommen wurde, hat sie wieder ihre ursprüngliche Form angenommen. Es ist aber zu bezweifeln, dass sie die Verwandlung bewusst zu kontrollieren vermag, schließlich ist sie nur ein Halbblut.

 

„Dann sollte man sie wohl nicht ärgern, huh?“

 

Mach dir keine Sorgen. Sie muss dich schon ihr ganzes Leben ertragen und hat sich nicht einmal verwandelt. Doch das Leben kann einem so manches Mal einen bösen Streich spielen. Gib gut auf sie Acht, wenn du verhindern willst, dass sich das heute Geschehene wiederholt.

 

„Was soll das denn heißen!? Und wie soll ich das überhaupt machen, wenn ich erstmal zu Eden geworden bin!?“

Doch Levrier enthielt sich einer Antwort und schwieg.

Abby trat zusammen mit ihrem Bruder neben Anya, während sie Michael dabei sanft über den Kopf streichelte, welcher sich eng an ihre Hüfte geschmiegt hatte. Die Blondine bückte sich und hob Abbys getönte Brille auf, welche sie ihrer Freundin unwirsch in die Hände drückte. „Da!“

„Danke“, sagte die leise und setzte sie auf. Nun sah sie endlich wieder wie die Abby aus, die Anya so sehr mocht- Die sie in ihrem Umfeld ertragen konnte!

„Du musst zum Arzt … huch!?“ Abby deutete auf die zerkratzten Stellen, die ihre langen Sirenenfingernägel in Anyas Oberarm geritzt hatten. Bloß waren genau jene fort. Nur das Blut war noch an Anyas Arm.

„Ach, Kinderkacke. Du müsstest viel eher zum Arzt“, meinte Anya brummend.

Abby streichelte sich die Wange und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Geht schon. Das hab ich verdient. Aua!“

„Hast du auch!“

Das Mädchen seufzte und sah Anya durch ihre Brille plötzlich ernst an. „Du darfst niemandem erzählen, was du heute hier gesehen hast! Wenn herauskommt, dass ich-“

Anya zuckte mit den Schultern. „Was erzählen? Dass du den Kerl mühelos vom Platz gefegt hast?“

„Nein, dass ich-“

Wütend trat Anya ihrer Freundin gegen das Schienbein, ehe die ihren Wink verstanden hatte. „Oh! Na klar … danke. Du bist 'ne echte Freundin … so jemanden wie dich habe ich gar nicht verdient, nach allem, was passiert ist.“

„Erspar' mir die Gefühlsduseleien und hilf mir lieber, Nick aufzuwecken.“

Die beiden drehten sich zu ihrem Freund um, der immer noch wie ein Baby schlief.

„Wie konnte sich der Trottel eigentlich fangen lassen?“, fragte Anya garstig. „Das ist jetzt schon das zweite Mal!“

Abby zuckte mit den Schultern. „Glaubst du denn, dass das so schwer ist?“

„Neeee.“

Die Mädchen fingen laut an zu lachen, während Nick in seinem Schlaf grunzte. Zufrieden stellte Anya fest, dass Abby immer noch fröhlich sein konnte. Dass das auch so blieb, war schließlich ihre Aufgabe …

 

 

Turn 11 – None For All, All For Fun

An Anyas Schule findet ein Duel Monsters-Tag Turnier statt. Alle Schüler dürfen daran teilnehmen, solange sie einen Partner vorweisen können. Da Abby sich, nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Zeit, noch nicht wieder duellieren möchte, muss Anya sich einen anderen Mitstreiter suchen. Doch gerade das stellt sich in ihrem Fall als unsagbar schwierig heraus. Als sie es letztlich dennoch schafft und wie durch ein Wunder sogar ins Finale vordringt, besteht das generische Team aus niemand Geringerem als …

Turn 11 - None For All, All For Fun

Turn 11 – None For All, All For Fun

 

 

Keuchend hielt sie sich die Brust und rutschte an der glitschigen Mauer hinab in die Hocke.

Wusste es, dass sie hier war? Hatte sie es abgehängt?

Die Stimme in ihrem Kopf war schon seit Tagen verstummt. War sie seinem allgegenwärtigen Blick tatsächlich entkommen? Doch sie wusste, dass wenn sie zu lange hier blieb, jenes Ding sie wieder finden und verführen wollen würde! Genau wie es Benny verführt hatte!

 

Der Frau mit dem nach hinten zu einer Welle verlaufenden, braunen Haar war übel, als sie sich ihren Pony aus der Stirn wischte. Hier unten, in der dunklen Kanalisation stank es nach Fäkalien und etwas anderem, was sie jedoch nicht zu beschreiben wusste. Es war so dunkel, dass man sehr vorsichtig sein musste, wenn man sich hier bewegte.

Wie lange war sie schon hier unten? Sie wusste es nicht. Alles, was sie hatte, war die Taschenlampe und einen Rucksack mit den nötigsten Kleidungsstücken. So lebte man, wenn man auf der Flucht war. Den halben Kontinent hatte sie hinter sich zurückgelegt und noch immer war es ihr auf der Spur, spukte tagelang in ihrem Kopf und flüsterte ihr schreckliche Dinge ins Ohr. Dann war es manchmal eine ganze Woche verschwunden, doch es kehrte immer wieder zu ihr zurück.

Aber was sollte man von einem Wesen wie diesem anderes erwarten? Es war ihr Blut, hinter dem es her war. Das hatte es sogar selbst behauptet.

 

Mit traurigem Blick holte sie aus der Hintertasche ihrer Jeans einen Kartenstapel hervor. Wenigstens das hatte sie mit sich nehmen können, um Schlimmeres zu verhindern. Zögerlich nahm sie die oberste Karte des Stapels in die Hand – das Geschenk des Dämons! Besonders diese eine Karte durfte nicht zurück in den Besitz dieses Dings geraten, oder es würde seinen abscheulichen Plan in die Tat umsetzen können. Bereitwillig hatte -es- ihr alles geschildert, über den Turm, das Datum und alles Weitere. Vermutlich hatte es nicht mit Gegenwehr gerechnet.

Doch wie konnte sie sicher sein, dass ihr Bruder wieder er selbst war? Gar nicht!

 

Ein schabendes Geräusch ließ sie aufschrecken. Mit der Taschenlampe leuchtete sie in die Richtung, doch außer dem Fluss voller Fäkalien und ein paar Ratten war da nichts. Wie konnte dort auch etwas sein, das keinen Körper zu besitzen schien? Aber wenn es Benny doch noch kontrolliert? Sie musste hier weg. Das Risiko war einfach zu groß.

 

Vorsichtig erhob sich die Frau.

Sie musste entkommen, irgendwie! Zumindest bis zu jenem Tag. Dem 11. November …

Also rannte die Frau davon, in der Hoffnung, sich ihren Verfolger nur eingebildet zu haben.

 

~-~-~

 

Skeptisch verschränkte Anya die Arme voreinander. Fast alle Schüler der Livington High hatten sich auf dem großen Footballfeld der Schule versammelt und lauschten den Worten des Direktors, Mr. Bitterfield, der auf einer kleinen Bühne inmitten der riesigen Schar an Schülern stand.
 

„Werte Studenten“, sprach er in sein Mikrofon. Der kleine, rundliche Mann mit dem schütteren, schwarzen Haarkranz legte wie gewohnt einen freundlichen Tonfall an. „Wie bereits vor Monaten angekündigt, findet heute das erste Tag Duel-Tournament an unserer Schule an. Das Siegerteam wird die Möglichkeit erhalten, an den diesjährigen, nationalen Wettstreiten teilzunehmen, um sich vielleicht einen Platz in der Profiliga zu sichern.“
 

Die Blondine spielte gelangweilt mit ihrem Pferdeschwanz und betrachtete Abby, die direkt neben ihr stand. Sie wirkte immer noch sehr mitgenommen, innerlich wie äußerlich. Die Schwellungen waren, anders als Anyas Verletzungen, nicht abgeklungen und entstellten ihr freundliches Gesicht deutlich. Ihr trauriger Blick jedoch sprach mehr als tausend Worte. Anya wusste, dass Abby ihre Wurzeln als Sirene zu schaffen machten.

„Klingt lustig, oder?“, fragte Abby mit erzwungener Heiterkeit.

„Klar. Das Ding gewinne ich locker“, erwiderte Anya selbstsicher. „Willst du meine Partnerin sein? Für Tag Duelle braucht man zwei Leute.“

Abby lächelte, schüttelte gleichwohl aber den Kopf. „Danke, aber ich denke, es wäre besser, wenn ich eine Weile die Finger vom Duellieren lasse.“

„Langweilerin“, brummte Anya enttäuscht. Auch wenn sie bereits mit dieser Antwort gerechnet hatte, war es dennoch ätzend.

 

Derweil erklärte Mr. Bitterfield die Regeln. „Es wird nach dem KO-Prinzip verfahren. Jedes Team kann seinen Gegner frei wählen, doch wenn es verliert, ist es aus dem Rennen. Sobald nur noch zwei Teams übrig sind, wird hier das große Finale abgehalten werden. Damit ihr nicht auf die Idee kommt zu schummeln, werden wir euch über die Server der AFC, der ehrenwerten Abraham Ford Company, überwachen. Über sie stellen wir fest, wer bereits verloren hat und wer noch im Rennen ist.“

 

„Anya? Bist du mein Partner?“

Anya drehte sich nicht einmal zu Nick um, der hinter ihnen stand. „Keine Chance! Siehst du das da?“

Sie deutete in die Richtung des Podests auf der Bühne. Auf ihm stand ein kleiner, goldener Pokal.

„Was ist das?“, fragte er verwirrt.

„Das, was ich haben will. Und das krieg' ich nur mit einem -guten- Tag-Partner. Ergo bist du schon mal disqualifiziert.“ Nun wirbelte sie sich zu ihm um und machte eine verscheuchende Geste mit den Händen. „Husch, such dir jemand anderes, mit dem du verlieren kannst!“

„Anya, das ist aber nicht gerade nett“, protestierte Abby.

Enttäuscht ließ Nick den Kopf hängen und sprach eine Schülergruppe an, die ihn augenblicklich mit noch böseren Worten als Anya davon jagte.

„Abby“, meinte jene und sah ihre Freundin taxierend an, „nicht die vier Buchstaben in meiner Gegenwart!“

 

Anya war vieles. Gemein, herzlos, temperamentvoll, brutal, kreativ, ignorant, oder auch neurotisch. Aber eines, eines war sie ganz bestimmt nicht. N-e-t-t. Vor vier Jahren hatte Cynthia Tores es gewagt, Anya nett zu nennen, weil die ihr ausnahmsweise nicht das Geld für die Kantine abgeknöpft hatte. Schnell hatte Cynthia feststellen dürfen, wie lange ein Mensch die Luft doch anhalten konnte, wenn man mit dem Kopf in der Kloschüssel steckte, während ununterbrochen gespült wurde. Seitdem hatte sie ein halbes Dutzend Phobien – einige davon waren sehr unpraktisch im Alltag – und unwiderruflich das Land verlassen.

Nein, Anya war nicht nett. Das passte weder zu ihrem Image, noch zu ihrer Person als Ganzes. Wer nett war, kroch anderen automatisch in den Allerwertesten – so sah Anya das. Und Analspiele waren nie ihr Ding gewesen. Demnach war sie nicht nett, würde es auch nie werden und wenn doch, würde man sie eines schönen Tages, den sich hunderte Bewohner Livingtons sehnsüchtig herbeiwünschten, von der Decke baumeln sehen. Doch den Gefallen würde sie dem Spießbürgertum ihrer Heimatstadt nicht tun.

Nein, sie war nicht nett.

 

„Bis zehn Uhr habt ihr Zeit, ein Team aus zwei Spielern zu bilden“, erklärte Mr. Bitterfield und beendete so langsam seine Rede. „Ich hoffe, dieses Turnier wird ein Erfolg! Für euch, als auch für unsere Schule! Der Wettstreit ist eröffnet!“

Viele Schüler klatschten begeistert in die Hände. Anya war keine von ihnen. Sie war sauer, denn soeben hatte sie den Mann an der Seite des Direktors erkannt. Mr. Redfield, der Sponsor des Turniers. An den Schläfen und Koteletten war das schwarze Haar schon ergraut, doch in seinem makellosen, weißen Anzug sah der stattliche Mann trotz seines Alters sehr jung aus.

„Siehst du ihn!? Da steht er und grinst in sich hinein“, ereiferte Anya sich wütend. „Ja, hat er seinem Töchterchen auch schön einen Platz ins Finale gekauft!?“

Abby schnalzte mit der Zunge. „Anya, du siehst Gespenster. Jemand wie Valerie würde sich nie auf so etwas einlassen. Als wenn sie das nötig hätte …“

„Tch, klar hat die das nötig! Aber unsere kleine Schwanenprinzessin wird sich noch wundern, wenn ich ihr erst alle Federn gerupft habe! Dann wird sie sehen, dass Daddys Geld eben nicht alles kaufen kann! Vor allem nicht Gesundheit!“

„Ich würde an deiner Stelle ja lieber einen Partner suchen, als in unnötigen Hasstiraden aufzugehen. Warum fragst du Valerie nicht, ob ihr euch zusammenschließen könnt?“

Kaum war der Satz ausgesprochen, waren Anyas Hände dem Hals von Abby gefährlich nahe. Die hob in panischer Heiserkeit die Hände. „War nur'n Witz!“

„Andere lägen jetzt längst auf dem Seziertisch“, zischte Anya ihre Freundin an.

Abby nickte zustimmend und seufzte. „Ich meinte doch bloß, zusammen könntet ihr sicher gewinnen. Ihr seid beide gute Duellanten.“

Eher wurde Anya nett!

Nachdenklich verschränkte Abby die Arme. „Trotzdem, schau dich mal um. Alle, die teilnehmen wollen, sind schon damit beschäftigt, sich jemanden als Partner zu suchen. Wenn du dich nicht beeilst, sind die besten schon weg.“

„Du hast recht“, sagte Anya widerwillig. „Mal sehen, wen ich zu meinem Glück zwingen könnte.“

 

Die Blondine spähte mit zusammengekniffenen Augen über das weite Footballfeld. Überall standen Schüler in kleinen Gruppen, unterhielten sich oder rannten von A nach B, um den passenden Partner für sich zu finden. Viele aber hatten den Sportplatz verlassen, denn nicht jeder interessierte sich für Duel Monster, schon gar nicht, wenn Nichtstun die Alternative war. Trotzdem tummelten sich bestimmt über hundert Schüler hier. Manche zog es auch zum Campusgelände, damit sie dort ungestört ihren „Geschäften“ nachgehen konnten.
 

Wen sollte sie sich an Land ziehen, fragte Anya sich angestrengt. „Ach scheiß drauf!“

Sie wusste sowieso nicht, wie die anderen spielten, da 95% ihrer Duel Monsters-Erfahrung vom Spielen diverser Simulationsprogramme herrührten.
 

Kurzerhand steuerte sie auf eine kleine Traube aus drei Personen zu. Es waren die blonde Willow Taub und zwei Jungs aus Anyas Eishockeymannschaft. Als Letztere bemerkten, dass Anya auf sie zusteuerte, verabschiedeten sie sich hastig von der verdutzten Willow und hauten ab.

Anya, die das verärgert feststellte, baute sich vor ihrer Klassenkameradin auf wie ein Erwachsener, der sein kleines Kind ausschimpfen wollte.

„Du, ich, Partner“, machte sie mit einer entsprechenden Bewegung ihres Fingers klar.

„Ähähähä, hi Anya“, lachte Willow heiser und sah sich hektisch nach irgendjemandem um, der ihr helfen konnte.

„Komm!“, befahl die Blauäugige schroff und packte den Lockenkopf am Arm, welcher sich aber zu ihrem Ärgernis ziemlich bockig anstellte und sich nicht mitschleifen lassen wollte.

„Lass mich los“, bettelte Willow, „ich hab doch schon 'nen Partner.“

„Korrekt, Taub! Mich! Und jetzt stell dich nicht so an“, brummte Anya und zerrte hartnäckig an Willow, die all ihre Kraft aufbringen musste, um nicht ins absolute Chaos gerissen zu werden.

„Nein, Johnny ist mein Partner … lässt du mich jetzt bitte los?“

Anya sah sie misstrauisch an und tat schließlich mürrisch, worum man sie gebeten hatte. Willow landete durch den Schwung auf dem Hosenboden. „Pff, dann nicht! Such ich mir eben jemand anderes. Wenn du nicht gewinnen willst, mir doch schnuppe!“

Eine Anya Bauer hatte es schließlich nicht nötig, um Almosen zu betteln!

 

„Willst du- Hey, warum rennst du weg!?“, rief sie wenige Minuten später Ernie Winter hinterher, als sie diesen angesprochen hatte.
 

„Eher würde ich- Glubagrblug!“

Anya hatte -es- schon für den rothaarigen, pummeligen Willy Patrics übernommen, als sie seinen Kopf in die Toilette hielt. Was für ein Zufall, wo sie doch vorhin erst darüber nachgedacht hatte. Aber gut, so kam sie wenigstens nicht aus der Übung. Zu schade nur, dass sie für solche Spiele gerade keine Zeit hatte …

„Hast Glück, Patrics, ich bin heute gnädig gestimmt.“

Und so ließ sie ihn ziehen, ohne auch nur einmal die Spülung betätigt zu haben. Dafür würde sie sich aber eine gute Ausrede einfallen lassen müssen, warum die Tür des Jungenklos neuerdings nicht mehr als ein Fußabtreter war.

 

„I-i-ich kann nicht dein Partner werden, ehrlich nicht!“, stammelte der pickelige Adam auf dem Gang und stieß mit einem schreckhaften Aufschrei gegen seinen Spind.

„Warum nicht, Clover?“, dröhnte Anya mit unmenschlicher Stimme und war seinem Gesicht mit dem ihren so nahe, dass sie seine Angst förmlich riechen konnte.

Ahhhhh, Angst! Warum gab es das nicht auch als Deo?

„I-i-ich muss zu einer Beerdigung. M-m-meine Großmutter ist vor fünf Minuten gestorben. Bye!“

„Halt!“ Anya hielt dem flüchtenden Brillenträger am Kragen fest, doch der schlüpfte kurzerhand aus seinem babyblauen Poloshirt und rannte mit nacktem Oberkörper davon.

Wütend starrte sie ihm hinterher, wie er von vorbeikommenden Mitschülern ausgelacht wurde, welche ihrerseits kurz darauf verstummten und auf dem Absatz Kehrt machten, als sie Anya bemerkten.

„Wieso will keiner mein Partner sein!?“, schnaubte die und warf Adams Überbleibsel in den Papierkorb neben sich.

 

Dir fehlen eben die vier Buchstaben.

 

„Verdammt richtig! Und darauf bin ich stolz!“

 

Dann sei eine stolze Zuschauerin und sieh zu, wie Valerie Redfield das Turnier gewinnt.

 

Anya ballte ihre Fäuste so sehr, dass die Haut über ihren Knöcheln aussah, als würde sie jeden Moment reißen. Wütend schlug sie gegen Adams Spind, dessen Tür unter dem Druck aufsprang.

„Das werde ich nicht zulassen! Irgendwen muss es doch geben, der mit mir ein Team bilden will!“

 

Vollkommen richtig. Und er steht direkt hinter dir.

 

Im selben Augenblick spürte Anya eine Hand auf ihrer Schulter, was sofort einen Faustschlag ins Gesicht und einen schmerzerfüllten Schrei nach sich zog.

Als Anya sah, wer dort vor ihr am Boden lag, verloren ihre Züge an Härte. Stattdessen stand ihr das pure Selbstmitleid im Gesicht. „Das kann unmöglich dein Ernst sein, Levrier!“

„Hi Anya! Willst du mit mir ein Team bilden?“, fragte Nick und hielt sich die blutende Oberlippe grinsend. „Bitte sag ja!“

 

In Not darf man nicht wählerisch sein, Anya Bauer.

 

„Hast du keinen anderen Dummen gefunden!?“, herrschte Anya ihren Freund an.

Der erhob sich und zuckte mit den Schultern. „Nö. Ich hab gewartet, dass du es dir anders überlegst, hehe.“

Anya schlug die Hand vor den Kopf. Ihr Blick fiel dabei auf die Uhr, welche über einem der Klassenzimmer nicht weit von ihnen hing. Es war bereits dreiviertel Zehn.

 

Sieh es ein, die meisten haben ihren Partner schon gefunden. Die guten Spieler sind mit Gewissheit längst vergeben und die wenigen, die jetzt noch übrig sind, sind für deine Ansprüche entweder zu schlecht oder zu ängstlich.

 

„Soll das heißen, ich hab die Arschkarte gezogen!?“

 

Ja. Aber schon lange, bevor dieses Turnier überhaupt begonnen hat …

 

Anya rümpfte die Nase, denn Levriers Spitze ignorierte sie natürlich gekonnt – weil sie sie gar nicht erst als solche erkannt hatte. Dann warf sie einen Blick auf Nick, der mit seinen Augenbrauen zwinkerte.

War es -das- wert? Anya wollte den beknackten Pokal und Valerie aus dem Turnier schmeißen, aber mit einem Partner wie Nick stand es 1 gegen 3. Valerie zerstören … Nick nicht ertragen zu müssen … was war besser?

„Ach scheiß drauf, diese Knalltüten feg' ich auch alleine vom Feld! Komm mit, wir müssen zum Footballfeld, bevor die Frist verstrichen ist!“

„Hurra- Umpf!“ Nick war aufgesprungen und keinen Herzschlag später gegen die Tür von Adams Spind gelaufen, als er Anya folgen wollte.

Sie würde ihn umbringen, sobald das Turnier gelaufen war, schwor die Blondine sich grimmig. Völlig unabhängig vom Ergebnis!

 

~-~-~

 

„Insgesamt haben wir also 42 Teams!“, verlautete der Direktor auf seiner Tribüne, während besagte Paare in sechs Reihen, bestehend aus je sieben Mannschaften, vor ihm standen und sehnsüchtig den Pokal anstarrten, den Mr. Redfield stolz präsentierte.

Giftig schielte Anya über die Schulter. Wo war Valerie? Die würde sie gleich zu Beginn vom Platz jagen! Aber in der hintersten Reihe fehlte ein Team und sie war nirgendwo zu sehen? Nahm sie überhaupt teil oder war es etwa unter ihrer Würde, sich hier zu zeigen?

„Wo ist die dumme Kuh?“, zischte Anya Nick an.

„Neben mir.“

Anya kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Ich hoffe, du hast damit das Team neben dir gemeint, denn wenn nicht, wirst du dein Leben lang aus der Schnabeltasse trinken müssen, 'kay!?“

Nick grinste nur unbekümmert.

 

„Der Kampf um den Pokal ist hiermit eröffnet!“, rief Mr. Bitterfield euphorisch in sein Mikrophon. Die Reihen der Teams lösten sich langsam auf, einige begannen sofort auf dem Footballfeld mit ihren Duellen, andere trotteten zurück zum Campusgelände, um dort zu kämpfen, ohne von allen dabei beobachtet zu werden.

„Komm, wir gehen Redfield suchen!“, befahl Anya.

Zusammen rannten sie über den großen Sportplatz, vorbei an den Hallen, hinüber zum Campusgelände. Als sie dieses erreicht hatten und an der Kantine neben dem großem Backsteingebäude der Oberstufe vorbeikamen, stellten sich ihnen zwei hagere Jugendliche in den Weg.

„Wir wollen ein Duell!“, verlangte einer von ihnen übermütig. Sommersprossen zierten sein blasses Gesicht, während sein Partner einen halben Kopf größer war und eine unansehnliche Zahnspange trug, während er heftig nickte. Beide stammten aus der Unterstufe.

„Aus dem Weg, ihr Schlümpfe“, knurrte Anya.

„Erst wenn wir uns duelliert haben!“

 

Das Mädchen runzelte die Stirn. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich vor dem Finale nur mit Valerie zu duellieren. So konnte sie das Miststück aus dem Turnier kicken und danach eine ruhige Kugel schieben, während die anderen Teams sich gegenseitig das Leben schwer machten. Anschließend, wenn nur noch eines übrig war, musste sie dieses nur noch besiegen und hatte den verdammten Pokal sicher.

Andererseits, wer sich ihr so dummdreist in den Weg stellte, hatte nur eines verdient. Absolute Vernichtung!

 

„Nick, die machen wir alle!“

„Okay, Boss!“, gluckste der und salutierte.

 

„NICK!“, schrie Anya, als ihr Freund zwei Züge später von dem Zweiergespann besiegt worden war. „Was habe ich dir über Zauber- und Fallenkarten beigebracht!?“

„Nichts?“

Anya schlug die Hand vor den Kopf. War der Idiot farbenblind? Dauernd setzte er die falschen Karten und aktivierte sie, ohne darüber nachzudenken!

Und jetzt stand sie dem [Neo-Parshath, The Sky Paladin] und [Master Hyperion] ihrer Gegner alleine gegenüber. Doch sie hatte bereits einen Plan …

 

„NICK!“, brüllte Anya förmlich, als Willow Taub und Johnny Bremer sie mitten auf dem Gang gestellt hatten, der heute bereits dem pickeligen Adam zum Verhängnis geworden war, nachdem er eine spontane Stripeinlage hingelegt hatte. „Wenn du schon defensiv spielen willst, dann spiele deine Karten richtig aus!“

„Hehe, sorry!“

Wieder hatten ihre Gegner es geschafft, diesen Volltrottel aus dem Spiel zu schlagen. Nun musste sie zusehen, wie sie [Machina Fortress] und [Vision HERO Trinity] aus dem Weg räumen konnte. Aber ihr würde schon etwas einfallen …

 

„NICK!“ Noch ein wenig mehr, und Anyas Augäpfel sprangen aus ihren Höhlen.

Sie befanden sich mitten auf dem Rasen, den Anya mit ihren von Levrier erhaltenen Kräften ruiniert hatte. Den Schaden hatte man größtenteils behoben, doch deutlich sah man die Stellen in der Erde, die durch den plötzlichen Ausbruch aufgerissen worden waren.

Und nun wusste Anya auch wieder, warum sie Nick noch nicht verziehen hatte. Dieser hirnamputierte Schwachmat war doch tatsächlich in eine gegnerische [Mirror Force] gerannt! Jeden Augenblick würde sie wieder alleine gegen zwei Gegner antreten müssen! In diesem Fall waren das die schwarzhaarige Lily McDonald, die ihre Frisur hochgesteckt hatte, und Thomas Dermott, ein durchtrainierter, arroganter Glatzkopf und Anyas Eishockey-Kamerad.

„Ich werde das schon schaukeln“, brummte Anya und wurde sich schmerzhaft bewusst, wie schwer ein Duell 1 gegen 3 doch sein konnte …

 

~-~-~

 

„Tch!“ Anya verschränkte wütend die Arme. Ganze fünf Mannschaften hatten versucht, sich mit ihr zu messen, alle waren gescheitert!

Nun wartete sie hier zusammen mit Nick auf dem Footballfeld. Fast alle Teams waren mittlerweile aus dem Turnier geflogen. Die Rasenfläche war wie ausgestorben, da sich die ausgeschiedenen Teilnehmer bereits bei der Zuschauertribüne am Rande des Spielfeldes eingefunden hatten.

 

„Noch drei Teams“, verkündete der Direktor, während er auf dem Laptop starrte, welcher auf einem Tisch mit weißer Decke stand. An jenem saßen nun er, Mr. Redfield und eine rothaarige, Brille tragende Journalistin der lokalen Zeitung. Zusammen thronten sie auf der Bühne und warteten das Ergebnis des vorletzten Duells dieses Turniers ab.

Schließlich rief Mr. Bitterfield euphorisch: „Und das sind sie, die zweiten Finalteilnehmer! Valerie Redfield und Marc Butcher!“

Anya glaubte, sich verhört zu haben. „Valerie!? Marc!? In einem Team!?“

Kein Wunder, dass sie dieses Miststück nirgendwo angetroffen hat! Während andere sich mühevoll, wirklich mühevoll, durch das Turnier gequält haben, hatte -die- sich einfach zurückgezogen und mit Marc vergnügt – ihrem Marc!

„Mit einer sagenhaften Zahl von vierzehn Siegen!“, fügte der Direktor noch überschwänglich hinzu.

In Anya war gleichzeitig etwas gestorben. Und zwar ihr Wille, das Versprechen gegenüber Marc zu halten.
 

„Das wird schwer“, hörte sie jemanden hinter sich besorgt sagen.

Nick und Anya drehten sich um und sahen, wie Abby nachdenklich den Zeigefinger aufs Kinn legte. „Vierzehn Siege? Das ist ja ein Drittel aller Teilnehmer.“

„Und wo ist das andere Drittel?“, fragte Nick ahnungslos.

Anya hingegen war zu geschockt, um etwas darauf zu erwidert. Hatte diese widerliche, hochnäsige, selbstverliebte, beschissene, hohle Nuss Valerie doch tatsächlich -mehr- Siege einkassiert als sie!

„Das ist alles deine Schuld!“, beklagte sie sich bei Nick.

Aber was noch viel schlimmer war: Marc war Valeries Partner, sprich ihr Gegner. Sie konnte doch nicht gegen Marc kämpfen, ihren Marc!

 

Hin und her gerissen überlegte Anya, was sie tun sollte.

Derweil schritten ihre Gegner über das Footballfeld zu ihnen.

„Hi, Valerie!“, begrüßte Abby sie fröhlich. Doch ganz zu ihrem Entsetzen erwiderte die sonst so freundliche Schwarzhaarige nichts, sondern ignorierte die Dreiergruppe einfach, als sie zusammen mit Marc an ihnen vorbeiging. Dabei hielt sie den Kopf gesenkt, wobei der traurige Ausdruck in ihren Augen nicht zu übersehen war.

„Hi, Marc!“, strahlte Anya und stockte. Nicht nur, dass sie eiskalt ignoriert wurde … er war auch noch verletzt! Um seinen rechten Arm war ein Verband geschlungen, der von der Handfläche bis zum Ellbogen ging.

„Oh mein Gott, er muss sich beim Training verletzt haben!“, kreischte Anya hysterisch und zeigte auf ihren Schwarm. Und erschrak, als er ihr einen wütenden Blick zuwarf, nur um dann weiterzugehen.

„Was ist denn in den gefahren?“, fragte Abby verdutzt. „So unfreundlich war er ja noch nie. Und Valerie auch nicht.“

„Nur ein Grund mehr, dieses Komsumpüppchen zum Mond zu schießen! Und glaub mir, Abby, genau das werde ich auch tun! Selbst wenn Marc dafür eine Niederlage kassieren muss!“

Bestimmt war sie der Grund, warum er so übel gelaunt war!

 

~-~-~

 

Nach dem Aufruf des Direktors hatten sich auch die restlichen Schüler wieder auf der Veranstaltungsfläche des Finales eingefunden. Es fand nahe der Tribünen statt, von denen man auch den Footballspielen zuschauen konnte.

Abby saß auf einer der Holzbänke, die schrittweise immer höher angesiedelt waren und seufzte. Ihre beiden Freunde standen Valerie und Marc dort unten gegenüber, während Mr. Bitterfield ein paar letzte Worte von seiner aufgebauten Bühne aus sagte.

 

„Nun stehen sich die vier besten Duellanten unserer Schule gegenüber“, sprach er feierlich. „Wie schon zuvor angekündigt, erhalten die Sieger diesen wunderschönen Pokal …“

Welcher von Mr. Redfield mit besorgter Miene präsentiert wurde. Auch ihm war aufgefallen, dass Valerie niedergeschlagen schien.

„… und die Möglichkeit, an den diesjährigen Nationals unseres schönen Bundesstaats teilzunehmen. Wer sich dort als siegreich erweist, wird an der amerikanischen Meisterschaft der Beginner's League teilnehmen dürfen und auf einen Platz in der Profiliga hoffen!“

 

Er zeigte nun mit ausgebreiteter Hand auf Marc und Valerie, wobei besonders Letztere sehr angespannt wirkte und ruckartig eine gerade Haltung annahm. Sie hielt die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sah ihren Gegnern nicht in die Augen. „Mit einer unglaublichen Anzahl von vierzehn Siegen treten Valerie Redfield, die Tochter unseres geliebten Bürgermeisters, und unser Star-Quarterback Marc Butcher …“

Nun deutete der Direkter mit einem abfälligen Nicken in Anyas Richtung „… gegen Anya Bauer und Rick Harbour an.“

„Ich heiße doch Nick! Oder nicht … ?“, begehrte der langgewachsene junge Mann dort unten verwirrt auf.

„Ja, ja, ja“, winkte der Direktor desinteressiert ab. „Wir hoffen, dass diese großartige Veranstaltung mit einem würdigen Duell beendet wird! Lasst das Finale beginnen!“

 

Beide Parteien ließen ihre Duel Disks ausfahren. Von den Rängen tönte dröhnender Jubel, aber auch Buhrufe auf das Feld. Letztere galten Anya und Nick, die teilweise unschöne Anschuldigungen und Schimpfwörter an den Kopf geworfen bekamen, während Valerie und Marc kräftig unterstützt wurden.

Abby seufzte. Fair war das nicht, denn sie hatte Anya beobachtet und gesehen, wie gut sie trotz Nicks Fehler gespielt hatte. Aber so waren die Leute eben. Und irgendwo war Anya auch selbst schuld daran. Aber wenigstens stellte Anya sich diesen Duellen, dachte Abby dabei traurig, während sie selbst zu feige war, an dem Turnier teilzunehmen …

 

Derweil knirschte die Blondine wütend mit den Zähnen bei Valeries Anblick. Dass sie ausgebuht wurde, machte Anya nichts aus. Ihr Ziel bestand einzig und allein darin, dieses Mädchen mit einer Glanzleistung vom Platz zu fegen, die diese Schule so noch nie erlebt hatte!

„Wir schaffen das, Nick! Und denk an das, was ich dir beigebracht habe!“

„Aber du hast mir doch nichts beigebracht!“, widersprach Nick panisch.

„Dann denk an die Schmerzen, die ich dir beigebracht habe! Und setz' das einfach als Duellstrategie um, 'kay!?“

„Okay. Du bist der Boss …“, meinte er unbekümmert und zuckte mit den Schultern.

Letztlich riefen beide Parteien: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP Nick: 4000LP //// Valerie: 4000LP Marc: 4000LP]

 

„Ich beginne“, sprach Marc mit solcher Entschiedenheit, dass es einen Moment ganz still war. Dann jubelten die Leute lauthals, während Anya nur eifrig nickte.

Nachdem er sein Blatt um eine sechste Karte bereichert hatte, sprach er mit seiner tiefen Stimme: „Ich setzte eine Karte verdeckt!“ Sie erschien vor seinen Füßen. „Dann aktiviere ich [Card Destruction]! Damit müssen ich und ein weiterer, von mir gewählter Spieler, alle Handkarten abwerfen, um dann dieselbe Anzahl neu aufzuziehen! Anya, ich wähle dich!“

„Alles, was du willst“, hauchte die zärtlich mit verträumten Blick.

Vor beiden erschienen die Abbilder ihrer Karten, die auf den Friedhof geschickt werden sollten. Wissbegierig sog Anya jede Information über Marcs Deck in sich auf. „[Laval Volcano Handmaiden], [Laval Miller], [Laval Forest Sprite] und [Laval Lancelord] … so cool …“

Dabei weinte sie nicht einmal ihrer guten Starthand hinterher, sondern zog einfach fünf neue Karten, während es bei Marc nur vier waren. Dieser erklärte in strengem Tonfall: „Wenn [Laval Volcano Handmaiden] auf den Friedhof gelegt wird, während sich andere Laval-Monster dort befinden, kann ich ein Laval-Monster von meinem Deck auf den Friedhof legen. Das wird eine weitere Handmaiden sein.“

Vor Marc erschien eine durchsichtige Gestalt, ein junges Mädchen mit Haar aus purer Lava. Sie kicherte hochnäsig und verwandelte sich dann in glühende Feuerfunken. „Da nun wieder eine Handmaiden auf den Friedhof gelegt wurde, kann ich noch eine Karte ablegen. Abermals eine Handmaiden.“

Dasselbe Mädchen tauchte noch einmal vor ihm auf, nur wieder zu verschwinden. „Durch sie schicke ich nun [Laval Warrior] auf den Friedhof.“

Und während er das tat, seufzte Anya theatralisch. Wie gut er doch spielte. In einem Zug so viele Monster auf den Ablagestapel geschickt zu haben, das war … was zur Hölle war das eigentlich? Anya stutzte. Aber Marc wusste schon, was er da tat.

Jener sprach unterkühlt: „Ich setze eine weitere Karte verdeckt und beende. Hey du, Rick, oder wie du heißt, es ist dein Zug!“

 

Nick winkte aber nur aufgeregt Abby zu, die ihrerseits beide Daumen nach oben hielt, um ihm Mut zu machen. Hätte sie ihm doch lieber ein Schmerzmittel gegeben, könnte so mancher gedacht haben, als Anya ihm anschließend ihren Ellbogen zielsicher in die Rippen rammte.

„Schlaf nicht rum! Marc hat gesagt, dass du dran bist! Und wehe, du machst irgendeinen dummen Fehler! Ich will nicht, dass du mich vor ihm blamierst, 'kay!?“

„Na logo, der Nickinator macht nie Fehler!“ Voller Elan zog Nick eine Karte. „Ich beschwöre [Wind-Up Juggler] und greife Valerie direkt an!“

Mit ausgeschwenktem Arm zeigte er seinem vor ihm auftauchenden Spielzeugjongleur, der in seiner abstrakten Form einer humanoiden Katze mit Sprungfeder als Unterkörper ziemlich ähnlich sah, das Ziel der Attacke.
 

Wind-Up Juggler [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

 

Doch statt Nicks Befehl zu folgen, verharrte das Wesen seelenruhig und begeisterte das Publikum mehr oder weniger – eher weniger – mit seinen Jonglierkünsten.

Anya klatschte sich die Hand vor den Kopf. Es war ja löblich, dass Nick ihr helfen wollte, Valerie fertig zu machen, aber bei solcher Hilfe wäre er auf deren Spielfeldseite besser aufgehoben.

„Nick“, presste sie, bemüht die Fassung zu wahren, sauer hervor, „man kann in einem Tag Duell nicht während seines ersten Zuges angreifen! Erst ab Marcs nächstem Zug dürfen wir das!“

„Oh! Das war ja auch mein Plan!“

Anya blinzelte verdutzt. „Huh?“

„Na meine Gegner zu verwirren! Jetzt denken sie, dass ich gar keine Ahnung habe!“ Stolz wie Oscar plusterte sich Nick mit geschwollener Brust auf und erwartete Lob. Er bekam aber nur einen Tritt gegen sein Schienbein. „AU!“

„Du hast doch auch gar keine Ahnung, du Volltrottel! Gott, wieso ich!?“, beschwerte sich Anya mit einem vielsagenden Blick gen Himmel. Der in seinem trübsten Grau aber schwieg, als wolle er sich über die Blondine lustig machen.

„Och … na dann beende ich meinen Zug“, kündigte Nick an.

„WAS!? Willst du nicht wenigstens 'ne Karte setzen!?“

„Wieso? Die darf man doch dann auch erst später akti-“

Mit einem Schlag gegen den Hinterkopf hatte Anya Nick ins Gras gepfeffert und trat auf seinen Rücken. Sie war außer sich vor Wut und wenn Mr. Bitterfield sie nicht lauthals ermahnt hätte, wäre Nick wohl als Märtyrer aller Minderbemittelten in die Geschichte Livingtons eingegangen.

So aber konnte er wacklig wieder aufstehen. „Sorry!“
 

„Ich bin dann wohl am Zug?“, fragte Valerie unmotiviert und zog. „[Gishki Chain].“

Aus einer Wasserlache schoss ein amphibischer Krieger, der seine Kette schwang und auf Valeries Duel Disk losließ. Sie versank in ihrem Deck und zog die Abbilder dreier Karten daraus hervor, die sich vor dem Mädchen ausbreiteten.

 

Gishki Chain [ATK/1800 DEF/1000 (4)]
 

„Wenn [Gishki Chain] beschworen wird, sehe ich meine obersten drei Deckkarten an und nehme daraus entweder ein Gishki-Ritualmonster oder eine Ritualzauberkarte auf meine Hand, sollte denn eine darunter sein.“

Vor Valerie schwebten [Evigishki Tetrogre], [Monster Reborn] und [Salvage]. Sie nahm das Ritualmonster Tetrogre zwischen ihre Finger und fügte es ihrem Blatt hinzu. Die anderen beiden Karten legte sie in der von ihr bestimmten Reihenfolge aufs Deck zurück.

„Ich setze zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug.“

Vor ihren Füßen erschienen sie, doch Anya achtete gar nicht darauf.

Da stimmte doch irgendetwas nicht! Wieso war Valerie so teilnahmslos? Als würde sie gar nicht kämpfen wollen?
 

Die Blondine runzelte die Stirn und betrachtete ihr Blatt. Jenes war nicht ganz so gut wie das verlorene, doch ausreichend. Schließlich rief sie ehrgeizig: „Draw!“

Dieser verdammte Pokal würde ihr gehören, so viel war sicher! Und wenn diese dumme Pute nicht darum kämpfen wollte, umso besser!

„Ich aktiviere aus meinem Friedhof heraus [Gem-Knight Fusion]! Die wurde durch“, ihre Stimme gewann etwas Schwärmerisches, „Marcs [Card Destruction]“, und wurde augenblicklich wieder fest, „auf den Friedhof geschickt! Ich verbanne also [Gem-Knight Amber], um sie auf meine Hand zurück zu erhalten!“

Mit zufriedenem, schadenfrohem Grinsen hielt sie die Zauberkarte in die Luft. „Und ich benutze sie, um [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Garnet] zu verschmelzen! [Gem-Knight Tourmaline], du bist das Element, [Gem-Knight Garnet], du der Ursprung! Vereinigt eure Kräfte und werdet zu [Gem-Knight Prismaura]!“

In einem Wirbel voller Edelsteine verschwanden die Abbilder ihrer Karten und erzeugten einen Lichtblitz, aus dem ein anmutiger Krieger trat. Mit Lanze und Schild in den Händen stand er vor Anya, während aus seiner Rüstung durchsichtige Kristalle wuchsen.

 

Gem-Knight Prismaura [ATK/2450 DEF/1400 (7)]

 

Anya griff nach ihrem Friedhofsschlitz, aus dem ihre [Gem-Knight Fusion] hervortrat. „Ich verbanne jetzt Tourmaline, um [Gem-Knight Fusion] auf meine Hand zu erhalten. Aber da bleibt sie ganze zwei Sekunden, denn ich werfe sie für Prismauras Effekt ab, damit ich [Gishki Chain] zerstören kann!“

Ihr Krieger schoss aus seiner Lanze einen grellen Energiestrahl ab, der Valeries Fischmann in einer tosenden Explosion vernichtete.

Anya nahm aus ihrem Blatt eine Karte und schob sie in ihre Duel Disk. „Diese hier verdeckt! Damit beende ich meinen Zug!“

Das klappte doch prima! Nächste Runde würde sie angreifen können, und dann war Valerie fällig!

 

Wortlos, aber mit finsterem Blick, zog Marc seine nächste Karte und steckte sie in sein Blatt.

„Wir sollten Anyas Falle loswerden, oder?“

Er antwortete nicht, reagierte gar nicht auf Valeries Worte. Deswegen schwang die ihren Arm aus: „Verdeckte Schnellzauberkarte! [Mystical Space Typhoon]! Damit-“

Doch plötzlich brüllte Marc: „Misch dich gefälligst nicht ein! Ich brauche deine verdammte Hilfe nicht! Von meiner Hand der Schnellzauber [Mystical Space Typhoon]!“

„Entschuldige …“, meinte Valerie wie ein geschlagener Hund mit schwacher Stimme und wich seinem vernichtenden Blick aus. Dabei hatte sie Glück, dass ihre Karte noch nicht aufgesprungen, ergo offiziell aktiviert worden war.

Derweil trat aus Marcs Zauberkarte ein Wirbelsturm, der Anyas Falle [Negate Attack] mit sich riss und dann im Nirgendwo wieder verschwand. Doch die konnte gar nicht fassen, wie Marc soeben mit Valerie geredet hatte. Das war … das war … genial!
 

„Ja, mach sie zur Schnecke!“, jubelte Anya außer sich vor Freude.

„Halt den Mund, ich muss nachdenken!“, schnauzte Marc das Mädchen daraufhin derart abweisend an, dass jenes zusammenzuckte.

„Was ist denn mit ihm los?“, flüsterte sie fassungslos Nick zu. Der schüttelte nur den Kopf. Verdutzt betrachtete Anya ihren Teamkollegen. Täuschte sie sich, oder hatte sich etwas in Nicks Blick verändert? Sah er tatsächlich … besorgt, gar verärgert aus? Nein … das musste Einbildung sein! Solche Gefühle kannte Nick doch gar nicht!

 

„Da genug Laval-Monster mit verschiedenen Namen auf meinem Friedhof liegen“, sprach Marc nun wieder konzentriert, aber dennoch unterkühlt, „rufe ich diese zwei Monster von meiner Hand als Spezialbeschwörung durch ihre Effekte: [Laval Coatl] und [Laval Burner]!“

Um Marcs Kopf schwirrte plötzlich ein gelbroter Babyflugsaurier, während vor ihm ein Steintitan aus dem Boden wuchs. Wild lag ihm das rote Haar weit bis zur Hüfte, während seine steinernen Fäuste in Flammen aufgingen.
 

Laval Coatl [ATK/1300 DEF/700 (2)]

Laval Burner [ATK/2100 DEF/1000 (5)]

 

Dann deutete Marc auf seine linke verdeckte Karte, die sofort aufsprang und sich als Schnellzauber entpuppte. „[Searing Fire Wall]! Damit verbanne ich eine beliebige Anzahl an Laval-Monstern von meinem Friedhof, um dann dieselbe Anzahl an Spielmarken zu beschwören!“

Er steckte sich [Laval Miller] und [Laval Forest Sprite] in die Hosentasche, während vor ihm zwei kleine Flammen mit Gesichtern emporschossen.

 

Laval-Token x2 [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Anya musste schlucken. Warum beschwor Marc so viele Monster? Das konnte doch nur bedeuten, dass er einen Großangriff plante! Skeptisch warf sie einen Blick zu Nick herüber, der jenen mit ausdrucksloser Miene erwiderte.

Was war los mit dem Kerl? Die ganze Zeit war er bester Laune gewesen. Das Mädchen machte sich aber viel eher Sorgen um seinen Stand im Duell. Als schwächstes Glied würde Marc ihn sicherlich als Ersten besiegen wollen. Und Anya wusste, dass selbst sie gegen Marc -und- Valerie kaum Land sehen würde.

„Ich opfere nun diese beiden Spielmarken für eine Tributbeschwörung. Erscheine, [Laval Judgment Lord]!“

Neben seinem Titanen erschien ein furchteinflößender Krieger, der eine Panzerung aus Stahl trug. Sein Waffenrock war von rotem, flatternden Stoff bedeckt, welcher ebenfalls von seiner Schulter in Form eines Umhangs flatterte. Die linke Hand des Kämpfers entflammte schließlich.

 

Laval Judgment Lord [ATK/2700 DEF/1800 (7)]

 

„Ich wusste es“, zischte Anya sauer. Nick würde unweigerlich fallen, nachdem sie ihn nicht mehr mit ihrer Falle beschützen konnte, da Marc jene zerstört hatte! Warum hatte immer sie so ein verdammtes Pech!?

„Verdeckte Falle aktivieren!“, rief Marc und ließ sie aufsehen. „[Return From The Different Dimension]! Für die Hälfte meiner Lebenspunkte kehren für einen Zug alle meine aus dem Spiel verbannten Monster auf das Feld zurück!“

 

[Anya: 4000LP Nick: 4000LP //// Valerie: 4000LP Marc: 4000LP → 2000LP]

 

Ein Dimensionsspalt machte sich weit über ihm auf. Aus diesem sprangen eine kleine Koboldin, gekleidet in einem roten Cape und ein Ork aus Stein hervor, welcher ein abgebrochenes Mühlrad in den Händen hielt.

 

Laval Forest Sprite [ATK/300 DEF/200 (2)]

Laval Miller [ATK/300 DEF/400 (3)]

 

Ungläubig runzelte Anya die Stirn. Nun hatte Marc seine gesamte Monsterkartenzone gefüllt. Zwar erfüllte sie das mit großer Ehrfurcht, doch verunsicherte es sie gleichermaßen. Sie hatte nicht gewusst, dass Marc so ein guter Spieler war.

Und scheinbar war er immer noch nicht fertig mit seinem Zug. „Ich stimme jetzt meinen Stufe 2 [Laval Coatl] und meinen Stufe 5 [Laval Burner] aufeinander ab! Melting bodys form a path to damnation! The wicked soul lusts for even greater power! Synchro Summon! Burn, [Laval Stennon]!“

Der Babyflugsaurier verwandelte sich in zwei grüne Ringe, durch welche [Laval Burner] flog und infolge dessen zu einem grünen Lichtstrahl wurde.

Kurz darauf landete ein gewaltiger Titan aus blassem, blauem Gestein vor Marc. Um Arme, Hüften und Schultern lagen goldene Ringe, aus seinem Leib heraus traten Dreiecke aus Stahl. Eines von ihnen, welches direkt aus Stennons Brust wuchs, wies ein Paar leuchtender, gelber Augen auf.

 

Laval Stennon [ATK/2700 DEF/1800 (7)]

 

Anya indes schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Marcs Wille zum Sieg war selbst ihr unheimlich, obwohl sie selber um jeden Preis gewinnen wollte. Doch nun war sie sich nicht mehr so sicher, ob es ein alberner Pokal und die Aussicht, eventuell in die Proliga aufzusteigen, es wert waren, wenn man so verbissen darum kämpfte wie Marc.

Sie revidierte den Gedanken jedoch schnell wieder – natürlich war es das wert!

Derweil erklärte ihr Gegner gereizt: „Wenn Stennon beschworen wird, muss ich eine Karte abwerfen, doch ich besitze keine. Und nun stimme ich …“

„Was!? Gleich nochmal!?“, erschrak Anya und beobachtete, wie Marcs Müller und der Waldkoboldin in die Höhe stiegen.

„… meine Stufe 2 [Laval Forest Sprite] auf meinen Stufe 3 [Laval Miller] ab! From the blazing shores to the roaring volcanos, the spirit of fire rules the rotten land! From the sparking flames of hatred, the divine dragon is born! Synchro Summon! Take flight, [Lavalval Dragon]!“

Wie zuvor Coatl zersprang Marc brennende Kobolddame in zwei grüne Ringe, welche von dem Müller mit seinem Mühlrad in der Hand durchquert worden. Ein Lichtblitz blendete die Anwesenden, bevor unter lautem Gebrüll ein Drache um das gesamte Footballfeld flog, ehe er vor Marc in der Luft Halt machte und anmutig landete. Sein dunkler Körper bestand vollkommen aus gekühltem Magma, sodass einige Ritzen zwischen seinen steinernen Schwingen und dem langen Schweif noch immer rot aufglühten.

 

Lavalval Dragon [ATK/2000 DEF/1100 (5)]

 

„Monstereffekt! Wenn [Laval Forest Sprite] vom Spielfeld auf den Friedhof gelegt wird, erhalten alle Laval-Monster bis zum Ende des Zuges 200 ATK für jeden ihrer Artgenossen auf dem Ablagestapel.“ Marc lächelte finster und sprach mit gefährlicher Schärfe: „Und ich zähle dort neun Stück!“

Anya stockte der Atem, als um Marcs drei ohnehin schon sehr starke Monster tosende Flammen schlugen. Es war, als stünde seine ganze Seite des Feldes in Brand.

 

Laval Judgment Lord [ATK/2700 → 4500 DEF/1800 (7)]

Laval Stennon [ATK/2700 → 4500 DEF/1800 (7)]

Lavalval Dragon [ATK/2000 → 3800 DEF/1100 (5)]

 

Fassungslos starrte Anya in das Inferno. Marc war durch die Flammen kaum mehr zu sehen, Valerie, die sich die ganze Zeit über nicht mehr eingemischt hatte, ebenso wenig.

„Damit kann er nicht nur einen von uns vernichten … sondern dem anderen noch über die Hälfte seiner Lebenspunkte nehmen. Wir sind aufgeschmissen“, brachte sie wie in Trance hervor.

Vielleicht lag es daran, dass es Marc war, der ihr so zusetzen wollte. Doch Anya hatte sich noch nie so hilflos in einem Duell gefühlt.

Aber es sollte noch viel schlimmer kommen, als Marc rief: „Ich aktiviere den Effekt von [Lavalval Dragon]! Und das gleich zweimal hintereinander! Indem ich jedes Mal zwei, also insgesamt vier, Laval-Monster von meinem Friedhof in mein Deck mische, kann ich so pro Aktivierung eine Karte meines Gegners auf die Hand geben. Damit sind eure Monster fort und können euch nicht länger schützen!“ Er zeigte die drei [Laval Volcano Handmaidens] und [Laval Warrior] vor und mischte sie in sein Deck zurück.

Während Anyas [Gem-Knight Prismaura] sich einfach auflöste und ins Extradeck zurückkehrte, nahm Nick wortlos [Wind-Up Juggler] zurück auf die Hand, welcher daraufhin ebenfalls verschwand. Die Felder der beiden Duellanten waren nun komplett geräumt, innerhalb eines Zuges.

 

„Unfassbar! Das ist The Butcher!“, kommentierte Mr. Bitterfield das Ganze begeistert. „Wer hätte schon erwartet, dass er als Duellant genauso geschickt ist wie als Sportler!?“

Tosender Applaus von der Zuschauertribüne drang zu den Teams, während Anya realisierte, dass sie und Nick nun endgültig verloren hatten. Allein die Angriffe von Marcs Superkriegern reichten schon aus, um das Spiel für sich zu entscheiden.

„[Lavalval Dragon], greife Valerie direkt an! [Laval Judgment Lord], du übernimmst Anya, während [Laval Stennon] Ricks Lebenspunkte auslöscht! LOS!“

Marcs Monster schwärmten aus. Der brennende Magmadrache stieg in die Lüfte, drehte eine große Runde über den Sportplatz und stürzte dann mit furchteinflößendem Tempo auf Valerie hinab. Die konnte gar nicht fassen, dass sich ihr eigener Partner gegen sie gestellt hatte und hielt nur die Arme zum Schutz in die Höhe, als der Drache Feuer spie. Sie wusste, dass ihre verdeckten Karten [Mystical Space Typhoon] und [Poseidon Wave] sie nicht beschützen konnten und schloss die Augen.

Gleichzeitig stampfte der große Krieger im roten Umhang auf Anya zu und verpasste ihr einen Fausthieb, während Stennon aus der Kanone an seinem Arm eine gewaltige Lavakugel auf Nick abschoss.

Drei Schreie erfüllten das Spielfeld.

 

[Anya: 4000LP → 0LP Nick: 4000LP → 0LP //// Valerie: 4000LP → 200LP Marc: 2000LP]

 

Die Hologramme verschwanden. Während Valerie in die Knie sank, nicht begreifend, war dort eben geschehen war, atmete Anya tief durch. Nick war vor Schreck glatt aus den Latschen gekippt und blinzelte erstaunt.

„Wir haben einen Gewinner! Unfassbar! The Butcher hat uns eindrucksvoll bewiesen, wie er es selbst mit drei Gegnern gleichzeitig aufnehmen könnte!“, donnerte der Direktor der Livington High aufgeregt in sein Mikrophon. Dabei schrieb sich die Journalistin neben ihm hektisch jedes Detail auf, während Mr. Redfield wohl noch nie so erbost ausgesehen hatte, wie es jetzt der Fall war. Er erhob sich von seinem Platz, nahm die kleine Treppe der Bühne hinab zum Spielfeld und lief eiligen Schrittes auf Marc zu.

„Da hast du deinen Pokal“, zischte er hasserfüllt und drückte das goldene Prachtstück seinem rechtmäßigen Eigentümer kraftvoller in die Hände, als nötig gewesen wäre. Dann wandte er sich Valerie zu. „Komm Kleines, wir gehen!“

Marc lachte hochnäsig auf. „Das hier brauche ich nicht!“ Damit warf er den Pokal vor Valeries Füße, die ihrerseits lautlos ihr Gesicht in die Hände vergraben hatte. „Behalt' das Teil und mach damit, was du willst!“

Mit diesen Worten drehte er sich einfach um und schritt von dannen. Die Zuschauer, welche die ganze Zeit über sprachlos zugesehen hatten, bombardierten ihn regelrecht mit Buhrufen, doch es machte Marc offensichtlich nichts aus. Er ging einfach weiter, bis er schließlich außer Sichtweite war.

 

Valerie spürte, wie ihr Arm gepackt und sie auf die Beine gerissen wurde.

„Du kommst mit!“, befahl Anya streng und schleifte sie davon, während Mr. Redfield entsetzt mitansah, wie die Blondine mit seiner Tochter und Nick im Schlepptau ebenfalls im Begriff war, das Weite zu suchen.

„Du auch, Masters!“, rief Anya hinauf zu den Tribünen, als sie jene erreicht hatte, wo Abby alles fassungslos mit angesehen hatte.

„Sie bleiben schön hier, Miss Bauer!“, schaltete sich nun Mr. Bitterfield empört per Mikrophon ein. „Warten Sie!“

„Das Turnier ist vorbei!“ Anya hatte sich umgedreht und zeigte dem Direktor den Stinkefinger. „Spenden Sie den beschissenen Pokal doch an Krebskranke oder so! Und jetzt halten Sie die Klappe, Sie gehen mir so was von auf die Eierstöcke mit ihren beknackten Kommentaren!“

Dem Direktor verschlug es glatt die Sprache. Und während jener zusah, wie Abby eilig die Zuschauerreihen hinunter gelaufen kam und Anya zusammen mit Nick und Valerie folgte, hob der Vater Letzterer den Pokal auf und betrachtete ihn niedergeschlagen. „Das hast du nicht verdient, Valerie …“

 

~-~-~

 

Ich habe keine logische Erklärung für das Verhalten deines Freundes. Warum würde er Valerie Redfield absichtlich weh tun wollen, wenn er dich zuvor darum gebeten hatte, genau das zu unterlassen? Ein solcher Wandel ist extrem verdächtig, denkst du nicht auch?

 

„Deswegen sitzen wir ja hier“, brummte Anya und saß zusammen mit Valerie, die immer noch weinte, Nick, welcher unbeholfen Fratzen zog, um jene aufzuheitern, und Abby am kreisrunden Esstisch in Anyas Küche.

„Was sagt Levrier?“, fragte Abby besorgt.

„Nichts, was ich nicht auch so schon wusste!“

 

Valerie sah mit stark geröteten Augen auf. Ihr Make-Up war verlaufen und die Haut so blass, dass man die Adern hindurch scheinen sehen konnte. Normalerweise hätte Anya eigentlich vor Schadenfreude in die Luft springen müssen, doch komischerweise konnte sie sich nicht an Valeries Anblick erfreuen. Es war fast, als-

„Das ging den ganzen Tag so“, sagte die jetzt verschnupft. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das war gar nicht Marc! Er war nie so gemein und herablassend zu anderen gewesen! Er war immer gutmütig, außer vielleicht, wenn es um Sport ging …“

„Sag mir was Neues.“ Anya konnte es nicht leiden, wie Valerie über ihn sprach, als wären sie mehr als nur Freunde. Aber es war auch der Neid, tatsächlich nicht zu wissen, -wie- Marc privat überhaupt so war.

„Am Anfang hat er sich noch halbwegs zusammengerissen“, erklärte Valerie aufgewühlt weiter. „Aber je mehr Gegner wir besiegt haben, desto schlimmer wurde er. Weder hat ihn meine Meinung interessiert, noch hat er meine Hilfe angenommen, wenn er sie dringend gebraucht hätte. Aber irgendwann hatte er sie auch gar nicht mehr nötig, so brutal und effektiv hat er gespielt …“

Abby nickte.

„Das bestärkt mich nur darin, mich nie wieder zu duellieren …“, sagte sie leise. Dabei strich sie über das Holz des Tisches und schien etwas auf dem Herzen zu haben, was sie nur ungern aussprechen wollte. Doch schließlich platzte es aus ihr heraus. „Ich glaube, das wird euch nicht gefallen, aber … was, wenn er einen Pakt geschlossen hat? Wie Anya? Oder besessen ist, so wie Caroline oder die anderen aus Victim's Sanctuary?“

Entgeistert wurde Abby von ihrer Freundin angestarrt. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht!

 

Ich konnte keine außergewöhnlichen Veränderungen an seiner Präsenz feststellen. Allerdings bin ich, was das angeht, seit unserem Pakt nicht besonders zuverlässig, nicht wahr?

 

„Allerdings!“, zischte Anya und starrte die Decke an, wo sie irrsinnigerweise Levriers Geist vermutete. Dann wandte sie sich Valerie zu. „Levrier sagt, Marc war vollkommen normal. Aber das muss nichts heißen!“

„Ich hatte den gleichen Gedanken bereits während des Turniers“, sagte Valerie und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Also habe ich Joan um Hilfe angefleht. Sie hat mir sogar geantwortet, doch sagte sie nichts anderes als Levrier. Marc war nicht besessen und seine Verletzung hat er sich beim Training letzte Woche zugezogen, ich habe die Wunde selbst gesehen. Unter dem Verband befindet sich kein Mal.“

Erstaunt sah Abby ihre Sitznachbarin an. „Du hast mit Joan geredet!?“

„Ja … das erste Mal seit Tagen. Sie meldet sich nur hin und wieder, um zu sehen, ob es mir gut geht.“ Valerie seufzte schwer. „Sie ist wirklich sehr nett … aber selbst als Gottes Dienerin konnte sie nichts für mich tun. Und es wäre vermessen, um noch mehr Beistand zu betteln …“

Anya schnaufte wütend. Die und ihre heiligen Freunde! Jetzt tat sie ganz bescheiden, nur um noch mehr bemitleidet zu werden! Was für eine abgehobene, hohle Nuss Valerie doch war! Und doch …

„Hat er sich irgendwie verraten?“, fragte Abby neugierig.

Valerie sah sie verwirrt an. „Was meinst du?“

„Na ja, vielleicht ist etwas Schlimmes passiert? Das verändert die Menschen, besonders, wenn es sehr plötzlich geschieht.“

„Ich weiß es nicht …“

 

Anya hatte genug! Dieses ganze Gelaber führte zu nichts! Warum auch immer Marc sich so daneben benommen hatte, sie würden es nicht durch wilde Spekulationen herausfinden. „Mein Gott, Redfield, warum fragst du ihn nicht einfach!?“

Abby war es jedoch, die antwortete und dabei die Augen verdrehte. „Denkst du, das hat sie nicht getan?“

„Ich habe gefragt … und natürlich keine Antwort erhalten. Ich solle mich nicht einmischen hieß es.“ Sie lachte bitter auf. „Den Spruch habe ich heute öfter gehört, als die restlichen 19 Jahre meines Lebens zuvor.“

„Dann wird das hier deinem Spruch jetzt Konkurrenz machen, denn den hast du auch schon oft genug gehört: zieh Leine, Redfield!“

„Anya!“ Empört sprang Abby auf. „Warum sagst du so was!? Du warst es doch, die sie hierher gebracht hat!?“

Die Blondine winkte ab. „Na und? Nun will ich aber, dass sie geht! Mein Kopf brummt und ich habe verdammt schlechte Laune! Und da ich keine Lust habe, mich noch weiter über Dinge aufzuregen, die ich sowieso nicht ändern kann, lass ich es einfach!“

„Du bist so-!“

Valerie legte ihre Hand auf Abbys Schulter. „Anya hat schon recht, das bringt nichts. Ich sollte gehen und erst einmal eine Runde Schlaf finden. Vielleicht sieht die Welt morgen schon ganz anders aus.“

„Wenn du willst, bringe ich dich nachhause? Dein Vater macht sich bestimmt Sorgen um dich“, meine Abby und warf Anya dabei einen vernichtenden Blick aus den Augenwinkeln zu. Daraufhin nickte Valerie dankbar. „Gerne. Das ist sehr nett von dir.“

„Ich komme mit!“, sprach Nick aufgeregt dazwischen und grinste derart anzüglich, dass man seine Gedanken nicht lesen können musste, um zu wissen, was in seinem Kopf vorging.

„Keine Ursache!“, strahlte das Hippiemädchen, doch ihr Lächeln verlor sich schnell wieder.

 

Die Situation von Valerie erinnerte sie gewissermaßen an ihre eigene. Ohne Anyas Unterstützung wäre sie wohl jetzt immer noch eine Sirene und obendrein eine Mörderin. In schweren Zeiten brauchte man einfach jemanden, auf den man sich verlassen konnte. Denn selbst wenn dieser jemand die Probleme nicht lösen konnte, war er zumindest dazu imstande, seinen Freunden das Ganze einfacher zu gestalten, ihnen einen Teil der Last abzunehmen. Und sei es, indem man sie nicht alleine ließ. Schade nur, dass Anya diese Erkenntnis hin und wieder vergaß …

 

Und während sich Abby, Nick und Valerie von Anya verabschiedeten, blieb die am Tisch sitzen und wartete, bis die Haustür ins Schloss fiel.

Dann schlug sie mit einem wütenden Aufschrei die Faust auf den Tisch.

Warum hatte Marc das getan!? Dass er einmal der Grund sein würde, warum sie ausgerechnet für Valerie Mitleid empfand, ging weit über Anyas Verständnis hinaus. Er hatte mit seinem Verhalten nicht nur ihre Erzfeindin ins Chaos gestürzt, sondern auch sie selbst!

 

Anya Bauer! Deine Augen …
 

„Halt den Mund, Levrier!“

Wie konnte sie Marc jetzt noch mögen!?

 

 

Turn 12 – Scars

Seit dem Turnier ist Marc nicht mehr in der Schule aufgekreuzt. Darüber hinaus hat Anya auch noch die sehr neugierige Journalistin an der Backe, die damals zugegen war und nun viele unangenehme Fragen stellt. Als sie durch Nicks loses Mundwerk schließlich erfährt, was Abby wirklich ist, will sie jene unbedingt ablichten. Die jedoch ist vollkommen verängstigt, sodass Anya die Sache mit einem Duell regeln will. Allerdings nicht ohne Hintergedanken, denn damit könnte man Abby vielleicht ihre Angst vor Duellen nehmen …

 

Turn 12 - Scars

Turn 12 – Scars

 

 

Es klingelte an der Tür.

Wütend stampfte Anya die Treppe hinab und schwor sich, denjenigen zu erwürgen, der es wagte, sie bei ihrem allwöchentlichen Samstagsdauerzocken zu stören!

Vor der massiven Holztür angekommen, spähte sie misstrauisch durch den Spion. Und schreckte überrascht zurück, als sie direkt in ein giftgrünes Auge starrte.

Unwirsch riss sie die Tür auf und rief: „Hey, was soll der Scheiß? Wir haben heute geschlossen, danke!“

Schon wollte sie die Tür wieder zuknallen, doch ein Fuß schob sich über die Schwelle und blockierte diese. Ein blasses Gesicht drückte sich durch den Spalt und starrte Anya aus dicken Brillengläsern neugierig an.

„Du wirst entschuldigen, Kleine, aber ich habe ein paar Fragen an dich!“

„Ich kaufe nichts von Pennern!“

Die Dame räusperte sich entrüstet. „Ich bin keine sozial Bedürftige. Ich bin Journalistin. Mein Name ist Nina Placatelli und ich möchte dich gerne ein wenig aushor- interviewen, Anna.“ Sie reichte Anya durch den Spalt die Hand.

Böser Fehler, dachte die mit fiesem Grinsen und griff den weißen Ärmel ihrer Bluse. Dann zog sie mit aller Kraft daran, während sie unter Zuhilfenahme ihres Fußes die Tür weiterhin zudrückte. Die alte Schachtel schrie wütend, woraufhin plötzlich die Tür aufschwang und Anya zurückgeworfen wurde, anschließend auf dem Rücken landete. Hatte diese Reporterin doch tatsächlich die Haustür mit einem Tritt wieder geöffnet.
 

Selbstgefällig trat jene über die Schwelle.

„Du erlaubst doch sicher“, meinte sie dabei förmlich und schritt seelenruhig an Anya vorbei, direkt ins Wohnzimmer. Die starrte ungläubig der Journalistin hinterher und wusste nicht, ob sie sie für ihre Dreistigkeit bewundern oder töten sollte.

„Alter, ist die stark“, staunte sie dabei leise für sich. Dann sprang das Mädchen auf und folgte der Frau ins Wohnzimmer, ehe die noch auf die seltendämliche Idee kam, lange Finger zu machen.

 

Doch die Reporterin hatte es sich bereits auf einem Sessel bequem gemacht und kramte aus ihrer überdimensionalen Handtasche einen uralten Fotoapparat, einen Notizblock und einen Kugelschreiber, ehe sie das rote Ungetüm auf den Glastisch schmiss.

Wie unmodern, dachte Anya beim Anblick des Notizblocks gehässig. Hatte die Alte kein Geld für ein Notebook oder dergleichen?

Sie stand beim häuslichen Plasmafernseher und wusste nicht, ob das alles nur ein schlechter Scherz war, oder diese Frau Selbstmordabsichten hegte. Die Dame besten Alters winkte sie zu sich. „Komm Anna, ich habe nicht viel Zeit.“

 

Wütend musterte die Blondine die Frau. Um ihre Augen traten schon deutliche Falten hervor, ihre schmalen Lippen waren mit kirschrotem Lippenstift bemalt, welcher nicht recht zu ihrem feuerroten Haar passen wollte. Jenes war extrem gelockt und wurde von derart vielen Spangen gehalten, dass die Frisur einfach nur planlos und chaotisch wirkte. Zwei Strähnen hingen ihr im Gesicht. Am Leibe trug sie ein giftgrünes, weites Kleid, das zumindest hervorragend mit ihren Augen harmonisierte.

 

„Ich heiße Anya“, brummte jene und schielte zurück in den Flur. Sollte sie vielleicht Barbie holen? Bisher hatte ihr mit Nägeln, abgebrochenen Messerklingen und anderen metallischen Spitzen besetzter Baseballschläger jeden Schmarotzer in die Flucht geschlagen. Zu ihrem Bedauern bisher nur im übertragenen Sinne.

„Anna, Anya, unwichtige Details“, meinte diese Nina flapsig und winkte ab. „Komm schon, Kleine, mich interessiert deine Geschichte.“

Sie klopfte einladend auf das Sofa, neben dem ihr Sessel stand.

 

Das Wohnzimmer der Familie Bauer war nicht sehr groß. Ein rechteckiger Glastisch stand in seiner Mitte, während an der Nordwand ein großes Sofa Staub fing. Daneben je links und rechts ein Sessel, wobei sie alle auf den Fernseher gerichtet waren, welcher in der südwestlichen Ecke des Zimmers stand. Ein großes Fenster gewährte den Blick auf den minimalistischen Garten und so unweigerlich auch auf die Nachbarschaft.

 

Zögerlich stellte sich Anya der Journalistin gegenüber. Die starrte sie aus ihren großen, eckigen Brillengläsern erwartungsvoll an. „Setz' dich, Kindchen.“

„Nein danke, ich kann auch stehen!“

Denn dann kann ich sofort eingreifen, wenn du erkennst, dass es an der Zeit ist wegzurennen, dachte sie dabei grimmig. Niemand betrat -ihr- Haus ohne ausdrückliche Genehmigung!

„Na, wie du meinst“, zeigte Nina sich gleichgültig und zückte Stift und Notizblock. „Anna Bauer war dein Name, oder?“

„Anya!“

Hatte die Alte Alzheimer oder machte sie das mit Absicht!?

 

„Gut, gut!“ Sie sah auf. „Also, Anya“, sie betonte den Namen des Mädchens jetzt besonders langsam, „du bist ja die traurige Verliererin des Wettstreites, der letzte Woche an eurer Schule stattgefunden hat. Wie fühlst du dich dabei?“

Anya blinzelte irritiert. „Huh?“

Die Reporterin kritzelte etwas auf ihren Block. Dabei murmelte sie: „Immer noch fassungslos über die schreckliche Niederlage.“

Danach blickte sie wieder auf. „Sicherlich war es schwer für dich und deinen Partner, so weit zu kommen. Wie hast du das angestellt?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Anya ungläubig.

Die Rothaarige zwinkerte vieldeutig. „Ach tu doch nicht so, Kindchen. Du weißt schon, Bestechung, Schummeln, zwielichtige Tauschgeschäfte?“

„Ich habe ganz normal gekämpft!“

Wieder zitierte die Frau, was sie sich notierte. „Möchte ihr Geheimnis nicht preisgeben, macht aber Andeutungen.“

„Was reden Sie da!?“ Anya wollte auf den Notizblock sehen, doch die Alte hielt ihn sich an die Brust und schüttelte süffisant grinsend den Kopf. „Na na, wir sind noch nicht fertig!“

„Was wollen Sie überhaupt von mir!?“

Nina überging die Frage einfach. „Was hältst du von Marc Butcher, dem zweifelhaften Sieger des Turniers? Ich habe aus einschlägigen Quellen gehört, er wäre seit dem Turnier für den Rest der Woche nicht mehr in der Schule aufgetaucht?“

 

Anya verstummte.

Es stimmte, Marc war die letzten Tage nicht zum Unterricht erschienen. Offiziell lag zumindest eine Krankschreibung seiner Ärztin vor. Grund dafür war seine verletzte Hand, die dringend Ruhe benötige, da ihr Zustand sich verschlimmert habe. Natürlich glaubte niemand auch nur ein Wort von dieser fragwürdigen Entschuldigung.

Die Stimmung gegenüber Marc war so extrem umgeschlagen, wie man es noch nie an der Livington High erlebt hatte. Einst von allen bewundert, war der Football- und Eishockeyspieler nun bei allen unten durch für sein schäbiges Verhalten gegenüber den anderen Turnierteilnehmern.

Selbst Anya wusste nicht, wie sie nun über Marc denken sollte. Seine kalte, gar grausame Art hatte sie regelrecht abgeschreckt. Eine richtige Erklärung für sein Verhalten gab es immer noch nicht, auch wenn manche von Frust aufgrund seiner Verletzung sprachen.
 

„Was ich von Marc halte, geht Sie überhaupt nichts an!“, fauchte Anya schließlich. Denn es war trotzdem ihre Pflicht als seine … was-auch-immer, Marc zu verteidigen. „Sind Sie nur hier, um über das Turnier zu reden!? Hätten Sie das nicht schon neulich machen können!? Sie waren doch selbst dabei, nicht!?“

„Deckt den Schule schwänzenden, ehemaligen Footballhelden“, murmelte Nina und legte ihren Notizblock wieder auf den Schoß. Dann klimperte sie mit ihren langen, garantiert falschen Wimpern. „Um deine Frage zu beantworten: nein, ich bin nicht nur wegen des Turniers hier und Zeit hatte ich bisher keine für dich, Ann- Anya. Aber Schätzchen, sag mir mal eines … glaubst du an Geister?“

„Ich kenne sozusagen einen … nicht!“

Gerade noch einmal gerettet, dachte Anya. Und dann noch so cool! Sie war eben echt gut!

„Du wirst dich bestimmt fragen, warum ich das wissen will?“

„Nein. Ich frage mich eher, wie viel Zeit Sie mir noch stehlen wollen? Sie sollten wissen, dass jede Sekunde mit einem Tropfen Blut aufgewogen wird.“ Anya sagte das in einer Trockenheit, die sie so noch nie angewendet hatte. Sozusagen hatte sie sich das bei Abby abgeschaut und wollte einfach mal sehen, ob ihr hochgelobter Sarkairgendwas wirklich funktionierte.

 

Natürlich schenkte Nina den leeren Drohungen keine Beachtung. Sie lächelte nur und sah dabei aus, als würde sie dem Mädchen jeden Augenblick um den Hals fallen. „Wie putzig. Nein im Ernst, ich frage dich das, weil ich da einer großen Sache auf der Spur bin. Und irgendwie glaube ich, dass du auch darin verwickelt bist.“

Anya zog die rechte Augenbraue an. „Was Sie nicht sagen?“

„Nun, dein kleiner Fund von vor ein paar Wochen, der war ganz schön … beängstigend, nicht war? Besonders, weil die Leiche völlig ausgetrocknet und verschmort war, doch nicht ihre Kleidung. Außerdem sind da noch die Geschichten rund um Victim's Sanctuary und deren Insassen. Du warst dabei, als man das Personal aus dem Keller befreit hat. Kommt es dir denn nicht merkwürdig vor, was so alles in letzter Zeit passiert?“

Anya schnaubte wütend. „Sie haben wohl zu oft ins Glas geschaut“, stellte sie immer noch mit Abbys Technik, dem Sarkadingens fest.

Nina jedoch lachte nur spitz.

„Ach Kindchen“, winkte sie ab, „sei doch nicht so naiv. Hier geht etwas Großes vor sich und du bist der Schlüssel. Ich habe auch von der Aula deiner Schule und dem Schulhof gehört, den du demoliert hast. Wie hast du das angestellt?“

Neugierig beugte die Frau sich vor und ließ tiefer in ihr Dekolleté blicken, als gut für ihr Umfeld gewesen wäre. Verdutzt blieben Anya die Worte im Halse stecken. Was hatte die alte Schachtel da gerade behauptet? SIE wäre schuld an allem?

Okay! Das war genug!

 

„Tut ganz unschuldig, lächelt dabei aber vielsagend“, notierte sich Nina nebenbei. Plötzlich wurde sie am Arm gepackt und auf die Beine gezogen. „He-hey, lass das!“

„Sie kommen jetzt schön mit!“

Anya zerrte die Frau, die sich hastig ihre riesige Handtasche schnappte, mit aller Kraft aus dem Wohnzimmer zurück in den Flur. Dabei krallten sich ihre Fingernägel tief in die Haut der Reporterin, die sich energisch zur Wehr setzte, doch Anyas aus Wut resultierendem Kraftschub nicht gewachsen war.

Jene öffnete die Haustür und schleuderte Nina mit einer Drehung aus dem Haus. Die rief aufgebracht, während sie torkelnd das Gleichgewicht wiederfand: „Warte doch, wir sind noch nicht-!“

 

Wumms! Die Tür war zu, abgeschlossen und die alte Schreckschraube nur noch undeutlich zu hören. Anya schnaubte wie ein Stier. Diese hässliche Krähe hatte wohl noch nie von ihr gehört, sonst hätte sie einen großen Bogen um das Grundstück der Familie Bauer gemacht!

Was wollte die blöde Ziege überhaupt hier? Bestimmt irgendeine bekloppte Story über das Turnier verfassen! Oder über Geister, Anya war es letztlich gleich. Wenn die ihr noch einmal unter die Augen kam, würde sie den Lake Livington kennenlernen – von unten!

 

~-~-~

 

„Das hat sie dich gefragt?“, staunte Abby kurze Zeit später und biss in ihren Käsecracker. Sie hockte im Schneidersitz auf ihrem Bett und hatte sich Anyas Geschichte angehört. Schließlich musste sie kichern.

„Was ist so witzig?“, fragte Anya missmutig vom Schreibtischstuhl aus.

„Na ja, da du nie Zeitung liest, kannst du das nicht wissen“, stichelte das Hippiemädchen, „aber Nina Placatelli ist berüchtigt für ihre Artikel. Die werden schon lange nicht mehr in der Zeitung gedruckt, weil sie so gut recherchiert sind. Jeder weiß das, nur Nina selbst will es nicht wahrhaben.“

„Und warum ist die Alte dann noch als Journalistin angestellt?“

„Weil ihre Artikel so hanebüchen sind, dass die Leute sie allein aufgrund ihrer verrückten Theorien lesen. Das liegt daran, dass Nina praktisch jede Tatsache, die sie irgendwo aufgeschnappt hat, bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Sie sieht sich aber im Recht.“ Abby schmunzelte. „Wobei. Ob ihr bei dir ein Glückstreffer gelungen ist?“

Anya starrte sie finster an, während sie ihre Arme auf der Rückenlehne des Stuhls verschränkte, um den Kopf darauf zu legen. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

„Ich bin Opportunistin.“

„Du nimmst Drogen?“

Abby brach in schallendes Gelächter aus. Verdutzt blinzelte Anya und ahnte, dass sie etwas gesagt hatte, was sie besser hätte für sich behalten sollen. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie Nick. Und erkannte im Zuge dessen, dass sie ihre Einstellung gegenüber dem Nachdenken vielleicht infrage stellen sollte. Von Abby ausgelacht zu werden war einfach nur nervig!
 

Plötzlich klingelte es von unten an der Haustür.

„Ich geh schnell runter“, meinte Abby prustend, da sie und Anya die Einzigen waren, die sich im Haus aufhielten. Der Rest der Familie, inklusive Hund, hatte einen Ausflug zum Lake Livington gemacht, um die letzten Spätsommertage noch einmal richtig auszunutzen.

Anya erhob sich ebenfalls und begleitete Abby. Während sie die Treppen nacheinander hinunter stürmten, klingelte es abermals, aber fordernder.

Kaum hatte Abby den Schlüssel herumgedreht, drängten sich zwei Personen an ihr vorbei. Anya, die vor jenen stand, machte Augen wie eine Kuh wenn es donnerte. „SIE!?“

„Hi Liebchen, hier steckst du also“, meinte Nina unbekümmert. Sie drehte sich um und sah Abby mit einer Faszination an, die ihresgleichen suchte. „Du … du musst Abigail sein, oder? Bist du es?“

Abby nickte unsicher und wandte sich an Ninas Begleiter. „Nick? Wer ist das?“

„Und wie kommt es, dass sie hier ist!?“, verlange Anya aufbrausend zu wissen. „Ausgerechnet mit dir!?“

 

Die rothaarige Reporterin schmiegte sich an den hochgewachsenen jungen Mann und streichelte anzüglich schmunzelnd seinen Arm. „Ich musste doch auch das andere Teammitglied der Verlierer interviewen. Der kleine Nick hat es mir so einiges verraten. Er wird sehr gesprächig, wenn man nett zu ihm ist.“

„Hehe.“

„Was haben Sie mit ihm angestellt!?“, fauchte Anya und wollte ihr ans Leder, doch Nina schob den einen Kopf größeren Nick behände in den Weg der Blondine und lugte selbstverliebt grinsend hervor. „Ach Kindchen, doch nicht, was du jetzt denken magst. Nicht alle Menschen behandeln ihre Freunde wie Ungeziefer!“

„Aber ihre Feinde! Und jetzt legen Sie sich auf den Boden, damit ich Sie endlich treten kann!“ Anya griff an Nick vorbei, doch geschickt wich die Journalistin zur anderen Seite aus.

„Anya, ist das etwa Nina Placatelli?“, fragte Abby verdutzt, während sie die Haustür schloss und ihre Freundin beobachtete, wie sie der flinken Reporterin an den Hals wollte.

„Ich sehe, du hast schon vor mir gehört“, lachte Nina, während sie sich unter einem Fausthieb duckte und Anya die Hand aufs Gesicht legte, um sie von sich fern zu halten. Sie zwinkerte Abby verschwörerisch zu. „Aber das ist bestimmt nichts im Vergleich zu dem, was ich über dich erfahren habe, meine kleine Sirene.“

 

Stille.

Abby verlor sämtliche Farbe im Gesicht, ihr Mund stand offen. Dann murmelte sie so leise, dass man es kaum verstehen konnte: „Woher wissen Sie davon?“

„Na von ihm hier“, meinte Nina gut gelaunt und klopfte mit ihrer freien Hand Nick auf die Schulter, der erwartungsvoll Abby anstarrte.

 

Plötzlich schrie die Journalistin auf, nämlich, als Anya ihr in die Hand gebissen hatte. Sie wich zurück und stieß gegen die Wand des kleinen Flurs, der zum Gemeinschaftszimmer führte. „Du kleine Kröte, was soll das!?“

„Oh, glauben Sie mir, das war erst der Anfang!“, versprach Anya und zeigte auf die Frau. „Wenn ich mit Ihnen fertig bin, passen Sie in einen Kochtopf! Dann tun Sie wenigstens einmal etwas Nützliches, indem Sie den Arbeitslosen als kostenlose Mahlzeit dienen, Sie falsche Schlange!“

Ruckartig schwenkte Anya ihren Arm zur Seite und deutete nun auf Nick. „Und was dich angeht, wird dein Blut die Soße sein! Wie hirnverbrannt bist du überhaupt, dieser alten Schrulle etwas über Abby zu erzählen!?“ Sie wechselte wieder die Richtung zu Nina. „Und natürlich hat er gelogen, damit das klar ist!“

„Aber sie hatte doch Kekse“, jammerte Nick reumütig. „Die guten Kekse!“

Der Rotschopf derweil lachte auf. „Von wegen! Er hat mir alles über euch erzählt! Aber ein Dämonenkind interessiert mich nicht, ich will die Sirene!“

Mit diesen Worten wandte sie sich an Abby. „Na Kleine? Du magst mir doch sicher einmal zeigen, wie du so als Sirene aussiehst, oder? Ein kleines Foto, und ich bin auch ganz schnell wieder verschwunden.“

„Verlassen Sie … unser Haus …“, murmelte Abby und in ihren Augen stand ein Hass geschrieben, den Anya so noch nie gesehen hatte. Was sie sofort an Levriers Worte erinnerte. Wenn er zu groß wurde, dann würde Abby wieder-

„Kein Foto, Sie Miststück!“ Anya stürzte sich auf Nina und zerrte an ihrem grünen Kleid, während die Journalistin gebannt ihre Freundin anstarrte. Die öffnete nur die Tür, um Anya zu helfen, das alte Weib wieder loszuwerden.
 

Ein gezielter Tritt in den Hintern, und Nina lag auf den Steinfliesen in Abbys Garten, umringt von kniehohem Gras.

„Lassen Sie sich nie wieder hier blicken!“, fauchte Anya außer sich.

Doch Nina sprang auf die Beine und runzelte ärgerlich die Stirn. „Bedaure, Herzchen, aber ich werde nicht eher gehen, bis ich die Sirene fotografiert habe! Ich weiß ja nicht, wie du dein Geld verdienst, aber -ich- muss schwer dafür schuften! Ist ein bisschen Entgegenkommen denn zu viel verlangt!?“

„Im Moment ist es schon sehr viel verlangt, Ihnen nicht den Hals umzudrehen!“ Anya starrte die Frau aus dem Spalt der Tür heraus schnaufend an.

Ungerührt klopfte sich Nina das Kleid sauber. Arrogant erwiderte sie: „Du machst mir keine Angst, Kleine. Deine Sprüche sind doch sowieso nur heiße Luft. Ach Gottchen, du steckst einmal den Kopf eines Mitschülers – Wie hieß er doch gleich? Willy Patrics? – in die Toilette und glaubst aufeinm- Ahhh!“

 

Anya hatte sich auf die Frau gestürzt und schlug um sich wie eine Furie. Nina, die den Hieben nur mit Mühe ausweichen konnte, schrie lauthals, als Anya mit den Zähnen ihre Haare ausreißen wollte.

Nick und Abby kamen nach draußen geeilt, doch besonders Letztere schien keine Anstalten machen zu wollen, der Frau in irgendeiner Form zu helfen.

„Nehmt diese Irre weg von mir!“, schrie sie hysterisch.

„Heiße Luft!?“, ereiferte Anya sich und versuchte dabei, Nina ihr Knie in eine sehr empfindliche Gegend zu rammen. „Dir zeig ich, wo heiße Luft ist! In deinem Kopf, du grenzdebile Sumpfkuh!“

Nick stolperte schließlich ungeschickt zu den ringenden Furien und riss Anya von der Journalistin. Das Mädchen trampelte zwar um sich, konnte aber nichts tun, da der erstaunlich kräftige Nick sie unter den Armen gepackt hatte. „Dir beiß' ich die Kehle durch!“

„Versuchs doch!“

Nina hatte sich aufgerichtet. Ihr Haar war zerzaust, die Spangen verrutscht und ihr Gesicht war ganz rot vor Wut und Erschöpfung. Sie keuchte und wischte sich über den blutigen Mund, was dazu führte, dass nun selbst der Lippenstift verschmiert wurde. „Ich gebe nicht so schnell klein bei!“

 

Abby trat zwischen die beiden Parteien und hielt die Arme ausgestreckt. „Gehen Sie bitte! Wenn Sie es nicht tun, werden Sie es bereuen …“

Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Kräfte noch im Zaun halten konnte. Die Wut und Hass, die in ihr aufwallten wie brodelnde Lava, waren ein eindeutiger Warnhinweis. Abby durfte nicht die Kontrolle verlieren, sonst würde diese Frau vermutlich mit dem Leben dafür bezahlen!

„Nur ein Foto! Ist das denn so schwer!?“

„Es geht-“
 

„Sie kriegen ihr Foto“, meinte Anya plötzlich ruhig. Nick ließ sie verdutzt los, als sie sich nicht länger zur Wehr setzte. Die Blondine trat neben Abby und verschränkte die Arme. „Aber es gibt da eine Bedingung. Sie müssen sich darum erst duellieren.“

„Ein Handel?“, fragte Nina geschäftsmännisch und richtete die verrutschte Brille auf ihrer Nase. „Klingt ganz nach meinem Geschmack. Was schlägst du vor?“

„Wie gesagt, ein Foto für Sie, wenn Sie gewinnen. Wenn das aber nicht der Fall ist, ziehen Sie Leine und kommen nie-wieder! Und sollten Sie sich nicht daran halten, werden Sie nachts nie-wieder ein Auge zu tun können, weil ich jede Sekunde kommen und Ihnen das Genick brechen könnte!“

„Noch mehr leere Drohungen?“ Nina lachte hochnäsig auf. „Aber deine Idee ist gar nicht so schlecht, Kleines.“
 

Abby starrte Anya verdutzt an. „Das würdest du für mich tun?“

„Wer sagt, dass ich mich duellieren werde?“ Die Blondine warf ihrer Freundin einen strengen Blick zu. „Das wirst du schön selbst erledigen, immerhin geht es hier um dich.“

„A-Aber!“ Abby legte ängstlich ihre Hände auf Anyas Schultern. „Ich kann mich nicht duellieren! Du weißt, was letztes Mal passiert ist! Auf gar keinen Fall!“

Heftig schüttelte sie dabei den Kopf.

„Ich weiß, dass du Schiss davor hast“, donnerte die Blondine aufgebracht, „aber deine Angst ist unbegründet. Wenn es danach ginge, könntest du dich jederzeit verwandeln! Nicht die Duelle sind Auslöser für deine Verwandlung, sondern deine Gefühle!“

Abby wich ihrem Blick wortlos aus. „Denkst du, das weiß ich nicht längst?“

Ihre Freundin blinzelte einen Moment verdutzt, dann schnaubte sie. „Wenn das so ist, warum weigerst du dich so beharrlich, dich zu duellieren!?“

„Weil das … wie ein Sog ist! Ich kann als Sirene Fiktion zu Realität werden lassen! Stell dir vor, was passiert, wenn ich eine Armee echter Monster auf meinen Gegner loslasse!“ Abby trat einen Schritt von Anya zurück und nahm flehend deren Hände in die ihren. „Bitte, zwing mich nicht dazu! Ich habe Angst, dass … dasselbe passiert, wie neulich. Wenn … ich die Kontrolle verliere, dann …“

 

„Dann?“

Nina beugte sich neugierig über Abbys Schulter und notierte sich jede Kleinigkeit des Gesprächs. Zumindest, bis Anya ihr den Notizblock aus der Hand riss und darauf herumkaute, ihn ausspuckte und in den Boden stampfte.

Nina war wieder knallrot im Gesicht. „Was soll denn das!?“

„Gehen Sie sterben, Sie altes Reptil!“, forderte Anya wütend und stampfte noch einmal auf. „Wie es aussieht, gibt es kein Duell! Also ziehen Sie Leine, ehe eine von uns beiden sich vergisst. Und das bin vorzugsweise ich!“

„Nichts da, Herzchen!“, weigerte die Rothaarige sich jedoch beharrlich. „Ich gehe nicht eher, bis ich mein Foto habe! Niemand wird mir diese Story streitig machen, hörst du, niemand!“

Anya kniff die Augen zusammen und strich sich die nicht existierenden Ärmel ihres schwarzen T-Shirts von den nackten Handgelenken. „Ach ja … ?“

„Ja!“

„Aufhören!“ Wieder stellte sich Abby zwischen die beiden Furien. „Ich … ich mache es. Ich … werde mich duellieren, zu Anyas Konditionen.“

Völlig verwirrt starrten sich die Streitenden an, ehe sie ihr Augenmerk zurück auf Abby richteten. Die seufzte und hielt sich eine Hand an die Brust, wo ihr aufgeregtes Herz wild pulsierte.
 

Sie musste es tun. Was für eine andere Wahl hatte sie schon? Die Vorstellung, Nina bis ans Ende aller Tage in ihrer Nähe zu haben, glich für Abby schon Folter. Es ging auch weniger darum, dass Nina ihren Artikel veröffentlichen konnte, denn glauben würde man ihr selbst mit Fotobeweis nicht. Aber wie ein Tier im Zoo behandelt zu werden, und sei es nur von einer Person, machte Abby wütend und traurig. Dieses Gefühl sollte enden und Anya hatte, was das Mädchen sehr überraschte, in gewisser Hinsicht recht.

Sie musste die Angst vor sich selbst bekämpfen, sonst würde diese sie irgendwann verschlingen. Anya war da und würde ihr beistehen, selbst wenn sie aus Zorn tatsächlich zu einer Sirene werden sollte. Und solange sie da war, würde es Abby leichter fallen, sich zusammen zu reißen, schließlich wollte sie Anya nicht in Gefahr bringen.
 

„Bist du dir da wirklich sicher?“, fragte jene skeptisch und verschränkte die Arme. Mit einer abfälligen Handbewegung deutete sie in Ninas Richtung. „Die rauchst du in der Pfeife, so viel ist sowieso klar. Aber hast du dir das gut überlegt? Ich könnte sie auch einfach für dich du-weißt-schon-was.“

„I-ich denke schon“, meinte Abby und nickte knapp. „Ich will es zumindest probieren. Du hast schon recht, diese Angst muss bekämpft werden.“

„Ich habe immer recht“, konterte Anya trocken und grinste. „Aber gut, verarbeite die Alte zu Brei, 'kay?“

„Oh ihr kleinen Dummerchen, täuscht euch nicht in mir“, mischte sich Nina ein und richtete zufrieden lächelnd ihre Brille. „Ich besitze eines der besten Decks, das die Welt je gesehen hat. Andere Duellanten haben damit Meisterschaften gewonnen!“

Demonstrativ holte sie aus ihrer großen Tasche eine Duel Disk. „Aber wenn ihr wollt? Umso schneller bekomme ich mein Foto!“

„Vergiss es, Schwester! Abby spielt in einer ganz anderen Liga!“, meinte Anya siegesgewiss und klopfte ihrer Freundin so hart auf den Rücken, dass die nach vorn stolperte.

„J-ja …“

 

~-~-~

 

Die beiden Duellantinnen standen sich auf dem Hinterhof vom Grundstück der Familie Masters gegenüber. Um zu verhindern, dass Unbeteiligte Abbys potentiellen Kräfte sahen, hatte man diesen Ort als Schauplatz des Duells gewählt. Und sollte jemand dumm genug sein, neugierig über den hohen Lattenzaun zu spähen, würde Anya ihn eigenhändig mit einem der Pfähle aufspießen, so schwor sie sich.

Sie stand neben Nick an der Rückwand des Hauses und beobachtete alles mit Adleraugen. Dass Nick dabei gefesselt und geknebelt war und zu ihren Füßen lag, hatte er allein seiner großen Klappe zu verdanken. Die Blondine starrte ihn giftig an und freute sich bereits auf das, was nach dem Duell kam. Nick weniger, denn der zappelte unruhig und gab dumpfe Laute aus seinem Knebel preis.

„Sieh zu!“, befahl Anya harsch. „Das ist sowieso alles nur deine Schuld! Bete zu Satan, dass Abby gewinnt, oder ihr erstes Opfer wirst du sein!“

 

Derweil hatte sich Nina ihre Duel Disk angelegt und wirkte in ihrem grünen Kleid seltsam deplatziert auf dem Spielfeld. Abby ihrerseits wirkte eingeschüchtert und ängstlich, was sich an ihrer verklemmten Körperhaltung bemerkbar machte.

„Bist du bereit, Kleine?“, fragte die Journalistin gut gelaunt.

„Ich denke schon …“

„Worauf warten wir dann noch? Duell!“

Abby nickte bloß.

 

[Abby: 4000LP / Nina: 4000LP]

 

Beide zogen ihrer Starthand bestehend aus fünf Karten. Abby meinte schließlich: „Ich beginne“, und stockte ihr Blatt um noch eine Karte auf.

„Ich setze ein Monster. Damit beende ich meinen Zug.“

Vor den Füßen des brünetten, leicht zerzausten Mädchens tauchte eine Karte in horizontaler Lage auf, dabei mit dem Rücken nach oben zeigend. Abby atmete tief durch und zeigte ihrer Gegnerin mit einer Geste nachdrücklich, dass sie am Zuge war.

 

„Okay Herzchen, dann lässt Tante Nina jetzt mal die Puppen tanzen!“ Die rothaarige, schon ein wenig ältere Frau zog schwungvoll. „Ich rufe [X-Saber Airbellum]!“

Mit lautem Gebrüll sprang hinter ihr ein Löwenmensch in geduckter Haltung hervor. Obwohl seine Statur der eines Menschen glich, wirkte sein zur Hälfte blondes, zur Hälfte schwarzes Haar eher wie eine wilde Mähne. Zudem trug er krallenbesetzte Handschuhe, was ihn nur umso bestialischer wirken ließ.

 

X-Saber Airbellum [ATK/1600 DEF/300 (3)]

 

„Attacke!“, befahl Nina gebieterisch und zeigte mit einer entsprechend eingebildeten, angewinkelten Handbewegung auf Abbys Monsterkarte.

Schnellen Schrittes stürmte Airbellum auf diese zu, sprang in die Luft und rammte seine Krallen in das geheimnisvolle Monster. Doch wurde er kurz darauf zurückgeworfen, als ein kleiner, brauner Käfer mit einem Horn aus Holz seinen Angriff einfach abwehrte.

„[Naturia Beetles] Verteidigung ist höher als der Angriff Ihres Monsters“, meinte Abby und las den Käfer behutsam vom Boden auf, dessen Körper aus einer Eichel bestand.

 

Naturia Beetle [ATK/400 DEF/1800 (4)]

 

Er ist real, dachte Abby dabei erschrocken. Sie war sich der Tatsache, dass ihre Kräfte sogar dann wirken konnten, wenn sie gar nicht ihre Sirenenform angenommen hatte, nicht bewusst gewesen. Unter diesen Umständen konnte sie unmöglich weiterkämpfen!

 

[Abby: 4000LP / Nina: 4000LP → 3800LP]

 

Nina allerdings bekam davon gar nichts mit. Sie zückte zwei Karten aus ihrem Blatt und zeigte sie zwischen den Fingern vor. „Diese beiden Schätzchen lege ich verdeckt aus.“

Die gesetzten Karten erschienen vor ihren Füßen, während sie zufrieden lächelte. Man merke ihr förmlich an, dass sie mit nichts anderem als einem Sieg rechnete. Selbstherrlich meinte sie schließlich: „Los Kindchen, ich habe nicht ewig Zeit. Du bist am Zug.“

 

Doch Abby, die den Käfer streichelte, zuckte erschrocken zusammen. Sie ließ ihn hinab ins Gras und zog mit zitternder Hand eine Karte. Unter keinen Umständen durfte sie Nina gefährden!

„Ich pass-“

„Was soll denn das, Masters!?“, fauchte Anya sie von der Seite her an. „Du tust ja so, als wäre das dein allererstes Duell überhaupt! Geh richtig ran und zeig dieser Schreckschraube, dass man dich nicht unterschätzen sollte!“

Abby nickte perplex. Anya konnte das nicht wirklich verstehen. Solche Kräfte zu haben war einfach nur schrecklich. Zwar besaß ihre Freundin ebenfalls spezielle Fähigkeit, doch wusste sie nichts oder nur sehr wenig von ihnen – das hatte Matt zumindest gesagt. Wenn Abby die Wahl hätte, würde sie ihre eigene Herkunft am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen und wieder ein ganz normales Mädchen sein wollen. Aber das ging nicht.

„Soll … soll ich es wagen?“, fragte Abby ihre Freundin hilflos. „I-ich glaube, es wäre besser, das Duell abzubrechen. Sonst tue ich Nina noch weh!“

„Schwachsinn! Und selbst wenn, umso besser! Konzentriere dich einfach und alles wird schon gut werden!“

Ein wenig musste Abby dabei schmunzeln. Für Anya war alles so einfach. Vielleicht … vielleicht sollte sie ihrem Rat einfach folgen? Einmal nicht nachdenken und sehen, was passiert. Nur weil sie [Naturia Beetle] berühren konnte, hieß das noch lange nicht, dass dasselbe auch für Nina zutraf! Oder war diese Logik fehlerhaft?

 

„Okay!“, sagte sie mit neuem Mut und sah ihr Blatt an. „Ich beschwöre [Naturia Vein]!“

Neben ihrem Käfer tauchte ein tanzendes Blatt mit Armen und Beinen auf, welches neugierig mit seinen Kulleraugen die Umgebung musterte. Doch alles, was es zu sehen bekam, waren links und rechts hohe Grashalme. Einzige Ausnahme: Abbys riesige Gestalt, die auf das kleine Wesen herab starrte.

 

Naturia Vein [ATK/200 DEF/300 (1)]

 

Abby streckte den Arm in die Höhe, während ihre Monster in die Luft aufstiegen. „Ich stimme mein Stufe 1 [Naturia Vein] auf meinen Stufe 4 [Naturia Beetle] ab!“

„Wie bitte!? Eine Synchrobeschwörung!?“, krächzte Nina, während das Blatt sich in einen großen, grünen Ring verwandelte, den Abbys Käfer passierte.

„Oh great god of the west! Rule this land with your penetrating gaze and justice! Synchro Summon! Roar proudly, [Naturia Beast]!“

Ein erschütterndes Gebrüll erklang. [Naturia Beetle] verschwand in einem Lichtblitz und wurde durch eine majestätische Bestie ersetzt, die mit einem Satz vor Abby landete. Es war ein mannshoher Tiger mit grünem, blättrigem Fell und Gliedmaßen ganz aus Holz. Mit seinen roten Augen funkelte er Nina an, ehe er sich niederlegte und zu lauern schien.

 

Naturia Beast [ATK/2200 DEF/1700 (5)]

 

„Gut!“, meinte Anya zufrieden und zeigte Abby zwinkernd beide Daumen. „Nun hau drauf, Schwester!“

„O-okay!“

Abby drehte sich zu Nina und ihrem Monster und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie würde es schaffen, sagte sie sich. Sie würde ihre Gegnerin schon nicht verletzten, egal wie sehr sie ihr zuwider war!

Das Mädchen streckte seinen zitternden Arm aus. „[Naturia Beast], greif [X-Saber Airbellum] an! Los!“

Augenblicklich sprang der Tiger auf und rannte auf den animalischen Kämpfer zu, ein Paar falscher Krallen traf auf echte Klauen. Nina lachte hysterisch. „Sieh an, genau das wollte ich! Verdeckte Schnellzauberkarte aktivieren! [Shrink]! Damit halbiere ich einfach die Angriffskraft deines Monsters!“ Die Rothaarige lachte schrill.

Abby aber hob den Zeigefinger und schwenkte ihn hin und her. „Nicht ganz! Ich kontere mit [Naturia Beasts] Fähigkeit! Indem ich zwei Deckkarten auf den Friedhof schicke, kann ich die Aktivierung jeder Zauberkarte negieren! Wehr dich!“

Mit wütendem Gebrüll ließ der Tiger Ninas aufgeklappte Karte einfach zerspringen, während Abby besagte zwei Karten in Friedhofsschlitz ihrer schwarzen Duel Disk schob. Kurz darauf wurde Airbellum durch einen erneuten Prankenschlag niedergestreckt.

 

[Abby: 4000LP / Nina: 3800LP → 3200LP]

 

„D-das macht gar nichts!“, hielt Nina erschrocken dagegen. „Manchmal erfordern große Storys eben Opfer!“

„Ich beende meinen Zug!“ Abby atmete beruhigt aus. Scheinbar war ihrer Gegnerin nichts weiter geschehen. Vielleicht, weil nur zwei Monster gekämpft hatten. Ein direkter Angriff wäre viel zu gefährlich gewesen, dachte sie mit prüfendem Blick auf ihr Blatt.

 

„Mein Zug!“, verlautete Nina ehrgeizig und zog ausholend. „Ich aktiviere den Zauber [Monster Reborn] und reanimiere Airbellum von meinem Frie- Ah!“

Das laute Gebrüll von [Naturia Beast] unterbrach die Frau. Wieder zersprang das Ebenbild ihrer Karte, während Abby seelenruhig zwei Deckkarten auf ihren Friedhof schickte.

„D-das war geplant!“ Nina stand der Schweiß auf der Stirn. „Du sollst deine besten Karten auf den Friedhof schicken, jawohl!“

Derweil bildeten sich auf Anyas Stirn tiefe Falten. „Hat die Alzheimer? Oder ist die einfach nur schlecht?“

Anyas weibliche Intuition – die echte und nicht etwa Levrier – sagte ihr, dass eher Letzteres zutraf.

„Ich setze ein Monster und beende den Zug“, meinte Nina derweil nervös und ignorierte die Blondine am Spielfeldrand.

 

Zeitgleich zog Abby ihre nächste Karte und hielt inne. Sonderlich stark mutete ihre Gegnerin wirklich nicht an. Vielleicht konnte sie dieses Spiel beenden, ohne dass jemand zu Schaden kam?

„Okay“, sprach Abby und legte eine Karte auf ihre Duel Disk. „Ich beschwöre [Naturia Guardian]!“

Vor ihr wuchs ein großer Laubbaum aus der Wiese des Hinterhofs. Auf dem mächtigen, dunkelbraunen Stamm befand sich ein strenges, altehrwürdiges Gesicht, das selbst Nina einzuschüchtern schien. Ganz still stand sie da und wartete auf Abbys weitere Vorgehensweise.
 

Naturia Guardian [ATK/1600 DEF/400 (4)]

 

Diese gestaltete sich relativ simpel. Das Hippiemädchen schwang den Arm aus und rief: „Los, [Naturia Beast], greif Ninas Monster an!“

Ihr Tiger zog einen Kreis um die gesetzte Karte, ehe er mit seiner Pranke zuschlug. Eine schreiende, blonde Frau mit einem kettenartigen Schwert tauchte auf und wurde sogleich zerfetzt.

„[X-Saber Anu Piranha]“, murmelte Nina sauer. „Nun ist sie wohl Geschichte.“

 

X-Saber Anu Piranha [ATK/1800 DEF/1100 (4)]

 

Abby indes überlegte. War ein direkter Angriff wirklich ungefährlich?

Fragend blickte sie zu Anya, die mit finsterer Miene nickte und sich danach den Daumen über die Kehle zog. Nina sollte keine Gnade erfahren, wenn es nach ihr ging. Doch Abby fühlte sich dabei nicht wohl. Natürlich war die Reporterin ein ausgemachtes Miststück, aber sie bemühte sich, ihrer Arbeit gerecht zu werden. Wenn auch mit sehr hinterhältigen Methoden.

Seufzend schloss Abby die Augen. Die Angst war nach wie vor da, aber wenn tatsächlich etwas geschehen sollte, könnte man das Duell immer noch abbrechen. Und in der Zeitung stehen wollte sie wirklich nicht, sie wollte nicht der Oberfreak Livingtons sein. Sollten sich doch Anya und Nick um diese Ehre streiten!

„Okay! Ich greife mit [Naturia Guardian] direkt an!“, entschloss sie kurzerhand. Und bereute es, denn die Angst, einen Fehler gemacht zu haben, war wie ein Bumerang zu ihr zurückgekehrt.

Was, wenn Nina sich verletzte!?

Abbys Monster ließ aus dem Boden seine Wurzeln schießen, die Nina erfassten und durchdrangen am ganzen Körper durchdrangen. Einen Moment blieb ihre Gegnerin wie erstarrt stehen und fasste sich an die Brust. Dann atmete sie stöhnend aus.

Und Abby fiel ein Stein vom Herzen. Es waren aber nur Hologramme. Auhh sie atmete tief durch. Eine Wurzel war direkt durch Ninas Herz geschossen und wenn sie nun real gewesen wäre, dann-!

 

[Abby: 4000LP / Nina: 3200LP → 1600LP]
 

„Super, Abby! Schieß' diese dumme Schnepfe zum Mond!“

Abby jedoch schluckte. Das hätte schief gehen können, verdammt schief. „Ich beende meinen Zug!“

Wenn sie das nächste Mal angriff, musste sie sicher stellen, dass nur ungefährliche Körperregionen angegriffen wurden! Aber wie sollte sie das bewerkstelligen!? Und außerdem … was tat sie hier überhaupt?
 

Derweil runzelte Anya verärgert die Stirn. Ihre Freundin kämpfte ziemlich zurückhaltend. Wäre sie nicht so ängstlich, hätte Abby vielleicht schon längst gewinnen können. Die sollte sich nicht so anstellen und auf die Tube drücken!

„Mein Zug!“, rief Nina laut. „So Herzchen, genug von diesem lahmen Spiel! Ich hätte von einer Sirene mehr erwartet, weißt du? Aber egal, das sind unwichtige Details! Ich will das verdammte Foto und zwar jetzt!“

Die Rothaarige zückte ein Monster aus ihrem Blatt. „Mach dich auf was gefasst, Liebchen! Ich beschwöre [X-Saber Axel]!“

Vor ihr tauchte ein Krieger in pelziger Panzerung auf, der eine lange, gezackte Klinge schulterte und lachte.
 

X-Saber Axel [ATK/400 DEF/100 (1)]

 

„Damit haben Sie den Effekt von [Naturia Guardian] aktiviert!“, rief Abby. Ihr Baum begann weiß zu leuchten. „Wenn mein Gegner eine Normalbeschwörung durchgeführt hat, erhält Guardian 300 Extraangriffspunkte!“

 

Naturia Guardian [ATK/1600 → 1900 DEF/400 (4)]

 

„Damit holst du doch nicht einmal meine tote Oma hinterm Ofen hervor! Ich zeig dir, wie das geht! Verdeckte Falle: [Gottoms' Emergency Call]! Diese sagenhafte Falle lässt mich zwei X-Saber-Monster reanimieren, sollte ich einen ihrer Kollegen auf dem Feld haben! Kommt zurück, [X-Saber Airbellum], [X-Saber Anu Piranha]!“

Aus zwei Lichtsäulen neben Axel tauchten die blonde Kriegerin mit dem Peitschenschwert und der wilde Kämpfer mit der Löwenmähne und den Krallenhänden auf.

 

X-Saber Anu Piranha [ATK/1800 DEF/1100 (4)]

X-Saber Airbellum [ATK/1600 DEF/300 (3)]

 

Nina lachte hysterisch. „Denk ja nicht, dass du die Einzige bist, die Synchromonster besitzt! Dir werde ich eine Lektion erteilen, die du nicht so schnell vergessen wirst!“

Sie streckte den Arm in die Höhe. „Zeit für Feintuning! Abstimmung! Stufe 3, Airbellum auf Stufe 4, Anu Piranha!“

Der Bestienmann sprang in die Höhe und verwandelte sich in drei grüne Ringe, durch die Anu Piranha mit wehender, blonder Mähne flog. Dabei verlor sie alle Farbe und wurde durchsichtig, wobei vier Sphären in ihr zu leuchten begannen. „United resistance against evil, gather before me and form a new power! Synchro Summon! Break 'em apart, [X-Saber Urbellum]!“

In einem Lichtblitz wurde aus Anu Piranha ein völlig neues Monster. Es war ein großer, bleicher Krieger mit zwei Schwertern auf dem Rücken. Er trug einen schwarzen Helm mit Hörnern, was gut zu seiner gleichfarbigen Brustplatte passte.

 

X-Saber Urbellum [ATK/2200 DEF/1300 (7)]

 

„Wow, das Ding ist schwach!“, kommentierte Anya das Ganze bissig. „Aber wie heißt es so schön? Wie der Herr, so's Geschirr!“

„Gescherr'“, korrigierte Abby ihre Freundin besserwisserisch.

„Ja ja, was auch immer!“

Nina runzelte verärgert die Stirn. „Lacht nur, ihr dummen Kinder! Ich habe noch so einiges auf Lager! Zum Beispiel dieses Monster als Spezialbeschwörung von meiner Hand, da ich zwei X-Saber-Monster kontrolliere! Unterstütze mich, [XX-Saber Faultroll]!“

In roter, futuristischer Rüstung tauchte nun ein weißhaariger Krieger neben seinen Freunden auf und schwang beidhändig ein gewaltiges Schwert.

 

XX-Saber Faultroll [ATK/2400 DEF/1800 (6)]

 

„Das Ding ist ja stärker als ihr Synchromonster“, prustete Anya höhnisch los.

Faultroll jedoch schwang unbeeindruckt sein Schwert im Halbkreis. Und ohne Vorwarnung stand neben ihm plötzlich Airbellum.

 

X-Saber Airbellum [ATK/1600 DEF/300 (3)]

 

Abby schluckte, während Anya sogar lautstark fluchte. „Woher-!?“

„Ganz recht, da schaut ihr dumm aus der Wäsche! Denn Faultroll kann pro Zug einen seiner Kameraden vom Friedhof reanimieren! Aber das war längst noch nicht alles!“

Nina hob ihre Hand wieder in die Höhe. Während die Mädchen erschraken, als sich Airbellum wieder in drei grüne Ringe verwandelte, durch die Faultroll flog, rollte unbemerkt Nick hilflos um das Haus, in der Hoffnung, dass irgendjemand ihm half. Doch kaum glaubte er, dem Geschehen entkommen zu sein, spürte er Anyas Schuh im Nacken. „Nichts da, du bleibst schön hier!“

An den Haaren schleifte sie ihn zurück zu den beiden Duellantinnen.

Nina räusperte sich derweil mit schiefer Stimme. „Abstimmung! Stufe 3, Airbellum auf Stufe 6, Faultroll! Mighty warrior of the gentle sword, return to this wicked world! We await your command! Synchro Summon! Break free, [XX-Saber Gottoms]!“

Neben Urbellum tauchte ein noch viel größerer und eindrucksvollerer Krieger auf. Er trug eine Rüstung aus Stahl, die sogar sein Gesicht verdeckte und schwang eine enorm lange, zweiblättrige Klinge über seinem Kopf. Unruhig flatterte der rote Umhang im Wind, welcher auf seinen Schultern lag.

 

XX-Saber Gottoms [ATK/3100 DEF/2600 (9)]

 

„Was zum-!?“, stammelte Anya erschrocken und ließ dabei glatt Nick los, dessen Kopf auf den Boden knallte. „Woher hat die so ein starkes Monster!?“

„Geld, Kindchen, hart erarbeitetes Geld. Etwas, wovon du nur träumen kannst.“ Nina strich sich höhnisch lachend über die Locken, ehe sie sich auf Abby fixierte. „Ich sagte dir doch, dass du keine Chance hast! Und ich bin immer noch nicht fertig! Meine letzte Handkarte ist der Zauber [The Warrior Returning Alive]. Und genau wie sein Name es gebietet, erhalte ich von meinem Friedhof ein Krieger-Monster auf die Hand zurück. So wie Faultro- Hey!“

Nur ein mächtiges Gebrüll sowie zwei Deckkarten von Abby später zersprang das Abbild von Ninas Zauber in tausend kleine Stücke. Anya brach in schallendes Gelächter aus. „Gott ist die dämlich!“

„I-ich-! Das war geplant!“, meinte die Reporterin stur und lief rot an – ob vor Scham oder Wut war nicht schwer zu sagen. Sie streckte ihren Arm aus. „Trotzdem kann ich dir noch zusetzen! Ich aktiviere Gottoms' besonderen Effekt! Indem ich [X-Saber Axel] opfere, musst du eine Handkarte abwerfen, meine kleine Sirene!“

Erschrocken sah Abby zu, wie sich der schwarzhaarige Krieger auflöste und die Klinge in Gottoms Händen zu leuchten begann. Der zeigte damit geradewegs auf ihr Blatt, woraufhin ein Lichtstrahl geschossen kam und direkt auf eine Karte in ihrer Hand deutete.

„[Fissure] …“, murmelte Abby resignierend und schob ihre Zauberkarte in den Friedhofsschacht.

 

Anya schlug sich bei dem Anblick die Hand vor die Stirn. Wenn Abby diese Zauberkarte die ganze Zeit über auf der Hand hatte, warum hatte sie sie dann nicht verwendet!? Damit wäre das Duell vielleicht schon entschieden gewesen, bevor Nina überhaupt zum Gegenschlag hätte ausholen können.

Was ging nur in ihrer Freundin vor sich? Wollte sie denn nicht verhindern, dass sie in die Zeitung als Schlagzeile des Jahrhunderts kam?
 

„Perfekt!“, rief Nina aufgeregt. „Ich denke, jetzt kommt es knüppeldick für dich! Urbellum, Gottoms … zerstört ihre beiden Monster!“

Die Journalistin deutete auf den Tiger und den Baum, um welchen Ersterer schlich. Es geschah, was geschehen musste. Urbellum zog seine Schwerter und stutzte [Naturia Guardian] so zurecht, dass außer abgeschlagenen Ästen und Blättern nicht mehr viel von ihm übrig war. Gleichzeitig kümmerte sich Gottoms um [Naturia Beast] und enthauptete es mit einem Schlag.

Erschrocken schlug Abby die Hände vor ihren Mund, als sie das Massaker mitansah.

 

[Abby: 4000LP → 2800LP / Nina: 1600LP]

 

„Effekt von Urbellum!“, rief Nina freudig. „Du musst eine Handkarte auf dein Deck legen, wenn du von ihm Schaden erleidest, während du mindestens vier Karten auf dem Blatt hältst.“

Mit gerunzelter Stirn nahm Abby [Naturia Rosewhip] und schob sie auf ihr Deck. Ihre Gegnerin war bester Laune und trällerte: „Zug be-en-det!“

 

Abby zog die gerade erst verlorene Karte neu auf und seufzte bei dem Anblick der kleinen Rose. Warum kämpfte sie überhaupt? Gegen Nina hatte sie sowieso keine Chance mehr, wenn man ihre Monster so ansah. Es wäre einfach das Beste für alle, wenn sie das duellieren endgültig aufgeben würde. Zu groß war auch die Gefahr, am Ende doch noch jemanden zu verletzen.

„Ich gebe au-“ Gerade wollte Abby ihre Hand aufs Deck legen, spürte sie Anyas festen Griff um ihr Handgelenk. Und eine schallende Ohrfeige, die sie zurückwarf.

„Idiot!“, fauchte die Blondine aufgeregt und übertönte die enttäuschten Beschwerden von Nina spielend leicht. „Wie lange willst du eigentlich noch rumjammern!?“

„Aber ich habe doch gar nicht-!“ Abby hielt sich die schmerzende Wange.

„Klar hast du! Man muss dich doch nur ansehen, um zu wissen, was in deinem Streberhirn vor sich geht, Masters! Reiß dich gefälligst am Riemen! Andere haben es viel schwerer als du und beschweren sich auch nicht! Du hast Angst?“ Anya streckte provokativ die Arme weit aus. „Von mir aus, hab Angst, so viel du willst! Du willst niemanden verletzten? Dann tu es gefälligst nicht! Du weißt, dass in dieser Stadt abgefahrene Dinge abgehen! Wir werden von Dämonen und Dämonenjägern angegriffen und brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können! Außerdem ist da noch diese Edenscheiße! Wenn das alles vorbei ist, dann kannst du dich verkriechen, so lange du willst! Aber bis dahin hilfst du mir gefälligst, das hier zu überleben, 'kay!?“

„A-Anya-!“

„Kein Wort mehr!“
 

Verdutzt sah Abby zu, wie ihre Freundin zurück zum am Boden liegenden Nick stampfte und trotzig die Arme verschränkte. Ihr Blick war vernichtend und Abby wusste nicht, ob Anya ihr nun helfen wollte, oder das aus reinem Eigennutz sagte.

Hilflos fasste sich das Mädchen an ihr Stirnband. Sie hatte Anya versprochen, ihr immer beizustehen, das stimmte schon. Und in den letzten Tagen war sie wohl keine große Hilfe gewesen.

Hatte Anya recht? Was, wenn es noch mehr Dämonenangriffe geben würde? Dann konnte sie nicht einfach herumstehen und zusehen, wie Anya und auch Nick sich in Lebensgefahr begaben. Konnte sie ihre Kräfte nicht doch auf irgendeine Weise kontrollieren?
 

„Oh, kommt schon, Leute! Mehr Drama bitte!“, forderte Nina sauer. „Habt ihr das auswendig gelernt? Da ist ja selbst Rosamunde Pilcher noch kreativer! Wenn ihr mir bei meiner Story schon unbedingt helfen wollt, dann bitte richtig!“

Abby war fassungslos. Hatte diese Frau überhaupt irgendetwas anderes im Kopf, außer ihren dämlichen Artikeln? Wie konnte man nur so egozentrisch sein?

„Machen Sie sich nicht über uns lustig!“

Nina lachte bei ihren Worten höhnisch auf. „Sonst?“

„Erleben Sie Ihr blaues Wunder!“

Abby spürte, wie ihre Augen zu glühen begannen und hörte Nina im selben Augenblick aufschreien. „Hah, es geht los! Ihre Augen, ihre Augen! Sie sind … pink? Pink!? … Ach egal, das kann man digital nachbearbeiten! Weiter so, Schätzchen, immer weiter so!“

Das Mädchen spürte die Wut in sich pulsieren und sah hilflos Anya an. Doch deren Mimik war wie versteinert, ausdruckslos und demnach keine große Hilfe. Aber Abby wusste, dass sie sich die Frechheiten dieser Frau nicht länger gefallen lassen wollte. Die hatte keine Ahnung, wie es in ihr aussah und dachte an nichts anderes, als an ein beknacktes Foto. Solche ignoranten Menschen waren der Grund, warum es nie Frieden auf der Welt geben würde.

Abby entschied, dass sie dieser Frau eine Lektion erteilen musste und hatte da bereits eine Idee, die sogar schmerzfrei umzusetzen war. Aber es hing von ihr allein ab, ob sie sich beherrschen können würde.

 

„Ich bin noch am Zug!“, rief das Mädchen aufgebracht. Außer ihren Augen war bisher wohl nichts verändert, ihre Stimme war immer noch dieselbe. Das war gut! „Von meiner Hand: [Naturia Pumpkin]! Und wenn er beschworen wird, während Sie Monster kontrollieren, kann ich ein Naturia-Monster von meiner Hand als Spezialbeschwörung beschwören. So wie [Naturia Rosewhip]!“

Vor Abby tauchte erst ein großer Kürbis mit Gesicht und Beinen, dann eine kleine Rose mit zwei Peitschen in ihren Blätterhänden auf.
 

Naturia Pumpkin [ATK/1400 DEF/800 (4)]

Naturia Rosewhip [ATK/400 DEF/1700 (3)]

 

Abby nahm die beiden Monster von der Duel Disk und hielt sie in die Höhe. Ihre Rose flog steil nach oben und verwandelte sich in drei grüne Ringe. „Stufe 3, [Naturia Rosewhip] und Stufe 4, [Naturia Pumpkin]! Oh great god of the north! Give us shelter within your soul! Synchro Summon! Be born, [Naturia Landoise]!“

Es gab einen Lichtblitz, als der Kürbis die Ringe passierte.

Der Boden vor ihr brach auf und eine gewaltige Schildkröte aus Stein erhob sich vor Abby.

 

Naturia Landoise [ATK/2350 DEF/1600 (7)]

 

„Da ich nun den Effekt eines Naturia-Monsters aktiviert habe, kann ich [Naturia Hydrangea] von meiner Hand als Spezialbeschwörung rufen! Und dasselbe tue ich auch mit [Glow-Up Bulb] von meinem Friedhof, indem ich eine Karte von meinem Deck ablege!“

Nina sah dumm aus der Wäsche, als sie realisierte, dass [Glow-Up Bulb] durch [Naturia Beasts] Effekt auf dem Ablagestapel gelandet sein musste.

Vor Abby tauchte ein Beet voller Hortensien auf, wobei eine der Pflanzen Augen besaß. Aus jenem Feld tauchte auch eine Blumenzwiebel auf, dessen weiße Blüte sich langsam öffnete.
 

Naturia Hydrangea [ATK/1900 DEF/2000 (5)]

Glow-Up Bulb [ATK/100 DEF/100 (1)]

 

Abby streckte wieder ihren Arm empor. Ihre Blumenzwiebel stieg in die Höhe und verwandelte sich in einen der grünen Empfängerringe. „Oh great god of the east! Scare my enemies with your mighty presence! Synchro Summon! Descent down, [Naturia Barkion]!“

Wieder gab es einen gleißenden Strahl und neben der gewaltigen Schildkröte gesellte sich ein grauer, schlangenhafter Drache mit Schuppen aus Holzrinde.

 

Naturia Barkion [ATK/2500 DEF/1800 (6)]

 

Abby atmete stoßweise. Ihr Haar begann unstet in der Luft zu flattern, während sich eine weiße Energiesphäre um ihren Körper bildete. Aus Ninas Gesicht wich sämtliche Farbe.

„Du wirst sterben …“, murmelte Abby leise. „Ich habe genug! Solche wie du haben nur eines verdient, und zwar den Tod! Ich aktiviere die Zauberkarte [Battle Tuned]! Damit verbanne ich ein Empfänger-Monster von meinem Friedhof und gebe seine Angriffskraft weiter an eines meiner Monster!“

Sie zeigte [Naturia Cosmobeet] vor, ebenfalls zuvor abgeworfen durch [Naturia Beasts] Effekt. „Das sind 1000 Extrapunkte für Barkion!“

Ihr Drache brüllte laut auf, als eine rot glühende Aura sich um ihn ausbreitete.

 

Naturia Barkion [ATK/2500 → 3500 DEF/1800 (6)]

 

„Das mit dem Töten“, sprudelte es hysterisch aus Nina heraus, „das war doch nur ein Scher-“

„Los, meine Monster! Zerstört ihre X-Saber!“

[Naturia Landoise] stampfte nur einmal mit dem Fuß auf und schon brach [X-Saber Urbellum] im Boden ein und verschwand in einem klaffenden Erdloch, das sich sofort wieder schloss. Barkion schoss dagegen eine sengende, grüne Flamme auf Gottoms und brannte ihn gnadenlos nieder. Es entstand eine Explosion, dessen darauffolgende Druckwelle Nina von den Füßen fegte. Hart landete sie auf dem Rücken.

 

[Abby: 2800LP / Nina: 1600LP → 1050LP]

 

Abby fixierte ihren Blick auf Nina, die nun weder auf ihrer Spielfeldseite, noch Hand mehr Karten besaß. Die war jedoch völlig erstarrt und zitterte am ganzen Leib, während sie Abbys Transformation mitansah. Das Haar wurde länger und verlor seine Farbe, wurde weiß. Ihre Fingernägel wuchsen langsam und wurden spitzer, während die Lippen erblassten und einen zarten Blauton annahmen.

„Das wolltest du doch sehen, oder?“, fragte Abby mit ihrer rauchigen Sirenenstimme. „Nun zahle den Preis dafür, Menschenweib!“

„Ich gebe auf!“, schrie Nina entsetzt und legte ihre Hand auf das Deck in ihrer Duel Disk.

 

[Abby: 2800LP / Nina: 1050LP → 0LP]

 

Anya klatschte laut und gesellte sich zu Abby. Dabei nahm ihr Gesicht diabolische Züge an. „Coole Sache! Wie tötest du sie denn? Frisst du sie auf?“

„Gute Idee“, hauchte Abby und trat langsam auf Nina zu, die hilflos rückwärts krabbelnd flüchten wollte. Dabei stieß sie mit dem Rücken ans Ende des hohen Zaunes, der nunmehr wie eine Gefängnismauer wirkte, der die Journalistin einsperrte.

„Bitte tu mir nichts! Ich werde dich nie wieder belästigen!“ In ihren Augen standen Tränen der Angst. „Das war doch alles nicht so gemeint gewesen, ehrlich! Du bist doch ein gutes Kind, oder?“

Abby lachte auf. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Menschenweib. Du bist jetzt dazu verdammt, mein Abendbrot zu werden!“

Mit diesen Worten stürzte sich Abby auf die schreiende Nina, während Anya laut gackernd zusah und sich den Bauch hielt. Denn während sich die Rothaarige die Augen zuhielt und auf ihr Ende wartete, hatte sich ihre Freundin längst zurückverwandelt.

 

„So!“, donnerte Abby in der Hocke und packte Nina am Kragen ihres Kleids. Die blinzelte ganz verdutzt, als sie nicht in das Antlitz einer Sirene starrte. „Sie hören mir jetzt ganz genau zu!“

„Ja!“ Heftig nickte die Frau, als sie hochgerissen wurde. Selbst als Mensch war Abby in Rage so kräftig, dass sie Nina emporheben konnte, solange sie denn auf Zehenspitzen stand, da ihr Gegenüber doch etwas größer war als sie selbst.

„Erstens: Sie lassen uns in Zukunft in Ruhe, außer wir melden uns bei Ihnen!“

„Sicher doch!“

„Zweitens: Sie werden alles tun, was -ich- Ihnen sage!“

„Gewiss!“

„Drittens: sollten Sie sich nicht daran halten, mache ich das nächste Mal Ernst!“

Nina krächzte heiser und kleinlaut: „Alles klar!“

„Gut!“ Abby setzte die Frau ab und starrte sie finster an. „Und um zu sehen, ob Sie das verinnerlicht haben, stelle ich Ihnen jetzt eine Aufgabe! Sie werden Informationen für uns sammeln und zwar alles rund um die Begriffe „Eden“, „Levrier“, „Pakt“ und „Dämonen“! Eine Journalistin wie Sie wird doch sicher an gute Quellen gelangen, oder?“

„W-wie bitte!?“ Doch als Abby drohend die Faust hob, beteuerte Nina kräftig: „Ich mache mich sofort an die Arbeit! Ich werde nicht eher ruhen, ehe ich genügend Material für euch gesammelt habe. Ich kenne da sogar jemanden, der-! Aber warum wollt ihr-!?“

Abby aber unterbrach sie mit erhobenen Hand und deutete mit dem Zeigefinger zum Weg, der um das Haus zur Straße führte. „Schönen Nachmittag noch, Nina!“

Die nickte zögerlich und nahm anschließend die Beine in die Hand.

 

Kaum war die lästige Reporterin verschwunden, gesellte Anya sich zu Abby und legte ihr kumpelhaft den Arm um die Schulter. „Also eins muss ich dir lassen: coole Show! Für einen Moment habe ich echt geglaubt, du machst die Alte fertig!“

„Ich auch …“, gestand Abby leise und ließ den Kopf hängen. Doch plötzlich strahlte sie Anya an. „Aber ich glaube, ich habe es jetzt besser unter Kontrolle. Ich muss zwar wütend sein, aber du hast es ja gesehen. Ich habe nicht die Beherrschung verloren.“

Anya grinste keck. „Hab ich. Manchmal kannst du wirklich gruselig sein, so als weiblicher Hulk. Aber die Idee mit der Recherche ist klasse. So wird das Miststück vielleicht doch noch ganz nützlich sein.“

Ihre Freundin jedoch schüttelte zweifelnd den Kopf. „Glaube ich eher weniger, aber vielleicht hat sie wirklich noch die ein oder andere Quelle, die über unsere Möglichkeiten hinaus geht?“

„Hoffen wir's“, meinte Anya ernst und starrte auf die Stelle, wo Nina in Todesangst gelegen hatte. „Viel Zeit bleibt mir nicht mehr …“

„Wir finden einen Weg!“, meinte Abby zuversichtlich. „Du kannst auf mich zählen!“

„Au- miff- auf“, hörten sie jemanden hinter sich nuscheln. Nick bewegte sich wie eine Raupe auf sie zu und sah die beiden Mädchen erwartungsvoll an. „Ka- iff- jeff- geff-?“

„Was machen wir eigentlich mit dem?“, fragte Anya mit düsterer Stimme und funkelte Nick an. „Er muss bestraft werden für das, was er getan hat.“

Abby nickte mit eiserner Miene. „Allerdings. So etwas habe ich noch nie erlebt! Freunden sollte man vertrauen können. Aber uns wird schon etwas einfallen, nicht wahr, Anya?“

Jene lächelte verhängnisvoll. „Ganz bestimmt, Abby. Ganz bestimmt!“

 

 

Turn 13 – A Demon's Fate

Levrier bemerkt die Anwesenheit eines anderen Dämons in Livington und will, dass Anya sich ihm stellt. Da die jedoch unkooperativ ist und lieber Pläne schmiedet, wie sie Erzrivalin Valerie das Leben schwer machen kann, übernimmt Levrier kurzerhand Anyas Körper. Als die beiden schließlich den Dämonen finden, ist die in ihrer inneren Welt gefangene Anya fassungslos. Denn der Wirt des Dämons ist niemand anderes als …

Turn 13 - A Demon's Fate

Turn 13 – A Demon's Fate

 

 

Matt stöhnte auf, als Alastair vorsichtig den blutdurchtränkten Verband von seinem Arm nahm und in einer Tüte entsorgte. Mit entblößtem, ebenfalls bandagiertem Oberkörper saß der junge Mann auf dem Bett und ließ seine Wunden behandeln.

Alastair hatte sein langes, schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden, damit es ihm nicht im Weg war. Er trug ein schwarzes Unterhemd und verzog beim Anblick des Blutes, das aus Matts Arm sickerte, angewidert das Gesicht.

„Der Rest heilt gut ab, aber das hier …“, meinte er und griff nach einer Schmerz lindernden Salbe auf dem kleinen Nachttisch in ihrem Motelzimmer am Rande Livingtons.

Hier stellte niemand Fragen, was Alastair nur recht war. Selbst als er seinen verletzten Freund ins Zimmer geschleppt hatte, schien niemand der anderen Gäste Notiz von ihnen genommen zu haben. Oder wollte es schlichtweg nicht.

„Ich kann ihn kaum bewegen“, meinte Matt mit verzerrter Miene.

Seine schwarze Mähne war ungewaschen und noch widerspenstiger als sowieso schon, und auch der Dreitagebart stand ihm nicht gut zu Gesicht. Doch er lachte trotz seiner Schmerzen heiter auf. „Wer hätte gedacht, dass diese Abigail ausgerechnet eine Sirene ist?“

„Wer hätte gedacht, dass du nicht mit ihr fertig wirst?“, erwiderte Alastair kalt. Seinen Freund so zu sehen schmerzte ihn, doch er hatte es verdient. Leichtsinn musste bestraft werden. „Wieso hast du sie vorher nicht überprüft?“

„Weil sie wie ein ganz normales Mädchen aussah.“

„Das mit Anya Bauer befreundet ist. Dem Mädchen, das einen Pakt mit einem 'Gründer' geschlossen hat.“

Matt starrte ihn finster an. „Den sie nur eingegangen ist, weil du sie praktisch dazu gezwungen hast.“

Alastair wandte sich wortlos ab und zog den neuen Verband fester um Matts Arm, als nötig gewesen wäre. Der ächzte unter der Belastung. Dabei dachte sich der Mann mit dem vernarbten Gesicht, dass sein Mitstreiter einfach zu weich war. Sah er denn nicht das größere Ganze?

 

Der Versuch, Anyas Freundin für sich zu gewinnen, war in der Theorie eine pfiffige Idee gewesen.

Doch tatsächlich war ihre Offensive mit doppelter Wucht auf sie zurückgefallen. Sie hatten wichtige Informationen an den Feind weitergegeben, sodass Anya vermutlich längst um ihren Status Bescheid wusste. Etwas, das sie sich angesichts ihrer Lage nicht leisten konnten.

Andererseits musste Alastair sich auch eingestehen, dass sein eigener Versuch, Anya zu töten, letztlich genauso fehlgeschlagen war. Matt hatte zumindest alles getan, um andere Menschen aus dem Kreis der Verdammnis fern zu halten. Als ob er auch nur eine Sekunde daran gedacht hatte, den Bruder oder den Freund dieses Mädchens wirklich umzubringen. Viele Dämonenjäger waren so kaltblütig, Alastair selbst gehörte zu ihnen, doch sicherlich nicht Matthew Summers.

Aber sie mussten getötet werden. Alle in Anya Bauers Nähe waren potentielle Gefahrenträger, die selbst dann bestehen bleiben würden, wenn Anya selbst schon längst tot war. Dieser 'Gründer' würde einfach weitere Menschen in seinen Dienst stellen, um Eden zu erwecken. Matts Vorgehen, nur Anya vernichten zu wollen, war löblich, aber zu riskant, zu ineffektiv!

Aber es war vermutlich ohnehin schon zu spät, jetzt, da das Mädchen langsam ihre Kräfte entdeckte. Seit Tagen recherchierten Alastair und Matt schon, doch ihre einzig verbliebenen Möglichkeiten, das Unheil noch aufzuhalten, waren entweder zu risikoreich oder schlichtweg inakzeptabel.

 

Als Alastair mit dem Verband fertig war, zog sich Matt ein schwarzes T-Shirt über und sah vom Bett nachdenklich aus dem Fenster, direkt auf den Parkplatz des Motels. Dort stand neben anderen Wagen auch ihr alter VW-Bus, sozusagen ihre Kommandozentrale, ausgerüstet mit allem, was man für die Dämonenjagd brauchte. Fast allem zumindest.

„Du weißt, dass Abigail jetzt unsere einzige Chance ist“, meinte Matt schließlich und warf seinem Freund einen erwartungsvollen Blick zu. „Dass sie eine Sirene ist, ändert nichts. Im Gegenteil, das könnte sogar praktisch werden. Kräftemäßig kann sie es jetzt mit Anya aufnehmen.“

Alastair stand von seinem Hocker auf und trat ans Fenster des spärlich eingerichteten Zweibettzimmers. „Unmöglich. Wir arbeiten nicht mit ihresgleichen zusammen.“

„Und welche Option haben wir dann noch?“, begehrte Matt voller Unverständnis auf. „Der Feind unseres Feindes ist unser Freund!“

„Nur, wenn er nicht auch unser Feind ist“, erwiderte Alastair ruhig. „Und zu jenem haben unsere Taten dieses Mädchen unweigerlich gemacht. In ihrer Unvernunft wird sie Anya alles gesagt haben, was sie von dir weiß, selbst auf die Gefahr hin, selbst zu einem ihrer Opfer zu werden.“

Matt ließ den Kopf hängen und strich mit seiner Hand über das zerwühlte, schwarze Haar. „Was hätte ich denn tun sollen? Ihr die Wahrheit zu sagen erschien mir der beste Weg, sie für uns zu gewinnen.“

Alastair verschränkte die Arme und betrachtete den dichten Wald hinter dem Parkplatz. „Vielleicht wäre er das gewesen. Aber im Endeffekt ist sie doch nur ein Dämon und wird ihresgleichen nicht im Stich lassen. Es ist nicht anders als bei uns.“

Matt stand nun auf und stellte sich hinter Alastair, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wenn das so ist, warum töten wir sie dann überhaupt?“

„Weil sie nur Leid mit sich bringen, ob gewollt oder nicht. Das ist der Grund ihrer Existenz. Sie sind böse, weil sie es müssen – so wurden sie konzipiert. Sie sind das Chaos. Und niemand kann wissen, was geschieht, wenn Eden durch die Hand eines 'Gründers' aktiv wird. Deswegen müssen wir sie aufhalten, egal was es kostet.“ Er drehte sich mit steifer Mimik zu Matt um. „Wir haben schon für weniger getötet.“

„Yeah …“

Alastair schloss die Augen. „Aber vielleicht hast du recht und eine ungewöhnliche Vorgehensweise ist, was uns jetzt den Hals retten könnte …“

„Yeah … ich lass mir was einfallen.“

 

~-~-~

 

Das Telefon klingelte. Anya lag mit verschränkten Armen hinter dem Kopf auf ihrem Bett und starrte das nervtötende Ding an, welches auf ihrer schwarzen Ledercouch lag und einfach nicht still sein wollte. Es klingelte immer noch. Warum zur Hölle explodierte das Ding nicht!? Hatte sie etwa nach jahrelangem Training immer noch nicht die hohe Kunst des Zerstörungsblicks erlernt!? Dabei hatte sie doch manchmal fast den Eindruck, als würden Laserpointer auf den Köpfen der Menschen erscheinen, die sie argwöhnisch ins Visier nahm.

Warum gab es den Todesblick nur in Videospielen!?

 

„Curses“, fauchte Anya und sprang genervt auf. Sie schnappte sich das Telefon, wirbelte um die eigene Achse und war bereits dabei, es gegen die Wand zu werfen, als sie bemerkte, dass sie die Nummer nicht kannte.

Welches lebensmüde Krümelhirn wagte es, -ihre- Nummer zu wählen!?

Sie nahm schnaufend ab und murmelte mit düsterer, gleichwohl gelangweilter Stimme in den Hörer: „Örtliches Bestattungsunternehmen, Ihr Totengräber, wie soll Ihr Leben beendet werden?“

„Anya, bist du das?“

„Redfield!? W-w-was willst du denn von mir?“ Anya hatte ja mit dem pickeligen Adam oder irgendeiner anderen Nulpe aus einem ihrer Kurse gerechnet, aber ausgerechnet Valerie!? „Woher hast du überhaupt meine Nummer!?“

„Abby hat sie mir gegeben.“

Augenblicklich nahm Anya den Hörer vom Ohr und betrachtete ihn einen Moment lang irritiert. Das hatte Valerie eben nicht wirklich gesagt, oder? War Abby etwa zu einer Verräterin mutiert? Darauf würde ein Verhör im Anya-Stil folgen, soviel war sicher – aber erst musste diese dumme Pute abgewimmelt werden!

Skeptisch legte sie das Telefon wieder an die Ohrmuschel. „Und was willst du nun?“

„Du hast“, fing sie zögerlich an, „Marc nicht zufällig gesehen in letzter Zeit, oder?“

„Nö. Warum?“, fragte Anya scharf. „Kommt er jetzt auch nicht mehr zu deiner privaten Bionachhilfe, Redfield!?“

Valerie seufzte. „Ach nur so. Ich mache mir Sorgen um ihn …“

„Schön für dich! Dann mach dir mal schön weiter Sorgen, aber nerv mich nicht damit! Ciao!“

Die Blondine hatte aufgelegt, bevor ihre Rivalin auch nur auf die Idee kommen konnte, dieses sinnlose Gespräch fortzusetzen. Und Anya schwor sich im Falle, dass Valerie jetzt noch einmal anrief, ein neues Telefon fällig werden würde, weil das alte der Last ihrer stampfenden Füße nicht standgehalten hatte.

 

Und da soll jemand sagen, dass dieser Dämonenjäger Alastair dich nur wegen meiner Wenigkeit für einen Dämonen gehalten hat …

 

Anya warf das Telefon aufs Sofa und legte demonstrativ die Hände auf die Ohren. Alles, nur das nicht! Nicht auch noch Levrier, der sie mit seinen Moralpredigten langweilen wollte.

„Wie ich mit Redfield umgehe ist meine Sache, klar!?“

 

Und du denkst nicht, dass sich das irgendwann rächen wird?

 

„Wenn sich hier jemand rächt, dann sowieso nur ich! Wir haben schon Anfang Oktober und ich weiß immer noch nichts über Eden oder wie ich diesen Pakt aufheben kann!“

 

Du kannst den Pakt nicht einfach so rückgängig machen, Anya Bauer. Und selbst wenn es dir gelänge; ihn zu brechen würde für dich bedeuten, dass du einen schnellen Tod finden wirst. Schlimmer aber noch, du würdest in den Limbus eintreten.

 

Anya blinzelte verwirrt und ließ sich auf den Rand ihres Bettes nieder. „Limbus? Dieses Ding, das Harry Potter reitet?“

Was immer es auch war, Anya wollte es gar nicht wissen. Immer wenn Levrier etwas über -seine- Welt erzählte, bedeutete das nichts als Ärger.
 

Der Limbus ist der Ort, der jeden Paktbrecher erwartet. Sollten wir scheitern und nicht Eden werden, würde das einem Verletzen unseres Vertrages gleichkommen. In beiden Fällen würdest du also dorthin gelangen. Ich will nicht zu viel darüber erzählen, denn es wäre nicht gut für uns beide, wenn du über ihn Bescheid wüsstest. Doch sei dir im Klaren darüber, dass der Limbus das schlimmste Schicksal ist, welches einer Seele zuteil werden kann.

 

„Oh klasse, und wieder eine Hiobsbotschaft! Ist das'n verdammtes Hobby von dir!?“

 

Man könnte sagen, der Beruf bringt das mit sich.

 

Ärgerlich sprang Anya auf und schritt herüber zu ihrem Schreibtisch am Fenster.

Wenn das so weiterging, war in ihrem Kopf nicht mehr viel Platz, um unangenehme Erinnerungen und ungebetenes Wissen zu verdrängen. Die Leiche, ihr bevorstehendes Ende, die Niederlage gegen dieses Pennerkind Henry, Marcs düstere Seite und nun auch noch das.

Andere würden bei so etwas in die Ecke gehen und heulen, doch Anya war froh, dass sie nicht so ein Weichei war. Ihr würde beizeiten etwas einfallen, ganz bestimmt. Und wenn nicht, wurde sie eben doch Eden. Schicksal.

 

Was hast du nun vor?
 

„Keine Ahnung“, brummte das Mädchen missmutig und setzte sich an den Schreibtisch, „weiter recherchieren. Vielleicht findet diese Nina irgendetwas heraus. Außerdem ist Abby an das Necronomicon gelangt, von H.P Craftlove.“

 

Lovecraft. Und das Buch ist rein fiktional. Was sie da gefunden hat, ist nichts weiter als eine Fälschung.

 

„Abby meint, das Ding wurde von einem seiner Vertrauten oder so geschrieben und wäre sehr selten, weil es von den Nachkommen Lovedings wegen Leichenschändung, Copyright oder so verboten worden ist.“ Anya gluckste bei dem Gedanken an ein Buch in Lovecrafts Sarg, unwissend, dass sie ihre Freundin bei deren Erklärungen völlig falsch verstanden hatte. „Abby hat es wohl über gewisse Kontakte erhalten, aber sie hat nicht gesagt, wer ihr dabei geholfen hat. Ich glaube zwar auch nicht an den Scheiß, aber es ist besser als nichts. Leider dauert die Lieferung noch ein wenig.“

 

Ich weiß, ich war dabei, als sie dir das erzählt hat. Ich bin immer bei dir, jede Sekunde, selbst wenn du schläfst. Du kannst keine Geheimnisse vor mir haben, Anya Bauer. Merk dir das für die Zukunft.

 

Das Mädchen knirschte mit den Zähnen und holte zeitgleich ihre Deckbox vom Gürtel ihrer Jeanshose mit Trägern. Sollte der doch reden, ihr war das egal. Wenn in diesem Buch wirklich etwas Brauchbares stand, würde dieser Spanner sowieso bald nichts mehr zu lachen haben.

„So, jetzt halt den Rand, ich muss mich konzentrieren!“

Anya nahm das Deck aus der Box hervor, legte es auf den Tisch und machte die oberste Schublade von rechts auf, in der nur eine kleine Blechkiste stand. Diese holte sie hervor und stellte sie ebenfalls auf den Schreibtisch. Es war die Collectors Tin von [Gem-Knight Ruby], die sie sich vor ein paar Monaten gekauft hatte, um ihre Sammlung zu vervollständigen. Zumindest fast. Dass diese aber nun durch [Gem-Knight Pearl] zusätzlich ergänzt wurde, hatte in Anya schon seit Tagen den Wunsch geweckt, ihr Deck ein wenig umzubauen.

Also nahm sie den Deckel von der Box und verteilte ihre Kartensammlung über den ganzen Schreibtisch, indem sie die Kiste auf den Kopf stellte und ihren Inhalt einfach ausschüttete.

„Dann fangen wir mal an“, meinte sie nun ein wenig besser gelaunt. Denn der Gedanke, ein Deck zu bauen, das Valerie Redfield spielend vernichten konnte, beflügelte sie ungemein.

 

Hätte ich Augen, würde ich sie schließen, nur um mir das nicht antun zu müssen. Ich möchte dir gerne meine Hilfe anbieten, Anya Bauer.

 

„Klappe, ich kann das selbst! Und jetzt nerv' nich' 'rum!“

 

~-~-~

 

Ich weiß zwar nicht, wie du deinen Mitschülern derart viel Geld abnehmen konntest, um dir so viele Karten leisten zu können. Aber so wie das Deck momentan aussieht, passt es nicht einmal in die Duel Disk und verstößt gegen essentielle Grundregeln des Spiels.

 

Anya jedoch hörte gar nicht hin.

Vor ihr stand ein Stapel aus mindestens hundert Karten, der fortan ihr Deck darstellen sollte. Es war bereits Abend und das letzte Rot am Himmel verlor den Kampf mit der Dunkelheit, wie man aus dem Fenster gegenüber des Schreibtisches sehen konnte.

„Welche soll ich nehmen“, murmelte das Mädchen unsicher und hielt in jeder Hand eine Fallenkarte, „[Birthright] oder [Justi-Break]?“
 

Nimm zufällig fünfzig Karten aus deinem Deck und tu sie zurück in deine Sammelbox. Du triffst garantiert die richtigen.

 

Wütend legte Anya die Karten auf ihr Deck und schnaubte. Wie sollte sie sich denn konzentrieren, wenn Levrier zu allem einen bissigen Kommentar auf den nicht-existierenden Lippen hatte!?

„JA, es ist vielleicht etwas umfangreicher als mein altes Deck! Dennoch ist es so perfekt, 'kay!?“

Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, ihr Deck umgestalten zu wollen. Auch wenn sie den ein oder anderen Schatz in ihrer Box gefunden hatte, den sie mit der Zeit völlig verdrängt hatte.

Wie sollte sie die Feinabstimmungen treffen, wenn sie dauernd unterbrochen wurde!?

 

Du bist noch unfähiger als dieser Junge aus der Fernsehserie, die du fast täglich schaust. Der will sich auch nie helfen lassen.

 

„Und du bist genauso nervig wie seine gute Fee!“

 

Die wenigstens Ahnung von der Materie hat. Ich kann nicht glauben, dass du das optimale Gefäß bist, um Eden zu werden.

 

Anya ballte eine Faust und schlug so hart gegen den Tisch, dass ihr Kartenturm umkippte und auf den Rest ihrer Karten fiel. Ihre ganze Arbeit war damit umsonst gewesen. Ein Wutschrei ungekannter Lautstärke folgte auf dem Fuß.

Fassungslos starrte sie ihr zerstörtes Werk an. „Toll! Wegen dir kann-“
 

Anya Bauer! Spürst du das?

 

„Oh ja! Wut, blanke Wut! Zerstörungswut, um genau zu sein! Geh sterben, Levrier, du bringst nur Unglück!“

Anya fing frustriert damit an, die einzelnen Karten wieder in die Hand zu nehmen.

 

Diese Schwingungen. Ein Pakt wird geformt!

 

„Oh der Glückliche!“, fauchte Anya, während sie beschäftigt war. „Vielleicht kriegt der wenigstens 'nen anständigen Dämon ab, der die Klappe hält, wenn er sie zu halten hat!“

 

Das verheißt nichts Gutes. Diese Energien dringen vom Stadtrand zu mir und das mit so gewaltiger Kraft, dass ein sehr mächtiges Wesen dahinterstecken muss. Wir sollten das untersuchen!

 

Anya warf die Karten zurück auf den Stapel und schnaufte. Dann drehte sie sich mit ihrem Stuhl um und starrte die Decke an, wie sie es immer tat, wenn sie glaubte, mit Levrier von Angesicht zu Angesicht zu reden.

„Okay, Kumpel, jetzt hör mir mal verdammt gut zu! Du kannst mich noch so lange nerven, aber niemand, nie-mand, sagt einer Anya Bauer, was sie zu tun oder zu lassen hat! Ich werde garantiert nicht nachgucken gehen, was der örtliche Spinnerclub jetzt schon wieder angestellt hat! Außerdem hat es gerade angefangen zu regnen und ich werde einen Teufel tun, bei dem Wetter raus zu gehen!“

 

Das ist mir gleich. Dieses Wesen könnte über Wissen bezüglich Eden verfügen. Wenn die Chance besteht, dass wir mehr über unsere Bestimmung erfahren können, sollten wir sie nutzen!

 

„Nix da! Ich werde jetzt mein Deck bauen und dann pennen gehen!“

Anya drehte sich demonstrativ wieder um und wollte sich wieder den Karten widmen, als ihre Hand plötzlich mitten in der Luft erstarrte. Es war kein Gefühl mehr in ihr.

„Wa-!?“

 

Du lässt mir keine andere Wahl, Anya Bauer. Dein Körper gehört auch mir, vergiss das nicht. Und nur, weil ich dich bisher immer habe gewähren lassen, heißt das nicht, dass du bestimmst, welchen Weg wir gehen!

 

Anya wurde schwindelig. Die verschiedenen Karten vor ihr auf dem Schreibtisch begannen zu tanzen und schienen ineinander zu verlaufen.

„Du Mistkerl, was stellst du mit-“

Doch schon knallte ihr Kopf mitten auf den Schreibtisch, gebettet in ihre Sammlung. Nur, um wenige Sekunden später wieder hochzuschrecken.

Plötzlich griff Anya zunächst zögerlich eine Karte, drehte sich zwischen ihren Fingern und betrachtete sie eingehend. Dann schnappte sie sich in wahnwitzigem Tempo eine nach der anderen aus ihrem Haufen und hatte so binnen weniger Minuten ein Deck gebaut, das sie ausdruckslos in ihre Deckbox steckte. Jene hing sie an ihren Gürtel, stand auf und schritt eilig aus dem Zimmer.

 

~-~-~

 

„Du verdammter, elender Dreckskerl!“, schrie Anya aus vollen Lungen und versuchte sich, gegen die Ketten zu wehren, die ihre Arme und Beine fest umschlungen hatten. Doch es half nichts, sie war gefesselt. Gefesselt an das sich drehende Mosaik der Erde, gefangen in dieser unbekannten Welt der Dunkelheit.
 

Sei mir lieber dankbar. Jetzt hast du dein bisher stärkstes Deck, ohne eigenen Aufwand – was ganz nach deinem Geschmack ist, wie ich vermute. Solange wir nicht geklärt haben, woher diese Energie kommt, werde ich die Führung übernehmen.

 

„Lass mich frei! Das ist mein Körper!“

Aber Anya wusste, dass es vergebens war. Sie konnte Levrier nicht sehen. Stattdessen sah sie durch ihn. Beziehungsweise durch ihren eigenen Körper, welcher gerade im strömenden Regen bei anbrechender Nacht durch den Park rannte. Rings um sie herum standen Bänke und Bäume, die Laternen spendeten ein wenig Licht.

Für Anya stellte sich das Geschehen allerdings ungewohnterweise in Form einer Sphäre dar, die vor ihr in hellem Blau glühte und zeigte, was Levrier in Anyas Körper gerade beobachtete. Es war merkwürdig, denn tatsächlich hing Anya nun in der Luft, gekettet an das Mosaik, welches scheinbar seine Lage gewechselt hatte. Obwohl es sich drehte, bewegte das Mädchen sich nicht mit – trotzdem war ihr schwindlig, vor allem aufgrund des Abgrunds unter ihren Füßen.

Wütend biss sie die Zähne zusammen. Eigentlich hatte sie erst mit 21 vorgehabt, gefesselt in einer Gummizelle zu liegen, hauptsächlich um nicht arbeiten gehen zu müssen. Dass Levrier ihr diese Erfahrung jetzt einfach vorweg nahm, war nicht nur tolldreist, sondern unverzeihlich!

„Wenn ich-“

 

Wenn ich jemals wieder hier herauskomme, bist du so was von fällig? Denselben Satz wiederholst du nun schon zum achten Mal, gefolgt von „Lass mich frei!“. Wird dir das nicht langsam langweilig?

 

Levrier schüttelte genervt den Kopf, während er durch den Park rannte. Anya Bauers Flüche und Racheschwüre konnte er leider nicht ausblenden, denn der Pakt erlaubte ihm nur die Kontrolle über den Körper des Mädchens, nicht deren Geist. Aber zumindest bemerkte sie dadurch nicht, dass er in ihrem Leib ernsthafte Schwierigkeiten hatte.

Wieder knickte er um. Eine feste Form zu haben war eine Erfahrung, die ihm bisher nur sehr selten zuteil geworden war. Laufen auf zwei Beinen war eine regelrechte Zumutung, wenn man andere Fortbewegungsarten gewohnt war.

 

Alter, lern' laufen! Wenn uns jemand sieht, denken die noch, ich hätte 'ne ganze Kneipe leer gesoffen!

 

Seufzend bewegte sich Levrier nun hinkend vorwärts, der schmerzende Knöchel erschien wie eine seltsame Illusion für ihn. Anya Bauer hatte es offensichtlich doch bemerkt. Zumindest hörte sie jetzt mit dem Geschrei auf, dachte Levrier erleichtert.

„Mir ist egal, was andere über uns denken. Außerdem ist niemand in der Nähe, der uns sehen könnte. Am Ende des Parks wurde der Pakt geschlossen, das ist alles, was im Moment relevant ist.“

 

Hättest du nicht wenigstens 'ne Jacke überziehen können? Ich trage nur ein weißes T-Shirt, du Blödian!

 

Levrier blieb stehen, sah an sich herab und erkannte den Grund für Anya Bauers Unmut. „Du wirst es überleben. Sei froh, denn dieser Schriftzug 'Nirvana' verdeckt die heiklen Stellen hervorragend. Warum schämt ihr Menschen euch nur für euren Körper?“
 

Duuuuuu!

 

„Wie dem auch sei, ich habe keine Zeit für dein albernes Gezänk.“

Mit diesen Worten setzte sich Levrier wieder in Bewegung und wich den kleinen Pfützen aus, die sich durch den Regen langsam bildeten. Eine leichte Kurve führte ihn schließlich zum Nordtor des Parks, von welchem aus man auf die Straße blicken konnte. Ein Auto fuhr vorbei, doch von der Präsenz, die Levrier gespürt hatte, war nirgendwo mehr eine Spur – fast, als wäre sie nie hier gewesen.

Er wandte dem Tor den Rücken zu und musterte die große Wiese zu seiner Rechten, dann den dichten Wald zu seiner Linken. Niemand war hier und hielt sich verborgen. Doch womöglich spielte Anya Bauers minderwertige Sehstärke ihm auch nur einen Streich.
 

Ja, guck, guck nur! Da ist niemand, du Hohlkopf! Krieg' ich jetzt meinen Körper zurück? … Bitte?

 

„Nein.“

Es war befremdlich, nun im Körper von Anya Bauer zu stecken. Ihre Sinneseindrücke waren ganz anders als die von Levrier, während er körperlos war. Sie fror im Regen, was Levrier in seiner Suche stärker behinderte, als ihm lieb war. Zudem war durch den Schleier der Regentropfen die Sicht stark eingeschränkt.

Levrier fragte sich, ob das fremde Wesen und sein Bündnispartner überhaupt noch hier waren. Ein Ort wie dieser war sehr ungewöhnlich für einen Pakt, denn auch wenn der Regen die Sicht blockierte, war die Gefahr groß, von anderen Menschen entdeckt zu werden.

„Das ist eine Falle“, erkannte Levrier schließlich.
 

Oh, ganz großes Kino! Und du bist natürlich direkt hineingelaufen, Schwachkopf! Wie wäre es, wenn ich jetzt wieder das Kommando übernehme, damit wir abhauen können!?

 

„Dafür ist es schon zu spät.“

Ohne sich umzudrehen, achtete Levrier auf die Geräusche hinter sich. Selbst das Unwetter konnte die Schritte nicht übertönen, die in den Pfützen hinter ihm widerhallten. Erstaunlicherweise konnte Levrier, obwohl zwischen ihm und der anderen Person gerade einmal knapp acht Meter lagen, keine nennenswerte Präsenz feststellen. Waren seine Kräfte so sehr geschrumpft, seit er den Pakt mit Anya Bauer eingegangen war?

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte eine feste, männliche Stimme, „auch wenn ich irgendwo schon gehofft hatte, dich nicht hier antreffen zu müssen, Anya.“

 

Das kann nicht sein! Wieso-!?

 

„Ich bin nicht Anya Bauer“, erwiderte Levrier kalt. Er kannte den Besitzer jener tiefen, dennoch sanften Stimme bereits. Trotzdem fühlte er sich unwohl, was vor allem an Anya Bauer lag, deren Emotionen zu ihm drangen. Sie waren wie immer stärkere Wellen, ein Symbol ihrer Aufregung.
 

Marc!? Was macht er denn hier!? Sag nicht, dass er-

 

Levrier drehte sich nun um und stand dem Footballspieler und Anya Bauers Schwarm direkt gegenüber. Auch er war durchnässt, das schwarze Haar glänzte regelrecht und an seinem kleinen Kinnbart hatten sich Regentropfen eingenistet. Der junge Mann trug nur eine blau-weiß gestreifte Sportjacke, darunter ein T-Shirt und eine Jeans. Sein rechter Arm war immer noch bandagiert – und nun wusste Levrier auch, warum das so war. Am linken trug er eine Duel Disk.

„Du bist einen Pakt eingegangen“, meinte er kühl und gefasst, was bei Anya Bauers sonst so schnarrender Stimme ziemlich ungewohnt klang. „Etwa nur, um mich hierher zu locken?“

In Marc Butchers Augen stand tiefes Bedauern. Er griff nach seinem Arm und wickelte langsam die Bandagen ab – nichts! Nur ein geschwollenes Handgelenk.
 

Oh Gott sei Dank! Der hat mir echt einen Schrecken eingejagt! Was ist nur los mit dem!? Levrier, mir gefällt das nicht! Was will er von dir?

 

Es mutete für Levrier seltsam an, die sonst so ignorante Anya Bauer so aufgeregt zu erleben. Sorge war etwas, das dieses Mädchen nur selten durchscheinen ließ und in der Regel vor allen anderen verborgen hielt. Aber ihre Ängste waren begründet – dieser junge Mann war nicht zufällig hier.

„Ich bin keinen Pakt eingegangen“, meinte Marc Butcher schließlich. „Noch nicht zumindest. Das wollte ich erst dann tun, wenn wir uns gegenüberstehen, Anya. Oder wer auch immer ihren Körper nun in Beschlag hält.“

„Man nennt mich Levrier.“

„Also bist du wirklich ein 'Gründer'?“

„Womöglich? Ist das die Bezeichnung für Wesen wie mich?“

Marc Butcher runzelte die Stirn. „Das wusstest du nicht?“ Doch er seufzte und überging Levriers Ahnungslosigkeit. „Wie dem auch sei, wir sind jetzt hier.“

„Was habe ich vorhin gespürt, wenn du noch gar keinen Pakt eingegangen bist?“
 

Was redet er da!? Gründer? Levrier, du musst ihn aufhalten! Marc darf keinen Pakt eingehen! Wie kommt er überhaupt dazu, woher weiß er so viel!? Bitte, tu was! Ich verstehe diesen ganzen Kackmist nicht!

 

„Nichts weiter als ein Signal, um euch hierher zu locken“, antwortete Marc Butcher tonlos, „das war Isfanels Idee. Der Dämon, mit dem ich den Pakt eingehen werde.“

Levrier verschränkte die Arme, eine Unart, die er sich anscheinend unbewusst von Anya Bauer abgeschaut hatte. Deren Emotionswellen waren mittlerweile so chaotisch, dass er aufpassen musste, nicht am Ende noch die Kontrolle zu verlieren. Das durften sie sich in ihrer momentanen Lage nicht erlauben.

„Und wozu das Ganze? Bist du auch ein Dämonenjäger?“

„Nein. Ich bin ein normaler Mensch, der nur zufällig in diese Sache hineingeraten ist“, meinte sein Gegenüber bitter. „Ohne Isfanel wüsste ich gar nicht, was hier überhaupt abgeht. Und ich wünschte, ich könnte das alles vergessen. Aber da ich nun Bescheid weiß, kann ich euch nicht einfach ignorieren.“

 

Wovon spricht er da bloß? Will der uns etwa-

 

„Also bist du hier, um mich zu vernichten?“, stellte Levrier die Frage, die Anya Bauer nicht auszusprechen wagte.

Marc Butcher nickte kaum merklich.
 

Oh shit, sag, dass das ein Scherz ist! Warum Marc? Der will uns nur verarschen, oder? So wie neulich? Sag, dass es so ist, Levrier!

 

„Ich fürchte, dem ist nicht so“, meinte dieser zu Anya Bauer emotionslos. „Für einen einfachen Streich weiß er zu viel.“

Nun donnerte und blitzte es über Livington. Das Unwetter wurde stärker, der Regen heftiger. Es war ein Omen, das wusste Levrier. So geschah es immer, wenn gewaltige Kräfte zu wirken begannen. Damit stand unweigerlich fest, dass dieser Mann eine Gefahr darstellte.

„Darf man den Grund für deinen Groll mir gegenüber erfahren?“, fragte er kühl.

„Eden“, antwortete Marc Butcher knapp und strich sich über die verletzte Hand. „Ich muss verhindern, dass du den Menschen, der mir am Wichtigsten ist, ins Unglück stürzt.“

 

Nicht er auch noch! Bitte nicht!

 

„Du weißt mehr darüber?“

Plötzlich brüllte Marc Butcher Levrier außer sich vor Wut an. „Nicht annähernd genug und doch viel zu viel! Denkst du, ich lasse zu, wie du Valerie für deine Zwecke opferst!?“

Levrier verstand jedoch nicht. „Dieses Mädchen hat keine Verbindung zu mir.“

„Doch, hat sie! Sie trägt ein Mal und das reicht bereits, egal von wem es stammt!“

„Und in welchem Zusammenhang steht sie mit Eden?“
 

DAS würde ich auch gerne wissen! Wie kommt Marc auf die Idee, dass du diese dumme Pute gefährden könntest!? Oder- Willst du sie etwa wirklich-!?
 

„Natürlich nicht.“

Ein kalter Wind strich über den Park und ließ das Gras unstet hin und her wippen.

„Du willst wissen, was ich erfahren habe? Gut. Dann erzähle ich dir meine ganze Geschichte“, meinte Marc Butcher aufgewühlt, schloss die Augen und atmete tief durch. Er war blass und Levrier wusste genau, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war, wie er behaupten mochte.

Der Footballspieler öffnete die Lider wieder und begann zu erzählen.

 

„Es ist gerade einmal zwei Wochen her, da bekam ich eines Nachts Besuch. In meinem Traum. Es war Isfanel, der Dämon, der euch aufzuhalten gedenkt. Gleich von Anfang an wollte er, dass ich einen Pakt mit ihm eingehe. Um euch beide zu vernichten, denn dazu wäre ich nur mit ihm in der Lage.“

Levrier stockte. „Dann weißt du also tatsächlich Bescheid?“

„Klar doch, Isfanel hat mir vieles erzählt! Und wäre es nicht für Valerie, würde ich mich nie mit diesem Ding abgeben! Es ist nicht so, dass Isfanel mich aufgesucht hat, nur um Gutes zu tun! Eigentlich ist es reiner Eigennutz, was dir ja sehr bekannt sein dürfte! Wenn Eden erwacht, verschwindet Isfanel, so sagt er! Du kannst dir also denken, wie hartnäckig er um mich gekämpft hat, da ich als Wirt geeignet für ihn bin!“

 

Jedoch beschäftigten Levrier ganz andere Dinge als Marc Butchers Gründe für sein Tun. Er konnte dieses andere Wesen nicht einmal spüren, als wäre es gar nicht anwesend. Was hatte das zu bedeuten?

 

Der junge Mann schluckte. „Und vielleicht kannst du dir auch vorstellen, wie das für mich war. Ich dachte, ich wäre vollkommen durchgeknallt. Aber all die Dinge, die Isfanel mir erzählt hat, was in Victim's Sanctuary geschehen ist, in unserer Schule … Ich wollte es nicht glauben, bis zu dem Zeitpunkt, als Anya ihre Kräfte das erste Mal eingesetzt hat.“
 

Meint er etwa das Duell mit Nick!?

 

„Seitdem wusste ich, dass Isfanel die Wahrheit gesagt hatte.“

Levier zog eine Augenbraue hoch, ebenfalls eine Angewohnheit seines Gefäßes, die schwer zu bändigen war. „Welche Wahrheit?“

„Über euch beide! Denkt ihr, es ist mir leicht gefallen, Valerie von mich zu stoßen? Mich wie ein Arsch zu benehmen, nur damit sie Abstand von mir hält, um nicht noch weiter in diese Sache hineingezogen zu werden?“ Er breitete wütend die Arme aus. „Aber so wird es ihr wenigstens leichter fallen, mich zu vergessen! Für mich gibt es keinen Weg mehr zurück, so oder so!“

 

Der will uns wirklich umbringen! Ich-! Wieso-

 

Noch nie hatte Levrier Anya Bauer so verzweifelt erlebt. Gewiss empfand er Mitleid für sie, doch würde er diesen Mann nicht gewähren lassen. Egal ob er ein Freund seines Gefäßes war oder nicht, jeder, der sich als Bedrohung für ihn entpuppte, musste vernichtet werden. Und suchte dieser Marc Butcher nicht auch den Tod, wenn er ihm so aufrichtig begegnete? Denn das war unweigerlich, was ein Pakt mit diesem Isfanel bedeuten würde.

 

„Isfanel wollte den Pakt sofort schließen, nachdem ich mich entschieden hatte, euch zu töten“, sprach Marc Butcher nun leise, mit zitternder Stimme weiter. „Aber das wollte ich nicht. Bevor ich ihm gehöre, wollte ich zumindest noch einmal mit euch sprechen. … und mich entschuldigen.“

Ohne Vorwarnung warf er sich auf die Knie, direkt in eine Pfütze. „Vergebt mir! Bitte! Aber ich habe keine andere Wahl! Ich muss die anderen vor euch beschützen, auch wenn ihr nichts Böses beabsichtigt!“

„Ich verstehe nicht“, erwiderte Levrier steif, „du siehst Eden als etwas Gefährliches, gleichwohl nicht Böses an? Woher hast du, beziehungsweise Isfanel, dieses Wissen?“

Marc Butcher sah auf. „Darüber werden wir nicht sprechen! Ich will davon nichts mehr hören! Es tut mir Leid, dass ich euch mit dem falschen Pakt hierher gelockt habe, aber es muss hier geschehen! Damit Anya wenigstens an einem schönen Ort stirbt! Auch wenn das Wetter …“

 

I-ich soll sterben? Nein! D-das … das ist nicht Marc! Der würde so etwas nie tun!

 

Langsam erhob sich Marc Butcher wieder. Seine Jeans war nass und schmutzig vom Pfützenwasser und er sah trotz seiner kräftigen Statur so zerbrechlich aus, dass Levrier daran zweifelte, ob dieser Bursche wirklich den Willen mit sich brachte, sie beide zu töten. Aber er hatte einen Dämonen an seiner Seite, welcher garantiert dort eingreifen würde, wo sein Gefäß zu hadern begann.

„Die Situation ist ernst“, meinte Levrier besorgt zu Anya Bauer, als er eine Verzerrung direkt unter sich zu spüren begann. Doch die Erkenntnis kam bereits zu spät. „Wir sind gefangen in einem Netz. Während er gesprochen hat, muss der Dämon irgendeinen Zauber gewirkt haben! Ich kann meine Beine nicht bewegen!“
 

Was!?

 

„Sorry, das war auch Teil des Plans“, entschuldigte Marc Butcher sich reumütig.

Wie konnte das nur unbemerkt an ihm vorbeigegangen sein, fragte Levrier sich tadelnd. Es war, als würde er am Boden festkleben. Wer immer auf der Seite dieses Mannes stand, war sehr geschickt darin, im Verborgenen zu agieren.

Marc Butcher aktivierte seine Duel Disk. „Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder wir kämpfen auf die übliche Weise und gefährden damit unschuldige Menschen, oder wie lösen unseren Konflikt über ein Duell. Die Wahl liegt bei euch.“

 

Das kann unmöglich sein Ernst sein! Wir können doch nicht gegen Marc kämpfen! Was, wenn er verletzt wird!?

 

Viel eher sorgte sich Levrier um ihr eigenes Wohlergehen. Die Macht dieses Isfanels war unmöglich einzuschätzen und geschwächt wie er war, konnte Levrier nicht das Risiko eingehen, einen 'traditionellen' Kampf zu beginnen, den er nicht gewinnen konnte. Ein Duell wäre aus seiner Position die bessere Lösung, denn nicht zuletzt war er an Ort und Stelle gefangen, dazu noch in einem kostbaren Gefäß, welches er nicht gefährden durfte.

„Ich wähle das Duell“, entschied sich Levrier kurz und knapp.

„Das dachte ich mir“, meinte Marc Butcher schuldbewusst. „Ist mir auch lieber so.“
 

Hör auf! Wir kämpfen nicht gegen Marc, verstanden!?

 

Doch Levrier ignorierte Anya Bauers immer heftiger werdende Proteste und aktivierte ihre Duel Disk. Mit dem Deck, welches er ihr gebaut hatte, würden die Chancen auf Erfolg steigen. Und er kannte bereits den Kampfstil seines Gegners, was ein zusätzlicher Vorteil war, auch wenn er auf Gegenseitigkeit beruhen mochte.

„Ich werde jeden vernichten, der sich meiner Bestimmung in den Weg stellt!“, sprach Levrier erhaben und funkelte sein Gegenüber aus entschlossenen, blauen Augen an. „Bist du ein Feind Edens, bist du auch mein Feind. Erwarte keine Gnade.“

„Wie gesagt, für mich gibt es sowieso kein Zurück“, seufzte Marc Butcher schwer und strich sich über den verletzten Arm. „Es … tut mir Leid, wirklich …“

Plötzlich richtete er seinen Blick gen Himmel. „Ich bin bereit, Isfanel! Der Pakt … wird geschlossen.“

 

NEIN!

 

Eine grelle Lichtsäule schoss von dem jungen Mann in die Höhe, während er aus Leibeskräften zu schreien begann. Ohrenbetäubendes Getöse übertönte den fallenden Regen.

Geblendet wandte sich Levrier ab, während er gleichzeitig einen Zauber spürte, welcher den Park fortan von fremden Blicken abschirmen sollte. Wieder ein Werk Isfanels, damit sie nicht gestört wurden – was auch nur gut so war.

Wie ein Blitz schlängelte sich der Energiestrahl durch die Luft und verblasste schließlich. Der in rötliches Licht getauchte Park verdunkelte sich wieder in der anbrechenden Nacht, die Regentropfen plätscherten wieder deutlich vernehmbar.
 

Wieso … hat er das getan?

 

Dort, wo die Lichtsäule war, stand jetzt wieder und völlig unversehrt Marc Butcher. Doch sein Ausdruck hatte sich verändert, denn dort lag kein Bedauern mehr, sondern nur eiserne Härte. Sein rechter Arm war wie durch Zauberhand genesen und nun mit einem roten Mal versehen. Es war ein Langschwert, um das sich eine Flamme wandte, hin bis zur Parierstange, mit der sie verschmolz und ein flügelähnliches Gebilde schuf.

 

„Schön, sich endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen“, sprach Marc Butcher tonlos.

„Du bist Isfanel!“ Levrier stockte. Er spürte etwas Vertrautes an diesem Wesen, welches nun seine wahre Macht ausstrahlte. Sie war unbegreiflich, stark, der von Levrier sehr ähnlich. Und dennoch nicht fassbar, wie Wasser, das man nicht festhalten konnte, um es zu verstehen.

Doch in Einem war sich Levrier sicher: Isfanel war deutlich mächtiger als er es selbst war.

„Du bist mir … vertraut.“

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Ein Trugschluss. Wir sind uns bis zum heutigen Tage nie begegnet. Und doch weiß ich viel über dich, Levrier, der wohl bekannteste 'Gründer'. So wie es deine Bestimmung ist, Eden zu werden, ist es meine, dieses Unterfangen aufzuhalten. Meine Existenz hängt davon ab und auch die vieler weiterer Individuen. So wie ich von dir keine Gnade zu erwarten habe, hast du genauso wenig von mir mit Rücksicht zu rechnen.“

Levrier nickte. „Verstehe. Aber gewähre mir eine Frage. Was ist Eden?“

„Mein Untergang. Muss ich mehr wissen, als das?“

„Womöglich weißt du gar nicht mehr. Was, wenn du dich irrst?“

„Kann man sich in seiner Bestimmung irren?“, erwiderte Isfanel nun mit einem kühlen Lächeln auf Marc Butchers Lippen. „Deine Worte bedeuten mir nichts. Wisse, dass ich dafür sorgen werde, dass du abermals scheitern wirst. Hier und jetzt!“

Er streckte seinen Arm mit der Duel Disk vor. Levrier nickte daraufhin, denn jeder weitere Versuch, mehr über die Beweggründe seines Gegners zu erfahren, wäre vergeudete Liebesmüh. Und so riefen sie synchron: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Marc: 4000LP]

 

Beide zogen ihr Startblatt von fünf Karten und standen sich im Regen gegenüber. Levrier empfand das ständig wachsende Unbehagen in ihm als äußerst unangenehm. Besonders, da es nicht nur von Anya Bauer herrührte, die sich mit allen Kräften gegen seine Kontrolle wehrte.
 

Er kann doch nicht wirklich weg sein, oder? Marc ist doch noch in ihm, so wie ich in dir bin, oder? Brech' dieses beschissene Duell ab, ehe uns allen etwas passiert! Wenn du willst, kümmere ich mich um diesen Drecksack, aber nicht, solange er in Marc steckt! Antworte mir gefälligst, Levrier!

 

„Der Bursche ist tatsächlich noch in ihm, aber er hat die Kontrolle freiwillig aufgegeben. Es gibt nichts, was ich für ihn tun kann. Und unsere Lage gestattet es nicht, in Verhandlung zu treten. Isfanel hat alle Fäden in der Hand.“

Jener lachte daraufhin zufrieden. „Das ist richtig. Wäre es nicht der Wille meines Gefäßes, würde ich euch auf der Stelle vom Antlitz dieses Planeten tilgen. Doch so bin ich an -das- hier gebunden.“ Er hob den Arm mit seiner Duel Disk. „Warum also bringen wir es nicht endlich hinter uns? Ich beginne, Draw!“

Damit fügte er seiner Hand eine sechste Karte hinzu. „Ich spiele eine Karte verdeckt und beschwöre [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] im Angriffsmodus.“

Vor seinen Füßen tauchte die gesetzte Karte auf. Weiter in der Mitte des Spielfelds erhob sich ein älterer Mann ganz aus Stein, mit nacktem Oberkörper, der einen Hammer aus purer, gehärteter Lava schulterte.

 

Kayenn, The Master Magma Blacksmith [ATK/1200 DEF/200 (3)]

 

„Damit ist mein Zug beendet“, verlautete Isfanel seelenruhig.

Sofort zog Levrier die nächste Karte und studierte eingehend sein Blatt. Anya Bauers Schlüsselkarte war nicht darunter, was bedeutete, dass er eine andere Vorgehensweise einschlagen musste. Er griff sich ein Monster und legte es auf die Battle City-Duel Disk des Mädchens. „Ich rufe [Gem-Knight Obsidian]!“

Vor ihm erschien ein Ritter in pechschwarzer Rüstung, welcher als Waffe eine massive Perlenkette aus schwarzen Edelsteinen um seine Schulter hängen hatte.

 

Gem-Knight Obsidian [ATK/1500 DEF/1200 (3)]

 

Wie es Anya Bauer sonst tat, streckte Levrier den Arm aus, als er den Angriff befahl. „Attackiere sein Monster!“

Der schwarze Ritter nahm seine wuchtige Kette, schwang sie und wurde, als die ersten Perlen sich bereits von ihr zu lösen begannen, plötzlich von mehreren Stahlketten umschlungen, die aus dem Boden ragten. Auch seine Perlen wurden in der Luft gefangen und schwebten regungslos über der Erde.
 

Eine Fallenkarte!

 

„Das sehe ich“, kommentierte Levrier Anya Bauers Aufschrei trocken.

Isfanel hielt seinen Zeigefinger immer noch auf dem Knopf an Marc Butchers Duel Disk, welcher besagte Falle ausgelöst hatte. „Man nennt diese Karte [Fiendish Chain]. Sie annulliert die Effekte des betroffenen Monsters und hindert es am Angriff, solange sie aktiv ist.“

„Verstehe. Dann setze ich eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“

Unbeeindruckt schob Levrier seine eigene Falle in den dazugehörigen Schlitz der Duel Disk und ließ sie so vor sich erscheinen.

 

Können wir das nicht abbrechen!?

 

„Ich sagte bereits, dass das unmöglich ist.“

Plötzlich lachte Isfanel auf, doch es klang spöttisch und verachtend. „Wie ich sehe, ist dein Gefäß gesprächiger als meines. Marc Butcher hat kein Wort mehr verloren, seit er den Pakt eingegangen ist. Er weiß, dass er nie wieder zurückkehren wird.“
 

Stopf' diesem Mistkerl seine dreckige Visage! Niemand redet so über Marc! Er wird zurückkommen, dafür sorge ich schon! Wenn ich doch nur-!

 

Levrier seufzte. Anya Bauer war zu optimistisch. Sie hatte keine Ahnung, was ein Kampf zwischen zwei Wesen wie ihm und Isfanel wirklich bedeutete. Und er hatte auch nicht vor, sie darüber schon jetzt aufzuklären.

„Mein Zug“, kündigte Isfanel schließlich an und zog. „Ich aktiviere [Spiritualism]! Damit gebe ich die gesetzte Karte zurück auf deine Hand, Levrier. Und dank der besonderen Eigenschaft von [Spiritualism] kannst du sie nicht als Gegenreaktion aktivieren.“

Aus der Zauberkarte schossen geisterhafte Gestalten, Skeletten nicht unähnlich und verschwanden in Levriers Fallenkarte, die sich daraufhin auflöste. Unzufrieden nahm deren Besitzer sie wieder aus der Duel Disk.

Derweil zückte sein Gegner bereits die nächste Handkarte und spielte sie aus. „Beschwörung! [Card Trooper]!“

Hinter ihm kam ein kleiner Roboter hervor gerollt, welcher seine Kanonenarme auf den Feind seines Besitzers richtete. Aus seinem Kopf strahlte das Licht von zwei Scheinwerfern, die seine Augen darstellen sollten.

 

Card Trooper [ATK/400 DEF/400 (3)]
 

Isfanel schwang den Arm aus. „Effekt des [Card Troopers] aktivieren. Einmal pro Zug kann ich bis zu drei Karten von meinem Deck auf den Friedhof abwerfen, um mein Monster auf diese Weise für jede von ihnen bis zur End Phase um 500 Angriffspunkte zu stärken.“

Er griff die obersten drei Karten seines Stapels und zeigte sie vor. Es waren zwei Monster und eine Fallenkarte, genannt [Laval Judgment Lord], [Laval Forest Sprite] und [Skill Successor].

 

Card Trooper [ATK/400 → 1900 DEF/400 (3)]

 

Oh, na ganz klasse! Lass lieber mich ran, sonst verlieren wir noch!

 

Wie es schien, hatte Anya Bauer sich vom Schock der Begegnung mit Marc Butcher halbwegs erholt und war wieder ganz die Alte. Dennoch würde Levrier ihrem Wunsch nicht nachkommen.

Gerade wollte er etwas darauf erwidern, da streckte sein Gegner die Hand aus. „Erkenne meine Macht! Meine zwei Stufe 3-Monster werden zu einem Rang 3-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network!“

Ein schwarzer Sternenwirbel tat sich mitten im Boden auf und verschluckte seine Monster, die zu je einem roten und einem braunen Energiestrahl wurden. Aus dem Loch entstieg eine menschenartige Gestalt. Gekleidet in einer dunklen Rüstung, brannten sowohl Kopf, Schultern und Hände dieses Wesens, während ein zerfetzter, roter Mantel das Bild abrundete.

„Xyz-Summon! [Lavalval Ignis]!“, rief Isfanel erhaben.

 

Lavalval Ignis [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

Um den Krieger kreisten zwei Energiesphären, sein Xyz-Material.

Derweil wollte Levrier erschrocken zurückweichen, doch seine Füße verweigerten durch Isfanels Magie ihren Dienst. Nicht etwa um des Monsters Willen war er schockiert, sondern wegen dem im Regen kaum sichtbaren, roten Glimmen, welches von Marc Butchers Mal ausging.

„Das ist“, begann er und hielt kurz inne. „Das ist das Symbol ihres Paktes!“

 

So wie [Gem-Knight Pearl] bei uns? Hmm, sieht scheiße aus, das Teil. Und besonders stark ist es auch nicht. Außerdem, das ist doch total der Ghost Rider-Abklatsch! Welcher Schwachmat-

 

„Beurteile deinen Gegner nicht nach dem Aussehen“, mahnte Levrier sie scharf, „ich bin mir sicher, dass diese Karte einen gefährlichen Effekt besitzt.“

Isfanel lächelte heimtückisch. „Gewiss. Warum findest du es nicht heraus?“ Er zeigte mit dem Finger auf Levriers Gem-Knight. „Vernichte!“

Ignis legte die Hände aufeinander und erschuf so einen gewaltigen Feuerball. Plötzlich bellte Isfanel herrisch: „Xyz-Material abhängen! Wenn meine Kreatur es absorbiert, erhöht sich seine Angriffskraft zeitweilig um 500!“

Er nahm [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] unter seiner Xyz-Monsterkarte hervor und schickte diesen auf den Friedhof. Zeitgleich wurde eine der Sphären um Ignis in die Flamme gezogen, wodurch jene weiter anwuchs.

 

Lavalval Ignis [ATK/1800 → 2300 DEF/1400 {3}]

 

„Attacke!“

 

Oh, shit!

 

Levrier hielt schützend den Arm vor sein geborgtes Gesicht, als Ignis die Flamme auf [Gem-Knight Obisidian] abschoss, welcher, gefesselt wie er war, nicht ausweichen konnte. Es gab eine Explosion und Levrier spürte, wie Funken seine Haut verbrannten. Es schmerzte fürchterlich, was für ihn eine längst vergessene Erfahrung war. Ein Stöhnen unter der gewaltigen Hitze konnte er nicht unterdrücken.

 

[Anya: 4000LP → 3200LP / Marc: 4000LP]

 

Lavalval Ignis [ATK/2300 → 1800 DEF/1400 {3}]

 

Stoßweise atmete Levrier ein und aus. Solange Anya Bauers Geist im Elysion gefangen war, konnte sie nicht spüren, was mit ihrem Körper geschah. Ihr war der Großteil der Attacke entgangen, da er dabei die Augen geschlossen gehalten hatte. Hoffentlich würde es noch eine Weile dauern, ehe sie dahinter kam, dass dieses Duell echte Verletzungen zufügte.

Isfanel zeigte eine Karte mit dem Rücken zu seinem Gegner gerichtet vor. „Diese setze ich verdeckt. Damit ist mein Zug beendet!“

Schon materialisierte sich die Karte vor ihm.

 

Mit einer schnellen Handbewegung zog Levrier und musterte dann erneut sein Blatt. Die Optionen waren begrenzt, aber er wusste, dass er schnellstens zum Gegenschlag ausholen musste.

„Ich aktiviere den Zauber [Monster Reborn] und reanimiere [Gem-Knight Obsidian] von meinem Friedhof. Dazu kommt als Normalbeschwörung noch [Gem-Knight Tourmaline]!“

Vor ihm tauchten der schwarze Ritter und ein weiterer Krieger in goldener Rüstung auf, welcher zwischen seinen Handflächen einen Blitz erschuf.

 

Gem-Knight Obisidan [ATK/1500 DEF/1200 (3)]

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Hey!? Warum hast du nicht sein Judgmentdingens-Monster wiederbelebt!? Das ist doch viel stärker als Obsidian!

 

„Unterbreche mich nicht und lerne lieber“, erwiderte Levrier darauf nur kühl und schob eine weitere Zauberkarte in den dazugehörigen Schlitz seiner Duel Disk. „[Particle Fusion]! Indem ich Gem-Knights vom Spielfeld verschmelze, erschaffe ich ein neues Monster! Erscheine, [Gem-Knight Topaz]!“

 

Du hättest wenigstens meinen coolen Beschwörungsspruch aufsagen können! Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um mir den auszudenken?

 

Levriers Monster wurden in einen Wirbel aus Edelsteinen gezogen und verschmolzen zu einem neuen Krieger, der kurz darauf vor seinem Herren landete. Auch er trug eine goldgelbe Rüstung, dazu noch einen blauen Umhang und zwei Schwerter mit Blitzklingen in den Händen.

„Diese Sprüche sind albern“, kommentierte Levrier Anya Bauers Einwurf trocken.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

Derweil hatte Isfanel abwartend die Arme voreinander verschränkt und warte mit regelrecht lauernden Augen auf das weitere Vorgehen seines Gegners, ohne ihn jedoch darin zu unterbrechen.

Jener hielt seine Fusionszauberkarte zwischen den Fingern. „Nun wirkt der zweite Effekt von [Particle Fusion]. Indem ich sie nun von meinem Friedhof verbanne, erhält [Gem-Knight Topaz] für diesen Zug die Angriffskraft von [Gem-Knight Obsidian].“

Levrier nahm [Particle Fusion] aus seinem Friedhofsschacht und steckte diese in die Hosentasche seiner Jeans.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 → 3300 DEF/1800 (6)]

 

Krass! Du bist ja genauso gut wie ich! Geh ja behutsam mit Marc um, 'kay!? Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, dann-

 

Levrier ignorierte die Gebärden Anya Bauers, obschon ihm langsam die Geduld dafür ausging. Stattdessen zeigte er jetzt entschlossen auf Isfanels Monster. Dieser Kampf würde gleich vorbei sein. „[Gem-Knight Topaz], erster Angriff!“

Wütend stürmte der Krieger auf seinen flammenden Gegner zu und hob eine seiner Klingen, um gnadenlos zuzuschlagen. Und als die Klinge niedersauste, zersplitterte Glas – er hatte dort, wo eben noch [Lavalval Ignis] gestanden hatte, stattdessen sein eigenes Spiegelbild zerstört.

Es gab eine heftige Explosion, Glassplitter flogen in Levriers Richtung und fügten ihm Schnittwunden auf der Wange und dem erhobenen Oberarm zu.

 

[Anya: 3200LP → 3050LP / Marc: 4000LP]

 

„Was ist geschehen?“, fragte Levrier aufgebracht. Sein Krieger war fort, während neben Isfanel nun eine Fallenkarte aufgesprungen war.

„Du bist der [Mirror Wall] zum Opfer gefallen. Diese mächtige Karte halbiert die Angriffskraft jedes Monsters, das so dumm ist, mich anzugreifen. Und 1650 Punkte sind wirklich nicht sehr viel, nicht wahr?“ Ein gehässiges Lächeln umspielte Marc Butchers Lippen. „Sieht so aus, als wärst du mir vollkommen unterlegen, werter Levrier. Wie ich sagte, du hast keine Gnade zu erwarten.“

Wieder bediente sich Isfanels Gegner einer der Angewohnheiten seines Gefäßes und schnaubte hochmütig. „Noch ist nichts entschieden. Ich setze diese Karte verdeckt.“

Mit einem Zischen erschien sie vor seinen Füßen und war somit die einzige Karte auf Levriers Spielfeldseite. „Ich beende damit meinen Zug.“

 

„Denkst du das wirklich?“, fragte Isfanel nicht weniger selbstbewusst und zog nebenbei die nächste Karte. „Sicher, niemand kann vorhersehen, was geschehen wird. Aber es gibt Kräfte, die intervenieren können.“

Während er das sagte, zersprang seine Fallenkarte, da ihr Besitzer nicht die erforderlichen 2000 Lebenspunkte zahlte, um ihren Effekt aufrecht zu erhalten. „Möchtest du sie sehen? Diese Kräfte, von denen ich rede?“

Levrier zuckte zusammen, als sein Gegner plötzlich seinen rechten Arm ausstrecke. Das flammende Schwert darauf begann nun so stark zu leuchten, dass Marc Butchers ganzer Körper von einer roten Aura umgeben war. Gleichzeitig spürte Levrier eine Macht, die er so noch nie zuvor erlebt hatte. Es war, als würden sich seine Eingeweide zusammenziehen.

Die Erde begann zu erzittern, während der Regen mitten in der Luft plötzlich zum Stehen kam.

 

Was ist das!? Mir ist kotzübel!

 

„Selbst du fühlst es!?“, fragte Levrier erschrocken und weitete seine Augen, als sich die Flammen an [Lavalval Ignis'] Extremitäten plötzlich blau verfärbten.

„Werde Zeuge meiner Macht, Levrier“, schrie Isfanel nun größenwahnsinnig.

Sein Xyz-Monster wurde plötzlich zurück in den schwarzen Wirbel gezogen, aus dem er ursprünglich entstanden war. Allein, dass dieser sich plötzlich aufgetan hatte, verhieß nichts Gutes – das wusste Levrier. Was immer ihm auch begegnen würde, es war ebenfalls eine Kreatur, die nur durch einen Pakt hatte entstehen können.

„Incarnation Mode!“, brüllte Isfanel aus voller Kehle, während rote Blitze aus dem Wirbel um sich schlugen. „Ich rekonstruiere das Overlay Network! Aus meinem Rang 3-Monster und seinem Xyz-Material wird ein neues Rang 3-Monster! Erscheine, [Lavalval Master – Ignis Aither]!“
 

Oh verdammte Mistkacke, das riecht förmlich nach Ärger!

 

Das Erste, was aus dem schwarzen Loch auftauchte, waren zwei blaue Flammen, die sich wie Schwingen spreizten. Und es waren tatsächlich Flügel, als kurz darauf der Rest des Wesens aus dem Wirbel in die Höhe flog.

Es trug noch dieselbe Rüstung wie [Lavalval Ignis], doch die Flammen an seinen Händen waren nun ebenso blau, wie seine Schwingen. Erstaunlich war, dass sein brennender Kopf nun fehlte, welcher komplett durch eine blauviolette Stichflamme ersetzt wurde. In seinen Händen trug das Wesen eine Sense aus purem, glühendem Magma, das auf den Boden hinab tropfte und jenen versengte. Um es herum kreisten zwei goldene Sphären, die viel größer waren als normale, transformierte Xyz-Materialien.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

Huh!? Das soll alles sein!? Das ist ja genauso'n Müll wie sein altes Monster! Pah, da ist ja mein beknackter [Gem-Knight Pearl] noch stärker!

 

Doch Levrier wusste es besser. Die Kraft, die dieses Wesen ausstrahlte, sie war ungeheuerlich. Wie hatte Isfanel es geschafft, allein Kraft seines Paktes mit Marc Butcher so eine Karte zum Leben zu erwecken!?

„Du siehst so erstaunt aus. Liegt das daran, dass du nicht imstande bist, so etwas zu schaffen?“, fragte sein Gegner spöttisch und deutete auf sein neues Monster. „Wenn die unseren einen Pakt abschließen, verleihen sie ihrem Gefäß die nötige Stärke, um jeder Gefahr zu trotzen, bis das Ziel erreicht ist. Ein Jammer, dass ich das Symbol eures Vertrages wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen werde. Andererseits ist wohl nicht damit zu rechnen, dass es stärker ist als meine Kreatur. Effekt von Ignis Aither aktivieren! Indem ich genau eines seiner Xyz-Materialien abhänge, erhält mein Monster bis zu meiner End Phase für jede Karte auf meinem Friedhof 100 zusätzliche Angriffspunkte! Los, Surge Of Demise!“

Majestätisch spreizte der finstere Flammenengel seine blau lodernden Schwingen gen Himmel, sodass sich ihre Spitzen berührten. Dort wurde eine der beiden goldenen Sphären absorbiert, was dazu führte, dass nun auch besagte Flügel jene Farbe annahmen.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 → 2600 DEF/1400 {3}]

 

„Aber das ist noch nicht alles“, sprach Isfanel verheißungsvoll, während die schwebenden Regentropfen um ihn herum verdampften. Plötzlich schoss aus seinem Friedhof eine Karte, die er in die Hand nahm. „Dies ist die Fallenkarte [Skill Successor]! Wenn ich sie vom Friedhof aus dem Spiel entferne, erhält mein Monster einen Zug lang weitere 800 Angriffspunkte!“

Nun erglühte, wie schon um Marc Butchers Körper, auch um dessen Monster eine rötliche Aura.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/2600 → 3400 DEF/1400 {3}]

 

Oh shit! Unternimm was, du Idiot! Wenn der durchkommt, haben wir verloren! Ich habe ehrlich gesagt keine Lust, durch das Psychovieh dieses Dreckskerls zu krepieren!

 

Levrier biss sich auf die Lippe. Damit hatte er nicht gerechnet.

Gleichzeitig schwang Isfanel mit einer regelrecht verrückten Lache den Arm aus. „Stirb, du ach so berühmt-berüchtigter 'Gründer'! Nie wieder soll deine Existenz andere ins Unglück stürzen! [Lavalval Master – Ignis Aither], Attacke! Primordial Flame Of Destruction!“

Sein Monster stieg in die Höhe und erzeugte mit den goldenen Schwingen eine flammende Welle, die direkt auf Levrier zusteuerte.

 

Tu gefälligst was!

 

„Verdeckte Falle: [Negate Attack]!“

Der goldene Flammenwind knallte direkt auf Levriers Fallenkarte, die sich schützend vor seinen Besitzer bewegte. Dennoch entstand eine heftige Druckwelle, die zudem den ganzen Park in gleißendes Licht tauchte. Überall von der unsichtbaren Barriere prallten Flammen ab und versengten die umstehenden Bäume, Bänke, das Gras, einfach alles, mit dem sie in Kontakt traten, auf der Stelle. Es blieb nichts, außer einem Häufchen Asche.

Levrier schrie aufgrund der enormen Hitze des Angriffs, obwohl seine Falle ihn abgefangen hatte. Die Kraft jener Attacke war so stark, dass sie das magische Netz um seine Beine binnen Sekundenbruchteilen zerstörte. Es gab einen grellen Blitz und das Inferno war endlich überstanden.

Dampfend ging Levrier in die Knie und stöhnte.

„Siehst du es nun? Das ist die Macht des Incarnation Modes!“, tönte Isfanel hoheitlich und sah erbarmungslos auf seinen Gegner herab. „Du kannst nicht gegen mich bestehen, Narr. Dein Schicksal wurde aufgeschoben, aber nicht verändert.“
 

Du musst das abbrechen! Wir werden krepieren, wenn das so weitergeht! Außerdem ist es auch für Marc viel zu gefährlich!

 

„Unmöglich! Dieses Duell kann nicht mehr abgebrochen werden!“, schrie Levrier nun aufgebracht und erhob sich ruckartig. „Es wird erst enden, wenn einer von uns stirbt! Das sind die Regeln eines Kampfes zwischen den unseren! Das Duell muss mit dem Tod eines seiner Bestreiter enden, andernfalls sind wir alle verloren! Blutzoll nennt man das!“

 

W-was!? Du spinnst wohl! Das kann-
 

„Du hörst richtig! Deinen Freund kannst du nicht mehr retten!“

Nun hatte er es ausgesprochen. Und Anya Bauer wusste nun, dass es zu spät war, um noch einzugreifen. Ihr Wille würde seine Wege nun nicht mehr behindern können, dachte Levrier grimmig.

 

 

Turn 14 – Sacrifices

Trotz Anyas Flehen und Bitten setzt Levrier das Duell mit dem Dämon in Marc, welcher auf den Namen Isfanel hört, fort. Der Körper des Verlierers wird als Folge des Schlagabtausches zerstört werden, sodass Anya krampfhaft nach einer Möglichkeit sucht, das Duell abzubrechen. Doch es scheint unmöglich, was bedeutet, dass sie entweder sterben oder Marc aufgeben muss …

Turn 14 - Sacrifices

Turn 14 – Sacrifices

 

 

Was sagst du!? Du musst dich irren! Wir brauchen das Duell doch bloß abzubrechen-

 

„Unmöglich“, erwiderte Levrier hinsichtlich Anya Bauers Einwurf und wandte dabei seinen Blick nicht von Isfanels Monster [Lavalval Master – Ignis Aither] ab. Dieses schwebte über seinem Meister und spannte die goldenen Feuerschwingen, welche langsam wieder ihre alte Farbe Blau annahmen.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/3400 DEF/1400 {3}]

 

Wieso nicht!? Wir können doch Marc nicht durch dieses durchgeknallte Duell umbringen! Hat dir jemand ins Gehirn geschissen, oder warum laberst du so 'nen Kackmist!?

 

Levrier biss die Zähne zusammen. Er hatte zwar die Attacke seines Gegners abwehren können, aber dennoch Schaden davon getragen. Ein Blick auf Anya Bauers Arm verriet ihm jedoch, dass die Brandblasen bereits abheilten. Die Rötungen verflogen langsam, aber stetig. Trotzdem war er nicht gewillt, sich einer echten Attacke dieses Wesens auszusetzen. Schon gar nicht, da er im Rückstand lag und ein leeres Feld vorzuweisen hatte.

 

[Anya: 3050LP / Marc: 4000LP]

 

„Wie ich bereits sagte“, wandte sich Levrier tonlos an Anya Bauer, „es gibt keinen Weg mehr, dieses Duell abzubrechen. Erst wenn der Blutzoll gezahlt wird, sind wir frei. Was bedeutet, dass eines der anwesenden Gefäße zerstört werden muss. Das ist die Art, wie -wir- Kämpfe austragen.“

 

Red' keinen Unsinn! Es muss doch einen Weg geben!

 

„Es gibt keinen!“, donnerte Levrier nun aufgebracht. „Würde das Duell vorzeitig abgebrochen werden, hieße das den Tod für beide von euch! Und auch wir würden Schäden davontragen!“

Isfanel, welcher sich Marc Butchers Körper bediente, lachte nun amüsiert auf. „Sieht ganz danach aus, als würde dein Gefäß unseren Kampf nicht gutheißen. Hast du es bisher vermieden, sie über die Konsequenzen eines Duells zwischen den unseren aufzuklären? Damit sie nicht interveniert?“

Levrier schwieg dazu nur.

 

Er wusste, dass seine Vorgehensweise falsch war, aber er hätte auch nicht damit gerechnet, eines Tages ausgerechnet Anya Bauers größter Begierde als Feind gegenüber zu stehen. Natürlich war ihm seither bewusst gewesen, dass manche Wesenheiten versuchen würden, ihn von seiner Bestimmung abzuhalten, denn das ist schon in der Vergangenheit vorgekommen. Doch sich eines Freundes seines Gefäßes zu bemächtigen war eine neue Erfahrung und dazu noch ein kluger Schachzug.

Im Elysion herrschte ein regelrechter Sturm von Anya Bauers Gefühlen. Levrier hatte alle Mühe, diese nicht bis zu sich durchdringen zu lassen, denn das würde bedeuten, dass seine Kontrolle über ihren Leib schwinden würde. Dazu waren die Wellen einfach zu mächtig.

 

„Tja, so muss man wohl als ein 'Gründer' handeln, oder?“, fragte Isfanel selbstgefällig und sah hinauf zu einem beflügelten Flammenkrieger. „Man könnte fast Mitleid mit dir haben. Aber wie ich dir bereits sagte, meine Existenz steht auf dem Spiel. Ich kann dich nicht verschonen. Zug beendet.“

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/3400 → 1800 DEF/1400 {3}]

 

Die verstärkenden Effekte haben nachgelassen, dachte Levrier erleichtert und zog wortlos eine dritte Handkarte auf, womit sein Blatt nun genauso groß war wie das seines Gegners. Als er die gezogene Karte betrachtete, hielt er erstaunt inne. Es war der Zauber [Gem-Knight Fusion], Anya Bauers Schlüsselkarte. Doch wie die Dinge im Moment standen, war sie vollkommen unbrauchbar.

 

Und was ist mit einem Unentschieden!? Ich meine, wenn keiner gewinnt, muss doch auch keiner sterben, oder!?

 

Levrier atmete tief durch. Auch das war ungewohnt für ihn, atmen zu müssen. So ein Gefäß brachte mehr Nachteile mit sich, als ihm lieb war. Und doch war es unerlässlich für Eden. Manche Konzepte erschlossen sich selbst ihm nicht, dachte er verwunderte.

Wenn er doch nur wüsste, warum er zu Eden werden musste und was Eden überhaupt war. Das würde die Dinge um so vieles leichter machen. Denn er hatte das Gefühl, noch etwas Wichtiges erledigen zu müssen, bevor der 11. November anbrach. Doch was war das?

 

Antworte, du Dreckskerl!

 

„Unmöglich. Ich sagte dir bereits, dass das Duell einen Sieger hervorbringen muss, oder beide Parteien werden den Blutzoll zahlen müssen.“

 

Du linke Bazille! Du redest so, als würde dich das gar nicht interessieren! Marc wird sterben, wenn wir nichts dagegen tun! Und du!? Du machst da auch noch freiwillig mit, du dreckiger Bast-!

 

„Sollten wir uns nicht eher um unser eigenes Wohlergehen sorgen?“, erwiderte Levrier darauf tonlos.

Man brauchte nur ihre nähere Umgebung zu betrachten, um zu wissen, in welcher Gefahr sie schwebten. Obwohl er [Lavalval Master – Ignis Aithers] Angriff aufgehalten hatte, war ihr näheres Umfeld nichts weiter als Schutt und Asche. Bäume brannten, Gras war versengt, die Bänke am Rande des Steinweges, auf dem sie sich duellierten, waren nun nichts weiter als ein Häufchen Asche. Dort, wo die Flammen jenes Monsters nicht gewütet hatten, schwebten Regentropfen in der von Magie erfüllten Luft – schon das war ein Beweis, wie mächtig Isfanel sein musste.

Was würde mit ihnen geschehen, wenn so ein Angriff nicht mehr gestoppt werden konnte?

„Warum verteidigst du Marc Butcher, obwohl er gewillt ist, dich zu töten? Bist du dir dem Ernst unserer Lage nicht bewusst?“ Für Levrier war es unbegreiflich. „Er hat deine Gefühle nie erwidert. Jetzt an ihm zu klammern würde nur bedeuten, Fehler zu machen. Er ist unser Feind!“
 

Du hast doch keine Ahnung von so was, du verkorkste Hohlbirne! Lass mich gefälligst hier raus, damit ich den Schaden, den du sowieso schon angerichtet hast, wenigstens noch eindämmen kann! Marc tut das wegen dir, nicht mir! Warum verpisst du dich nicht einfach!? Dann ginge es allen besser!

 

„Unmöglich. Ich bin durch unseren Pakt in dir verankert, bis wir entweder zu Eden werden, oder du auf die eine oder andere Weise den Tod findest.“ Levrier hatte genug von Anya Bauers Streitsucht. Er entschied sich, ihre Worte bis zum Ende des Duells zu ignorieren, andernfalls verloren sie noch durch ihren Dickschädel.

Er nahm eine Karte aus seinem Blatt. „Da ich jetzt am Zug bin, beschwöre ich [Gem-Knight Alexandrite]! Doch nutze ich den Effekt meiner Kreatur, um sie zu opfern und an ihre Stelle ein neues, allerdings effektloses Gem-Knight-Monster zu beschwören. Erscheine, [Gem-Knight Crystal]!“

Vor ihm tauchte ein Ritter in silberner Rüstung auf, die an Armen, Brust und Beinen mit den verschiedensten Edelsteinen geschmückt war.

 

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

Levriers Krieger löste sich jedoch kurz darauf wieder in gleißendem Licht auf. An seiner Stelle stand plötzlich ein noch größerer Ritter in weißer Rüstung, der stolz die Hände in die Hüften stemmte. Aus seinen Schulterplatten wuchsen große, durchsichtige Kristalle.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Nun besitze ich ein stärkeres Monster“, rief Levrier und versuchte mit aller Kraft, Anya Bauers wütende Drohgebärden und Flüche auszublenden. Zum Glück war Marc Butcher, abgesehen von seinem Monster, völlig ungeschützt.

Levrier streckte den Arm aus. „[Gem-Knight Crystal], vernichte [Lavalval Master – Ignis Aither]! Clear Punishment!“

Jetzt hatte er tatsächlich diesen lächerlichen Attackennamen benutzt, den Anya Bauer immer verwendete. Dieses Mädchen hatte wirklich einen schlechten Einfluss auf ihn, dachte er dabei ärgerlich.

Sein Ritter schlug mit der Faust auf den Boden und ließ die verrußten Steinplatten unter ihnen erzittern. Einige von ihnen sprangen entzwei, als sich rasend schnell eine Schneise zwischen ihnen bildete, aus der spitze Kristalldornen wucherten. Die Erdspalte schoss direkt auf Marc Butcher zu, und als sie unter seinem schwarzen Feuerengel angekommen war, schnellten die Dornen empor und spießten jenen auf. Andere Spitzen hatten hingegen dessen Besitzer ins Visier genommen und trafen jenen an der Schulter und schrammten über seine Wange. Es folgte eine Explosion.

 

[Anya: 3050LP / Marc: 4000LP → 3350LP]

 

Sei gefälligst vorsichtig mit ihm! Er kann nichts für euren beschissenen Kleinkrieg!

 

Doch Levrier hörte gar nicht hin. Der Rauch verzog sich und offenbarte, dass [Lavalval Master – Ignis Aither] den Angriff völlig unbeschadet überstanden hatte. Als würde jenes Wesen sie verhöhnen wollen, schulterte es abwartend seine Magmasense. Und hätte die violette Stichflamme, sein Kopf, ein Gesicht, würde es jetzt gewiss zufrieden grinsen.

Auch Marc Butcher war nur leicht verletzt. Seine blau-weiße Sportjacke war an einer Stelle aufgerissen und entblößte eine blutige Schulter, während sein Gesicht nun von einer großen Schramme an der Wange entstellt wurde. Verletzungen, die nicht lange brauchen würden, um zu verheilen.

„Ich habe versagt“, zischte Levrier enttäuscht, angesichts des immer noch quicklebendigen Xyz-Monsters, um welches eine goldene Sphäre kreiste.

Isfanel lachte herablassend. „Selbstverständlich, aber wen überrascht das schon? Du bist nicht in der Lage, eine solche Kreatur zu erschaffen, woher solltest du also wissen, dass Incarnation-Monster nur durch Xyz-Monster besiegt werden können? Vielleicht hast du ja beim nächsten Versuch mehr Erfolg?“

Schweiß lief von Levriers Stirn. Also musste er tatsächlich [Gem-Knight Pearl] beschwören, wenn er diese Kreatur besiegen wollte. Was angesichts seiner beiden verbliebenen Handkarten eine Weile dauern würde. Zeit, die sie vermutlich nicht hatten. Unzufrieden presste er hervor: „Ich beende meinen Zug.“

 

Isfanel zog und legte ein wissendes Lächeln auf. Plötzlich stiegen aus seiner Duel Disk zwei goldene Sphären und kreisten zusammen mit der dritten um [Lavalval Master – Ignis Aither].

„Was ist das?“, fragte Levrier erstaunt.

„Ein Effekt meines Monsters, welcher sich während meiner Standby Phase aktiviert“, erklärte sein Gegner mit einem vielsagenden, bedrohlichen Unterton. „Immer dann wird das Xyz-Material von Ignis Aither wieder auf drei aufgestockt. Dabei bediene ich mich des Friedhofs.“

Als wollte er das unterstreichen, zeigte er [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] und [Lavalval Ignis] vor und legte sie wieder unter die schwarze Karte auf seiner Duel Disk.

 

Na super! Dieses Teil besitzt regenerative – Man ist das ein dämliches Wort! – Kräfte! Was totaler Schwachsinn ist, da genau das nicht bei Xyz-Monstern der Fall sein sollte! Wer denkt sich sowas überhaupt aus!? Vielleicht ist dieses Mistvieh doch stärker, als es tatsächlich aussieht!

 

Am liebsten hätte Levrier Anya Bauer für ihre Erkenntnis gelobt, doch die Situation war ohnehin schon gefährlich genug und sie zu reizen würde alles nur schwerer machen.

Nicht zuletzt hatte er auch gar keine Zeit dafür, denn plötzlich streckte Isfanel in Marc Butchers Körper den Arm aus. Mit der Hand machte er dabei eine Bewegung, als wolle er etwas mit aller Gewalt zerquetschen. „Du hast keine Ahnung, zu was der Incarnation-Mode wirklich imstande ist, oder? Lassen wir dich also nicht länger im Dunkeln tappen! Ich hänge die drei Xyz-Materialien von [Lavalval Master – Ignis Aither] ab und aktiviere seinen mächtigsten Effekt! Field Of Agony!“

Der schwarze Flammenengel stieg in die Höhe und erhob seine Magmasense. Mit einem Schlag spürte Levrier ein Stechen in seinem Kopf, welches so intensiv war, dass er ihn sich vor Schmerz halten musste. Isfanels Monster strömte eine unsichtbare Macht aus, die ihresgleichen suchte!

„Anya Ba-“

Doch bevor Levrier das gefangene Mädchen überhaupt warnen konnte, schwang Ignis Aither schon seine Sense, die die drei goldenen Sphären absorbiert hatte, im Halbkreis durch die Luft. Und schickte damit eine Welle aus puren, gold-roten Flammen auf seinen Feind herab. Jener konnte gerade noch die Arme über Kreuz vor sein Gesicht halten, als der Angriff ihn schon erfasste.

In Sekundenbruchteilen hatte sich Levriers gesamte Spielfeldseite in ein Feld aus hoch schlagenden Flammen verwandelt. Aber auch ein großer Teil der Parkwiese und die am nächsten liegenden Bäume wurden durch das Inferno regelrecht verschlungen. Aus der Perspektive eines Vogels musste es so aussehen, als hätte sich ein feuriger See im Park ausgebreitet.

Levrier schrie aus Leibeskräften, denn die Haut seines Gefäßes verbrannte unter den bestialischen Flammen binnen weniger Herzschläge. Der Druck der Welle riss ihn wie eine Flut mit sich und schleuderte ihn meterweit über das Gelände, wo er hart mit dem Rücken aufschlug, wieder fortgerissen wurde und nochmals aufschlug, ehe er rollend zum Liegen kam.

 

[Anya: 3050LP → 50LP / Marc: 3350LP]

 

Wie durch einen unsichtbaren Windhauch löste sich das Inferno nach und nach auf und hinterließ einen verkohlten Körper, der kaum mehr an einen Menschen erinnerte. Und trotzdem war dieser noch imstande, sich torkelnd zu erheben.

Levrier sah an sich herab.

„Unmöglich“, krächzte er dabei kehlig.

Die Kleidung seines Gefäßes war fast vollkommen verbrannt, einzig ein paar Fetzen des T-Shirts verdeckten noch die Brust und die untere Bauchregion. Die Haut darunter war feuerrot und mit Brandblasen übersät. Auch die Hose war zerfetzt, verkohlt und unansehnlich, wobei einer der Träger jener Jeans gerissen war und nun an ihr herab baumelte.

Doch das alles war nichts gegen die Arme. Sie waren schwarz, verkrustet, stanken nach verbranntem Fleisch und Blut. Die Haare des Mädchens waren im Feuer versengt worden, es war fast nichts mehr übrig von ihnen. Auch die Haut auf ihrem Gesicht musste vollkommen entstellt sein, denn sie spannte fürchterlich. Ein einziger Angriff hatte Anya Bauers Körper beinahe vernichtet.

Levrier spürte nicht einmal Schmerzen, was wohl eine Schutzreaktion seines Gefäßes sein musste, gekoppelt mit seinen eigenen Fähigkeiten. Im Elysion spürte er keine Emotionen mehr. Anya Bauer musste das Bewusstsein verloren haben, sofern das dort überhaupt möglich war – Levrier war sich dessen nicht sicher.

 

Weit entfernt von ihm hörte er plötzlich Isfanels boshafte Lache und horchte auf.

„Oh? Ich hatte erwartet, dass dieser kleine Angriff dein Gefäß vernichtet, auch ohne, dass ich den letzten Rest eurer Lebenspunkte ausgelöscht habe.“ Er zuckte unbedarft mit den Schultern. „Aber wie dem auch sei, die Botschaft dürfte angekommen sein. Schade, dass ich nach Field Of Agony meine Battle Phase überspringen muss, aber es gibt ja noch eine nächste Runde. Dann werde ich dir damit den Rest deiner Lebenspunkte nehmen.“

Und während Levrier zurück zu seinem Spielfeld humpelte, wo [Gem-Knight Crystal] ohne Schaden genommen zu haben wartete, drehte Isfanel Ignis Aithers Karte auf seiner Duel Disk in die Horizontale. „Ich wechsle [Lavalval Master – Ignis Aither] in den Verteidigungsmodus. Nicht, dass ihr am Ende auf die Idee kommt, mich mit Verzweiflungstaten überfallen zu wollen. Denkt daran, nur Xyz-Monster können Ignis Aither im Kampf vernichten.“

Sein Feuerengel hüllte sich mit den blauen Flammen aus seinen Schwingen in einen pulsierenden Feuerkokon ein.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

„Außerdem kann es nichts schaden, wenn ich diese Karte verdeckt spiele“, meinte Isfanel mit süffisantem Grinsen, während sie vor seinen Füßen erschien. „Zug beendet.“
 

Levrier war fassungslos. Nicht nur war sein Gegner so unbeschreiblich mächtig, nein, er hatte ihm mit einem Schachzug ganze 3000 Lebenspunkte geraubt und dabei sein Gefäß fast zerstört. Anya Bauer war mehr tot als lebendig und es würde eine ganze Weile dauern, ehe sich ihr Leib regeneriert hatte. Dabei warf er einen prüfenden Blick auf das Mal an ihrem rechten Unterarm, welcher das Feuer nahezu unbeschadet überstanden hatte. Es glühte braun und ganz langsam breitete sich von dort gesunde Haut über das verbrannte Gewebe aus. Doch es würde dauern, ehe alle Wunden verheilt waren. Was angesichts dieses Feindes ohnehin nebensächlich war.

Ächzend biss sich Levrier auf die wunden, blutigen Lippen. Sie waren taub, so wie sein ganzer Körper. Wenn Isfanel das nächste Mal zog, würde dies seinen Tod bedeuten. Er brauchte nur das Xyz-Material erneuern und jenes Field Of Agony erneut erzeugen.

Zögerlich griff Levrier nach seinem Deck. Es gab praktisch keine einzelne Karte, die ihn aus dieser Situation befreien konnte. Dennoch musste er weiterkämpfen!
 

„Draw!“, rief er aufgebracht und hielt schließlich eine Falle in den Händen. Er seufzte. „Ich setze ein Monster in die Verteidigungsposition und dazu eine weitere Karte verdeckt. Das war alles.“

Neben [Gem-Knight Crystal] materialisierte sich eine Karte in horizontaler Lage, während vor Levrier eine weitere in vertikaler Position erschien. Sie waren seine letzte Hoffnung. Auf der Hand hielt er nur noch [Gem-Knight Fusion], die nutzlos war.

 

Mit einer flinken Handbewegung zog Isfanel und betrachtete die Karte, ehe er sie plötzlich seinem Gegner zeigte. Sie hieß [Laval Magma Cannoneer].

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Levrier aufgebracht.

„Ich wollte dir nur zeigen, dass ich Ignis Aither nicht mehr brauche, um dich zu vernichten. Dieses Monster könnte es ebenso beenden.“ Dabei sprach er in einem so selbstgefälligen Tonfall, dass Levrier einen Zorn verspürte, den er sonst nur von Anya Bauer kannte. Färbte dieses Mädchen etwa derart auf ihn ab? Falls dem so war, hatte es wohl sein Gutes, dass der 11. November nicht mehr allzu weit entfernt lag – sofern er ihn überhaupt noch erleben sollte.

Und während Levrier über Anya Bauers Wirkung auf ihn grübelte, entstanden aus dem Nichts drei neue goldene Sphären, die begannen, um [Lavalval Master – Ignis Aither] zu rotieren. Isfanel legte [Card Trooper], [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] und [Lavalval Ignis] unter das Xyz-Monster auf seiner Duel Disk. Dabei sagte er gönnerhaft: „Ich könnte natürlich meine Ankündigung wahr machen und dich mit meinem gezogenen Monster vernichten, aber ich denke, Ignis Aither ist die passendere Endlösung. Auch wenn ich dir zugestehen muss, tapfer gekämpft zu haben, angesichts deiner 'Möglichkeiten'“

Levrier wich einen Schritt zurück. Nur langsam erholte sich Anya Bauers Körper von den Verbrennungen, die Haut an Armen, Beinen, Oberkörper und Gesicht war nur zu einem sehr geringen Teil regeneriert. Aber auch ohne die schweren Verletzungen würde er den nächsten Angriff nicht überstehen, denn wenn die Lebenspunkte eines Spielers in einem Duell wie diesem auf 0 fielen, bedeutete das automatisch den Tod.

Isfanel streckte seinen Arm weit in die Höhe, als wolle er nach seinem Flammenengel reichen. „Das ist das Ende! Ignis Aither, setze deine volle Kraft ein und benutze die drei Xyz-Materialien, die ich dir gegeben habe!“ Er schwang besagten Arm nach unten und zeugte nun mit verhärteter Miene auf Levrier. „Vernichte den 'Gründer' Levrier! Field-Of-Agony!“

Die blaue Flammenkugel, die Ignis Aither einhüllte, verschwand, als er seine Sense anhob und damit die drei Sphären absorbierte. Dann schwang er sie aus und schickte eine Welle puren Feuers in Levriers Richtung.

 

Dieser schüttelte den Kopf und rief: „Dieses Mal nicht! Ich aktiviere die verdeckte Falle [Hallowed Life Barrier]!“ Um ihre Kosten zu bezahlen, schickte er seine letzte Handkarte, [Gem-Knight Fusion] auf den Friedhof. „Damit wird jeder Schaden an meinen Lebenspunkten für diese Runde abgeblockt!“

Um ihn herum tauchten drei Priesterinnen in blauen Gewändern auf, die eine Art Gebet aufsagten. So errichteten sie einen Schutzschild aus weißer Energie, welcher sich wie eine Kuppel um Levrier aufbaute. Und während das gesamte Umfeld einem Flammenmeer glich, schirmte dieses Kraftfeld seinen Erzeuger vor der unerträglichen Hitze ab.

Jener wusste, wie knapp er dem Tode entkommen war. Hätte er [Hallowed Life Barrier] nicht während seines letzten Zuges gezogen, wäre das Duell jetzt unwiderruflich verloren gewesen. Doch noch so einen Angriff würde er nicht abwehren können. Darauf war Anya Bauers Deck nicht ausgelegt.

 

Isfanel indes war so erzürnt über die fehlgeschlagene Attacke, dass er die Karten in seiner Hand unbewusst zusammendrückte

„Wie es aussieht, war ich da etwas vorschnell“, meinte er ärgerlich, „angesichts deines Schutzfeldes ist es nicht weiter schade um die Tatsache, dass ich keine Battle Phase durchführen kann. Aber dennoch bin ich nicht fertig. Ich beschwöre [Laval Magma Cannoneer]!“

Vor ihm materialisierte sich ein Soldat aus blauem Gestein. Geschultert hatte er zwei große Kanonen, die mit jeweils einem Schlauch mit seinem Rückgrat verbunden waren.

 

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 DEF/200 (4)]

 

„Effekt von Magma Cannoneer aktivieren!“, rief Isfanel gebieterisch und zeigte zwei seiner Handkarten vor. Es waren [Laval Volcano Handmaiden] und [Laval Warrior]. „Pro Zug kann ich bis zu zwei Feuer-Monster abwerfen, um euch für jedes von ihnen 500 Punkte Schaden zuzufügen!“

Die Rohre der Kanonen begannen rot zu glühen. Levrier wollte noch etwas sagen, doch schon schoss der Kanonier zwei rote Lavakugeln auf ihn ab. Beide prallten an dem Kraftfeld wirkungslos ab.

„Das war sinnlos!“, meinte Levrier aufgebracht. Isfanel wusste doch, dass er ihm diese Runde keinen Schaden zufügen konnte, wieso hatte er das also getan?

Jener lachte aber nur abwertend. „Gewiss nicht. Wenn [Laval Volcano Handmaiden] auf den Friedhof geschickt wird-“

„Ich kenne den Effekt deines Monsters!“

„Gut! Dann schicke ich durch sie eine weitere Handmaiden und durch deren Effekt auch meine dritte Handmaiden auf den Friedhof. Und die wiederum schickt [Laval Lakeside Lady] auf den Friedhof, um den Kreis zu schließen.“ Vor Levrier tauchten drei schrill kichernde, junge Mädchen mit brennendem Haar auf, die kurz darauf wieder verpufften.

Levrier wusste, dass Marc Butchers Deck darauf ausgelegt war, Laval-Monster auf den Friedhof zu schicken. Deshalb also hatte er diese ganzen Monster für nichts geopfert. Bloß wofür genau?

„Ich wechsle Ignis Aither wieder in den Angriffsmodus und setze eine weitere Karte verdeckt. Das wäre dann alles.“

Nun lagen zwei Karten vor ihm, während die blaue Flammensphäre um seinen Feuerengel endgültig erlosch. Genau wie das Schutzfeld um Levrier, welches zusammen mit den Priesterinnen verschwand.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

Das war eine Falle! Levrier griff nach seiner Duel Disk, und-
 

Lass mich gefälligst hier raus, du elender Dreckskerl!

 

Anya Bauers plötzlicher Wutausbruch kam so überraschend und mit solcher Wucht, dass Levrier sich den Kopf hielt und in die Knie ging. Die Wellen ihrer Emotionen waren so stark, dass das Elysion zu kollabieren drohte. Wie war das möglich!?

 

Wegen dir sehe ich jetzt aus wie frisch aus dem Vulkan geschlüpft! Was hast du meinem schönen Körper angetan, du dreckige Mistmade!? Wenn du das nicht auf der Stelle rückgängig machst, werde ich dafür sorgen, dass du die Radieschen von ganz unten wachsen siehst! Lass-mich-raus!

 

Stöhnend presste Levrier die Hände auf Anyas entstellten Schädel. Er war durch Isfanels Angriff zu sehr geschwächt, er konnte sie nicht länger im Elysion festhalten. Aber sie durfte nicht die Kontrolle übernehmen, der Schmerz würde sie in den Wahnsinn treiben – dann war sie nutzlos!

„Tu das nicht“, ächzte er. „Wenn du jetzt zurück in dein Gefäß kehrst, wird es dich vielleicht umbringen. Sollte ich vertrieben werden, können meine Kräfte die Schmerzen nicht länger im Zaun halten!“
 

Mir doch egal! Erst schließt du einen beschissenen Pakt mit mir und nun machst du aus mir Chucky, die Mörderpuppe! Ich glaub' es hackt! Ganz zu schweigen von Marc! Als ob ich zulasse, dass du ihn einfach ausradierst! Mistkerl!

 

Levrier schrie nun richtig, denn Anya Bauers Präsenz war schmerzhafter als jede Verletzung. Nicht umsonst hatte er sie als sein Gefäß gewählt, doch dass sie sich derart gegen seine Kontrolle zur Wehr setzen konnte, war ihm nicht bewusst gewesen.

„Hör auf … das ist nicht- AHH!“

Er konnte sie nicht länger zurück halten, ihre Wellen rissen seinen Geist mit sich. Er spürte, wie das Elysion in sich zusammenbrach und schrie.

 

Sie schrie. Vor Wut, wegen diesen entsetzlichen Schmerzen, aus Frustration. Die Scherben um sie herum waren längst verschwunden, doch Anya schrie weiter. Das Mädchen steckte wieder in ihrem Körper und bereute es zutiefst. Levrier hatte nicht übertrieben.

„Ahhhh“, wimmerte sie und wollte sich an den besonders stark schmerzenden Oberarm fassen, doch als sie die verbrannte Haut berührte, fühlte es sich an wie tausend Nadelstiche. Ihre Beine waren wie Pudding, sie stolperte vorwärts und ging in die Knie.

 

Ich habe dich gewarnt! Nun kann ich dir nicht mehr helfen, Anya Bauer! Es wird Stunden dauern, bis ich genug Kraft habe, um deine Wunden zu heilen!

 

„Leck … mich“, presste sie unter ihren wunden Lippen hervor. Unter größten Anstrengungen erhob sie sich wieder, doch stand immer noch auf wackeligen Beinen. „Mir geht’s gut!“

„Oh“, kommentierte Isfanel das alles amüsiert. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Levriers Gefäß ist tatsächlich aus seinem Gefängnis ausgebrochen. Welch wahrhaft seltenes Ereignis. Du hast meine Anerkennung sicher, Anya Bauer.“

Das Mädchen richtete ihr Augenmerk von der bereits neuentstandenen Haut an ihrem rechten Arm auf ihren Gegner. Sie kniff die blauen Augen, was so ziemlich der einzige noch unbeschädigte Teil ihres Körpers war, zu kleinen Schlitzen zusammen. „Spar' dir das Gelaber, Dämonenspacko! Mit dir hab ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen! Verschwinde aus Marcs Körper, oder ich mach dir Beine!“

Isfanel zuckte unbedarft mit den Schultern. „Bedaure, aber das ist leider nicht möglich. Du solltest doch mittlerweile um die Bedeutung eines Paktes mit den unseren wissen.“

„Dann prügle ich dich eben aus ihm heraus!“

„Wirklich?“ Er lachte aufgesetzt. „Damit würdest du im Endeffekt nur Marc Butcher schaden.“

„Na und?“, erwiderte Anya garstig. „Muss er eben ein bisschen die Zähne zusammenbeißen, solange ich mit dir beschäftigt bin!“

Überrascht verzog Isfanel das Gesicht. „Oh? Mit so einer Antwort hätte ich nicht gerechnet. Mit dir ist wohl nicht gut Kirschen essen?“ Er lächelte plötzlich vergnügt, wodurch Marcs Grübchen hervortraten. „Wie äußerst amüsant du doch bist. Bedauerlicherweise muss ich dich dennoch vernichten.“

„Komisch“, grinste Anya in ihrer entstellten Form. „Genau das Gleiche habe ich gerade auch von dir gedacht, Laberbacke!“

 

Sie griff nach ihrem Deck. Zwar hatte sie keinen Plan, wie sie dieses verrückte Duell abbrechen konnte, ohne dass jemand zu Schaden kam, aber ihr würde beizeiten schon etwas einfallen. Jetzt aber musste sie erstmal ins Spiel zurückfinden, nachdem Levrier sie in diese Lage gebracht hatte.

„Draw!“, krächzte sie und bekam einen Hustenanfall. Ihre Lungen brannten wie das Feuer, welches ihre Haut versengt hatte. Anya verstand zwar nicht, wieso diese sich ganz langsam neuzubilden schien, doch das war ihr nur recht – sie wollte nicht aussehen wie dieser widerliche Alastair. Wo war der eigentlich, wenn man ihn mal wirklich brauchen konnte!?

Als sie ihre gezogene Karte betrachtete, runzelte sie die Stirn. Die würde gar nichts ausrichten. Also spielte sie sie verdeckt aus, woraufhin der Zauber vor ihren Füßen erschien. Dann legte sie ihre Hand auf ihr gesetztes Monster und rief: „Ich wechsele [Morphing Jar] in den Angriffsmodus! Wenn er geflippt wird, werfen wir beide unser Blatt ab und ziehen fünf neue Karten.“

Doch tatsächlich besaß keiner von ihnen auch nur eine Handkarte. Die horizontale Karte vor ihr wirbelte um und offenbarte einen grauen Tonkrug, aus dessen Inneren ein Auge und vergilbte Zähne heraus guckten.

 

Morphing Jar [ATK/700 DEF/600 (2)]

 

Beide Spieler zogen schließlich fünf Karten, ehe Anya jene musterte. Ihre neue Hand war perfekt!

Sie streckte ihren Arm aus und deutete auf die Zauberkarte, die sie vor dieser Aktion gesetzt hatte. Jene sprang auf und zeigte eine Hand, aus deren Innenseite ein Lichtfaden glitt. „[Silent Doom]! Damit kann ich ein normales Monster von meinem Friedhof in Verteidigungsposition zurückrufen! Erscheine, [Gem-Knight Tourmaline]!“

Vor ihr tauchte der Ritter des Turmalins in goldener Rüstung auf und erzeugte zwischen seinen Händen einen Blitz, während er in die Knie ging. Neben ihm stemmte [Gem-Knight Crystal] die Hände in seine Hüften, als wolle er dem Neuankömmling zeigen, wer der Stärkere war.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

„Und jetzt beschwöre ich als Normalbeschwörung [Gem-Knight Amber]!“

Noch ein Krieger erschien zwischen Tourmaline und Crystal. Dieser trug eine gold-silberne Rüstung und war mit zwei Dolchen aus roten Blitzen bewaffnet. Auf seiner Brust prangerte ein wunderschöner Bernstein.

 

Gem-Knight Amber [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

 

Anya streckte den Arm in die Höhe, der Dornenkranz mit dem Kreuz darin leuchte kaum merkbar auf. Jetzt hatte sie alles, was sie brauchte, um dieses Mistvieh von einem Monster zu bezwingen. „Aus meinen Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network! Komm herbei, [Gem-Knight Pearl]!“

Amber und Tourmaline wurden zu braunen Lichtstrahlen, die in den schwarzen Wirbel gezogen wurden, welcher sich inmitten des Spielfelds auftat. Daraus empor stieg ein schlichter Krieger in weißer Rüstung, der erhaben die Arme verschränkte und über das Feld zu Anya glitt. Dabei umkreiste ihn ein Ring aus massiven, rosafarbenen Perlen und zwei Lichtkugeln, die sein Xyz-Material darstellten.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Mit zufriedenem Grinsen auf den Lippen griff Anya nach dem Friedhofsschacht an ihrer Duel Disk.

„Das war aber noch lange nicht alles.“ Sie nahm [Gem-Knight Fusion] und [Gem-Knight Topaz] daraus hervor und steckte Letzteren in das, was mal ihre Hosentasche gewesen war. Als sie dort zusammengeknüllte Pappe ertastete, wusste sie, dass die [Particle Fusion]-Zauberkarte, welche Levrier zu Beginn des Duells verbannt hatte, dem Inferno zum Opfer gefallen war. Aber sie hatte zuhause zum Glück noch eine Ersatzkopie.

„Ich verbanne einen Gem-Knight vom Friedhof und erhalte [Gem-Knight Fusion] vom Ablagestapel zurück!“, erklärte sie wütend. „Und ich aktiviere sie auch gleich. Damit verschmelze ich [Gem-Knight Garnet] und [Gem-Knight Emerald] zu einem neuen Monster! Garnet, du bist das Element! Emerald, du der Ursprung! Vereinigt eure Kräfte und werdet zu [Gem-Knight Citrine]!“

Edelsteine wirbelten durch die Luft, als die Abbilder ihrer beiden Monsterkarten in die Höhe stiegen und in grellem Licht zu einem weiteren Ritter verschmolzen. Dessen Unterarme waren aus purem Magma. Der Krieger schulterte ein gewaltiges Breitschwert mit einer Hand, während von seiner bräunlichen Rüstung ein blauer Umhang wehte.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 DEF/1950 (7)]

 

Unglaublich! Ich hätte nicht gedacht, dass du zu solch einem Zug imstande bist! Anscheinend muss ich meine Meinung über dich überdenken, Anya Bauer! Doch sei gewarnt, dort-

 

„Ja, ja, halt deinen Rand, du Nervensäge!“, fauchte das Mädchen aufgebracht. „Das ist alles nur deine Schuld! Du wolltest ja unbedingt hierher kommen!“

Und nun musste sie es ausbaden und einen Weg finden, wie sie Marc retten konnte. Von ihrem Spielfeld ausgehend war das gesamte, nähere Umfeld pechschwarz, vollkommen verbrannt. Das war Isfanels Werk. Was aber würde geschehen, wenn sie, Anya, nun angriff und Marc Schaden zufügte? Sie war nur ein Mensch und besaß keine Kräfte, zumal Levrier nahezu außer Gefecht gesetzt war. Dennoch behagte ihr nicht dabei, dass dieser Blutzoll wie ein Damoklesschwert über dem Duell stand.

Konnte man in so einem Spiel überhaupt gewinnen?

„Levrier“, fragte sie vorsichtig. „Gibt es eine Möglichkeit, dieses … System, oder was auch immer das ist, auszutricksen?“
 

Und schon bereue ich meine Worte. Hast du nicht zugehört? Es ist unmöglich. Wenn zwei Wesen wie wir es sind sich bekriegen, wird ein Vertrag zwischen ihnen geschlossen. Dieser ist bindend und kann, genau wie der Pakt zwischen uns, nicht ohne Weiteres gebrochen werden.

 

„Also gibt es einen Weg!“
 

Nein! Denn wird er gebrochen, kommen beide Parteien um! Das habe ich dir schon einmal gesagt!

 

Anya schnaufte unzufrieden. Das konnte doch nicht wahr sein! Irgendeine Möglichkeit musste es schließlich geben, hier heil heraus zu kommen! Levrier enthielt sie ihr vor, das musste es sein!

Plötzlich sah sie zu ihrer verrußten Duel Disk. Wenn sie aufgeben würde, wäre sie doch nicht durch einen Angriff besiegt worden. Keine Verletzungen. Es erschien dem fast kahlen Mädchen nur logisch.

Langsam bewegte sich ihre Hand zur Duel Disk, doch sie hielt inne. Denn sie selbst musste zugeben, dass das zu einfach war. Was, wenn sie sich irrte?

 

Bist du des Wahnsinns!? Aufgeben würde bedeuten, dass wir verlieren und den Blutzoll zu zahlen haben! Denkst du überhaupt nicht nach, Anya Bauer!?
 

Natürlich tat sie das! Aber es war einfach frustrierend, ihr wollte nichts einfallen.

Anya sah herüber zu Marc, der mit ausdrucksloser Miene alles beobachtete. Und plötzlich fragte sie sich, warum er nicht hämisch grinste. Hätte er nicht etwas sagen müssen, um sie in ihrem Tun zu bestätigen? Oder war dieser Isfanel so siegessicher, dass es ihm gleich war, auf welche Weise er gewann?

„Tch“, ächzte sie. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte!

Vier Monster kontrollierte sie, drei davon gehörten zu den stärksten, die sie zu bieten hatte. Und dennoch wusste sie nicht weiter. Angreifen würde bedeuten, Marc zu verletzen.
 

Tu es! Denn solltest du jetzt zögern, war alles umsonst!

 

Anya zuckte zusammen. Solange Marc besessen war, würde er nicht zögern und sie wirklich töten. Levrier hatte recht damit, sie musste etwas unternehmen.

„Ich werde seine Monster zerstören“, entschied sie schließlich mit Unbehagen in der Stimme. „So kann er uns keinen Schaden zufügen. Hoffentlich sind seine neuen Handkarten scheiße! Vielleicht gewinnen wir dadurch Zeit, bis mir etwas Besseres eingefallen ist.“
 

Sei nicht leichtsinnig! Denk an die-

 

„Okay!“, rief sie schließlich entschlossen und streckte ihren Arm aus. „Zeit, ein bisschen Leben in dieses Spiel zu bringen! [Gem-Knight Citrine], greife [Laval Magma Cannoneer] an! Incinerating Blade Slash!“

Ihr Krieger mit dem Breitschwert stürmte vor und holte mit seiner Klinge aus, um den felsigen Artilleriesoldaten zu vernichten. Doch Isfanel lachte zufrieden auf und schwang seine Hand über die verdeckten Karten aus. „Dumme Göre! Sieh, was du von deiner blinden Angriffswut hast! Du hast meine beiden permanenten [Molten Whirlwind Wall]-Fallen ausgelöst! Sie erhöhen die Angriffskraft aller Laval-Monster um die Anzahl ihrer Artgenossen auf dem Friedhof mal 100. Da dort momentan acht Stück liegen, sind das ganze 1600 Extrapunkte! Verge- WAS!“

Seine Fallen, die aufgesprungen waren, klappten wieder zu. Mit einem gezielten Hieb teilte Citrine seinen Gegner in zwei Teile, wodurch eine Explosion entstand. Isfanel schrie auf, als die darauf folgende Schockwelle ihn zurückwarf. Doch er konnte das Gleichgewicht halten.

 

[Anya: 50LP / Marc: 3350LP → 2850LP]

 

Stöhnend hielt er sich den Kopf. „Verdammt! Was- Urgh!“

„Wenn Citrine angreift, können keine Effekte oder Karten aktiviert werden!“, erklärte Anya selbstbewusst.

Er sank in die Knie und hielt sich mit beiden Händen den Schädel. Wütend presste er hervor: „Ich- Ah! Ich aktiviere meine Fallen, damit du nicht auf die Idee kommst, noch einmal anzugreifen. Urgh! Ich habe nicht gewusst, dass dein Krieger beim Angriff die Aktivierung anderer Karten unterbindet!“

Flammen stiegen aus dem Boden hervor und begannen, sich entgegen dem Uhrzeigersinn um ihren Erzeuger zu drehen, immer schneller. Wie ein Tornado zog dieser Wirbel im hohen Tempo seine Kreise um Isfanel, als plötzlich ein weiterer entstand, sodass sie zusammen eine regelrechte Mauer bildeten, an der es kein Vorbeikommen gab. Nun, da neun Laval-Monster auf seinem Friedhof lagen, wurde ihr Stärkungseffekt noch größer.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 → 3600 DEF/1400 {3}]

 

Erschrocken starrte Anya nach oben, wo über Isfanel der flammende Engel schwebte. Seine ehemals blauen Feuerschwingen glühten, gestärkt durch die Fallen, nun in grellem, unwirklichem Silber.

Das war knapp, dachte sie erschrocken. Ihr Herz trommelte wild gegen ihren Brustkorb. Hätte Citrine nicht die Fähigkeit, beim Angriff Kartenaktivierungen zu unterbinden, wäre sie jetzt bereits Geschichte!

 

Du musst einen Weg finden, um diese Fallen zu umgehen oder zu vernichten! Wenn dieses Wesen nächste Runde seinen Effekt aktiviert oder auch nur angreift, sind wir verloren!

 

„Denkst du, das weiß ich nicht!?“, schrie Anya aufgebracht. „Und wie soll ich das anstellen!?“

Die letzten beiden Karten in ihrer Hand waren die Fallenkarten [Birthright] und [Justi-Break] – nutzlos. Sie konnten den Effekt von Ignis Aither nicht unterbinden!

Aber sie würde nicht so einfach aufgeben, sonst hieße sie schließlich nicht Anya Bauer!

„Ich setze zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug!“, verlautete sie selbstbewusst. Ihr musste etwas einfallen, um Isfanel dazu bringen, mit Ignis Aither [Gem-Knight Crystal] anzugreifen. Dann könnte sie ihn durch ihre Falle [Justi-Break] vernichten. Aber wie sollte sie das anstellen? Zwar hatte sie schon einmal ein Schmierentheater veranstaltet, doch damals hatte sie diesem Obertrottel von Dämonenjäger Alastair gegenübergestanden. Dessen Stolz war leicht angreifbar gewesen, doch Isfanel? Wo war seine Schwachstelle? Hatte er überhaupt eine?

 

Als könnte er Gedanken lesen, nahm er langsam Haltung an, dabei immer noch mit einer Hand am Kopf.

„Oh? Bluffen wir jetzt etwa? AH!“ Er sank zurück in die Knie und kniff die Augen zu. „Verdammter Narr! Dieser Kerl ist hartnäckig!“

Verwirrt starrte Anya ihn an. „Was ist denn mit dem los?“
 

Sein Gefäß versucht vermutlich, die Kontrolle zurückzugewinnen.

 

Und genau in diesem Moment stieß Marc einen bestialischen Schrei aus, sank nach vorn und stützte sich mit den Händen vom Boden ab. Keuchend blickte er auf. „Anya? Bist du in Ordnung?“

„Marc!?“

Er schrie wieder auf und kippte zur Seite. „Dargh! Du … musst … angreifen!“

„Was!?“ Das Mädchen verstand nicht.

Unter qualvollem Ächzen griff Marc, der wie ein geprügelter Hund am Boden lag, nach seiner Duel Disk und zog eine Karte. „Ich … werde ihn aufhalten! Aber … ich kann ihn nur einen Zug lang … unterdrücken! Du musst … zuschlagen!“

Aus dem Nichts erschienen drei goldene Sphären, die um [Lavalval Master – Ignis Aither] kreisten. Marc legte [Lavalval Ignis], [Card Trooper] und [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] unter das Xyz-Monster auf seiner Duel Disk. Anya hingegen konnte nur fassungslos zusehen.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/3600 → 3400 DEF/1400 {3}]
 

Er war zurück und wollte ihr helfen! Wollte, dass sie das Duell gewann! Aber warum!?

„Bist du bescheuert!?“, fauchte sie aufgebracht. „Wenn ich das tue, wirst du …! Dann wirst du …“

„Ich weiß! Sonst wäre ich wohl kaum zurückgekehrt!“ Unter großen Anstrengungen richtete er sich auf und kam wackelig auf die Beine. „Ich will, dass du es tust! Damit dieses Ding in mir verschwindet!“

„Huh!?“

Marc schloss die Augen. In seinen Worten schwang große Verbitterung mit sich. „Ich war ein Idiot zu glauben, dass das, was ich tue, richtig ist. Eine Marionette bin ich, nichts anderes.“

„Was redest du da!?“

„Halt den Mund und hör zu!“, fuhr Marc sie scharf an. „Keine Entschuldigung dieser Welt könnte ungeschehen machen, was ich dir bereits angetan habe! Es gibt keinen Weg, der uns beiden das Leben retten kann! Deswegen beende du es, denn ich habe es nicht besser verdient!“

Widerwillig schüttelte Anya den Kopf. „Bist du vollkommen durchgeknallt, Butcher!? Erst willst du mich und Levrier umbringen und plötzlich änderst du so mir nichts, dir nichts deine Meinung!?“

Er lachte zynisch auf. „Wäre es dir lieber, wenn ich weitermache wie bisher? Du weißt, dass ich dieses Duell mit nur einer Aktion gewinnen könnte!“

 

Von seinen Worten getroffen zuckte Anya zusammen. Was dachte dieser Kerl sich bloß dabei? War ihm sein Leben plötzlich so egal, dass er nicht mehr darum kämpfen wollte? Oder bedeutete sie ihm doch mehr, als es zunächst den Anschein gehabt hatte? Was ging nur in Marc vor sich!?

 

„Ich beende meinen Zug!“

Wütend begehrte Anya auf, verwirrt von seinen Worten. „Du Feigling! Warum rennst du davon!? Glaubst du, ich brauche deine Almosen!?“

„Und wie du die brauchst! Du bist eine ausgemachte Versagerin, Anya! Hättest du nicht Levrier und deine Freunde, würdest du gar nichts auf die Reihe kriegen!“ Er riss die Augen auf und zeigte erbarmungslos mit dem Finger auf sie. „Jemand wie du wird es nie zu etwas bringen, wenn man ihm nicht den Weg weist! Und für so jemanden will ich mich ernsthaft opfern!? Anscheinend habe ich gerade einen Fehler gemacht, als ich meinen Zug beendet habe!“

 

Seine Worte waren wie Stiche in ihr Herz. Also konnte sein schlechtes Gewissen doch nicht so groß sein, dass er ernsthaft sein Leben für sie geben würde. Wie naiv sie doch war, dachte Anya verbittert. Wer würde schon bereitwillig sein Leben für einen anderen aufgeben? Insbesondere für sie?

„Du bist … ein Arschloch …“

„Gegen dich bin ich noch harmlos! Wenn du jetzt versagen solltest, werde ich keine Rücksicht mehr auf dich nehmen!“, donnerte er und verzog unter Schmerzen das Gesicht, da Isfanel anscheinend alles tat, um die Kontrolle zurückzugewinnen. „Du hast es wirklich verdient zu sterben! Allein schon, weil du dein Leben gar nicht zu schätzen weißt! Welcher Mensch würde bei so einer Gelegenheit denn zögern? Ich lege mich für dich auf den Präsentierteller und du redest von Almosen!?“

Er sollte endlich aufhören und die Klappe halten!

„Was weißt du schon!?“

„Ich bin nicht so emotional verkrüppelt wie du, denn ich kann wenigstens so etwas wie Schuld empfinden!“

 

Anya wich seinem Blick aus und sah ihre verkohlte Hand an. Dann blickte sie herüber zu Marc, der ihr in seinen Qualen einen verächtlichen Blick zuwarf. Und plötzlich kristallisierte sich in all dem Chaos in ihrem Kopf ein Gedanke heraus: er war schwach. Einfach nur schwach.

Anstatt sich diesem Isfanel zu widersetzen, hatte er alles getan, was jener von ihm wollte. Und nun fühlte er irgendeine heuchlerische Art von Reue, konnte es nicht zu Ende bringen. Solche Leute hasste Anya wie die Pest. Sie glaubten nicht an das, was sie taten. Wieso sollte sie also an seine Worte glauben? Er kannte sie doch gar nicht! Und hatte sie nicht eben noch um -ihn- gekämpft? Ja, aber das war -ihm- anscheinend entgangen!

Plötzlich sah sie alles in einem ganz anderen Licht. Als Marc ihr von Angesicht zu Angesicht sagte, dass er nichts für sie empfand, hatte er bereits von Levrier gewusst. Es war also nicht nur ein Korb, sondern auch ein Abschied gewesen. Weil er entschieden hatte, dass er sie töten würde.

Auch wenn es unheimlich schmerzte, ballte Anya eine Faust. Wie konnte er nur? Ausgerechnet er, der für sie immer der Eine, das Gute am beschissenen Alltag gewesen war? Und wie konnte sie sich in so jemanden überhaupt … verliebt … haben.

„Liebe“, schnaufte sie bitter enttäuscht, „ist scheiße.“

Dass er jetzt plötzlich von seinem Vorhaben abgesehen hatte, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, hatte nichts mit Gefühlen für sie zu tun. Er tat es einzig aus Gewissensbissen. Sein Herz hing an Valerie. Und das war etwas, was sie durch kein Duell der Welt ändern konnte. Aber das bedeutete nichts mehr für sie. Marc war in jenem Moment, als er über ihr Leben entschieden hatte, für Anya unwiderruflich gestorben.

Jetzt hieß es er oder sie. Und Anya verspürte nicht länger den Drang, das Unausweichliche noch weiter hinauszuzögern. Marc hatte die ganze Zeit über gewusst, worauf er sich eingelassen hatte. Nun musste er mit den Konsequenzen leben – oder sterben, was sich mit dem nächsten Zug entscheiden würde. Er hatte es ja nicht anders gewollt!
 

„Ich bin“, sprach sie ungewohnt kühl und zog, wobei sie für eine Millisekunde einen fiesen Stich im Brustkorb spürte.

Ihr Leib schmerzte so fürchterlich, dass sie am liebsten schreien wollte. Und das hatte sie nur Marc zu verdanken. Levrier hatte recht, er war ein Feind, egal, was sie vielleicht einmal für ihn empfunden hatte!

 

Anya Bauer, was hast du getan! Wie konntest du von deinem Deck-!?

 

Doch das Mädchen hörte Levrier gar nicht, bemerkte auch nicht das Glimmen, welches von ihrem Mal ausging.

Wie in Zeitlupe sah sie sich ihre neue Karte an und verharrte. Dann schob sie sie wortlos in ihre Duel Disk. In Pearls Hand erschien plötzlich eine silberne Axt, auf deren Blatt ein leise glucksendes Gesicht aus Gold prangerte – die [Axe Of Fools].

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 3600 DEF/1900 {4}]

 

Jetzt besaß sie also ein Monster, das stark genug war, um [Lavalval Master – Ignis Aither] zu vernichten. Sie streckte den Arm aus, und sprach mechanisch: „Pearl, Funny Axe Strike.“

[Gem-Knight Pearl] flog auf seinen Feind zu, gefolgt von seinen riesigen Perlen, passierte problemlos die Feuerwirbel und schlug zweimal mit der Axt zu. Auf der Brust des schwarzen Feuerengels erschien plötzlich ein leuchtendes Kreuz, ehe dieser in einer gleißenden Explosion unterging. Jene löste eine so starke Druckwelle aus, dass Marc von den Beinen gerissen wurde und hart auf den Rücken knallte. Schwarze Partikel schimmerten dort, wo Ignis Aither eben noch gewesen war. Die Flammentornados erloschen.

 

[Anya: 50LP / Marc: 2850LP → 2650LP]

 

Beende es, Anya Bauer! Das ist unsere letzte Chance! Du darfst jetzt nicht zögern!

 

Doch nach wie vor hörte Anya nicht hin, sondern war uneingeschränkt auf Marc fixiert. Der verzog das Gesicht. „Nett. Aber hast du auch die Nerven, es zu einem Ende zu bringen? Oder bist du feige?“ Auf wackeligen Beinen erhob er sich wieder und winkte herausfordernd. „Bringst du es? Dann los! Andernfalls zermalme ich dich!“

Wollte er tatsächlich auf diese Weise umkommen? Was für ein Idiot! Wenn er es sich so sehr wünschte, würde sie ihm dabei helfen!

„Wenn du mich so nett bittest“, rief sie kalt und streckte den Arm aus, „bekommst du, was du verdienst! [Gem-Knight Crystal] und [Gem-Knight Citrine], direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! Clear Punishment und Incinerating Blade Slash!“

 

Anya Bauer! Hinter dir!

 

Während ihre Monster sich zum Angriff bereit machten, wirbelte das Mädchen irritiert um. In der Ferne bemerkte sie, wie drei Gestalten über den rußgeschwärzten Steinweg auf sie zueilten.

„Anya!“, rief Abby entsetzt, während sie hinter Valerie herlief, aber immer weiter zurückfiel. „Oh Gott sei Dank, wir sind nicht zu spät! Was ist hier nur geschehen!?“

„Hat Anya einen Furz angezündet?“, fragte Nick dicht hinter Abby glucksend. „Coole Sache!“

„Joan hat uns hierher geführt! Was- Ah!“

Valerie erschrak, als Anyas [Gem-Knight Citrine] einen großen Satz nach vorn machte und Marc ins Visier nahm. Auch deren Besitzerin drehte sich überrascht zu jenem um. Plötzlich war ihre Rachlust vollkommen verflogen. Das Mädchen spürte, dass es einen großen Fehler begangen hatte.

„Brich die Angriffe ab!“, schrie Valerie noch aufgewühlt.

Doch dafür war es bereits zu spät. Mit aller Wucht rammte Crystal seine Faust in den Boden und ließ einen Spalt entstehen, der mit rasender Geschwindigkeit auf Marc zuschoss. Spitze Kristalle schnellten aus dem Riss hervor. Gleichzeitig erschien Citrine hinter ihm und setzte zu einem Stich an.

Valerie, die als Erste bei Anya angekommen war, schlug vor Entsetzen die Hände vor ihr Gesicht. „NEIN!“

Die Kristalldornen spießten Marcs Gliedmaßen und Oberkörper auf, während die Klinge Citrines sich durch seinen Torso bohrte, wobei ein heftiger Ruck durch seinen Körper ging. Blut tropfte von seinen Lippen, die sich zu einem Lächeln formten. „Danke, Dummkopf! Nun brauch ich kein schlechtes Gewissen haben …“

Eine ohrenbetäubende Explosion folgte. Es entstand eine Schockwelle, die so gewaltig war, dass sie Anya und Valerie umwarf. Selbst Abby und Nick, die noch ein ganzes Stück vom Spielfeld entfernt waren, wurden regelrecht davon geworfen.

 

[Anya: 50LP / Marc: 2650LP → 0LP]

 

Stöhnend öffnete Anya ihre Lider. Sie lag auf dem Rücken und blinzelte. Es gab keine Stelle an ihrem verbrannten Körper, die nicht schmerzte. Ächzend richtete sie sich auf. Der Regen, welcher zuvor ausgesetzt hatte, fiel wieder in Strömen vom Himmel hinab.

Dort, wo Marc eben noch gestanden hatte, klaffte nunmehr einzig ein Krater im Boden. Panisch suchte sie mit ihrem Blick die Gegend ab. Das Eingangstor des Parks hatte keinen Schaden genommen, auch das Waldgebiet um Marcs Spielfeld nicht. Doch nirgendwo war er zu entdecken.

 

„Was … habe ich getan?“, murmelte sie fassungslos. Er war fort. Er war …

„DU!“

Mit einem Ruck wurde sie niedergerissen und spürte einen Faustschlag direkt ins Gesicht. Es brannte wie Feuer auf ihrem nackten Fleisch. „Wie konntest du!?“

Valerie hatte sich auf sie gestürzt und schlug erneut zu. „Wie konntest du das tun!? Was hat er dir getan!?“

Es folgte eine Ohrfeige. Anya konnte sich nicht gegen die Schläge wehren und selbst wenn sie noch genug Kraft übrig gehabt hätte, würde sie es nicht tun. Denn sie wusste, dass sie sie verdient hatte – als Marcs Mörderin.

Dem schwarzhaarigen Mädchen auf ihr standen Tränen in den Augen. Immer wieder schlug sie auf Anya ein, die es wortlos über sich ergehen ließ.

„Habe ich dafür dein Leben gerettet!? Dass du Marc kaltherzig umbringst!?“ Sie schlug abermals zu, obwohl ihre Knöchel bereits höllisch schmerzten. Unter Tränen brüllte sie: „Antworte mir!“

 

Plötzlich schnellte unter Valerie Redfield eine Hand vor und packte sie am Hals. „Hör auf damit! Sie ist nicht länger hier.“

Mit spielender Leichtigkeit drückte Levrier die wild gewordene Furie von sich und schleuderte sie mit einer einfachen Handbewegung zur Seite. Das Mädchen rollte über den verbrannten Boden und blieb reglos liegen. Alles, was noch blieb, war ihr Schluchzen.

Auch Nick Harper und Abigail Masters waren nun zu ihnen gestoßen. Besonders Letztere war ein Bildnis des erlebten Schreckens. Blass war sie, die getönte Brille hing ihr von einem Ohr und sie spitzte erschüttert die Lippen, als sie Levrier aufhalf. „Oh Gott, Anya! Was hat dir dieser Dämon bloß angetan!?“

„Mir geht es den Umständen entsprechend gut“, erwiderte Levrier kühl, „Anya Bauer hingegen hat sich ins Elysion zurückgezogen.“

„E-Elysion? W-wovon sprichst du? Bist du etwa Levrier!?“

Er nickte knapp. „Das Elysion ist eine Zuflucht zwischen der körperlichen und der Bewusstseinsebene, welche Anya Bauer sich zunutze gemacht hat. Dort können die meinen mit den euren in Kontakt treten, selbst wenn kein Pakt geschaffen wurde.“

Levrier neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Valerie Redfield, die immer noch dort lag und sich die Seele aus dem Leib weinte. „Doch für Erklärungen ist auch später noch Zeit. Wir sollten von hier verschwinden, ehe der Täuschungszauber um den Park schwindet und man von der Zerstörung Notiz nimmt.“

Abigail Masters zuckte zusammen, als Levrier ihr dabei wieder in die grauen Augen blickte. Furcht spiegelte sich in ihnen wieder. „O-ok! Die heilige Joan hat uns von dem Zauber berichtet. Sie war es, die euren Kampf bemerkt hat.“ Ihr Blick wanderte zum Krater. „I-Ist … ist Marc wirklich … tot?“

„In der Tat.“

Sie legte betroffen die Hände auf ihre Brust. „Oh Gott, wie furchtbar! Das ist so schrecklich! Hat … Hat er euch wirklich angegriffen?“

Levrier nickte. „Auch das ist korrekt. Allerdings hat sein Gewissen ihn daran gehindert, es zu einem Ende zu bringen. Er hat Anya Bauer provoziert, ihn zu besiegen, damit er nicht mit seiner Schuld leben muss. Ich denke …“ Er schüttelte schließlich den Kopf, denn es gab Dinge, die er besser nicht aussprechen sollte. „Nein, schon gut. Wir sollten gehen! Ich muss mich darauf konzentrieren, Anya Bauers Wunden zu heilen!“

Wortlos nickte sein Gegenüber und bot sich als Stütze an.
 

Derweil war Nick zur bereits pitschnassen Valerie gegangen und legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Kopf, streichelte sie. Doch sie schreckte auf und schlug seine Hand davon. „Lass mich in Ruhe!“

„Wir müssen doch gehen“, meinte Nick hilflos und blinzelte verdutzt.

„Mir doch egal! Geht, verschwindet, ihr alle! Ich will niemanden mehr sehen! Geht!“

Erschrocken von ihrem Ausbruch, wich Nick einen Schritt zurück und musterte das Mädchen in ihrem hellblauen Kostüm mitfühlend. Dann drehte er sich wortlos um und folgte seinen Freunden, half Abby dabei, Anya zu stützen.

 

Valerie hingegen starrte in den grauen Himmel. Die Tränen auf ihrem Gesicht hatten sich mit den Regentropfen vermischt. Sie fror und fühlte innerlich leer, stand neben sich und kam sich dennoch gleichzeitig wie eine Tote vor. Sie hatte ihren Verlobten verloren … durch Anyas Hand. Ausgerechnet durch sie! Obwohl sie immer von sich behauptet hatte, selbst etwas für Marc zu empfinden! Wie hatte sie das nur tun können!? Wie hatte sie sich nur auf dieses Duell einlassen können!?

Völlig gleich, ob ein Dämon im Spiel war, oder nicht, das würde sie ihr nie verzeihen können! Anya war eine Mörderin!

Sie schlang ihre Arme um den Oberkörper, ließ den Kopf hängen und weinte stille, bittere Tränen.
 

Valerie, höre mich. Womöglich bin ich imstande, dir Trost zu schenken.

 

„Joan?“

Erschrocken sah das Mädchen wieder auf. Unter all den grauen Wolken trat der Mond hervor. Sein helles Licht spendete ihr jedoch keinen Trost. Wie wollte die Heilige Johanna das können?

 

Du musst einen ganz bestimmten Ort aufsuchen. Dort wirst du finden, was du am meisten begehrst ...

 

Und als Jeanne D'Arc ihre Ausführungen beendet hatte, erhob Valerie sich mit gefestigter Miene, drehte sich um und verließ den Park durch das Haupttor. Mit einem Entschluss, von dem sie niemals gedacht hatte, dass sie ihn jemals treffen würde …

 

 

Turn 15 – Aftermath

Nach Marcs Tod ist Anya vollkommen verändert. Sie geht ihren Freunden aus dem Weg, spricht mit niemandem und ist feindseliger denn je. Abby, die das alles mit großer Sorge beobachtet, will ihrer Freundin beistehen, so wie Anya ihr zuvor beigestanden hatte. Um deren Herz zu öffnen, provoziert sie sie solange, bis Anya einem Duell zustimmt. Doch die missversteht Abbys guten Willen als weiteren Versuch, ihr das Leben zu nehmen und nutzt unbewusst Levriers Kräfte, um Abby zu verletzten. Die wird vor eine schwere Wahl gestellt …

Turn 15 - Aftermath

Turn 15 – Aftermath

 

 

Seufzend legte Abby ihr Kinn auf den Handrücken, wobei sie ihren Kugelschreiber fest umklammert hielt. Ihr Blick hing an Mr. Stantler, der über die Nachwirkungen des Versailler Vertrags philosophierte. Doch wie so oft in letzter Zeit, konnte sie sich einfach nicht konzentrieren.

Nervös rutschte sie von einer Pobacke auf die andere. Zum ersten Mal bereute sie es, sich eine Bank in der ersten Reihe ausgesucht zu haben.

Sie drehte ihren Kopf nach links über die Schulter und beobachtete Nick auf seinem Fenstersitz dabei, wie er seelenruhig schlief. Ihn schien Marcs schrecklicher Tod nicht weiter berührt zu haben, zumindest ließ er es sich nicht anmerken. Man könnte zwar darüber streiten, was das über den lang gewachsenen jungen Mann aussagte, doch im Grunde beneidete Abby ihn für seine Unbekümmertheit.

Sie stöhnte leise auf.

 

Über eine Woche war vergangen, seit der Kampf zwischen Levrier und Isfanel ein blutiges Ende gefunden hatte. Nun war es Mitte Oktober, das Wetter kühl und grau und alle Welt kannte nur noch das eine Thema. Den Brand im Park. Und die damit automatisch verbundene Suche nach dem Brandstifter.

Abby musste im Gedanken auflachen. Man suchte nach einem Brandstifter, obwohl keiner der Bewohner das Feuer durch Isfanels Verhüllungszauber gesehen hatte. Anscheinend gaben sich die Behörden und Medien alle Mühe, sämtliche merkwürdigen Vorfälle rund um Livington als Unfälle und Straftaten darzustellen. Dabei hieß es längst schon hinter vorgehaltener Hand, dass es in der Stadt spukte. Die ersten Leute waren schon im Begriff, ihre Häuser und Grundstücke zum Verkauf anzubieten. Abby konnte es ihnen nicht verdenken. Auch ihre Stiefeltern waren besorgt, obschon sie bisher keine derartigen Pläne schmiedeten. Wie lange das jedoch noch so bleiben würde, wusste das Mädchen nicht. Sie konnte Anya doch nicht im Stich lassen!

 

Ihr Blick ging weiter über die Fensterreihe hin zur letzten Bank, wo Anya mit versteinerter Miene saß und mit ihrem Bleistift im gleichmäßigen Takt aufs Papier schlug. Obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, musste sie die Sache am schwersten getroffen haben. Der Bürgermeister, Mr. Redfield, hatte verlauten lassen, dass Marc Butcher ein Opfer des Brandes gewesen sei. Abby war sich sicher, dass Valerie dabei ihre Finger im Spiel hatte, um die wahren Geschehnisse zu vertuschen.

Jene war seit diesem Tag auch nicht mehr gesehen worden. Die offizielle Begründung war ein schwerer Schockzustand, gekoppelt mit einer Rauchvergiftung, da Valerie seither behauptete, mit Marc zum Zeitpunkt des Brandes im Park unterwegs gewesen zu sein. Aber wer wusste schon, wie es ihr jetzt wirklich ging?

 

Abby seufzte. Es war einfach nur schrecklich. Marcs Tod hatte dafür gesorgt, dass alles auseinander brach. Valerie hatte sich ganz offensichtlich von allen abgekapselt und Anya tat seither genau dasselbe, sprach kein Wort mehr mit jemandem, wenn es nicht unbedingt nötig war.

Dabei war es wirklich erstaunlich, wie schnell sie sich von ihren Wunden erholt hatte. In jener Nacht hatten Abby und Nick Levrier ins Haus der Familie Harper gebracht, wo er bis zum nächsten Morgen geschlafen hatte. Und als sie das Gästezimmer an besagtem Morgen betreten hatten, war Anyas Körper samt Haare vollkommen restauriert gewesen. So, als wäre nie etwas geschehen. Der einzige Unterschied zu vorher war, dass Levrier vorübergehend Anyas Körper kontrollierte, da jene sich bis auf Weiteres in ihre innere Zuflucht, das Elysion, zurückgezogen hatte. Ganze drei Tage hatte dieser Zustand angehalten.

Das erinnerte Abby an Matts Worte, als die beiden sich das erste Mal begegnet waren. Sofort keimte in ihr ein schlechtes Gewissen auf, hatte sie Anya schließlich nie davon erzählt.

 

Abby lag auf den Knien und starrte flehend zu Matt auf, welcher sein Gesicht hinter einer Maske aus weißem Porzellan verborgen hielt. Unter den Arm geklemmt trug er Abbys kleinen Stiefbruder Michael, dessen Glieder schlapp herab hingen, war das Kind schließlich bewusstlos. Die Drei befanden sich im großen Gemeinschaftsraum der Familie Masters, in dem es neben einem niedrigen Tisch nur Sitzkissen gab, die wild verteilt im Raum lagen.

„Ich würde mich nie gegen Anya stellen!“, begehrte Abby auf. „Es muss doch einen anderen Weg geben, die Menschenleben zu retten, die für 'Eden' geopfert werden müssen!“

Verdammt, es gibt keinen! Denkst du, ich würde mir sonst die Mühe machen und mich mit dir abgeben? Denkst du nicht, dass ich eher Anya angreifen würde, wenn ich die Wahl dazu hätte?“ Sein freier Arm zitterte, doch er hob ihn an und ballte eine Faust. „Manche Dinge sind unausweichlich! Und ohne dich schaffen wir es nicht!“

Abby schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann das alles nicht glauben! Dass Anya … dass sie durch den Pakt … unsterblich geworden ist …“

„Es ist aber so!“ Matt schwang seinen Arm aufgebracht aus. „Hast du etwa noch nicht bemerkt, dass ihre Wunden binnen weniger Stunden komplett verheilen!?“

„S-schon, die Platzwunde, die sie vor einiger Zeit aus Victim's Sanctuary davongetragen hatte, war am nächsten Tag verschwunden, aber-“

„Sei nicht so blind! Der Dämon hat einen Großteil seiner Kräfte auf Anya übertragen, um sie so vor möglichst vielen Gefahrenquellen zu schützen! Abgesehen von anderen Dämonen kann ihr niemand auf lange Sicht auch nur ein Haar krümmen!“ Er schnaubte. „Niemand außer dir.“

„Aber warum ich!?“

Der in einem schwarzen Mantel gekleidete, junge Mann schüttelte den Kopf. „Wenn sie freiwillig ihr Leben aufgeben würde, dann … kann selbst die mächtigste Dämonenmagie ihren Tod nicht verhindern.“ Er stampfte auf. „Und deswegen brauchen wir dich! Du musst sie dazu bringen! Wir sind ihre Feinde, aber du bist vielleicht imstande, ihr die Situation klar zu machen!“

Auf wackeligen Beinen stand das Mädchen auf und hielt sich die Hände auf die Brust. „Nein! Das kannst du nicht von mir verlangen!“

Du hast bis morgen Abend Zeit, es dir zu überlegen. Triff mich auf dem Schrottplatz, dann werden wir sehen, was aus dir und ihm hier wird.“ Er nickte zu dem Jungen, den er unter dem Arm geklemmt festhielt. Dabei griff er mit seiner anderen Hand in die Manteltasche und zückte eine weiße Karte hervor, auf der in goldener Farbe ein sechskantiger Stern abgebildet war. „Es tut mir leid, dass das sein muss …“

Ein grelles Licht ging von der Karte aus.

 

Anya war unsterblich, damit niemand 'Eden' aufhalten konnte, dachte Abby betrübt. Nun, da sie wusste, dass sie eine Sirene war – ein Wesen mit starken, magischen Kräften – könnte sie Matts Vorhaben sogar jederzeit direkt ausführen. Sie hatte die Macht, gegen Dämonen wie Levrier zu kämpfen. Es war pure Ironie.

Auch Matt wusste darum. Würde er also wiederkommen, um sie zu erpressen? Abby seufzte. Sie hatte mittlerweile so große Angst um ihre Familie, dass sie nachts kaum ein Auge zu tat und immer wieder durch das Haus schlich, um zu sehen, ob Matt oder der andere Dämonenjäger, Alastair, in der Nähe waren.

 

Es klingelte. Die Schüler standen auf und packten ihre Hefte und Bücher in den Rucksack. Abby beobachtete, wie Anya als Erste das Klassenzimmer verließ. Sie wusste genau, wohin das Mädchen gehen würde – aufs Dach. Das war zwar verboten, aber Anya wäre nicht Anya, wenn sie das jemals interessiert hätte. Es war ihre Zuflucht, wann immer etwas sie so sehr beschäftigte, dass selbst ihr sonst so hervorragend funktionierender Verdrängungsapparat das Problem nicht beseitigen konnte.

 

„So kann es nicht weitergehen“, meinte jemand hinter Abby.

Die drehte sich um und sah erstaunt auf, als der einen Kopf größere Nick mit besorgtem Blick zur Tür starrte, aus der Anya regelrecht geflüchtet war. Als sie sich in die Augen sahen, verzog Nick grinsend das Gesicht. „Ich will meinen Anya-Muffin zurück!“

„A-Anya-Muffin?“

„Hehe, jap. Willst du wissen, wieso ich ihr diesen Spitznamen gegeben habe?“

„… nein“, entgegnete Abby ihm trocken. Dann stöhnte sie. „Aber du hast schon recht. Wir sollten nicht länger zusehen, wie sie alles in sich hineinfrisst. Bestimmt gibt sie sich die Schuld für alles.“

„Garantiert.“

„Huh?“

„Garantiert willst du es wissen, mein ich“, gluckste Nick und Abby wunderte sich immer mehr, was denn mit dem Kerl los war, dass seine Tonlage dauernd schwankte. „Also-“

Sie hielt ihm die Hand vors Gesicht, etwas, was sie sich von Valerie abgeschaut hatte, als diese Anya damals auf dem Schulhof Einhalt geboten hatte. „Kein Bedarf, Nick! Komm lieber mit! Aber rede nur, wenn ich es dir ausdrücklich erlaube! Am besten sag nur 'ja', wenn ich das Wort an dich richte.“

Er blinzelte verdutzt. Dann grinste er. „Ja.“

„Prima! Dann los, wir werden Anya beistehen, ob sie es will, oder nicht!“

Denn Abby wusste bereits genau, wie die erste Reaktion ihrer Freundin aussehen würde …

 

~-~-~

 

Mit besorgter Mimik trat Abby, dicht gefolgt von Nick, aus der Tür des Treppenhäuschens auf dem Dach heraus und schritt über den Beton, dabei nach Anya suchend. Vom mehrere Stockwerke hohen Backsteingebäude hatte man einen guten Überblick über den Campus, der wie ein Kreis mit der Rasenfläche im Inneren gehaltenen wurde. Direkt vor sich sah sie die beiden Sporthallen und das dahinter liegende Footballfeld, als sie sich umdrehte, das etwas kleinere, weiße Gebäude der Unterstufe. Und Anya, die am Rande des Daches saß und die Füße in die Tiefe baumeln ließ. Dabei hatte sie ihr Kinn auf die Faust gelegt, während sie sich mit dem Ellbogen auf dem Oberschenkel abstützte. Sie schien Livington zu beobachten, das hohe, ovale Einkaufszentrum in der Stadtmitte, die anderen kleinen Geschäfte rings herum und die Wohnsiedlungen am Stadtrand.
 

Vorsichtig bewegten sich Abby und Nick auf das Mädchen zu.

„Verschwindet“, zischte jenes gereizt, ohne sich überhaupt umzudrehen.

„Wir sind hier-“

„Red' ich etwa Chinesisch, Masters?“ Anya drehte den Kopf in einer derart schnellen Bewegung, dass man beinahe glauben konnte, ihr Genick dabei knacken zu hören. „Verzieht euch! Ich hab keinen Bock auf euer Freundschaftsgeschwafel! Mir geht es gut, 'kay? Ich will nur etwas allein sein, das ist alles!“

Abby trat einen Schritt vor und breitete die Arme aus. „Wir sehen das aber anders, stimmt's Nick?“

„Ja“, gab der mechanisch von sich und kicherte dann über seinen gehorsamen Tonfall. Abby funkelte ihn daraufhin böse an und wandte sich wieder an Anya. „Seit Tagen geht das nun so! Dir wird es bestimmt nicht besser gehen, wenn du nur alleine vor dich hin grübelst! Sprich mit uns über Marc, dann-“

Mit einem Ruck war Anya auf den Beinen und drehte sich um. Sie hatte ihre Fäuste geballt und strafte ihre Freundin mit einem Blick, den so mancher gar nicht überlebt hätte. „Hast du was an den Ohren, Masters? Ich-will-nicht-reden!“

„Nick, sag doch was!“, wandte sich das Mädchen verzweifelt an den hochgewachsenen Kerl, dessen dunkelblondes Haar wie gewohnt ungekämmt vor sich hin wucherte.

„Ja.“

„Was Konstruktives!“

„Ja!“

Abby seufzte schwer, denn Nicks Idiotie war einfach nicht mehr zu überbieten. Anya verschränkte ungeduldig die Arme und schien darauf zu warten, dass sie beide entweder explodierten oder zumindest das Weite suchten. „Ich zähle bis drei, dann seid ihr von hier verschwunden, oder ich helfe nach! Und ihr wisst genau, was hierfür die schnellste Lösung ist, also nehmt die Beine in die Hand, bevor ich es tue!“

Doch vehement schüttelte das Hippiemädchen den Kopf. „Nichts da, Anya! Ich werde nicht eher gehen, bis wir das geklärt haben!“

„Und was dann?“, fragte die Blondine schneidend. „Tanzen wir zusammen im Kreis?“

„Nein! Aber dann wird alles wenigstens ein Ende haben!“

 

Unerwartet zog Anya eine Augenbraue an, während sich ihre zornigen Gesichtszüge lösten.

„Was meinst du damit?“, fragte sie tonlos.

„Was ich gesagt habe! Und wenn du es so nicht willst, dann können wir genauso gut durch ein Duell die Sache endgültig klären! Auch wenn danach nichts mehr von deinem falschen Stolz übrig sein wird!“

Abby hatte sich so in Rage geredet, dass es ihr gleich war, wie dämlich die Idee mit dem Duell war. Aber wenn Anya sich dadurch abreagieren konnte, war das einen Versuch wert.

Plötzlich lachte Anya auf, es klang hohl und verbittert. „Ach so ist das also. Jetzt kapiere ich es! Deswegen bist du also hier rauf gekommen! Hätte ich mir ja denken können!“

Verwirrt erwiderte ihr Gegenüber: „Wie meinst du das?“

„War doch klar, dass du auch irgendwann so werden würdest! Hat die Gehirnwäsche dieses Dämonenjägers also endlich Erfolg gehabt, ja!?“, brauste das Mädchen auf. „Musste ja so kommen! Ich habe schließlich Marc gekillt, ich werde zu Eden, ich bin gefährlich! Bla bla bla!“

Erschrocken von ihrem Ausbruch, wich Abby zurück und schüttelte den Kopf. „Nein Anya, du verstehst da was falsch! Ich wollte wegen deinen Schuldgefühlen-“

„Schuldgefühle? Pah!“ Anya verzog ihr Gesicht zu einer boshaft grinsenden Grimasse. „Du irrst dich, Schwester! Ich habe keine Schuldgefühle wegen dem, was mit Marc geschehen ist! Er hat mich zuerst angegriffen und egal wer er auch sein mag, jemand der mich umnieten will, hat kein anderes Schicksal verdient!“

„Anya!“, empörte sich Abby fassungslos. „Hörst du überhaupt, was da aus deinem Mund kommt!?“

„Jedes Wort, Masters! Und dass du jetzt hier bist, um mich kalt zu machen, überrascht mich auch nicht wirklich! Ist ja jetzt der neue Volkssport, Anya umzubringen! Wer es als Erster schafft, bekommt einen Gutschein für Wendy's!“ Die Augen des Mädchens verengten sich zu Schlitzen, als sie in die Hocke ging und nach ihrem Rucksack griff, der am Rande des Daches lag.

Dabei blieb sie aber auf Abby fixiert, die alles sprachlos mit ansah. „Aber nicht mit mir, Masters. Meinetwegen könnt ihr euch schon mal anstellen, ich werde jeden von euch eigenhändig ins Jenseits befördern!“

Während sie das sagte, holte sie ihre Duel Disk hervor und legte sie an, ehe sie sich wieder erhob und mit ausgestrecktem Arm zu sich winkte. „Komm nur, Masters. Wenn du meinst, du bist mir gewachsen, dann versuch doch mal dein Glück. Kannst ja deine Sirenenpower benutzen!“

 

Allerdings war Abby wie erstarrt. Anscheinend hatte Anya sich im Verlauf der letzten Tage irgendetwas eingeredet, sodass sie nun dachte, die ganze Welt wäre ihr Feind. Natürlich musste es ihr so erscheinen, als habe sich alles gegen sie verschworen! Erst Levrier, dann Alastair, Matt, die Patienten von Victim's Sanctuary und nicht zuletzt sogar Marc, auch wenn er nur durch Isfanel manipuliert worden war.

Aber das hier war einfach nur ein Missverständnis!

Abby wollte schon etwas sagen, als sie Nicks Hand auf ihrer Schulter spürte. Als sie zu ihm aufsah, schüttelte er mit einer wissenden Mimik den Kopf. „Der Anya-Muffin wird nicht zuhören, solange sie im Angriffsmodus ist. Zeige ihr, dass du es ernst meinst und duelliere dich mit ihr.“ Plötzlich grinste er verstohlen. „Und frag sie am besten gleich noch, ob sie mir ein paar ihrer Sprüche aufschreibt!“

Das brünette Mädchen ließ den Kopf hängen. Nick hatte natürlich recht, denn in ihrer derzeitigen emotionalen Lage würde Anya nicht auf ihre Versuche der Schlichtung anspringen. Jedes weitere Wort würde vermutlich nur Öl ins Feuer schütten, Anya nur in ihrer Wut bestärken. Aber war ein Duell die Lösung? Es würde doch nur auf sie so wirken, als wolle Abby ihr wirklich weh tun.

 

„Was ist, Masters?“, fragte Anya höhnisch. „Hast du Schiss bekommen? Wenn du es 'ernst meinst', dann komm und hol' mich doch, ich bin hier praktisch auf dem Servierteller!“

Verzweifelt schüttelte ihr Gegenüber den Kopf. „Nein! Du verstehst alles falsch! Ich will das nicht-!“

„Mir egal, was du willst! Kämpfe oder verschwinde! Ich brauche weder dich noch sonstwen, 'kay? Wenn du mir'n Messer in den Rücken stechen willst, dann nur zu! Aber dann musst du das Echo vertragen, du feiges Miststück!“

Abby zuckte zusammen. Die Beleidigung ihrer Freundin hatte sie schwer getroffen. Tränen standen ihr in den Augen, die man aufgrund ihrer getönten Brille zum Glück nicht sah.
 

Dass Anya sich nicht sofort helfen lassen würde, war ihr klar gewesen. Aber dass es so schlimm ist, hatte Abby nicht erwartet. Am liebsten würde sie wirklich gehen, bloß wäre sie dann nicht eine schlechte Freundin? Anya hatte auch alles getan, um sie vor einer großen Dummheit zu bewahren. Sie war es ihr einfach schuldig! Das Missverständnis musste aus dem Weg geräumt werden und vielleicht hatte Nick sogar recht. Wenn sie das Duell gewann, Anya aber nicht dabei verletzte, konnte sie sie vielleicht von ihrem Irrtum überzeugen.
 

„Okay, ich mach's“, meinte Abby zögerlich. Sie legte ihre breite Tasche aus zusammengenähter Pappe von diversen Verpackungen ab, welche sie die ganze Zeit bei sich getragen hatte. Daraus holte sie unter all den Büchern eine Action Figur heraus, einen jungen Mann mit spitzen Haaren, die in ganze drei Farben getaucht waren. Von seinem Arm nahm sie die kleine Battle City-Duel Disk ab, die binnen eines Lidschlags die Größe des Originals erreicht hatte.

„Abgefahren!“, staunte Nick dabei. „So was will ich auch, eine Schrumpf-Duel Disk!“

„Idiot!“, zischte Anya sauer, auch wenn sie einen Moment lang ebenfalls danach den Anschein erweckt hatte, als habe Abbys Zaubertrick sie beeindruckt. „Das ist doch nur ein Kunststück von ihr, sie ist schließlich 'ne beschissene Sirene! Fiktion zu Realität und so'n Bullshit! Aber das juckt mich nicht.“

Seufzend legte Abby sich den Apparat an und schob ihr Deck, welches sie ebenfalls aus der Tasche geholt hatte, in den dazugehörigen Schacht. Eigentlich hatte sie sich diese Vorführung aufheben wollen, um Anya aufzuheitern. Wäre sie gerade nicht so engstirnig, hätte sie das bestimmt cool gefunden. Doch so …

Im Endeffekt war es auch egal. Jetzt musste sie erstmal zusehen, wie sie diese Furie bändigen konnte, ohne dabei sich oder jene vom Dach zu stürzen.

 

„Ich bin bereit“, meinte Abby schließlich resignierend.

Wie eine Katze schlich Anya dabei um die beiden und stellte sich schließlich nahe an den Rand des Daches.

„Was soll das!?“, fragte ihre Freundin daraufhin verwirrt.

„Macht es nur interessanter und leichter für dich!“, meinte Anya tollkühn. „Kannst ja versuchen, mich mit deinen Superkräften runter zu werfen! Sofern du nicht als Erste mit dem Kopf im Boden steckst natürlich!“

Abby jedoch weigerte sich. „Bei so etwas mache ich nicht mit!“

„Feigling! Hast du etwa Schiss, dich könnten ein paar Hologramme umwerfen?“ Anya zuckte provozierend mit den Schultern. „Wie erbärmlich! Und du willst 'ne Attentäterin der 'Guten' sein? Das ich nicht lache …“

Nicht vor den Hologrammen hatte sie Angst, dachte Abby besorgt. Sondern vor dem, was Anya durch sie versuchen würde. Dass sie dabei gar nicht auf etwaige Attacken ihrer Monster angewiesen war, wusste Anya hoffentlich nicht. Die Hologramme dienten lediglich wie Auslöser für die Kräfte, die Levrier ihr vermacht hatte. Abby betete dafür, dass jener Anya bisher noch nicht in ihrem Umgang unterwiesen hatte. Andernfalls sah es schlecht für sie aus.

 

Widerwillig schritt Abby zum anderen Ende des Daches. Eine andere Wahl hatte sie nicht, außer, sie würde das Ganze abbrechen und wieder gehen. Aber welche Folgen das hätte, wollte sie sich gar nicht ausmalen. Das Mädchen wusste, dass sie extrem vorsichtig sein musste, um nicht zu Schaden zu kommen.

„Brav, Masters“, raunte Anya böswillig. „In dir steckt ja doch etwas Mumm, hätt' ich gar nicht gedacht. Den wirst du auch dringend benötigen, schließlich legst du dich mit mir an! Ich werde jeden von euch überleben, da kannst du Gift drauf nehmen!“

„Besser nicht“, meinte Nick von der Seite her glucksend, wobei er an dem Treppenhäuschen angelehnt stand, „dann wäre sie ja tot.“

„Blitzmerker“, zischte Anya verächtlich und streckte ihren Arm mit der Duel Disk aus. „Na dann, können wir endlich anfangen!?“

Abby nickte knapp, dann rief ihre Freundin laut: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Abby: 4000LP]
 

„Ich mache den ersten Zug!“, polterte Anya und zog gleich sechs Karten, ehe Abby etwas einwenden konnte. Sie beäugte nachdenklich ihr Blatt, ehe sie sich zwei Karten daraus griff. Die erste legte sie verdeckt in horizontaler Lage auf ihre Monsterkartenzone, die andere schob sie darunter in den Schlitz für die Zauber- und Fallenkarten. „Diese beiden hier, mehr nicht!“

In vergrößerter Form tauchten ihre gesetzten Karten vor ihren Füßen auf.

 

Abby schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter und zog nun ihrerseits. Sie sollte das lieber schnell beenden, war dabei ihr Gedanke. „Okay, ich beschwöre [Naturia Pumpkin]! Und da du ein Monster kontrollierst, darf ich durch seinen Effekt noch ein Naturia-Monster von meiner Hand beschwören! So zum Beispiel [Naturia Vein]!“

Zwei Monster erschienen auf ihrer Spielfeldseite. Eines von ihnen war ein grüner Kürbis auf Beinen, der ein zufriedenes Gesicht auf seinem runden Körper machte. Das andere hingegen war ein kleines, tanzendes Blatt, welches seine winzigen Arme in die Höhe streckte.

 

Naturia Pumpkin [ATK/1400 DEF/800 (4)]

Naturia Vein [ATK/200 DEF/300 (1)]

 

„Wusst' ich's doch“, brummte Anya unberührt.

Abby streckte den Arm gen Himmel, wodurch das kleine Blatt und der Kürbis in die Höhe aufzusteigen begannen. „[Naturia Vein] ist ein Empfänger-Monster, deswegen stimme ich es jetzt auf [Naturia Pumpkin] ab! Oh great god of the west! Rule this land with your penetrating gaze and justice! Synchro Summon! Roar proudly, [Naturia Beast]!“

Es gab einen grellen Lichtblitz, als sich das Blatt in einen grünen Ring verwandelte, durch das der Kürbis flog.

Mit einem gefährlichen Brüllen sprang ein weiß-grüner Tiger mit Beinen aus Holz hinter Abby hervor und ging stolz in die Hocke. Sein freundlicher Blick täuschte dabei durchaus über die Gefahr hinweg, die von ihm ausging.

 

Naturia Beast [ATK/2200 DEF/1700 (5)]

 

Abby biss die Zähne zusammen. Sie musste das hier schnell beenden, damit Anya sich beruhigen konnte. Also streckte sie kämpferisch den Arm aus. „[Naturia Beast], zerstöre ihr verdecktes Monster!“

Der Tiger sprintete auf die gesetzte Karte zu, aus welcher ein Ritter in saphirblauer Rüstung erschien. Zwar schuf dieser eine Barriere aus gefrierendem Wasser, doch die Pranke seines Kontrahenten war stärker und zerschlug das Eis, riss den Krieger entzwei.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

Anya wich dabei glatt einen Schritt zurück und hielt sich die Arme vors Gesicht, so als erwarte sie, gleich angefallen zu werden. Was jedoch nicht eintrat.

„So viel dazu“, murrte Anya, als sie die Gefahr vorüber glaubte. In ihren blauen Augen funkelte pure Feindseligkeit, die Abby regelrecht beängstigend fand.

„Ich beende meinen Zug“, kündigte diese schließlich an. „Anya, bitte-“

„Halt die Klappe!“

 

Schwungvoll zog die Blondine. Anhand ihres grimmigen Gesichtsausdruckes hätte man meinen können, dass sie eine richtige Rockerbraut war, trug sie schließlich eine schwarze Lederjacke über ihrem gleichfarbigen Totenkopf-Shirt.

Und in ihr brodelte es wie in einem Vulkan. Nie glaubte Anya, so viel Zorn verspürt zu haben. Warum meinte die ganze Welt plötzlich ihr Feind sein zu müssen? Das war alles nur Levriers Schuld! Hätte sie doch nur nie diesen Pakt geschlossen!

Sie fixierte sich auf Abby. Die hatte es auch nicht anders gewollt. Wer nicht hören will, muss eben fühlen und wer Anya kannte wusste, dass damit nur Schmerzen gemeint sein konnten. Und genau das wollte sie Abby zufügen, Schmerzen!

Der Blick der Blondine fiel auf ihr Blatt. Unter anderem befand sich dort [Gem-Knight Fusion], doch Anya wusste, dass [Naturia Beast] jede Zauberkarte spielend leicht außer Gefecht zu setzen vermochte. Allerdings hatte sie von Anfang an damit gerechnet, dass ihre Gegnerin ohne Umschweife sofort die großen Geschütze auffahren würde. Wie gut, dass sie das alles mit eingeplant hatte.

„Verdeckte Falle aktivieren!“, rief sie entschlossen und schwang mit ihrem Arm über die gemeinte Karte, wodurch diese aufsprang. „[Birthright]! Sie reanimiert eines meiner normalen Monster vom Friedhof in Angriffsposition! Kehre zurück, Sapphire!“

Aus dem Boden entstieg vor ihr der Ritter des Saphirs, welcher symbolisch auf seinem Brustpanzer eingelassen war.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

„Von meiner Hand beschwöre ich nun [Gem-Knight Iolite]!“, rief Anya daraufhin und knallte das Monster auf ihre mittlerweile über 20 Jahre alte Battle City-Duel Disk, welche immer noch tadellos funktionierte.

Ein weiterer Ritter in hellblauer Rüstung tauchte vor Anya auf, doch anders als Sapphire, führte er eine Waffe mit sich. Es war eine abgerundete Klinge aus purem Wasser, ähnlich einem Säbel.

 

Gem-Knight Iolite [ATK/1300 DEF/2000 (4)]

 

Anya streckte ihren Arm in die Höhe, dabei Abby nicht aus den Augen lassend, an deren nervösem Blick sie bereits ablesen konnte, dass jene wusste, was nun geschehen würde.

„Meine beiden Stufe 4-Monster werden zu einem Rang 4-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network! Komm herbei, [Gem-Knight Pearl]!“

Ein schwarzer Wirbel öffnete sich mitten im Spielfeld und sog die braunen Lebensessenzen der Ritter in sich auf, bevor aus ihm ein neuer Krieger erschien. In schlichter, weißer Rüstung gekleidet, stieg dieser majestätisch mit verschränkten Armen in die Höhe, gefolgt von einer Schar riesiger, rosafarbener Perlen.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Mit dem Zeigefinger deutete Anya auf den Tiger ihrer Gegnerin, der auf allen Vieren bereits den Angriff erwartete. „Blessed Spheres of Purity!“

Pearl schoss seine Perlen auf den Tiger ab, der einer nach der anderen geschickt auswich, sich dabei in Abbys Richtung zurückzog. Doch er ahnte nicht, dass die Kugeln über das Dach der Schule hinausflogen und in der Luft stehen blieben, ehe sie wie ein Bumerang zurückkamen und Abbys gesamtes Spielfeld in Explosionen tauchten.

Diese schrie auf, während gleichzeitig das Mal an Anyas Arm bräunlich leuchtete.

 

[Anya: 4000LP / Abby: 4000LP → 3600LP]
 

„Lass dir das eine Lehre sein, dich mit mir anzulegen“, meinte Anya kaltherzig, während der Rauch sich verzog. Abby lag auf den Knien und sah ziemlich mitgenommen aus, ihr beigefarbenes Kleid an einigen Stellen verdreckt und zerfetzt. Vollkommen getroffen von Anyas realem Angriff, sagte sie kein Wort und starrte ihre Freundin nur fassungslos an.

Die zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern führte ihren Zug fort. „Da ich jetzt wieder Zauberkarten aktivieren kann, spiele ich [Gem-Knight Fusion]!“

Über ihr erschien ein Wirbel aus den verschiedensten Edelsteinen, welcher zwei Krieger in jeweils rostbrauner und grüner Rüstung in sich zog. „Ich verschmelze damit [Gem-Knight Garnet] und [Gem-Knight Emerald]! Garnet, du bist das Herz! Emerald, du die Rüstung! Erscheine, [Gem-Knight Ruby]!“

Aus dem Sog schoss ein Ritter mit blauem, wehendem Umhang, welcher sich vor Anya stellte und stolz seine Lanze schwang.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Anya steckte eine Fallenkarte in den dazugehörigen Schlitz unter Ruby. „Diese hier verdeckt! Damit beende ich meinen Zug!“
 

Gleichzeitig hielt Abby sich den linken Arm, welcher von Pearls Angriff leicht verletzt worden war und erhob sich. Noch immer war sie ein Bildnis der Fassungslosigkeit, doch schließlich schluckte sie ihren inneren wie äußeren Schmerz hinunter und zog. Sie redete sich ein, dass Anya all das nur tat, weil sie insgeheim Angst hatte. Angst davor zu sterben.

Abby wusste, dass sie ihre Freundin nur davon überzeugen konnte, dass von ihr keine Gefahr ausging, wenn sie alles erduldete, was Anya ihr entgegen brachte. Auch wenn sie sich also in ihrer Sirenenform vor den Angriffen ihrer Freundin besser schützen konnte, durfte sie sich nicht verwandeln, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Zwar bedeutete das, dass sie mit weiteren Verletzungen oder gar Schlimmerem rechnen musste, aber eine andere Wahl hatte sie nicht.

 

„Okay“, meinte sie zögerlich und versuchte dabei, die Taffe zu mimen und lächelte verloren. „Mein Zug!“

Als sie ihre gezogene Karte ansah, strahlte sie vor Freude, was Anya mit einer abweisenden Grimasse quittierte. Vermutlich dachte sie, dass Abby einen Weg gefunden hatte, sie zu besiegen, was vielleicht auch gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.

„Von meiner Hand der Zauber [Monster Reborn]! Damit reanimiere ich [Naturia Beast] vo-“

„Nichts wirst du! Konter!“, fauchte ihre Gegnerin bestimmend und schwang den Arm aus, woraufhin ihre Fallenkarte aufsprang. „[Paradox Fusion]! Indem ich ein Fusionsmonster, also Ruby, bis zur End Phase meines übernächsten Zuges verbanne, kann ich die Aktivierung einer beliebigen Karte verhindern! Also bleibt der Flohzirkus da, wo er ist!“

Das Hologramm von [Gem-Knight Ruby] flackerte unstet auf, zersetzte sich in viele kleine, hellblaue Kästchen, ehe es schließlich verschwand.

Doch Abby grinste nur in sich hinein. Hatte sie es doch gewusst! Warum sonst hatte Anya zuvor ein Fusionsmonster gerufen, obwohl ihre Battle Phase längst vorüber war? Zwar mochte es an sich kein schlechter Gedanke gewesen sein, den Gegner mit [Paradox Fusion] ausstechen zu wollen, doch leider – oder eher zum Glück – kannte Abby ihre Freundin zu gut und wusste genau, wie sie tickte. Damit stand der Weg nun frei für ihre wahre Offensive!

„Na gut, dann rufe ich nun von meiner Hand [Gale Dogra]!“

Eine grüne Motte erschien vor ihr und erzeugte mit ihren blauen Schwingen einen Wirbelwind aus glitzerndem Staub, der Abby umgab.

 

Gale Dogra [ATK/650 DEF/600 (2)]

 

Verdutzt blinzelte Anya, die dieses Monster noch nie zuvor gesehen hatte. „Kein Naturia? Was für'n Teil ist das denn?“

Ihre Gegnerin zwinkerte verspielt. „Ein sehr nützlicher Gefährte! Für 3000 Lebenspunkte kann ich sofort ein Monster aus meinem Extradeck auf den Friedhof legen!“

Anya brach in schallendes Gelächter aus. „Im Ernst!? Willst du etwa freiwillig verlieren? Hast du etwa Schiss bekommen, Masters?“

Doch Abby nahm den Hohn ihrer Freundin gelassen. „Nicht ganz.“ Sie zeigte [Naturia Barkion] vor, ehe sie diesen in den Friedhofsschacht ihrer Duel Disk schob.

Kurz darauf wurde der Staub um sie dichter, sodass einen Moment lang nichts von Abby zu sehen war.

 

[Anya: 4000LP / Abby: 3600LP → 600LP]

 

„Pah!“, raunte Anya und verschränkte in ihrer Überheblichkeit die Arme voreinander.

„Lach du nur“, erwiderte Abby und zückte zwei Zauberkarten aus ihrem Blatt, die sie in ihre Duel Disk einschob. „Bald lachen wir wieder zusammen! Ich aktiviere [Supremacy Berry] und eine weitere Zauberkarte! Doch zunächst zu [Supremacy Berry]! Sie schenkt mir 2000 Lebenspunkte, wenn meine im Vergleich zu deinen niedriger sind.“

Eine weiße Friedenstaube mit einem Ölzweig im Schnabel landete auf Abbys Schulter, welche das Tier liebevoll betrachtete, ehe es davonflog und damit einen Regen aus hellblauen Lichtkugeln über Abby niedergehen ließ.

 

[Anya: 4000LP / Abby: 600LP → 2600LP]

 

„Okay, was ist das für ein Bullshit?“, verlange Anya zu wissen. „Kannst du dich mal entscheiden, was du nun willst?“

Ihre Gegnerin lächelte wissend. „Ich weiß genau, was ich will! Dass es dir besser geht!“

„Hör auf, Masters! Du dummlallst mal wieder! Sei lieber ehrlich, denn ich glaube dir sowieso kein Wort! Die ganze Welt ist gegen mich und du bist letztlich auch nur eine von vielen!“

„Du irrst dich!“, widersprach Abby beherzt.

Aber sie wusste, dass es vergebene Liebesmüh war, Anya von ihrem Irrtum auf verbaler Ebene überzeugen zu wollen. Das konnte sie nur durch Taten, und zwar, indem sie Anya besiegte, ohne ihr ein Haar zu krümmen.

„Von wegen! Ihr seid im Grunde doch alle gleich! Kaum seht ihr etwas, das ihr nicht versteht, muss es sofort böse und schlecht sein! Erzählt mir doch nichts!“

 

In sich hinein seufzend, dachte Abby, dass sie wohl am besten wusste, was es bedeutete anders zu sein und gefürchtet zu werden. Wer außer Nick und Anya würde sie schon akzeptieren, wenn man erfuhr, dass sie eine Sirene war? Diese zwei mochten etliche Macken haben, aber sie waren im Grunde ihres Herzens gute Menschen. Und allein schon deswegen würde sie um Anya kämpfen!
 

„Du wirst es noch sehen“, meinte Abby entschlossen und deutete auf ihre zweite Zauberkarte, „aber bis das geschieht, musst du dich erstmal hiermit auseinander setzen! Diese Karte dient einzig allein dem Zweck, mein mächtigstes Monster zu beschwören! Sie nennt sich [Miracle Synchro Fusion]!“

Anya runzelte die Stirn und kratzte sich unwissend am Kopf. „Miracle-was-jetzt!?“

„Durch sie kann ich zwei Monster auf meinem Friedhof verschmelzen und anschließend verbannen, um ein Fusionsmonster von meinem Extradeck zu beschwören! Voraussetzung dafür ist allerdings, dass mindestens eines der hierbei benutzten Fusionsmaterialien ein Synchromonster ist! Was bei meinem Monster sogar in doppelter Hinsicht der Fall ist, da sowohl [Naturia Beast], als auch [Naturia Barkion] Synchromonster sind.“ Sie hielt die beiden weißen Karten zwischen ihren Finger und hielt sie in die Höhe. „Und jetzt werdet eins! Erscheine und entführe uns in eine Welt voller Schönheit und Wohlstand! Komm herbei, [Naturia Exterio]!“

Überall um die beiden jungen Frauen herum begannen Blumen aus dem Beton zu wachsen. Ein merkwürdiges, fauchendes Brüllen ertönte über dem Dach. Aus dem Nichts landete mit einem Satz eine mannshohe, vierbeinige Gestalt vor Abby. Es war der grün-weiße Tiger, doch anders als zuvor, wies er jetzt Merkmale des Drachen [Naturia Barkion] auf. So trug er dessen Schädel wie einen Helm, während aus seinen Läufen schuppige Holzrinde wuchs.

 

Naturia Exterio [ATK/2800 DEF/2400 (10)]

 

„Crap“, raunte Anya bei Exterios Anblick genervt. Nicht nur, dass sie Abby jenes Monster noch nie hatte benutzen sehen, nein, es war auch noch stärker als ihr Pearl.

Und genau das wusste ihre Gegnerin auch auszunutzen, als sie den Arm befehligend ausstreckte. „Los, attackiere [Gem-Knight Pearl]! Tut mir leid, Anya, aber das muss jetzt sein!“

Ihre Kreatur preschte auf den schwebenden Ritter zu, welcher seine Perlen vor sich als Schutzwall aufbaute. Doch dem gewaltigen Prankenhieb Exterios waren sich nicht gewachsen, welcher die Edelsteine zerschlug und ein Loch in Pearls Brust riss.

„Warum ist dieses Ding nur so verdammt nutzlos!?“, fauchte Anya wütend, als ihr Krieger in einer Explosion unterging. Instinktiv wich sie zurück, um nichts davon abzubekommen.

 

[Anya: 4000LP → 3800LP / Abby: 2600LP]

 

„[Gale Dogra], direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte!“, hörte sie da schon Abby rufen.

Aus dem Rauch zischte die kleine Motte hervor und rammte Anya. Diese stolperte jedoch nur vor Schreck rückwärts, anstatt von der Wucht der Attacke getroffen zu werden. Die Blondine hielt sich daraufhin verwundert die Brust und schüttelte uneinsichtig den Kopf. „Glückstreffer!“

 

[Anya: 3800LP → 3150LP / Abby: 2600LP]

 

„Ich beende meinen Zug“, meinte Abby besorgt. „Anya … ich will dir nicht weh tun. Warum verstehst du das nicht?“

„Erspare mir dieses Geblubber und halt den Rand, ich muss mich konzentrieren“, zischte ihre Freundin im Angesicht ihres leeren Feldes und rief: „Mein Zug, Draw!“

Dabei sah ihre Situation alles andere als rosig aus. Denn nicht nur hatte Abby die Kontrolle über das Duell, nein, es fehlte Anya auch an Handkarten. Diese eine nächste könnte schon alles entscheiden. Doch so leicht würde Anya es ihr nicht machen!
 

Es war wie ein Impuls, der durch das Mädchen ging, als sie zog. So erschien es ihr, als würde ihr Mal kurz ziepen. Allerdings war das vermutlich nur Einbildung und als Anya ihre gezogene Karte betrachtete, waren jegliche Gedanken betreffend jenes seltsamen Gefühls längst verflogen. „Für den Anfang nicht schlecht! Ich beschwöre [Gem-Armadillo]! Und durch seinen Effekt kann ich einen Gem-Knight vom Deck auf die Hand nehmen, wenn er als Normalbeschwörung gerufen wird! So wie [Gem-Knight Tourmaline]!“

Während das schwebende, beinlose Gürteltier vor ihr auftauchte, zeigte Anya das gesuchte, gelb-umrandete Monster hervor und grinste hinterhältig.

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Wegrennen ist keine Option!“, rief Anya lautstark. „Los [Gem-Armadillo], auf ins Gefecht! Mach uns den Schädlingsbekämpfer!“

Das geisterhafte, braune Gürteltier teleportierte sich direkt vor Abbys Motte und riss ihr mit seinen Klauenhänden die Flügel aus, woraufhin diese sich auflöste. Es folgte eine Explosion, die Abby nach hinten fallen ließ, dicht an den Rand des Gebäudes.

 

[Anya: 3150LP / Abby: 2600LP → 1550LP]

 

Ächzend erhob diese sich und war gleichwohl überrascht, nachdem Anya das Ende ihres Zuges angekündigt hatte. Was war dieses Gefühl gerade eben gewesen? Dieser Druck in ihrem Inneren? War das Anyas Werk gewesen?

Abby biss sich auf die Unterlippe. Selbst in ihrer derzeitigen Lage ging Anya in die Offensive, statt sich zu schützen. Dabei war ihr Kampf hoffnungslos, auch wenn sie davon noch nichts ahnte. Denn [Naturia Exterios] besondere Fähigkeit würde ihr jede Chance zum Sieg nehmen.

Dennoch … hatte Anya soeben eine weitere Fähigkeit Levriers, neben dem Erzeugen von Angriffswellen, eingesetzt? Oder war es doch nur ihre Einbildung gewesen?

Mit Unbehagen schüttelte das Hippiemädchen den Kopf. Im Grunde spielte es keine Rolle, denn es änderte nichts an ihrem gesetzten Ziel, Anya zur Vernunft zu bringen.
 

„Mein Zug“, verkündete sie kämpferisch. „Draw!“

Tief durchatmend, überlegte sie, was sie ihrer Freundin sagen könnte. Da Worte bisher jedoch erfolglos geblieben waren, erkannte Abby, dass Schweigen durchaus eine Alternative darstellte. Vielleicht würde Anya das viel eher zu schätzen wissen?

Also beschränkte sie sich auf das Duell und nahm eine Monsterkarte von ihrem Blatt. „Ich beschwöre die [Naturia Strawberry]!“

Kichernd sprang daraufhin eine überdimensionale Erdbeere auf Beinen vor Abby hin und her und hielt sich dabei ihren großen Kopf.

 

Naturia Strawberry [ATK/1600 DEF/1200 (4)]

 

„Tch!“, höhnte Anya. Sie runzelte die Stirn und behielt denselben feindseligen Blick bei, welcher Abby seither so zu schaffen machte. Und in ihm erkannte sie letztlich, dass weder sie noch Nick die Freunde waren, die Anya im Moment brauchte.

„Sorry“, murmelte Abby leise.

Nicht wissend, welche Art von Freund Anya überhaupt in ihrer Situation an sich heranlassen würde. Jemand, vor dem sie Respekt hatte? Aber gab es diese Person überhaupt? Abby schluckte. Marc wäre so ein Freund gewesen. Doch ausgerechnet der war nun tot. Es war wie ein Teufelskreis und auch wenn sie diesen hartnäckig durchbrechen wollte, bekam Abby durch ihre Erkenntnis langsam Zweifel an ihrem Tun.

„Nein“, murmelte sie leise. Sie hatte diesen Kampf begonnen, sie würde ihn auch zu Ende führen, selbst wenn das Ergebnis nicht optimal ausfallen würde. Irgendwie erinnerte sie dies an Matts Worte. Wie konnte man wissen, ob das, was man erreichen will, nicht letztlich das Gegenteil brachte …

Sie schüttelte den Kopf, um ihn von diesen Gedanken frei zu machen. Niemand konnte in die Zukunft sehen! Dann zeigte sie auf Anyas Monster. „Exterio, greife [Gem-Armadillo] an! Strawberry, du im Anschluss direkt!“

Wieder stürmte ihre riesige Bestie hervor und streckte das Gürteltier mit einem Prankenhieb nieder, während die Erdbeere Anya einen Kopfstoß in den Magen verpasste, allerdings durch jenen hindurch flog. Die Blondine ächzte dennoch und zuckte zusammen.

 

[Anya: 3150LP → 450LP / Abby: 1550LP]

 

„Hast du nicht mehr drauf!?“, mimte Anya die Unbekümmerte, auch wenn Abby genau sehen konnte, wie ihre Hände unaufhörlich zitterten.

„Zug beendet“, erwiderte das brünette Mädchen daraufhin mitfühlend.

All die Kämpfe hatten Anya schon jetzt gezeichnet. Wie würde sie erst werden, wenn sie wusste, was wirklich auf sie zukam? Wenn Matts Theorie stimmte und Anya selbst nach Edens Erwachen weiterexistieren würde? Dann würde sie …

Nein! Es gab keinen Beweis dafür, dass er überhaupt die Wahrheit sprach! Womöglich war alles, was er ihr erzählt hatte, erstunken und erlogen, nur um sie in seine Pläne einzuspinnen! Und dennoch …

 

Abby schreckte auf, als Anya mit einem Kampfschrei zog. Wieder war da dieser Druck in der Brust, dieses Mal etwas stärker. Was war das bloß? Ging das von Anya aus oder war sie krank, fragte das Mädchen sich irritiert.

Ihre Gegnerin jedoch grinste heimtückisch, obwohl sie urplötzlich ein wenig außer Atem schien und keuchte. „Sieht so aus, als wäre die Glücksfee heute auf meiner Seite! Ich verbanne [Gem-Knight Iolite] von meinem Friedhof und erhalte von dort [Gem-Knight Fusion] zurück! Die aktiviere ich und verschmelze-“

„Tut mir leid, Anya, aber das wirst du nicht!“, widersprach ihre Gegnerin. „Ich aktiviere den Effekt von Exterio!“

Dieser gab ein stolzes Gebrüll von sich, während durchsichtiges Moos aus Abbys Duel Disk wuchs. Jene schnappte sich die [Supremcy Berry]-Karte von ihrem Friedhof und steckte sie in eine Tasche ihres Kleides, bevor sie von ihrem Deck die oberste Karte, [Naturia Butterfly], nahm und in den Friedhofsschlitz schob. Kurz darauf zersprang Anyas Zauberkarte, die sich in der Zwischenzeit vor ihr aufgestellt hatte. „Huh!?“

„Exterio kann für den Preis einer Deckkarte und dem Verbannen einer Karte aus meinem Friedhof jede Zauber- oder Fallenkarte annullieren. Und das ohne Beschränkung!“, erklärte Abby.

Anya schüttelte ungläubig ihr Haupt und trat einen Schritt zurück. „W-was ist das für ein Mistvieh!? Das heißt, ich kann keine Zauber und Fallen mehr spielen, solange du genug Vorrat an Deckkarten hast!?“

Ihr Gegenüber nickte. Das war die wahre Stärke von [Naturia Exterio], denn dadurch, dass jedes Mal eine Deckkarte geopfert wurde, konnte gleichzeitig der Bedarf für den nächsten Einsatz des Effekts gedeckt werden. Eine verhängnisvolle Kette.

„Denkst du, das beeindruckt mich?“, donnerte Anya kämpferischer denn je. „Ich werde dich dennoch alle machen! Ich beschwöre [Gem-Knight Alexandrite] und nutze seinen Effekt ihn zu opfern, um ein normales Gem-Knight-Monster von meinem Deck zu rufen! Komm, [Gem-Knight Crystal]!“

 

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

Vor ihr erschien kurz darauf ein Ritter in silberner Rüstung, die mit vielen verschiedenfarbigen Edelsteinen geschmückt war. Doch er löste sich im Anschluss in Licht auf und machte einem weißen Ritter mit den Kristallschulterplatten Platz, der stolz seine Hände in die Hüften stemmte.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

Plötzlich schwoll die Erdbeere von Abby etwa um ein Drittel seines Körperumfangs an.

 

Naturia Strawberry [ATK/1600 → 2000 DEF/1200 (4)]

 

„Was soll das denn!?“

„Strawberry erhält für das erste Monster, das du beschwörst, 100 Angriffspunkte pro Stufenstern. Das sind bei Alexandrite genau 400 Angriffspunkte“, erklärte Abby. Dabei sah sie zufällig zum Treppenhäuschen, an dem Nick mit verschränkten Armen angelehnt stand und zusah.

Es war merkwürdig, ihn so still zu erleben. Täuschte sie sich oder dachte er, Nick Harper, tatsächlich nach?

Als er ihren Blick bemerkte, grinste er breit. Nein, bestimmt war das nur ein Irrtum!

Anya zischte zeitgleich und reckte das Kinn vor. „Als ob das reicht! Crystal, macht das Gemüse dennoch kalt! Clear Punishment!“

Vor Entsetzen klappte Abby glatt die Kinnlade hinunter. „Aber Erdbeeren sind doch Obst!“

„Schnauze, Masters, das weiß ich selbst! Kümmere dich lieber um dich selbst, denn wie's aussieht, hast du ein fettes Problem an der Laberbacke!“

Crystal schlug mit seiner Faust auf den Boden und brachte den Beton damit zum Zersplittern. Ein feiner Riss tat sich inmitten des Spielfelds auf und zischte auf Abby zu. Aus ihm schossen Kristalldornen auf das Mädchen zu, welche jenen nur entkam, da sie schnell genug einen Hechtsprung zur Seite machte. Und während Abby mit dem Saum ihres Kleid an einem Dorn hängen blieb, wobei jenes im Gegenzug durch ihren Fall einriss, wurde ihr Monster von den Spitzen aufgespießt.

 

[Anya: 450LP / Abby: 1550LP → 1100LP]

 

„Owww“, jammerte Abby, die hart gelandet war und torkelte zurück zu ihrer alten Position.

Das war knapp. Um ein Haar wäre sie zu einem Sieb mutiert! Anya war wirklich entschlossen, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Eine Kunst, die sie nun endgültig perfektioniert hatte, wie Abby sich mit mulmigem Gefühl eingestehen musste.

„Pfff, ich beende.“ Anya streckte den Arm rechts von sich aus. „Damit kehrt nun Ruby endlich zurück aufs Spielfeld.“

„Ruby?“, erschrak ihre Gegnerin, als neben Anya der Ritter im blauen Umhang und mit der Lanze in den Händen erschien. „Den hatte ich ja ganz vergessen!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Als Abby anschließend zog, musste sie feststellen, nichts Brauchbares auf der Hand zu haben. Es stand jedoch fest, dass sie den Rubinritter besiegen musste, bevor Anya ihren nächsten Zug begann. Denn jener konnte seine Angriffskraft erhöhen, indem er durch seinen Monstereffekt einfach einen anderen Gem-Knight opferte. Dagegen konnte selbst [Naturia Exterio] nichts unternehmen, also war offensichtlich, was sie zu tun hatte.

Abby zeigte kämpferisch auf den Krieger. „Exterio, zerstöre [Gem-Knight Ruby]!“

„Du-!“, zischte Anya, der das gar nicht zusagte. Doch sie konnte nur mit griesgrämiger Mimik mit ansehen, wie die riesige Tigerbestie auch diesen Feind mit seinen Pranken niederstreckte.

 

[Anya: 450LP → 150LP / Abby: 1100LP]

 

Als Exterio ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, nahm Anya einen Schritt zurück und neigte sich ein wenig vor, bereit, sofort in jede Richtung ausweichen zu können. Aber Abbys Monster drehte ihr desinteressiert den Rücken zu und kehrte zu seiner Besitzerin zurück, um sich vor ihr hinzulegen.

„Mehr kann ich nicht tun“, kündigte Abby an. Sowohl im Duell, als auch im Kampf um Anyas Aufmerksamkeit. Über die blinde Rage und Zerstörungswut schien Anya sogar das Versprechen vergessen zu haben, das sie ihr einst gegeben hatte. Und Abby fragte sich erstmals, ob so etwas dann überhaupt noch eine Freundschaft war? Andererseits war sie keinen Deut besser, schließlich verheimlichte sie Anya so einiges.

Das Mädchen ließ den Kopf hängen. Alles war so kompliziert geworden, seit Levrier aufgetaucht war. Aber der tat auch nur das, was in seiner Natur lag …

 

Plötzlich spürte Abby ein Stechen in ihrem Körper, wie sie es noch nie gefühlt hatte. Sie blickte auf und sah mit Schrecken, dass etwas an Anya sich verändert hatte. Ihre Augen, sie glühten weiß, genau wie ihre Hand, die von einer seltsamen Energie umgeben war. Der Pferdeschwanz der Blondine peitschte wild durch die Luft, während das Mädchen Mittel- und Zeigefinger an ihr Deck legte. Dabei keuchte sie, als bekäme sie kaum noch Luft.

„Was ist das!?“

„Du … ich kann dir gar nicht sagen, was ich am liebsten alles mit dir und Nick machen würde! Wo wart ihr, als es passiert ist!?“

„W-“

„Immer seid ihr auf Hilfe angewiesen! Alleine kriegt ihr doch gar nichts auf die Reihe! Wenn ich nicht wäre, wärt ihr schon längst tot! Und wo seid ihr, wenn ich euch brauche!?“ Anya schnaufte und lächelte zynisch. „Überall, nur nicht bei mir! Erspart mir euer ganzes Gelaber, ich will es gar nicht hören! Ich brauche keine Freunde, ihr seid so oder so nutzlos! Draw!“

Abby schrie vor Schreck auf, wurde sie durch das Licht, welches von Anyas Arm mit dem Mal ausging, doch glatt geblendet. Dabei stieß ihr ein heftiger Wind entgegen, der ihr ohnehin ungebändigtes Haar und den Saum ihres Kleides wild flattern ließ. Stechender als dieses seltsame Gefühl waren nur die Worte des Mädchens, entstanden aus purer Verbitterung. Und doch wusste Abby, dass Anya nicht ganz Unrecht hatte, was alles nur viel schlimmer machte. Sah es wirklich so in ihrer besten Freundin aus, fragte Abby sich betroffen.

 

Als das Licht um Anyas Arm erlosch und ihre Hand nur noch ein wenig glühte, hielt sie zwischen ihren Fingern eine Karte und grinste dreckig. „Na so was? Die Glücksfee ist heute wirklich auf meiner Seite!“

„Was hast du da getan?“, fragte Abby verängstigt. Levrier musste irgendeine Kraft freigesetzt haben, anders war dieses Phänomen nicht zu erklären.

Und plötzlich ging ihr ein Licht auf. „Du hast dieselbe Fähigkeit wie Al-“

„Ich beschwöre [Gem-Knight Tourmaline]“, unterbrach Anya ihre Freundin und ließ einen Krieger in goldener Rüstung erscheinen, der einen Blitz zwischen seinen Händen formte.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

„Okay! Das ist es!“, rief Anya und schwang euphorisch den Arm aus. „Crystal, vernichte dieses Drecksvieh ein für alle Mal! Crystal Punishment!“

Der Ritter schlug mit seiner Faust auf den Boden, während Anya ihre letzte Handkarte auf den Friedhof schickte. Plötzlich erschien ein kleines Wesen mit einem verhältnismäßig großen Zauberhut hinter Crystal und verschwand in ihm. „Und indem ich [Gem-Merchant] abwerfe, kriegt Crystal einen Angriffsboost! Siehst du!? Ich brauche gar keine Zauber- oder Fallenkarten!“

Abby realisierte, dass Anya durch ihre neue Kraft jenes Monster gezogen haben musste. Um Anyas Krieger glühte eine orangefarbene Aura auf.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 → 3450 DEF/1950 → 2950 (7)]

 

Dieses Mal schlug Crystal beide Fäuste auf den Boden und ließ so mehrere Spalten im Beton des Daches entstehen, welche allesamt auf Abby und ihre nähere Umgebung zuschossen. Das Mädchen erkannte, dass es dieses Mal keinen Ausweg gab. Und während die ersten Kristallnadeln [Naturia Exterio] bereits aufspießten, trat sie bis an den Rand des Daches zurück.

Als der erste Speer aus einer der Spalten auf sie zuschoss, dachte Abby gar nicht länger nach und machte einen Satz nach hinten, fiel in die Tiefe. Gerade noch rechtzeitig fanden ihre Hände im Fall Halt, sodass sie nun vom Dach der Schule hing und die Sträucher anstarren konnte, die bestimmt 20 Meter unter ihr lagen. Aber bei einem Fall aus dieser Höhe würden jene vermutlich noch ihr Verhängnis werden statt den Aufprall zu dämpfen, dachte Abby panisch.

 

[Anya: 150LP / Abby: 1100LP → 450LP]

 

Zwar war sie Crystals Angriff entkommen, doch hatte sie nun ein neues Problem. Und es war noch nicht vorüber. Sie hatte das Duell hiermit verloren, also würde Anya jetzt kurzen Prozess machen.

„Irgendwelche letzten Worte?“, hörte sie jene unbeirrt rufen.

Abby zog sich mit aller Kraft ein Stück weit über den Rand und sah zu der Blondine auf, in deren blauen Augen das Dilemma ihrer Gefühlswelt stand. Anscheinend konnte selbst eine Anya so etwas wie Enttäuschung verspüren, denn weit mehr als der Hass stand diese Emotion in ihnen.

Für Abby war das Grund genug, es noch einmal mit Worten zu probieren. „Ich weiß, es ist schwer, aber lass uns doch vernünftig reden! Was bringt es dir schon, jetzt noch so weiter zu machen?“

 

„Du weißt doch gar nicht, wie das ist“, murmelte Anya plötzlich leise und senkte den Blick. „Wie es ist, am lebendigen Leib den Flammen zum Opfer zu fallen. Mag ja sein, dass ich zu der Zeit nichts gespürt und in diesem Elysion-Teil gefangen war, aber ich habe alles gesehen. Und du hast mich gesehen, oder was noch von mir übrig war! Also rede nicht so, als ob alles gut wär'!“

Anya sah wutentbrannt auf und schwang den Arm aus, zeigte damit auf Abby. „Ich geb' mir diese Scheiße mit dir nicht länger! Warum reden, wenn es sowieso nichts zu sagen gibt? Ich hab' das schon immer an dir gehasst! [Gem-Knight Tourmaline], direkter Angriff auf-“

Ohne Vorwarnung wurde sie am Handgelenk gepackt. Sie drehte ihren Kopf und sah über ihrer Schulter, dass Nick sie festhielt. Einmal mehr lag da dieser merkwürdige Blick in seinen Augen, den er neuerdings immer öfter aufsetzte. Es war, als wolle er sagen „nicht“. Aber er schwieg und schien auf ihre Reaktion zu warten.

Aufgebracht schnaufte das Mädchen: „Lass mich los, Harper! Oder willst du gleich hinterher geschickt werden!?“

 

Es ist genug, Anya Bauer!

 

Als sie Levriers Stimme vernahm, zog sie ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Die ganze Zeit über hatte er sich aus der Sache herausgehalten, nun meldete er sich plötzlich?

„Was willst du denn jetzt!?“
 

Du siehst Feindseligkeit, wo keine ist! Ist dir überhaupt klar, was du da tun willst? Warst nicht du es, die Abigail Master und Nick Harper vor Alastair gerettet hat? Und nun willst du sie töten, weil du dir mit aller Kraft einzureden versucht, sie wären deine Feinde? Wo sie doch nur deinen Schmerz teilen wollen? Wenn das so ist, verweigere ich dir, noch länger meine Kräfte zu benutzen. Sie dienen dazu, uns vor Gefahren zu schützen, nicht um anderen Menschen willkürlich das Leben zu nehmen!

 

Anya schrie auf, als das Mal an ihrem Arm zu leuchten begann. Es brannte wie Feuer und das pulsierende Gefühle in ihrem Inneren, welches sie die ganze Zeit über stärker und stärker gemacht und angetrieben hatte, löste sich plötzlich wie Rauch auf.

Ohne es fühlte Anya sich schlagartig schwach und müde.

 

Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Anya Bauer, aber kein Lebewesen kann alleine fortbestehen. Die Bande mit deinen Freunden zu brechen wird dir zukünftiges Leid nicht ersparen, egal wie sehr du daran festhalten willst.
 

„Dazu hast du kein Recht!“, fauchte Anya wütend, der es nur um dieses eine Gefühl ging. „Diese Kräfte gehören mir und ich entschei-“

Nicks Faust traf sie so unerwartet ins Gesicht, dass sie nach vorne stolperte und auf den Boden fiel. Fassungslos sah sie zu ihm auf und hielt sich die Wange.

Er sah seine Finger an und gluckste: „Cool. Jetzt weiß ich, warum der Anya-Muffin so viel Spaß daran hat … au, au, au!“

Mit leidender Mimik schüttelte er die Hand, da Anyas Knochen wohl etwas zu hart für ihn gewesen waren.

 

„Hört bitte auf!“, rief Abby, die es mittlerweile fertiggebracht hatte, sich bis zum Oberkörper über den Rand des Daches zu ziehen. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie sich sicher, dass hinter Nicks Faustschlag eine Botschaft verborgen lag, die man ihm niemals zugetraut hätte. Selbst er tat sein Bestes, um Anya zur Besinnung zu bringen!

„Du hast recht, ich weiß nicht, wie schwer es für dich ist“, ächzte Abby und schwang ihr Bein über die Betonkante, ehe sie sich schließlich zur Gänze in temporärer Sicherheit gebracht hatte. Auf wackligen Beinen stand sie auf und nahm ein paar Schritte nach vorn, wobei sie die Arme versöhnlich ausstreckte. „Deswegen sind wir doch hier, Anya! Warum willst du das nicht sehen? Wenn ich dir ein Leid zufügen wollen würde, hätte ich es doch längst tun können! Was denkst du, warum ich nicht längst meine andere Gestalt angenommen habe?“

„Tch!“ Anya wich ihrem Blick aus.

Abby senkte ihr Haupt. „Ich weiß … das Duell war ein Fehler, wir hätten dich in Ruhe lassen sollen. Aber es ist schrecklich, wenn man als Freundin nur zusehen kann, wie du dich von allem abkapselst! So sehr Marcs Verlust dir auch weh tun mag, du darfst nicht vergessen, dass du etwas zu erledigen hast!“

Mit widerspenstiger Mimik blickte Anya auf. „Was meinst du damit, Masters?“

„Eden! Du kämpfst jetzt seit knapp anderthalb Monaten darum, einfach nur am Leben zu sein! Suchst nach einem Weg, nicht Eden werden zu müssen!“ Abby nahm nun große Schritte auf ihre Freundin zu und ging vor jener in die Knie, um ihre Hände zu nehmen. Sanft sagte sie: „Und wir mit dir! Nick und ich wollen nicht, dass du fortgehst! Aber du hast das vergessen! Ein wenig Zeit haben wir noch, Anya, aber wenn wir uns nicht beeilen, ist es zu spät.“

Wieder mied ihre Freundin ihren Blick und riss sich los. „Ich brauche eure beknackte Hilfe nicht!“

„Doch“, widersprach Abby streng, „genau das tust du! Natürlich kannst du uns auch weiterhin abweisen, das ist deine Sache. Aber zusammen können wir mehr erreichen, auch wenn wir dir wie ein Klotz am Bein erscheinen mögen. Und ich kann dich beschützen, wenn du mich nur lässt. Die Tragödie um Marc wird sich nicht wiederholen, das verspreche ich dir!“

 

Stille.

Mit einem Satz sprang Anya auf und starrte mit undeutbarem Blick auf ihre Freundin herab. Dann stöhnte sie genervt. „Gibst du eigentlich nie Ruhe, Masters?“

Verdutzt blinzelte Abby. „Wie bitte?“

„Du hast schon gehört“, raunte Anya missmutig und schüttelte den Kopf. „Deine Reden sind so anstrengend, da muss man ja irgendwann willig werden. Fein, von mir aus, dann helft mir eben. Aber jammert am Ende nicht 'rum, wenn ihr die Radieschen von unten wachsen seht.“

Abby, überrumpelt von dieser unerwarteten Kehrtwende, legte eine Hand auf ihr Knie und erhob sich mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck ebenfalls. „Heißt das, du bist nicht mehr böse?“

„Ja, ja“, brummte Anya und winkte ab, bevor Abby ihr überglücklich um den Hals fiel.

„Aber woher dieser plötzliche Sinneswandel?“, fragte Letztere dabei. „Oh, ich bin so froh!“

„Ich hab Kopfschmerzen und keinen Bock mehr auf diese Spielchen, das ist alles! Und jetzt lass mich los, verdammt!“, fauchte die Blondine daraufhin und drückte das Hippiemädchen von sich weg, da ihr menschliche Nähe zutiefst missfiel, wenn es nicht gerade darum ging, anderer Leute Äußeres 'umzugestalten'.

Doch kaum hatte sie sich von Abby losgerissen, wurde sie von hinten angefallen. Nick klammerte sich an sie und streichelte über ihr blondes Haar und den Pferdeschwanz. „Mein Anya-Muffin ist zurück!“

Keinen Herzschlag später lag er am Boden mit Anyas Turnschuh im Gesicht. „Machst du das nochmal, reiß ich dir die Klöten ab und benutze sie als Tennisbälle!“

„Okay“, presste er glucksend unter der Sohle hervor.

 

„Eine Sache wäre da aber noch …“, meinte Anya plötzlich mit bedrohlich leisem Tonfall und nickte in Abbys Richtung. Jene verstand nicht und drehte sich um, erschrak, als plötzlich [Gem-Knight Tourmaline] vor ihr erschien. Dessen Hände blitzen auf.

„Dachtest wohl, du kommst drum 'rum, huh? Fehlanzeige, ich hab dich verarscht! Tourmaline, direkter Angriff!“

Abby stieß einen spitzen Schrei aus, als der Ritter eine Salve aus Blitzkugeln auf sie abfeuerte. Die Explosion hüllte sie in tiefen Rauch ein.

 

[Anya: 150LP / Abby: 1100LP → 0LP]

 

„Oh, ohhhhh!“, klagte Abby, als der Angriff vorüber war und die Hologramme schließlich verschwanden.

Sie war unversehrt geblieben und wirbelte zu Anya um, verschränkte wütend die Arme. Dabei warf sie Anya einen besonders tadelnden Blick zu, ihre Brille war halb verrutscht. „Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen! Mach das nicht noch einmal, hörst du! Für eine Sekunde dachte ich wirklich, wieder von deinen Angriffen getroffen zu werden!“

Unbedarft zuckte ihr Gegenüber mit den Schultern. „Mir egal, was du gedacht hast. Ich habe dich besiegt, ohne fremde Hilfe! So was muss man ausnutzen! Wie würde Nelson sagen? Ha-ha!“

Dabei zeigte sie mit selbstgefälliger Grimasse auf Abby.

Die schlug sich die Hand vors Gesicht. „Sag mir nicht, dass ich mir das jetzt ewig anhören muss?“ Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie Anya -tatsächlich- vernichtet hätte, dachte sie dabei grimmig.

„Musst du“, lachte jene neckisch.

Aber als Abby die Hand auf ihr Herz legte, lächelte sie glücklich. „Na ja, ich denke es gibt Schlimmeres.“

„Zum Beispiel?“

„Von Nick besiegt zu werden.“

Anya nickte zustimmend. „Allerdings.“

Sie betrachtete missmutig ihren Freund, der immer noch am Boden lag und sich mit verträumtem Blick über den geröteten Abdruck auf seiner Wange strich. „Viel Schlimmeres.“

 

Ihre Freundin klatschte die Hände zusammen und faltete die Finger ineinander. Überrascht von dieser Geste, drehte Anya sich zu ihr um und bemerkte, wie Abby über beide Backen strahlte.

„Was ist? Hat endlich jemand unseren Präsidenten erschossen oder warum siehst du aus, als würde gleich ein Weltfriedensgipfel beginnen?“

„Oh, es ist nur so … du hast dieses Mal wirklich gut gespielt. Ich glaube, du bist um einiges besser geworden, seit unserem letzten Duell.“

Anya grinste keck und deutete mit dem Daumen auf sich. „Klar doch. Eine Anya Bauer kann sich schließlich nicht von ihren Sidekicks besiegen lassen!“

„Err, Sidekicks? W-was soll das denn heißen?“

„Ach, ist ja auch egal.“ Plötzlich verhärteten sich Anyas Züge. „Ich muss besser werden. Bei all den Irren, die neuerdings in dieser Stadt herumlaufen, kann ich's mir nicht leisten, zurück zu fallen. Als Testlauf für den Ernstfall warst du ja gar nicht schlecht, wenn du nur nicht so eine feige Nuss wärst.“

Abby nahm verwirrt von diesen Worten ihre Brille ab und sah Anya aus traurigen, grauen Augen an, während sie das gute Stück an ihrem beigefarbenen Kleid putzte.

„Ich verstehe zwar nicht ganz, allerdings stimmt es schon, dass du besser werden solltest. Aber wie gesagt, wir sind bei dir. Auf uns kannst du zählen!“ Sie setzte die Brille wieder auf und seufzte nachdenklich. „Was das mit dem Testlauf angeht, musst du aber Einiges erklären. Was soll das heißen?“

 

Doch zu ihrem Entsetzen winkte Anya nur desinteressiert ab. „Ja, ja, was auch immer. Sag mal, Abby, wie lange hält der Zauber eigentlich?“

Verdutzt blinzelte das Mädchen hinter den dunkel getönten Gläsern, ehe sie verstand. Sie hob den Arm mit der real gewordenen Spielzeug-Duel Disk und schmunzelte. „Bis ich ihn beende oder mir die Kraft ausgeht. Man muss sich darauf konzentrieren, was gar nicht so einfach ist. In meiner Sirenenform geht es wesentlich einfacher.“

Um ihre Worte zu unterstreichen, nahm sie das Deck wieder aus der Duel Disk und steckte es in ihre Kleidtasche. Keine Sekunde später schrumpfte der Apparat und fiel von ihrem Arm auf den Beton des Daches. Anya hob die Miniatur-Duel Disk mit Daumen und Zeigefinger auf und reichte sie Abby. „Geiler Trick. Gegen so etwas stinkt Alastairs Hokuspokus allemal ab.“

Durch das Kompliment errötete Abby und verbeugte sich hastig. „Danke!“

Dann sah sie wieder mit ernster Mimik auf und meinte streng: „Aber wir sollten jetzt lieber hier verschwinden und später weiter reden. Wenn wir und der Schaden, den du hier angerichtet hast, gesehen werden, gibt es mindestens einen Schulverweis.“

„Du tust ja so, als wäre das was Schlechtes“, erwiderte Anya aufrichtig empört.

„Anya Bauer! Es vergeht bald kein Tag mehr, an dem du nicht Schuleigentum zerstörst! Wenn ich wegen dir nicht richtig am Unterricht teilnehmen kann, dann …“

Aber Anya hörte kaum noch zu und schlug sich stattdessen die Hand vor die Stirn. Nicht schon wieder eine Rede von Abby über das Geschenk der Bildung! Sie hätte sie eben -doch- beseitigen sollen, als sie die Chance dazu hatte …

 

~-~-~

 

„Ich bin so froh, dass wir unsere Streitigkeiten beseitigen konnten“, meinte Abby schließlich ausgelassen, während sie zwischen Nick und Anya über den Bürgersteig heimwärts schlenderte. Die Sonne ging bereits unter und ihre Freundin hatte ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt.

„Wenn du meinst“, erwiderte Anya in ihrem typischen Desinteresse und grinste schließlich frech. „Aber ein Gutes hat das Ganze!“

Abby neigte den Kopf etwas nach vorn, um ihr in die Augen zu sehen. „Das wäre?“

„Ich habe einen neuen Trick auf Lager! Glaub ich jedenfalls … es war fast so, als ob ich bei meinem letzten Zug entscheiden konnte, was ich ziehen möchte.“ Und Anya dachte gar nicht daran, damit das Wort Betrug in Verbindung zu bringen, denn das taten -ausschließlich- nur die anderen. „Als ob ich lenken konnte, was passiert. Wisst ihr, ich musste nur lange genug meine Wut anheizen, es wurde von Zug zu Zug stärker, dieses komische Gefühl. Wirklich abgefahren, als stünde ich vor- ach, ist auch egal. Vielleicht ist Levrier doch nicht so nutzlos?“

 

Ich könnte noch so nutzlos sein und dennoch wäre niemand imstande, deine Unkenntnis und deinen Dilettantismus in den Schatten stellen.

 

Anya zuckte bei Levriers lahmen Verteidigungsversuch nur mit einer Augenbraue. „Was auch immer …“

„Eigentlich war das jetzt auch nicht das, was ich hören wollte“, meinte Abby gleichwohl beleidigt über die Tatsache, dass Anya nicht das, was bei ihr einer Aussprache schon recht nahe kam, als den angekündigten, positiven Aspekt erwähnt hatte.

„Oh? Nun, natürlich wusste ich die ganze Zeit über, dass du mir nichts Böses willst“, meinte Anya schließlich gleichgültig und stöhnte. „Es war mir einfach nur egal, weil es leichter für mich ist, Dinge einfach zu bekämpfen, statt mich damit auseinander zu setzen. So bin ich eben. Außerdem war das gutes Training für später … jedenfalls war es so gedacht, aber im Endeffekt hätte ich wissen müssen, dass du kneifst.“

Die Drei blieben stehen.

„Anya … !?“

Abby war gleichermaßen fasziniert wie entsetzt über die Tatsache, dass Anya dermaßen abgebrüht sein konnte. Dennoch hatte Anya soeben unfreiwillig einen Einblick in ihr Inneres gegeben. Und nur um der Tatsache Willen, dass die Blondine Probleme mit Konfliktbewältigung zugab, ließ Abby sie leben, so sehr kochte sie innerlich vor Wut. War das ganze Drama also tatsächlich umsonst gewesen, nur weil Anya ihre Grenzen austesten wollte!?

„Miststück!“, fluchte Abby ihre Freundin garstig an.

Jene sah mit selbstherrlicher Mimik auf. „Immer doch!“

 

Sie grinste noch einen Augenblick, dann verhärteten sich ihre Züge wieder. Anyas Augen waren zwar klar wie das Meer, aber plötzlich auch von grimmiger Genugtuung erfüllt. „Aber eins kannst du wissen. Ich bereue nicht, was ich Marc angetan habe. Er hat um alles gewusst und seine Entscheidung getroffen.“
 

Kurz darüber nachdenkend, nickte Abby schließlich, auch wenn ihr diese selbstgerechte Ader missfiel. Aber konnte man Anya ihre Gefühle wirklich verdenken? Die Begründung ihrer Freundin war gewissermaßen nachvollziehbar, auch wenn zu bezweifeln war, ob Anya letzten Endes nicht doch ein wenig, wenn nicht sogar große Reue für ihr Handeln verspürte. Immerhin ging es hier um den ersten Mann, in den sie sich verliebt hatte.
 

„Wusstest du“, fing Abby zunächst zögerlich an, das Thema Marc zu vertiefen, „dass er mit Valerie verlobt war?“

Anya schüttelte mit ausdrucksloser Mimik den Kopf. „Nein. Aber selbst wenn er noch leben würde, wäre es mir mittlerweile scheißegal. Der ist schon in dem Augenblick gestorben, als er über mein Leben entschieden hat.“ Als sie das verdutzte Gesicht ihrer Freundin sah, fügte Anya noch mit der Hand auf ihrer Brust hinzu: „Im diesem Ding aus Stein hier drinnen gibt es ihn nicht mehr. Vielleicht lass ich mir ja stattdessen was Tolles draus schleifen, nun wo Marc Geschichte ist. Da ist jetzt nämlich Sperrgebiet für alles, was etwas zwischen den Beinen baumeln hat, verstehst du? “

„Auch für mich?“, jammerte Nick enttäuscht.

„Ganz besonders für dich, du hohle Nuss!“, erwiderte seine Freundin daraufhin garstig.

Abby musste kichern, doch kurz darauf verfinsterte sich ihre Miene. „Wenn wir schon bei Valerie sind … ich mache mir Sorgen um sie. Vielleicht sollten wir mal bei ihr vorbeischauen?“

„Tch! Glaubst du, es ist eine gute Idee, wenn die Mörderin ihres Verlobten vor der Tür steht und ihr Taschentücher anbietet?“ Anya verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Lass die lieber fürs Erste in Ruhe. Vielleicht schick ich ihr ein Kissen zum Ausheulen. Ich hatte da mal die Idee, in das Teil Rasierklingen zu verstecken, aber leider war das in der Praxis ein einziges Chaos.“

Aus allen Wolken fallend, klappte Abbys Kinnlade zum zweiten Mal an diesem Tag hinunter. „Was!? Aber ich dachte, jetzt da Marc tot ist, dürfte die Rivalität mit Valerie Geschichte sein?“

Mit einem bösartigen Grinsen schüttelte Anya den Kopf und trat dabei eine zerknüllte Coladose von sich weg, die einen vorbeilaufenden, kleinen Jungen nur um Haaresbreite verfehlte.

„Mist, daneben!“ Sie machte eine Pause und wählte ihre Worte, was sich schwierig gestaltete, da das Artikulieren nicht gerade zu ihren Stärke zählen. „Wie sag ich es? Ich brauch etwas, um mir die Zeit zu vertreiben. Und solche High Society-Schicksen wie Redfield kommen mir da gerade recht. Ist eben Schicksal.“
 

Und während Anya mit den Schultern zuckte, frage Abby sich mit offenem Mund lediglich, wie so viel Boshaftigkeit in einer einzigen Person stecken konnte. Sie musste die Verkörperung des Leibhaftigen sein, eine andere Erklärung gab es nicht!

„Außerdem haben wir andere Sorgen, schon vergessen?“, warf Anya schließlich ein. „In knapp drei Wochen wird’s ernst, dann ist der 11. November. Und was hab ich euch heute beigebracht? Sterben ist scheiße.“

Abby seufzte schwer, denn wieder musste sie an Matts Worte denken. Um Anya zu retten, musste jene sterben. Sie blickte ihre Freundin traurig an und meinte gespielt genervt: „Was das angeht, können wir noch mindestens ein paar Tage auf das Necronomicon warten! Scheinbar gibt es da Probleme mit dem Mittelsmann!“

„Wehe, das Teil ist genauso hirnrissig wie die anderen Schinken, die du für uns ausgesucht hast“, brummte Anya und setzte ihren Weg fort, während die anderen beiden ihr folgten.

„Ach bestimmt nicht“, meinte Abby unsicher, nur um dann ihre Zweifel auch auszudrücken. „Aber ausschließen kann man es nicht.“

Im Gedanken fügte sie noch hinzu: sollte es so kommen, haben wir vielleicht unsere letzte Hoffnung verloren. Für sie waren die Einzigen, die dann noch als potentielle Wissensquellen infrage kamen, die Dämonenjäger. Und die wollten Anya schließlich tot sehen.

 

 

Turn 16 – Walking On A Thin Line

Getrieben durch ihren schweren Verlust, hat Valerie einen eigentümlichen Plan ersonnen. Mithilfe von Joan Of Arc macht sie sich auf die Suche nach einem Dämon, der mächtig genug ist, ihren Wunsch zu erfüllen. Obwohl Joan sie eindringlich davor warnt, fährt Valerie schließlich zu einer weit entfernt liegenden Stadt namens Hollow City, wo sie den geheimnisvollen Collector vermutet, einen ganz besonderen und äußerst eigensinnigen Dämon. Als sie ihn schließlich in seiner Villa findet, muss sie sich zunächst einem seiner Diener stellen, ehe der Collector über ihr Anliegen entscheidet …

Turn 16 - Walking On A Thin Line

Turn 16 – Walking On A Thin Line

 

 

Ich hätte dir niemals davon erzählen dürfen.

 

Valerie ignorierte die Einwände Joan Of Arcs und konzentrierte sich weiter darauf, ihr Zielobjekt zu finden. Seit Stunden war sie nun schon damit beschäftigt, bald würde es Mitternacht sein.

Sie befand sich auf dem Dachboden der Villa ihres Vaters, dem Bürgermeister von Livington und versuchte verzweifelt, die eine Person ausfindig zu machen, die ihr in ihrer Lage zu helfen vermochte. Dazu bediente sie sich sogar schwarzer Magie, hielt sie schließlich bei Kerzenschein ein Amulett mit einem siebenzackigen Stern über ihren Schulatlas. Eine seiner Spitzen war direkt auf die Karte unter ihr gerichtet. Doch das Schmuckstück bewegte sich nicht, das Auspendeln ihres Zielobjekts hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht.

„Er muss doch irgendwo sein“, meinte sie engstirnig und störte sich gar nicht an den verstauben Kisten und mit weißen Laken überzogenen Möbeln um sie herum.

 

Noch ist es nicht zu spät, umzukehren und Buße zu tun, Valerie! Was du tust ist Ketzerei!

 

„Hast du nicht selbst gesagt, ich solle nach dem Sammler suchen!?“, fauchte Valerie und warf das Amulett frustriert in die Ecke. Die Kerzen um sie herum, aufgestellt um einen mit Kreide gezogenen Kreis, flackerten gefährlich auf.

 

Ich habe meine Worte nicht mit Bedacht gewählt! Einzig zu deinem Trost habe ich sie gesprochen. Wie hätte ich ahnen können, dass sie den Wunsch in dir nur noch schüren würden?

 

Valerie schüttelte vehement den Kopf. „Hat sich damals aber nicht danach angehört!“

Ihr seidiges, glänzend-schwarzes Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Eine graue Strickjacke bedeckte ihren Oberkörper, denn auch wenn der Kerzenschein die Illusion von Wärme erzeugen mochte, war es eiskalt auf dem Dachboden. Ein Zeichen dafür, wie weit Valerie bereits in die Tiefen der Zauberei vorgedrungen war. Etwas, das Joan of Arc gar nicht gerne sah.

 

Alles, was ich tun kann, ist zu dir zu sprechen, Valerie. Höre mich. Wenn du diese Grenze überschreitest, werden wir beide verdammt sein. Der allmächtige Herr wird es niemals dulden, dass du dich mit Dämonen einlässt! Du wirst deine Seele einbüßen, wenn du Handel mit den ihren treibst!

 

„Ach wirklich?“, platzte es nun aus dem aufgebrachten Mädchen heraus. „Und wie kommst du dann überhaupt dazu, mich auf die Idee mit dem Sammler zu bringen? Sorry Joan, oder wer immer du bist, aber ein echter Engel würde das niemals tun!“

 

Du vertraust mir nicht mehr, nicht wahr?

 

„Sagen wir eher, ich weiß, dass du etwas verheimlichst“, meinte Valerie überzeugt. „Ich bin dir dankbar dafür, dass du mich damals vor dem sicheren Tod gerettet hast. Aber wenn du dich so sehr vor Gottes Zorn fürchtest, warum dann die Idee mit dem Sammler?“

Dabei erhob sie sich vorsichtig, schritt über den Kreidekreis hinweg und suchte im Zwielicht nach dem Amulett, welches hinter ein paar Pappkartons geflogen war.

Joan seufzte.

 

Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde. Du hast recht, ich verberge ein Geheimnis vor dir.

 

Valerie hob das Pendel auf und drehte sich den Kerzen zu, wodurch ihr Gesicht halb im Schatten, teils im Licht lag. „Dann beichte. So wie ich dir gebeichtet habe, was meine -Sünde- angeht, die ich im Begriff bin zu begehen.“

Es brauchte einen Augenblick, ehe Joan endlich antwortete.

 

Wie du willst. Es gibt tatsächlich etwas, das ich dir verschweige, Valerie. Ich bin nicht auf Geheiß Gottes hier. Im Gegenteil, ich bin eine Verbannte.

 

Innerlich stockte Valerie, doch ließ sie sich das nicht anmerken. „Soll heißen?“

 

Ich suche nach einem Weg, Gottes Gunst zurückzugewinnen. Und du könntest dabei der Schlüssel sein.

 

„Was ist passiert?“
 

Darüber kann ich nicht sprechen, denn es würde bedeuten, endgültig zu fallen. Ich habe bereits meine 'Gnade' verloren, doch sollte bekannt werden, dass ich über meine Sünde gesprochen habe, würde ich zu einem gefallenen Engel werden. Und dann wäre ich nicht mehr wert als ein Dämon!

 

„'Gnade'?“

Valerie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Der Gedanke, dass Joan ihr letzten Endes wohl nur aus Eigennutz erschienen war, stieß ihr sauer auf. Was hatte all das zu bedeuten?

Zögerlich schritt sie in den Kreis zurück, um erneut zu versuchen, den Sammler auszupendeln.

 

Die 'Gnade' ist unsere heilige Kraft. Oder zumindest der größte Teil davon. Ohne sie können Engel das Reich Gottes nicht betreten. Verloren habe ich sie, da ich eines seiner Gesetze gebrochen habe. Verzeih mir, Valerie, dass ich dir dies alles vorenthalten habe. Aber ich bin verzweifelt. Je länger ich auf Erden verweile, desto mehr laufe ich Gefahr, als Gefallene zu enden.

 

Valerie nickte knapp zum Verständnis. „Und ich soll dir also dabei helfen?“

 

In dir brennt das Licht der Gerechtigkeit. Dich zu beschützen-

 

„Stopp!“, rief Valerie plötzlich mit erhobenen Händen, die sie weit von sich streckte. „Mehr will ich im Moment gar nicht wissen! Dass du mich angelogen hast, ist schon schlimm genug. Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um über dein Anliegen zu reden! Zuerst muss ich dir verzeihen. Und der erste Weg dorthin wäre, indem du mir hilfst, den Sammlerdämon zu finden! Er muss irgendwo hier sein!“

Sie kniete nieder und tippte mit dem Finger auf die Ostküste der USA und zog mit ihm einen Kreis um den südlichen Teil jener.

 

Vergib mir, Valerie, aber ich kann dir dabei nicht helfen! Ich habe dir bereits viel zu viel über die Techniken, einen Dämon aufzuspüren, verraten! Sofern es mir meine Kräfte erlauben würden, hätte ich dich längst zu ihm führen können, wenn auch-

 

„Wenn du mir nicht hilfst, sei still, ich muss mich konzentrieren!“, verlangte Valerie engstirnig und blätterte ein paar Seiten weiter, wo das von ihr gezeigte Gebiet vergrößert dargestellt war. Ihr war eine Idee gekommen. Vielleicht funktionierte der Zauber besser, wenn man das Suchgebiet einschränkte?

Sie hob das Amulett an und begann dann, es mit einer Bewegung aus dem Handgelenk im Kreis um den Teil der Karte drehen zu lassen. Nur einmal durfte man es bewegen. Danach musste man dem Zauber seinen Lauf lassen, sonst wirkte er nicht. Fand er das Ziel, würde das Amulett-

Da! Als habe eine unsichtbare Kraft daran gezogen, landete das Schmuckstück wie ein Magnet auf der Karte. Die unterste Spitze des Sterns darauf zeigte auf eine Ortschaft.

„Da muss es sein“, schloss Valerie zufrieden. „Hollow City!“
 

Bitte Valerie, denke darüber nach! Der Sammler ist eine der gefährlichsten Kreaturen auf diesem Planeten. Du kannst gar nicht ermessen, was es bedeutet, sich auf ihn einzulassen!

 

Valerie jedoch erhob sich ruckartig und ließ das Amulett auf die Dielen des Dachbodens niedersinken. „Was sollte das jemandem bedeuten, der sowieso alles verloren hat?“

 

~-~-~

 

Mit geschultertem Rucksack schwang Valerie ihr Bein über die blaue Yamaha und zog dabei den Reißverschluss ihres rot-schwarzen Motorradanzugs zu.

„Sorry Joan, aber für mich gibt es keinen Weg zurück. Nur einen nach vorn, denn die Dinge können auch nicht so bleiben, wie sie momentan sind“, meinte sie voller Entschlossenheit und setzte sich den schwarzen Helm auf.

 

Du bist diejenige, die entscheiden muss, welchen Weg du nimmst.

 

„Ich weiß.“

Valerie hatte eine ungefähre Idee, wie sie fahren musste, um nach Hollow City zu gelangen. Dennoch würde es Stunden dauern. Aber sie war von Hause aus sehr geduldig, die lange Fahrt würde sie nicht stören. Allein schon deshalb nicht, weil der Gedanke, dass der Sammler ihren Wunsch erfüllen konnte, ihr genug Kraft dafür gab.

 

Das Mädchen seufzte. Einen Blick auf die weiße Villa mit dem wunderschönen, bunten Garten und der Terrasse, die sich um das gesamte Gebäude zog, zurückwerfend, tat es ihr innerlich schon weh, dass sie mitten in der Nacht aufbrach. Ihrem Vater hatte sie davon nichts erzählt, denn sie wusste schließlich nicht, ob sie jemals zurückkehren würde. Nur einen Brief, der erklärte, dass sie sich auf eine womöglich lange Reise begeben habe, hatte sie ihm hinterlassen. Er musste vorerst genügen.

„Goodbye“, sagte sie schweren Herzens und trat in die Pedale, um unter lautem Motorgeheul die Kleinstadt Livington hinter sich zu lassen.

 

Und während sie ein tiefes Unbehagen in sich aufkeimen spürte, wusste sie auch, dass sie nun vorsichtig sein musste, was Joan of Arc anging. Denn Valerie bezweifelte nicht, dass noch mehr hinter jener und ihrer Geschichte steckte. Dinge, die sie möglicherweise gar nicht wissen wollte.

 

~-~-~

 

Die Wolkenkratzer im nächtlichen Hollow City spiegelten sich im Visier von Valeries Helm, während sie die Hauptstraße entlang fuhr. Für sie war dieser Ort eine Stadt, die niemals schlief, denn überall leuchteten Reklamen, Schilder und andere Objekte in grellen Farben. Selbst zu dieser späten Stunde sah man noch Leute auf den Straßen, der Verkehr war ebenfalls recht belebt für diese Uhrzeit.
 

Und während Valeries Ziel das Nobelviertel der Stadt war, hatte sie nur einen Gedanken. Den Collector zu finden, denjenigen, der womöglich ihren einzigen Wunsch erfüllen konnte. Dass sie einen Preis zu zahlen hatte, wusste die junge Frau sehr wohl. Und sie würde ihn zahlen, wenn sie damit bekam, was sie wollte. Egal, was dieser Preis auch war.

 

Sie bog in eine Straße ein, die sich weit vor ihr erstreckte und in einer leichten Kurve verlief. Die Grundstücke wurden von Villa zu Villa größer und prächtiger, genau wie die Bauten selbst. Kunstvolle Statuen, riesige Palmen und Rosenbüsche trugen einen stillen Wettkampf um den schönsten Garten aus. Hätte Valerie das zu jeder anderen Zeit spannend gefunden, interessierte sie der Prunk im Übermaß nun überhaupt nicht. Sie hatte nur eine Adresse im Kopf.

„Hausnummer 17“, murmelte sie in ihren Helm hinein.

Auf der Fahrt hatte sie es wie ein Schlag getroffen, der Straßenname und die Nummer waren mit einem Mal in ihren Kopf gewesen. Fast wie ein Ruf, dem sie folgen sollte.

 

Ebenjene Hausnummer 17 entdeckte sie schließlich und blieb mit dem Motorrad vor dem Grundstück stehen.

Zwar hatte sie aufgrund der hohen Hecke, welche den massiven Zaun aus schwarzen Pfeilstangen deckte, nur wenig Sicht auf das Gebäude, doch von der Einfahrt aus bekam man schon einen guten Überblick darüber, wie riesig die Villa war. Während man über die Einfahrt zu einer Unterführung in eine unterirdische Garage gelangte, war das mehrere Stockwerke hohe Anwesen so lang, dass mindestens zwei Familienhäuser hinein passten.
 

Zu Valeries Überraschung schoben sich die Flügel des Tores zur Seite und machten den Weg frei, obwohl sie doch noch gar nicht geklingelt hatte.

„Scheinbar werde ich erwartet“, meinte sie nicht weiter überrascht. Der Sammler musste sicher zu den Dämonen gehören, die stets bestens über die Vorgänge rund ums Weltgeschehen informiert waren. Was auch 'Kundschaft' mit einzuschließen schien. Woher sonst sollte sie die Eingebung, ihn hier zu finden, auch bekommen haben?

 

Ich warne dich ein letztes Mal, Valerie! Geh nicht dort hin! Der Collector wird dich sicherlich in eine Falle locken wollen! Sei vernünftig!

 

Joans Warnung ausschlagend, stellte Valerie ihre Yamaha an den Straßenrand ab, sicherte sie und schritt unbeirrt durch das Tor, welches sich hinter ihr automatisch wieder schloss. Über einen kleinen gepflasterten Weg kam sie an verschiedenen Engelsstatuen vorbei, die für sie blanker Hohn waren. Der Collector war ein Dämon und sollte Gott nicht so verspotten, dachte sie erbost, als sie an Rosensträuchern vorbeikam und schließlich die wenigen Stufen hinauf zum Haupteingang nahm.

Das Gebäude wirkte schon recht alt, war im viktorianischen Stil erbaut und machte generell einen gemütlichen Eindruck. Valerie hätte nie gedacht, dass Dämonen unter den Menschen lebten, gar in der Nachbarschaft wohnten. Ob einer der reichen Hausbesitzer hier wusste, was der Sammler tatsächlich trieb?

 

Als Valerie die Flügeltür erreichte, schwang auch sie einfach auf. Das Mädchen im rot-schwarzen Motorradanzug starrte jedoch in eine verlassene Eingangshalle, die überraschend schlicht wirkte. Zwar war ein feiner, roter Teppich ausgelegt worden, doch auf befremdliche Weise wirkte der Saal leer. Eine Treppe zu ihrer Linken führte hinauf zu einer Galerie, von der man einen guten Blick auf den Eingangsbereich hatte.

Verloren sah die junge Frau sich um, ehe eine schrille, quietschige Stimme aus ihrer unmittelbaren Umgebung sie aufschrecken ließ.

„Hey Süße, einmal nach unten sehen, bitte.“

Verdutzt leistete Valerie der Aufforderung Folge und neigte ihr Haupt. Mit einem erschrockenen Schrei wich sie zurück. „W-was bist du denn!?“

Vor ihren Füßen stand eine kleine, schwarz-violette Gestalt, deren zwiebelähnlicher Körper kaum bemerkbar flackerte. Weiße, überdimensional große, pupillenlose Augen und ein kugelrunder Schmollmund verzierten den Leib des Wesens, welcher nur aus diesem großen Kopf sowie kleinen Stummelarmen und -beinen bestand. An der Spitze der ovalen Figur thronte eine schwarze Welle, die wohl sein Haar darstellte.

„Was, du hast noch nie von mir gehört?“, flötete das Ding empört und hüpfte wütend auf und ab, wie ein Flummi. „Man nennt mich Orion, Herr der Finsternis, König der Unterwelt, Frauenversteher vom Dienst! Und ich sage dir, Mädel, was du brauchst, steht direkt vor dir!“
 

Er ist nur ein einfacher Schattengeist und nicht sehr gefährlich.

 

„Hi, Orion“, meinte Valerie zögerlich und starrte den Kleinen aus ihrem Visier heraus an. „Ich suche jemanden.“

„Klar tust du das, meine Hübsche! Sonst wärst du doch gar nicht hier, oder? Komm Baby, ich führe dich zu ihm. Wir können dann gleich noch einen Abstecher in eines der 45 Schlafzimmer machen, die wir hier zu bieten haben. Dann-“

„N-nein danke“, erwiderte Valerie auf das Angebot hin distanziert. „Bring mich einfach zum Collector, okay?“

Der Schattengeist ließ den Kopf hängen. „Langweilig! Aber schön, dafür werde ich schließlich bezahlt. Folgen Sie mir, gnädiges Fräulein!“

 

Er drehte sich um und watschelte mit seinen viel zu kleinen Beinen voran und führte Valerie so durch eine Vielzahl von Gängen, die alle in rot gehalten waren. Es war wie ein Labyrinth aus Tristesse, denn nirgendwo hing auch nur ein Bild oder etwas anderes, was einen Bruch in der Eintönigkeit der Einrichtung aufwies. Da waren nur aberdutzende Holztüren.

Und als sie und Orion nach einer Periode des einseitigen Schweigens vor so einer Tür stehen blieben, war Valerie doch sehr erleichtert. Denn Orion hörte sich offensichtlich gern reden und erzählte viel über die Geschichte des Hauses, was Valerie nur bedingt interessierte.

„Hier ist es. Der Chef wartet dort auf dich, Süße“, meinte der Schattengeist. „Und jetzt nimm den verdammten Helm ab, ich will wissen, wie du aussiehst!“

Valerie, die es ohnehin seltsam fand, dass er sie hübsch fand, ohne sie bisher richtig gesehen zu haben, kam seiner Aufforderung nach. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über beide Schultern, als sie den Helm abnahm.

„Heiliger Eselskot, ich bin verliebt!“, kreischte Orion und machte einen noch größeren Mund, was anatomisch bald gar nicht mehr möglich war.

„Hoffentlich ist der Collector nicht genauso …“, murmelte Valerie leise und wandte sich der Doppeltür zu, vor der sie standen.

 

Sie griff nach beiden Klinken und riss sie mit einem Schlag auf. Vor ihr erstreckte sich ein Speisesaal, in dessen Mitte ein langer Tisch quer zum Eingang stand. Direkt ihr gegenüber saß ein einziger Mann und dinierte tatsächlich noch so spät am Abend.

Valerie wurde plötzlich ganz unwohl zumute. „Ist er das?“

„Klaro, es sind immer die, die vom teuren Porzellan futtern“, meinte Orion und landete mit einem Satz auf ihrer Schulter.

Valerie erschrak, als sie ihn ansah und er breit grinste. „Darf ich mitkommen?“

„Wenn du unbedingt willst“, seufzte Valerie.

Sie kam sich vor wie Alice im Wunderland. Völlig fehl am Platze, redete sie tatsächlich mit einem Schattengeist auf ihrer Schulter …
 

Plötzlich erhob der Mann, welcher genau auf der Mitte der breiten Seite des Tisches speiste, sein Haupt. „Komm ruhig herein, ich beiße nicht.“

Erstaunt musste die Schwarzhaarige feststellen, dass der Sammler einen britischen Akzent besaß. Mehr noch, er wirkte äußerlich wie ein normaler Mensch. Noch recht jung schien er, von schlanker Gestalt, mit fein nach hinten gekämmtem, dunkelrotem Haar und einer Narbe auf der Wange. Am Leibe trug er einen schwarzen Markenanzug, gar eine Krawatte. Wie ein richtiger Geschäftsmann, so ging es ihr durch den Kopf.

Valerie verharrte, während sie ihn genau musterte.

 

Daraufhin legte er Messer und Gabel beiseite, tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab und ließ den Rest seines Fisches stehen. Stattdessen erhob er sich und machte eine einladende Geste. „Komm ruhig, Valerie, ich weiß bereits, warum du hier bist.“

Erstaunt erwiderte sie: „Du kennst meinen Namen?“

Mit seinen braunen Augen starrte er direkt in die ihren und nickte. „Natürlich. Wie könnte ich auch nicht, bist du schließlich der Schützling von Jeanne D'Arc.“

„Selbst das weißt du?“, erschrak Valerie und erinnerte sich daraufhin daran, mit wem sie es zu tun hatte. Er war immerhin der Sammler, einer der mächtigsten Dämonen auf diesem Planeten! Wesentlich ruhiger sagte sie schließlich: „Okay, dann sag mir jetzt erstmal deinen wahren Namen! Das wäre nur fair!“

„Bedaure“, entgegnete er mit einem Schulterzucken und lächelte entschuldigend, „doch den nenne ich niemandem. Nimm es bitte nicht persönlich, aber das ist einer meiner Grundsätze. Nummer zwei heißt übrigens, nie einen Gast schlecht zu behandeln.“

Er schwang den Arm aus und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. „Setz' dich doch. Wenn du hungrig bist, werden meine Köche dir umgehend zubereiten, was immer du begehrst.“

„Nein danke“, erwiderte Valerie steif, denn sie wollte gar nicht wissen, auf welche Weise hier gekocht wurde. Und womit. „Wenn du so viel weißt, dann dürfte dir auch nicht entgangen sein, was mit meinem Verlobten passiert ist. Und genau deswegen bin ich hier.“

„Dessen bin ich mir bewusst.“ Er nickte und legte seine Hände auf den Rand des Tisches. „Auch um deinen Wunsch. Nach Rache. Nach Seelenfrieden. Nach Glück. Ich wusste es in dem Moment, als du entschieden hast, mich aufzusuchen. Ich kann dir geben, was du begehrst, das weißt du. Weißt du aber auch, was die Konsequenzen sein werden, wenn ich dir den größten unter ihnen erfülle?“

Valerie atmete tief durch. „Ja.“

Der Sammler lächelte zufrieden. „Das ist gut, denn damit ersparen wir uns beide einiges an unnötigen Diskussionen.“

Fordernd trat die junge Frau nun einen Schritt vor, während Orion alles gespannt beobachtete. „Wirst du ihn mir erfüllen?“

„Vielleicht?“ Er nahm ein Weinglas vom Tisch und nahm einen Schluck daraus, ehe er sich wieder seinem Gegenüber widmete. „Doch um zu prüfen, ob es richtig war, mich von dir finden zu lassen, musst du erst einen von mir auferlegten Test bestehen. Siehst du diesen Schattengeist auf deiner Schulter?“

„Ja.“ Valeries Herz trommelte wild in ihrer Brust.

 

Test? Sie hatte fast schon damit gerechnet, nicht ohne Weiteres ihren Willen Wirklichkeit werden zu sehen, doch ebenso wusste sie, dass womöglich die schwerste Prüfung ihres Lebens vor ihr stand. Der Collector mochte anders sein, als sie ihn eingeschätzt hatte, viel höflicher und gesitteter als ihr Bild eines mächtigen Dämons. Doch nichtsdestotrotz würde er seine Dienste nicht jedem anbieten, so viel stand fest.

„Was ist mit Orion?“

„Wenn du ihn sehen kannst, bedeutet das, dass du meiner Zeit im Grunde nicht würdig bist. Allerdings werde ich nicht näher darauf eingehen und dir dennoch eine Chance gewähren.“ Er lächelte freundlich, was aber eindeutig aufgesetzt war. „Besiegst du meinen Diener in einem Duell, werden wir verhandeln. Verlierst du … nun ja, lassen wir diesen Teil erstmal offen. Deine Fantasie wird sich schon etwas in dieser Hinsicht einfallen lassen.“

 

Der Sammler setzte sich wieder an seinen Stammplatz und wartete mit dem Weinglas in der Hand Valeries Antwort ab.

Jene schloss die Augen und rekapitulierte, was er ihr gesagt hatte. Sollte sie verlieren, würde ihr ein schreckliches Schicksal widerfahren. Davor hatte schon Joan sie gewarnt. Noch hatte sie die Wahl, doch was würde es bringen, wenn sie so kurz vor dem Ziel aufgab? Nichts! Sie war bereit, alles zu geben, nur damit er ihr ihren einzigen Wunsch erfüllen konnte. Und da kein Wunsch ohne einen Nachteil daher kam, wusste sie längst um die Gefahr, in der sie schwebte, wenn sie ihren Weg nun fortsetzte.
 

„Ich werde mich der Herausforderung stellen“, sagte sie und öffnete die Lider wieder. Ein entschlossener Blick stand in ihren braunen Augen. „Außerdem kann ich es mir nicht leisten zu verlieren. Deswegen werde ich es auch nicht! Was immer mich also in diesem Fall erwartet, es ist mir gleich!“

Der Collector-Dämon setzte sein Glas ab und faltete die Hände ineinander. „Eine gute Antwort. Siehst du, Orion? Selbst die, die dich wahrnehmen können, haben nicht selten einen verborgenen Wert.“

Der Schattengeist auf Valeries Schulter zog beleidigt einen Schmollmund. „Sag das nicht so, als wären alle Menschen, die mich sehen können, schlecht! Die Biene hier ist voll okay!“

Und während der Sammler nachdenklich nickte, fragte Valerie sich, ob man Schattengeister nur sehen konnte, wenn man innerlich verdorben war. Was im Umkehrschluss bedeuten müsste, dass sie ein schlechter Mensch war. Lag das an ihrem Wunsch?

Valerie schüttelte den Kopf. Nein, das stimmte nicht! Sie versuchte immer, jedem, dem sie begegnete, freundlich und gerecht gegenüber zu handeln. Außerdem hatte sie Joan an ihrer Seite, eine Botin Gottes. Eine gefallene, lügende Botin …

Dennoch musste es einen anderen Grund geben, warum anscheinend nicht jeder Orion sehen konnte!

 

„Ich bin bereit“, meinte sie daraufhin. „Zwar weiß ich nicht, was es bedeutet, dass ich Orion sehen kann, aber nichtsdestotrotz werde ich mich als würdig erweisen, mit dir Geschäfte machen zu dürfen, Collector!“

Wieder nickte der rothaarige Brite. „Das wird sich noch zeigen. Nun denn, Orion. Du wirst die Prüfung abnehmen. Duelliere dich mit Valerie.“

Orion sprang von Valeries Schulter. „Stets zu Diensten, Cheffe!“

Dabei macht er verschiedene heldenhafte Posen mit seinen Stummelärmchen, ehe er völlig unerwartet aus seinem großen Mundwerk eine Duel Disk zog und sie anlegte.

Valerie, die bisher versucht hatte, ihre Emotionen weitestgehend zu unterdrücken, musste amüsiert darüber kichern. „Du bist wirklich putzig!“

„Putzig? Putzig!?“ Anstatt sich aber über Valeries Kompliment zu freuen, stampfte der Schattengeist wütend auf. „Welch eine Beleidigung! Ich und putzig!? Sorry Schwester, aber dafür werde ich dir in deinen fetten Arsch treten, bis du einmal um den Planeten geflogen bist!“

„W-was!?“ Vor Schreck um den plötzlichen Gesinnungswandel ließ Valerie glatt ihren Helm fallen. „I-ist mein Hintern wirklich zu dick … ?“

„Dick? Ein Wunder, dass der kein eigenes Gravitationsfeld hat! Ich und putzig? Ich bin die heißeste Verführung, seit es Jauchegrubenbäder gibt!“ Plötzlich grinste er lüsternd, was bei seiner Erscheinung äußerst merkwürdig aussah. „Aber vielleicht kann ich deine Kehrseite nach dem Duell als Trampolin benutzen? Bitte, bitte, bitte!“

„N-nein!“ Empört stemmte Valerie ihre Hände in die Hüften. Ihr Blick verhärtete sich, da sie das Herumgealbere satt hatte. „Lass uns anfangen, ich möchte keine Zeit verlieren.“

„Entscheide weise, ob du dich auf das einlassen willst, was dir bevorsteht“, sprach der Sammler, welcher von seinem Platz aus alles stumm beobachtet hatte. „Wenn du einmal diesen Pfad eingeschlagen hast, kannst du ihn nie wieder verlassen. So funktioniert das, was die Menschen als Schicksal bezeichnen.“

Auch wenn seine Worte Valerie verwirrten, hatte sie ihre Entscheidung längst getroffen. Den weiten Weg hierher hatte sie nicht umsonst auf sich genommen. „Ich will meinen Wunsch erfüllt sehen, egal was es mich kostet! Also duellieren wir uns, Orion!“

„Gerne doch, Schätzchen“, flötete der Schattengeist nun wieder friedfertig,

 

Kurz darauf hatten die beiden sich vor je einem Ende des langen Tisches aufgestellt, sodass der Sammler direkt in der Mitte zwischen ihnen saß und alles gut beobachten konnte.

Valerie hatte inzwischen die blaue Duel Disk aus ihrem Rucksack genommen und angelegt. Auch wenn sie Orion als sehr niedlich empfand, würde sie nicht den Fehler machen und den Schattengeist unterschätzen.

Schließlich riefen beide: „Duell!“

 

[Valerie: 4000LP / Orion: 4000LP]

 

Erstaunt stellte Valerie fest, dass Orions Karten, als jener sein Startblatt zog, tatsächlich Spezialanfertigungen sein mussten. Schließlich konnte ein knapp 30 Zentimeter großer Schattengeist mit Stummelarmen kaum normale Karten halten.

„Ich fange an“, flötete Orion bester Laune und zog eine weitere Karte. Nur ganz schwer konnte man erkennen, dass er tatsächlich kleine Fingerchen besaß.

Es war grotesk, dachte Valerie, während ihr Gegner bereits ein Monster aus seinem Blatt hervor nahm. Sie duellierte sich mit einem Dämon, nur um mit einem weiteren einen Handel eingehen zu können. Dabei dachte sie bisher, im Dienste des Herren zu stehen. Wie war es nur dazu gekommen? Warum konnten die Engel ihr nicht stattdessen helfen?

Doch Orions Ankündigung riss sie aus ihren Gedanken. „Ich aktiviere den Effekt von [The Fabled Nozoochee] aus meiner Hand! Indem ich ein Fabled-Monster abwerfe, kann ich ihn als Spezialbeschwörung rufen! Lass' krachen, Buddy!“

Vor ihm tauchte eine gelbe, voluminöse Schlange auf, die einen blauen Helm trug. Mit ihren Kulleraugen war sie genauso groß wie Orion, als sie sich aufbäumte. Dabei hielt sie einen blauen Dämon umwickelt, der kugelrund war und klitzekleine Flügel besaß.

 

The Fabled Nozoochee [ATK/1200 DEF/800 (2)]

 

„Tihihihi“, kicherte Orion. „Aber das war noch nicht alles! Da ich [The Fabled Cerburrel] abgeworfen habe, kann ich ihn nun von meinem Friedhof beschwören! Partytime!“

Neben ihm und der dicken Schlange erschien ein Hundewelpen mit rotem Fell. Doch statt einem, besaß dieses gleich drei Köpfe und wurde von einem anderen, grauen Kugeldämon an einer Kettenleine geführt.

 

The Fabled Cerburrel [ATK/1000 DEF/400 (2)]

 

„Zwar könnte ich durch Nozoochees Fähigkeiten noch ein weiteres Fabled-Monster beschwören, doch ich habe kein passendes auf der Hand“, erklärte Orion weiter. Dann grinste er scheinheilig. „Aber keine Sorge, Püppchen, ich werde schon dafür sorgen, dass du eine Show siehst, die du nie vergessen wirst!“

Valerie hingegen wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Die seltsamen Kreaturen ihres Gegners verhießen zumindest nichts Gutes, denn sie erinnerten die Schwarzhaarige entfernt an die Dark World-Monsterreihe, die als sehr gefährlich in der Profiszene galt.

Und als wäre das das Stichwort gewesen, hüpfte Orion plötzlich auf der Stelle. „Jetzt geht’s ab, Leute! Ich stimme meinen Stufe 2-Empfänger Cerburrel auf meinen Stufe 2 So-was-von-Nicht-Empfänger Nozoochee ein!“

„Was!?“ Valerie wich zurück. „Du willst ein Synchromonster rufen? Aber die Stufen deiner Monster sind doch so niedrig!“

„Ganz genau, Herzchen“, antwortete Orion stolz, ließ aber dann den großen Kopf hängen. „Leider hab ich gerade keinen coolen Spruch auf Lager, deswegen: Synchro Summon! Zeig dich, [The Fabled Unicore]!“

Lautes Wiehern ertönte. Die Flügeltüren des Speisesaals schwangen auf und ein Einhorn kam in den Raum hinein galoppiert. Es zog an Orion vorbei, der plötzlich in die Höhe sprang und auf dem Sattel des Schimmels landete. So drehten sie zusammen eine Runde um den Esstisch, ehe sie dort Halt machten, wo der Schattengeist sich soeben noch duelliert hatte.
 

The Fabled Unicore [ATK/2300 DEF/1000 (4)]

 

„Ich habe noch nie ein Synchromonster wie dieses gesehen“, gab Valerie erstaunt zu.

Orion gluckste von seinem neuen Sitzplatz aus. „Mit mir erlebt man jeden Tag etwas Neues, Süße! Leider kann ich keine Rücksicht auf dich nehmen, da der Boss sonst böse wird! Deswegen setze ich eine Karte verdeckt und beende meinen Zug!“

Mit seiner kleinen Hand schob er die Minikarte in seine Duel Disk, welche daraufhin wie gewohnt in der üblichen Größe neben Unicore als Hologramm erschien.

 

Wortlos zog Valerie daraufhin und überlegte, wie sie wohl am besten vorgehen sollte. Keines der Monster auf ihrer Hand war stark genug, um dieses Einhorn zu besiegen. Allerdings gab es da dennoch eine Möglichkeit, eine passende Antwort auf Unicore zu beschwören.

„Ich rufe [Gishki Abyss]“, rief sie entschlossen und ließ daraufhin einen Haimann erscheinen, der auf zwei Beinen stand und eine Stoffhose trug.

 

Gishki Abyss [ATK/800 DEF/500 (2)]

 

Valerie streckte den Arm aus. „Wenn er beschworen wird, kann ich mir ein beliebiges Gishki-Monster von meinem Deck auf die Hand nehmen, solange sein Verteidigungswert höchstens bei 1000 liegt!“

Anschließend griff sie nach ihrem Deck und nahm es aus der Duel Disk. „Und meine Wahl fällt auf das Ritualmonster [Evigishki Gustkraken], dessen Verteidigung genau an der Höchstgrenze liegt!“

Sie zeigte die blau umrandete Karte vor, ehe sie ihr Deck wieder in den Apparat an ihrem Arm schob, woraufhin dieses automatisch durchgemischt wurde.

Zufrieden betrachtete Valerie ihre sechs Handkarten. Gustkraken war mit 2400 Angriffspunkten stärker als Unicore! Also nahm sie den zur Beschwörung benötigten Ritualzauber aus ihrem Blatt und rief: „Jetzt aktiviere ich [Gishki Aquamirror]!“ Vor ihr erschien ein kreisrunder Spiegel, dessen Umrandung aus purem Gold gemacht war. „Damit-“

„Und ich meine verdeckte Falle“, unterbrach Orion sie, „[Reckless Greed]! Damit darf ich die Karten schon jetzt ziehen, welche ich sonst erst in meinen nächsten beiden Draw Phasen bekommen würde! Allerdings muss ich jene dann auch überspringen!“

Gesagt, getan. Er zog zwei Karten von seinem Deck und kaum hatte er sein Blatt auf diese Weise aufgefüllt, zersplitterte Valeries Zeremonienspiegel plötzlich in tausend Teile. Jene stieß erschrocken einen Seufzer aus. „Wie das!?“

„Tehehe!“ Orion hüpfte auf dem Rücken seines Einhorns. „Du hast gerade Bekanntschaft mit Unicores besonderer Fähigkeit gemacht! Wenn unsere Handkartenanzahl identisch ist, wird jeder deiner Karteneffekte automatisch annulliert!“

Erschrocken blickte Valerie zuerst auf ihr Blatt, welches nach der Aktivierung ihres Zaubers fünf Karten zählte, dann auf Orions Hand, die nach seiner Fallenkarte ebenfalls fünf Karten betrug.

„Oh nein“, murmelte sie und erkannte, dass ihr Gegner so etwas vermutlich schon die ganze Zeit geplant hatte. Ohne den Spiegel konnte sie ihr Ritualmonster nicht rufen, was bedeutete, dass ihre Offensive noch vor dem eigentlichen Akt zerschlagen worden war. Jetzt hieß es umdenken. Dennoch würde sie so leicht nicht klein beigeben! „Nettes Manöver! Aber so leicht lasse ich mich nicht beeindrucken! Ich setze zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug!“

Vor ihren Füßen erschienen die beiden Fallenkarten, denn mit den gesetzten Karten konnte sie ihre eigene Handkartenzahl verringern und so den Annullierungseffekt von [The Fabled Unicore] umgehen. Und Valerie war sich dabei sicher, dass sie Orion auf diese Weise besiegen konnte.

 

Jener zog mit seinem kleinen Händchen und gluckste von seinem Reittier aus vergnügt. „Man, für mein erstes echtes Duell bin ich echt gut! Was sagst du, Str- Meister?“

„Du schlägst dich gut, Orion“, antwortete der Sammler und beobachtete vom Esstisch aus alles mit einer nicht zu verleugnenden Neugier.

Währenddessen geriet Valerie ins Stocken. „E-erstes Duell? S-soll das heißen-?“

„Jop.“ Orion nickte, wobei er mit seiner Stirn doch glatt gegen Unicores Mähne knallte und aufschrie. Da seine Arme zu kurz waren, um an die schmerzende Stelle zu gelangen, blieb ihm nichts außer zu jammern und mit Kullertränchen in den Augen weiterzuerzählen. „Ich wurde vom Boss persönlich trainiert! Das heißt, ich bin der zweitbeste Duellant in diesem Zyklus.“

„Du redest zu viel, Orion“, mahnte der Rothaarige ruhig. „Fahre lieber fort.“

„Ist gebongt!“

 

Indes wunderte sich Valerie, was Orion mit Zyklus meinte. Etwa die Gefolgschaft des Sammlers? Wenn er sich also wirklich das erste Mal duellierte, dann gab es nur zwei Alternativen. Entweder war er ein ausgemachtes Naturtalent. Oder er war der einzige Diener des Sammlers, wenn sein bester Mann ein unerfahrener Grünschnabel war. Andere Dämonen hatte Valerie in der riesigen Villa nicht gesehen, was sie verwunderte. Nichtsdestotrotz mahnte sie sich zur Vorsicht. Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass der Schein trügen konnte!

 

„Wie du sicherlich weißt, Val – Ich darf dich doch Val nennen, oder? Sag mir, dass ich dich Val nennen darf!“

Die junge Frau nickte ein wenig genervt von Orions Gedankensprung. „Wenn du willst …“

„Okay, Val! Val-chan. Nein, nein, nein! Val-sama! Ja, Val-sama, das ist es! Ohhhh, du erinnerst mich an dieses hübsche Ding aus diesem einen Manga! Du musst wissen, ich bin auch ein Otaku!“

Valerie, die in der Tat -nicht- wusste, was ein 'Otaku', oder ein 'Chan', oder ein 'Sama' war, runzelte bereits verärgert die Stirn und breitete die Arme aus. „Interessant, Orion, wirklich. Aber könntest du jetzt vielleicht …?“

„Schon gut“, maulte Orion enttäuscht von Valeries offensichtlichem Desinteresse und setzte seine ursprüngliche Erklärung fort. „Also wie du weißt, darf ich durch den Effekt von [Reckless Greed] jetzt für zwei Runden nicht in meiner Draw Phase ziehen. Aaaaaaaaaaaber! Ich kann dennoch ein Monster beschwören! Also lass es krachen, [The Fabled Rubyruda]!“

Ein seltsamer, ungewöhnlich großer Vogel mit je zwei Fangzähnen in seinem überraschend breiten Schnabel erschien neben dem Einhorn, auf dem Orion ritt. Es wirkte wie eine Krähe, die im Stile japanischer Bildkunst gezeichnet worden war. Aus seinem Rücken ragte ein kleiner Thron, der mit Lederschnallen an seinem Leib befestigt war, welcher zufälligerweise genau Orions Größe besaß.

 

The Fabled Rubyruda [ATK/1100 DEF/800 (4)]

 

Plötzlich huschte ein Grinsen über Valeries Gesicht. „Perfekt! Genau das habe ich erwartet! Durch deine Beschwörung hast du meine Fallenkarte ausgelöst! [Torrential Tribute]! Und mit ihr wird das gesamte Spielfeld nun von Monstern befreit!“

Wie aus dem Nichts erschien von Valeries Spielfeld aus ein gewaltiger Wasserstrahl, der direkt auf Orions Monster abzielte. Doch plötzlich wirkte ihm ein Wirbelsturm entgegen.

„Was!?“, rief Valerie erstaunt.

„Tehehe, genau das habe -ich- erwartet, Val-sama-chan! Ohhhh ich kann mich einfach nicht entscheiden!“ Orion grinste über beide Backen wie ein Honigkuchenpferd. „Du bist einfach zu süß, meine hübsche Biene! Aber leider muss ich meine Pflicht tun! Und das heißt, dass ich von meiner Hand den Schnellzauber [Mystical Space Typhoon] aktiviere und damit deine andere verdeckte Karte zerstöre!“

Mühelos löste der Zyklon den Wasserstrahl auf und fegte nebenbei Valeries gesetzte [Poseidon Wave]-Fallenkarte vom Spielfeld. Diese verstand einen Moment lang nicht, wieso keines der Monster bei diesem Akt ums Leben gekommen war. Doch dann zählte sie eins und eins zusammen, als sie einen Blick Orions Blatt warf. Genau wie sie besaß auch er drei Handkarten, was bedeutete, dass [The Fabled Unicore] jeden ihrer Effekte annullierte.

„So ein Mist“, fluchte sie laut. Der liebestolle Gnom war gar nicht so dumm! Mit Schnellzaubern seine Kartenzahl zu manipulieren war ein geschickter Winkelzug, gegen den sie auch nichts unternehmen konnte!

„Sorry Püppchen“, sagte der Schattengeist niedergeschlagen. Dabei streckte er seinen Arm aus. „Das muss jetzt sein, der Cheffe will es so! [The Fabled Rubyruda], hau drauf auf [Gishki Abyss]! Unicore, Cursed Horn Attack, versenk' dein Horn in- Nein, nein, nein, lieber nicht! Gib Val-sama-chan-sama lieber nur einen sanften Tritt!“

Kaum hatte Orion seine Battle Phase verkündet, schoss der Garuda-Vogel bereits auf Valeries Haimenschen zu und rammte ihn, sodass jener explodierte. Valeries schwarzes Haar wehte wild durch die Luft, als jene von der Schockwelle erfasst und mit erhobenen Armen ein Stück zurückgeworfen wurde.

 

[Valerie: 4000LP → 3700LP / Orion: 4000LP]

 

Aber ehe sie sich versah, galoppierte bereits das Einhorn auf sie zu. Orion, der auf dem Tier saß, hielt sich ängstlich die Augen zu, offenbar um nicht mit ansehen zu müssen, wie Valerie angegriffen wurde. Denn das weiße Reittier machte vor ihr eine Kehrtwende und stieß mit voller Wucht seine Hinterläufe in ihre Richtung. Doch das Mädchen konnte den Angriff mit ihrer Duel Disk parieren, auch wenn sie das im Endeffekt auf ihr Hinterteil warf.

„Argh!“

„Bienchen, ist alles in Ordnung!?“, kreischte Orion und drehte sich auf dem Sattel um, während sein Ross zurück zur anderen Spielfeldseite trabte.

„Ich bin okay, danke“, murrte Valerie ärgerlich. Doch ihre unterschwellige Wut galt weniger Orion, als ihr selbst, spielte schließlich sie wie eine Anfängerin und nicht ihr Gegner.

 

[Valerie: 3700LP → 1400LP / Orion: 4000LP]

 

Valerie rappelte sich stöhnend auf. Es ging hier um ihren Wunsch und sie duellierte sich wie eine lausige Amateurin! Wie jemand von Anyas Schlag! Warum hatte sie nicht kommen sehen, dass Orions Monster mit gesetzten Karten allein nicht beizukommen war!?

Sie biss sich auf den Daumen und überlegte, wie sie aus dieser Situation am besten wieder herauskam.

„Ich spiele noch dieses kleine Kärtchen verdeckt und beende meinen Zug“, sprach Orion und ließ hinter seinen Monstern eine Fallenkarte erscheinen.
 

„Mein Zug“, rief Valerie entschlossen und zog mit Schwung. Dabei fühlte sie etwas in sich pulsieren, wie eine unsichtbare Kraft, die ihr beistand. „Was …?“

 

Fürchte dich nicht, Valerie! Ich stehe dir bei! Auch wenn ich nicht gutheißen kann, was du hier tust, bin ich dennoch entschlossen, dich zu beschützen. Warte noch ein wenig, dann wird sich dir meine ganze Kraft entfalten.
 

Valerie nickte. „Danke Joan! Ich verlasse mich auf dich!“

Auch wenn sie ihrem Schutzengel insgeheim mit Skepsis begegnete. Aber solange dieser nichts getan hatte, um den Rest von Valeries Vertrauen zu verlieren, würde sie nichts unternehmen. Denn wie hieß es doch? In dubio pro reo.

Sie betrachtete ihr Blatt, das nun aus zwei Zauberkarten und dazu noch dem Ritualmonster [Evigishki Gustkraken] und dem Effektmonster [Gishki Marker] bestand. Dann blickte sie herüber zu Orion, der seinen alten Platz angenommen hatte. Valerie war sich sicher, dass seine gesetzte Karte ebenfalls mit Handkartenmanipulation zu tun haben musste. Bestimmt erwartete er, dass sie etwas ausspielte, damit er es im Anschluss annullieren konnte.

„Hmm“, überlegte sie laut. Würde sie jetzt eine Karte benutzen, hätte sie drei Handkarten. Orion besaß momentan zwei. Das bedeutete, dass er mit seiner Falle vermutlich genau einmal nachziehen durfte! Und genau hier konnte sie ansetzen, erkannte Valerie.

„Ich setze diese zwei Karten verdeckt“, rief sie und schob ihre Zauber in die entsprechenden Zonen ihrer Duel Disk, damit sie vor ihren Füßen erschienen. „Dann rufe ich [Gishki Marker]!“

Sie knallte das Monster auf den Apparat an ihrem Arm. „Da ich nach seiner Beschwörung nur noch eine Handkarte habe und du zwei, kannst du unmöglich mit [The Fabled Unicores] Effekt den von meinem Marker annullieren!“

„Häh!? Unfair!“, protestierte Orion wütend und sprang auf und ab.

Gleichzeitig tauchte vor Valerie ein neues Unterwasserwesen auf. Dieses war eine humanoide Gestalt mit dem Kopf eines Tintenfisches. In seinen Händen hielt die rostfarbene Kreatur eine Pike, die stark an einen Dreizack erinnerte.

 

Gishki Marker [ATK/1600 DEF/1200 (4)]

 

Valerie griff mit entschlossener Mimik nach dem Friedhofsschacht ihrer Duel Disk. „Wenn [Gishki Marker] beschworen wird, erhalte ich eine Gishki-Ritualmonster- oder Zauberkarte von meinem Friedhof.“

Mit Mittel- und Zeigefinger schnappte sie sich das gewünschte Zielobjekt und drehte es auf Kopfhöhe zwischen ihren Fingern um. Es war [Gishki Aquamirror]. Und kaum eine Sekunde später hatte sie ihn verdeckt ausgespielt, um weniger Handkarten zu besitzen als Orion. Das musste sie auch, wenn sie eine ihrer anderen gesetzten Karten ungehindert aktivieren wollte. Mit erhabenem Gesichtsausdruck schwang sie den Arm aus, sodass die mittlere ihrer drei verdeckten Karten aufsprang.

„[Monster Reborn]! Damit reanimiere ich ein beliebiges Monster von unseren Friedhöfen!“

Orion blies seine Wangen so stark auf, dass er regelrecht anschwoll. „Nicht auch noch das! Süße, übertreib' es doch nicht gleich!“

„Ich werde mich nicht wegen dir zurückhalten“, erwiderte Valerie jedoch stur, „ganz egal wie putzig du bist! Das Monster, das ich wiederbeleben will, ist [Gishki Abyss]! Und dank seines Effektes kann ich mir [Gishki Vanity] aufs Blatt holen, da dieser weniger als 1000 Verteidigungspunkte besitzt! Erscheine!“

Genau das tat der Haimensch auch, als er vor der schwarzhaarigen Motorradfahrerin auftauchte.

 

Gishki Abyss [ATK/800 DEF/500 (2)]
 

Anschließend schob sie die gesuchte [Gishki Vanity]-Karte in den Friedhofsschlitz. „Indem ich [Gishki Vanity] abwerfe, kann ich für diesen Zug verhindern, dass du mit deinen Effekten auf die Aktivierung oder Beschwörung von Gishki-Ritualen reagierst!“

Hinter ihr flimmerte kurzzeitig die Silhouette eines schwarzhaarigen Mannes in einem Priestergewand auf. Damit besaß Valerie nun wieder nur eine Handkarte.

 

Jene ließ plötzlich den Kopf hängen. „Es tut mir leid, Orion. Ich mag dich, wirklich …“

Mit einem Ruck sah sie auf, wobei Tränen in ihren Augen standen. „Aber ich weiß nicht, was ich tun soll! Seit er weg ist, bin ich … alles was mir bleibt, ist … bitte versteh das!“

„Valerie“, murmelte der Schattengeist mitfühlend. Er seufzte schwer und ließ nun ebenfalls den Kopf hängen. „Verstehe schon. In dem Fall kann der große Orion wohl einfach nicht nein sagen. Auch wenn ich das eigentlich nicht darf. Aber … Ich gebe auf-“

„Tue deinen Job, Orion. Sie ist nicht hier, um bemitleidet zu werden“, wies sein Meister ihn tonlos an.

„Aber-“

„Er hat recht, Orion! Ich weiß das zu schätzen“, beteuerte sie. „Aber wenn ich das hier nicht aus eigener Kraft schaffe, wie soll ich dann das packen, was noch bevorsteht?“ Valerie breitete die Arme aus. „Ich bin nicht stark! Deswegen muss ich es werden! Und dazu brauche ich euch. Und … diesen Wunsch. Aber diesen muss ich mir verdienen, erarbeiten!“

Nachdenklich sah der kleine Dämon von seinem Reittier auf. „Ist es dir denn so ernst damit, Val? Was kann denn so wichtig sein, dass du ausgerechnet hierher kommst?“

„Vertraue mir“, meinte das Mädchen und eine Träne fiel hinab auf den Boden. „Es ist wichtiger als mein eigenes Leben. Also bitte … keine vorschnellen Entscheidungen, okay? Tu, was du tun musst!“

Orion nickte zögerlich. „Kapiert.“
 

Valerie atmete tief durch. Nein. Der Kleine mochte zwar ein Möchtegerncassanova und Lüstling sein, aber im Grunde seines Herzens kein schlechter Kerl. Warum würde er für sie verlieren wollen, obwohl sie sich kaum kannten? Er war doch ein Dämon, die laut Joan kein Mitgefühl kannten. Oder war er gar etwas ganz anderes? Allerdings wusste sie, dass sie das wohl nie erfahren würde.

Und sie hatte etwas anderes zu tun.

 

„Okay“, meinte sie leise und wischte sich das Nass aus den Augenwinkeln. „Mir geht’s gut, wir können weitermachen. Sorry, dass ich mich habe gehen lassen.“

„Es spielt keine Rolle. Deine Gefühle haben dich hierher gebracht, entschuldige dich also nicht dafür“, meinte der Sammler mit unlesbarem Gesichtsausdruck und verschränkte an seinem Tisch sitzend die Arme. „Bedenke, dass ich nicht gerne angelogen werde. Auch nicht, wenn es um die Gründe geht, die dich dazu treiben, mich um einen Gefallen zu bitten. Zwar weiß ich längst, was du begehrst, doch werde ich es dir nur gewähren, wenn du aufrichtig bist. Beweise das in diesem Duell. Mehr verlange ich nicht.“

Mit einem Nicken zeigte Valerie, dass sie das genauso sah. „Das werde ich!“
 

Das gesagt, besah sie ihre Duel Disk. Sie besaß noch zwei verdeckte Karten und die Monster [Gishki Marker] und [Gishki Abyss]. Alles war bereit.

„Jetzt aktiviere ich ihn!“, rief sie und zog dabei eine Zauberkarte aus dem dazugehörigen Schlitz ihrer Duel Disk, um besagte Magie in die Höhe zu halten. „[Gishki Aquamirror]! Ich biete als Opfer meine beiden Monster an, deren Stufen zusammen 6 ergeben. Dies wird benötigt, um [Evigishki Gustkraken] zu beschwören, die ebenfalls Stufe 6 ist! Erwache aus der Tiefe des Ozeans!“

In blauen Flammen lösten sich Valeries Monster auf. Unter ihnen bildete sich ein Pentagramm, eingelassen in einem leuchtenden Symbol, das in seiner Form dem Ritualspiegel glich, welcher seinerseits inmitten des Pentagramms auftauchte. In jenem Spiegel zeigten sich kurz die Reflexionen der geopferten Monster, ehe er zersprang und der gesamte Zirkel zu einer Wasserlache wurde. Und aus dieser wiederum entstieg schlagartig eine junge, rothaarige Frau, deren Unterleib der eines gewaltigen, schwarzen Kraken war.

 

Evigishki Gustkraken [ATK/2400 DEF/1000 (6)]

 

„Boah, ist die geil!“, flötete Orion beim Anblick der verruchten Meereshexe mit großem Trötenmund. Doch ihm verging der Spaß, als Valeries Monster plötzlich zwei seiner Tentakel vorschnellen ließ, welche den Schattengeist umwickelten und von seinem Reittier empor hoben.

„Gustkraken lässt mich bis zu zwei deiner Handkarten ansehen, um anschließend eine davon zurück in dein Deck zu schicken“, erklärte Valerie.

Und während Orion sich unter Ächzen, Stöhnen und Fluchen wehrte, tauchten unter ihm vor seinem treuen Schlachtross die Abbilder seiner beiden Handkarten auf. [Card Destruction] und [The Fabled Catsith] hießen sie, Zauber- und Monsterkarte respektive.

Und da Valerie wusste, wie verhängnisvoll Erstere in Orions Händen sein mochte, entschied sie sich mit einem Fingerzeig direkt dafür, jene zu entsorgen. Der Zauber verschwand und Orion wurde fallengelassen, plumpste auf [The Fabled Unicore].

„Autsch! Kein Wunder, dass Arielle beliebter ist als du, blöde Ziege!“, fluchte er dabei in Gustkrakens Richtung.

Valerie musste kichern. „Entschuldige, Orion. Aber ich glaube, sie wird jetzt noch einmal in deiner Gunst sinken! Gustkraken, vernichte [The Fabled Unicore]! Luring Bar!“

Die Meereshexe stimmte mit schriller Stimme ein Lied an und schlug dabei mit ihren Tentakeln im Takt auf ihren Gegner ein. Orion, der sich die nicht existierenden Ohren zuhielt, schaukelte unter der Prügel, die sein Ross bezog, hin und her. Schließlich bäumte es sich auf und explodierte. Im hohen Bogen flog Orion gegen die Wand, prallte wie ein Flummi ab und steuerte auf den länglichen Esstisch zu. Wie eine Kugel rollte er um das halbe Buffet herum, ehe er vor dem Teller des Sammlers auf dem Bauch rutschend zum Stoppen kam. Und während er sein Gesicht in die schneeweiße Tischdecke drückte, hob er einen seiner Stummelarme und rief er mit belegter Stimme: „Nichts passiert …“

 

[Valerie: 1400LP / Orion: 4000LP → 3900LP]

 

„Da ich keine Handkarten mehr habe, beende ich meinen Zug jetzt“, meinte Valerie und warf besorgt einen Blick auf Orion, der mit einem Hüpfer auf die Beine kam und sich torkelnd an eine Weinflasche lehnte. „Alles in Ordnung?“

„Mir geht’s fast gut …“, meinte der Schattengeist noch immer benommen. Dabei verlagerte er sein Gewicht unglücklich und brachte so fast die Flasche zum Umkippen. Allerdings hielt er sie aufgeschreckt mit seiner ganzen Kraft am Hals fest, sodass das Schlimmste gerade noch verhindert werden konnte. Sollte man zumindest meinen …

„Orion!“, brüllte der Sammler plötzlich und zeigte mit geweiteten Augen auf die Tischdecke. „Siehst du das!? Siehst du das da!? DA!“

Sein Diener blinzelte verwirrt und sah an der Flasche vorbei. Er bemerkte den kleinen, roten Punkt, auf den sein Herr aufgebracht deutete. Ein Weinfleck, der durch die Erschütterung entstanden war. „Oh nein …“

„Doch! Sieh, was du getan hast! Die können wir jetzt wegschmeißen! Dieser Fleck, so groß, so rot! Mach ihn weg! Ich ertrage das nicht!“ In theatralischer Geste legte sich der Sammler eine Hand auf die Stirn. „Unsauberkeit in meinem Haus kann nicht geduldet werden!“

 

Und während Orion schnell die Flasche hinüber zu dem Fleck trug, um ihn so zu verdecken, verstand Valerie gar nichts mehr. Verdutzt sah sie von Orion zu dem Collector, die anfingen, sich wegen dieser Lappalie lauthals zu streiten!

„Was hat er denn plötzlich?“, fragte sie ungewollt laut.

„… wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht mit Essen spielen sollst!?“

„Ich duelliere mich hier zufällig! Der feine Herr macht sich ja nicht die Hände selber dreckig!“

„Dreck!? An meinen Händen!? Wo!?“ Panisch besah der Sammler seine Finger und beugte sich so weit dabei vor, dass er fast mit der Nasenspitze an die Handflächen stieß.

Derweil drehte sich Orion zu Valerie und schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ignoriere das einfach, okay? Das ist, was übrig-“ Doch er unterbrach sich selbst und seufzte traurig. „Ach, nicht so wichtig. Manchmal ist er einfach komisch, besonders wenn es um Schmutz geht. Denk dir nichts dabei.“

„I-in Ordnung“, antwortete Valerie verwirrt. Dabei fragte sie sich, wieso ein Dämon so viel wert auf Sauberkeit legte. Und was Orions ominöse Worte wohl bedeuteten.

Der Sammler indes hatte sich noch immer nicht erholt und winkte nur abfällig mit den Händen. „Runter da, Orion! Diese Decke müssen wir wegen dir wegschmeißen! Wenn wir hier fertig sind, wirst du mir umgehend eine neue kaufen gehen!“

Und während der Schattengeist vom Tisch sprang, erwiderte er aufgebracht: „Es ist mitten in der Nacht! Wo soll ich da eine auftreiben!?“

„Lass dir etwas einfallen!“

Valerie schüttelte seufzend den Kopf. „Was für ein seltsames Gespann …“

Es erstaunte sie, wie schnell sich der Collector verändert hatte. Als wäre er plötzlich eine ganz andere Person.

 

„'tschulligung“, sagte Orion kleinlaut, während er zu seinem Duellstandpunkt zurückkehrte, wo schon sein [The Fabled Rubyruda] auf ihn wartete.

„Macht nichts.“

Als der kleine Schattengeist sein Ziel erreicht hatte, drehte er sich wirbelnd um die eigene Achse. Voller Ehrgeiz rief er: „Genug 'rumgealbert! Meine hübsche Püppi, ich muss dir jetzt leider die Show stehlen! Ich bin ja am Zug!“

„Wie das? Du kannst nicht einmal eine Karte ziehen, weil du deine Draw Phase überspringen musst“, stellte Valerie fest und straffte sich. Dabei wusste sie, dass seine verbliebene Handkarte [The Fabled Catsith] war, ein Empfänger, genau wie das Monster auf seiner Spielfeldseite. Demnach konnte er sie nicht mit einem weiteren Synchromonster angreifen. Andererseits, dachte sich Valerie, war dieser Gnom immer wieder für eine Überraschung gut.

Als Orion realisierte, dass Valerie recht hatte, machte er große Kulleraugen. „Was!? D'oh! Das hab ich total verpennt! Unfair! Aaaaaber- ich hab das hier! Verdeckte Falle [Jar Of Greed] aktivieren! Ich kann nicht ziehen? Guck mal genauer hin, Valval!“

„V-valval?“ Valerie erstarrte.

Doch Orion griff nur grinsend nach seiner Duel Disk und zog schwungvoll eine Karte, genau wie es ihm der Effekt seiner Karte gebot. Auch wenn Valerie grinsen musste, weil sich richtig gelegen hatte, was jene verdeckte Falle anging und sie ihn wirklich seine Handkartenzahl manipulieren ließ, fühlte sie auch einen Stich in ihrem Herzen.

 

Valval … so hatte Marc sie immer genannt, wenn er sie ärgern wollte, denn dieser Spitzname erinnerte ihn an seine Lavalval-Synchromonster, die zugegeben wenig Ähnlichkeiten mit dem Mädchen hatten.

 

„Einer für alle, alle für einen! Für mich!“

Valerie blickte erstaunt auf. Orion hielt eine Zauberkarte in die Höhe. „Das hier ist [One For One]! Ich brauche nur eine Monsterkarte abwerfen und darf dafür eine von meinem Deck beschwören, solange sie nur einen Stufenstern besitzt!“

Vor Orion erschien ein seltsamer Apparat. Bestehend aus einem kugelrunden Körper sowie drahtigen Armen und Beinen, thronte auf dem Haupt der Kreatur tatsächlich eine Bratpfanne.

„[T-t-t-tuningware]! Fast so gut wie H-Warez!“ Orion zwinkerte glucksend.

 

Tuningware [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

Valerie wurde jäh aus ihrer Verwunderung über Orions Monster gerissen, als eine heftige Explosion ihre Spielfeldseite erschütterte. Die junge Frau wich erschrocken zurück und musste feststellen, dass von ihrer Meereshexe nichts mehr zu sehen war, als sich der Rauch verzog.

„Was!?“

Orion hob einen seiner Stummelarme und tat mit seinem Zeigefinger so, als wolle ein Lehrer seine Schülerin belehren. „Guck doch nicht so doof! Hättest du dir den Effekt von [The Fabled Catsith] durchgelesen, als du die Gelegenheit dazu hattest, wüsstest du, warum dein Monster jetzt höchstens eine Rolle im Remake von Michael Jacksons Thriller bekommt!“

„Ich habe ihn mir durchgelesen“, meinte Valerie steif. „Mir war nur nicht bewusst, dass er auch auf diese Weise aktiviert werden kann.“

Breitmündig grinste der Schattengeist. „Klar tut er das, solange die Mieze nur von der Hand abgeworfen wird. Ob das Kosten sind, spielt keine Rolle.“

Valerie biss sich vor Wut auf die Lippen. Sie hatte sich von der Annahme, die Fabled-Karten würden wie die Dark World-Karten funktionieren, in die Irre führen lassen. Jetzt hatte sie ein richtiges Problem!

„So konnte ich dein Monster zerstören. Und weißt du, was das Beste ist? Ich kann noch was ganz anderes! Sieh her!“, flötete Orion derweil.

Wieder wich Valerie einen Schritt zurück, denn sie wusste bereits, was jetzt folgen würde.

„Ich stimme den Stufe 4 [The Fabled Rubyruda] auf die Stufe 1 [Tuningware] ab! Äh ...“ Orion blinzelte. „Warte, ich hab's gleich. … d'oh, dabei hatte ich mir doch alles aufgeschrieben! Wieso habe ich bloß meinen Notizblock gefressen, als mir langweilig war!?“ Er winkte ab. „Egal, Synchro Summon! Mach ein bisschen hinne, [Thunder Unicorn], ich hab nicht ewig Zeit!“

Wie schon einmal zuvor ertönte lautes Wiehern von den Gängen des Anwesens. Valerie wirbelte um und sah zur Flügeltür, die bereits aufschwang. Wieder kam ein Einhorn in den Saal galoppiert, während Orions Monster einfach verschwanden. Doch von dessen Stirn ragte ein gelbes Horn empor, welches aussah wie ein echter Blitz. Was auch nur zu dem blauen Leib passte. Und wie schon vor ihm [The Fabled Unicore], musste auch das Donnereinhorn als Reittier für Orion herhalten, als es in Reichweite war.

 

Thunder Unicorn [ATK/2200 DEF/1800 (5)]

 

„Sollte [Tuningware] für eine Synchrobeschwörung benutzt werden, ziehe ich eine Karte“, erklärte Orion von seinem hohen Ross und zog, beachtete die Karte aber nicht weiter. Denn für ihn zählte nur, dass er dieses Spiel gewinnen konnte – Valeries Lebenspunkte waren völlig ungeschützt. „'tschulligung, Valval, aber ein Schattengeist muss tun, was er eben tun muss. Dafür wird er schließlich bezahlt. Nur dass ich nicht bezahlt werde!“ Er warf einen giftigen Blick in Richtung seines Meisters, der dem Duell in seiner gewohnt distanzierten Art zusah. Das Weinglas in der Hand, schien er wieder ganz der Alte zu sein und reagierte gar nicht auf die Kritik seines Untergebenen.

Der winzige Dämon wandte sich wieder an seine Gegnerin. „Nimm es mir nicht übel, okay? Ich hätte für dich aufgegeben, ehrlich! Aber so … [Thunder Unicorn], direkter Angriff! Orion for the Win!“

Zusammen mit seinem Reittier machte dieser sich auf, Valerie den letzten Rest zu geben, damit sie dieses Duell verlor. Doch anstatt in Panik zu geraten, blieb die Schwarzhaarige ruhig und überlegte. Den Angriff konnte sie nicht aufhalten, nur abschwächen. Wenn sie eine Chance haben wollte, dieses Duell noch zu gewinnen, musste sie ihre letzte verdeckte Karte dafür verwenden.

„Schnellzauber aktivieren!“, rief sie und ließ ihren Arm über die vor ihren Füßen liegende Karte schwingen. „[Half Shut]! Damit halbiere ich die Angriffskraft deines Einhorns für diese Runde, mache es im Gegenzug dafür aber im Kampf unzerstörbar!“

„Och nöööööö!“

Der Zauber klappte auf und entfachte einen rotgelben Wirbel, welcher ihren Angreifer verlangsamte.

 

Thunder Unicorn [ATK/2200 → 1100 DEF/1800 (5)]

 

Dennoch ließ dieser sich nicht aufhalten. Endlich angekommen, bäumte sich das Donnereinhorn vor Valerie auf und verpasste ihr mit seinen Vorderläufen einen heftigen Tritt, den diese mit ihrer Duel Disk abfing. Trotzdem wurde sie unter der Kraft des Angriffs zurückgeworfen und landete hart auf dem Rücken. „Urgh!“

 

[Valerie: 1400LP → 300LP / Orion: 3900LP]

 

Mit leidvoller Mimik richtete das Mädchen sich auf und keuchte erschöpft. Sie fühlte sich kraftlos und elend, denn es wollte ihr einfach nicht gelingen, eine effektive Gegenoffensive zu starten. Nun besaß sie gar keine Karten mehr. Im Grunde war das Spiel gelaufen …

Indes trabte Orion auf seinem Einhorn zurück zu seiner Duellposition und warf dabei einen besorgten Blick zurück. Ihm tat dieses Mädchen leid, denn sie ahnte nicht, was der Preis dafür war, würde sie in diesem Spiel siegreich hervorzugehen. Vielleicht war es sogar das Beste für sie, wenn er sie jetzt besiegte und nach Hause schickte?

„Zug beendet“, meinte er nur tonlos, unwissend, wie er entscheiden sollte und was für Konsequenzen es für sie beide hätte.

 

Thunder Unicorn [ATK/1100 → 2200 DEF/1800 (5)]

 

Indes fiel Valerie überrascht auf die Knie. Es war, als würde sie in ein tiefes Loch stürzen, denn sie hatte erkannt, dass es wohl keinen Ausweg mehr aus ihrer Lage gab. Ohne Hand- und Feldkarten blieb ihr nur der nächste Zug. Und die Chancen, mit ihm die Lösung für ihr Problem zu finden, waren mehr als gering.

„Warum ist er so viel stärker als ich?“, murmelte sie vor sich hin und sah ihre Handfläche an. „Was habe ich falsch gemacht? Ich …“

 

Wem sollte sie schon etwas vormachen? Sie hatte Angst zu verlieren. Immer schon, seit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie Angst gehabt. Um ihre Großmutter, die einen Schlaganfall erlitten und schließlich wenige Monate später gestorben war. Vor Prüfungen, die sie nicht zu bestehen glaubte. Um ihre Freunde, von denen sie nie wusste, welche echt und welche falsch waren. Vor dem Motorradfahren. Und um ihren Verlobten, den sie nie verlieren wollte. Warum konnte sie nicht einfach furchtlos sein? Warum konnte sie die Dinge nicht so ändern, dass es allen gut ging?

Und dann erschien -sie- vor ihren Augen. Anya. Das Mädchen, das nie Angst hatte und lieber versagte, als irgendwem zu imponieren. Die sich nichts gefallen ließ und sogar vor Mord nicht zurückschreckte. Sie … !

 

Valerie ballte eine Faust und erhob sich, denn etwas in ihr pulsierte und gab ihr Kraft. „Es ist noch nicht vorbei!“

„Huh?“ Orion blinzelte verdutzt. „Valval, was ist mit dir?“

 

Verzage nicht, mein Kind. Wenn du wirklich diesen Weg fortsetzen möchtest, werde ich dich mit meiner Kraft unterstützen. Auch wenn Gott mich dafür endgültig verstoßen mag. Dafür, dass ich dir die Wahrheit verschwiegen habe, bin ich es dir schuldig.

 

„Joan“, sprach Valerie leise und fixierte ihren Blick auf den Sammler, der sie aus emotionslosen Augen anstarrte und dabei sein Weinglas festhielt. Und in diesem Augenblick war es ihr völlig gleich, ob Joan eine Heilige oder der Teufel höchstpersönlich war, solange sie ihr nur half, siegreich aus diesem Kampf hervorzugehen. „Gib mir alles, was du hast. Wenn ich -ihr- jemals wieder gegenübertreten will, muss ich dieses Duell gewinnen! Egal was es kostet!“

 

Dann erfahre die heilige Kraft!

 

Als Valerie ihre Hand an ihr Deck legte, begann diese in flammendem Weiß zu leuchten. Das war genau das, was sie brauchte, dachte Valerie. Sie spürte bereits, was sie ziehen würde, hatte es klar vor Augen, diese eine, rettende Karte! „Danke Joan! Draw!“

Mit Schwung zog sie jene Karte und spürte noch in der Bewegung ein so heftiges Stechen in ihrer Brust, dass ihr die Luft wegblieb. Röchelnd kippte sie zur Seite und fiel der Länge nach auf den Boden. Dabei glitt ihr die Karte aus der Hand. Valerie erstarrte. „W-was!?“

 

Mit einem Ruck war der Sammler aufgestanden. „Wie es aussieht, habe ich mich in dir getäuscht. Du solltest mir dein Innerstes zeigen, damit ich deinen Wert bestimmen kann. Doch was muss ich sehen? Du versucht, das Schicksal zu betrügen, indem du einen neuen Pfad hinzufügst. Erbärmlich. Sind das die Grenzen deiner Aufrichtigkeit?“

„N-nein!“ Valerie fühlte sich, als habe man ihr alle Kraft geraubt. Sie reichte nach der gezogenen Karte aus, die vor ihr lag und drehte sie in ihren Fingern um. Und was sie dort sah, erschütterte sie bis ins Mark. „Was!? Nein! Das war-“

 

Vergib mir, Valerie! Er hat meine Kräfte einfach blockiert! Was für eine Macht ist das? So etwas habe ich selbst bei Erzengeln noch nie gesehen! Was … ist er?

 

Eine Träne rann indes über Valeries Wange. „Nein …“

Denn die Karte, die sie in der Hand hielt, war nicht etwa die, die sie in ihrem Inneren gesehen hatte. Es war [Evigishki Soul Ogre], das Ritualmonster. Ein Monster, das sie niemals beschwören konnte in ihrer derzeitigen Lage.

„Valval … warum hast du versucht, uns zu betrügen?“, fragte Orion enttäuscht. „So etwas machen nur Idioten.“

„Halt den Mund!“, schrie Valerie verzweifelt, die die Demütigung des Sammlers nicht ertragen konnte. „Du verstehst das nicht!“

Unter Mühe zwang sie sich wieder auf und starrte hasserfüllt herüber zum Esstisch, an den sich der Sammler wieder gesetzt hatte. Der rothaarige Mann verzog keine Miene und sagte: „Wir alle müssen einen der Pfade beschreiten, die für uns ausgelegt sind. Du bist keine Ausnahme. Zu denken, du hättest das Recht zu ändern, was bereits feststeht, ist schlichtweg töricht. Ich habe dich wohl überschätzt, was deine Gesinnung angeht.“

Getroffen von diesen Worten zuckte Valerie zusammen. Sie hatte sie gespürt, diese Kraft, und er hatte sie einfach verpuffen lassen. Dieser Kerl hatte in einem Sekundenbruchteil ihre letzte Hoffnung zerstört!

„Fahre fort, Orion“, meinte der Sammler völlig ungerührt. „Deine Gegnerin ist nicht imstande, etwas in ihrem Zug zu unternehmen.“

„K-klaro!“

 

Orion zog mit konzentrierter Mimik von seinem Deck und sah von [Thunder Unicorn] herüber zu Valerie, die ihren Blick senkte und nur die Fäuste ballte. Hilflos wandte er sich an seinen Herren, der nur gebieterisch nickte. Der Schattengeist wusste, dass er ihm nicht den Befehl verweigern durfte, allein schon deshalb, weil sie befreundet waren. Doch nie zuvor hatte jemand ihm so leidgetan wie Valerie und Orion konnte beim besten Willen nicht sagen, woran das lag. Er war sich sicher, dass es nichts mit ihrem Vorbau zu tun hatte.

Mitleid mit einem völligen Fremden … wie lange war das wohl her … ?

 

„Orion. Tu es.“

Der Kleine schüttelte auf die Ermahnung hin seinen Kopf, um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben, welche sich seiner bemächtigen wollten. Es hatte keinen Zweck, weiter nachzugrübeln. Er wusste, was er zu tun hatte und letztlich tat er Valerie damit einen Gefallen.

Siegesgewiss streckte er seinen Arm aus. „Jetzt endest es wohl. [Thunder Unicorn], vernichte Valeries letzte Lebenspunkte. 'tschulligung … Valval …“

„Spar' dir das“, zischte sie, ohne aufzusehen. Und auch wenn ihre Wut über das eigene Versagen und den Sammler nicht Orion galt, tat es gut, sie einfach loszulassen.

Das Blitzeinhorn galoppierte schließlich auf die Schwarzhaarige zu. Wie zuvor versuchte es, sie unter seinen Läufen zu begraben. Dieses Mal jedoch wehrte sich Valerie nicht und wurde von einem kräftigen Tritt in die Brust umgeworfen. Ächzend landete sie auf dem Rücken und rollte unter einem schmerzlichen Stöhnen auf den Bauch, sich die Wunde haltend.

 

[Valerie: 300LP → 0LP/ Orion: 3900LP]

 

„Und so endet es, völlig unspektakulär“, sprach der Collector und erhob sich, wobei er sich vom Tisch abstützte. „Nun gut. Du hast mich enttäuscht, Valerie. Doch ich kann sehen, was dich zu deinen Taten bewogen hat.“

Seine Augen funkelten. „Lass uns also über das Geschäft reden.“

Erschrocken sah Valerie mit zusammengekniffenen Augen auf. „Was!? Aber- Ich habe verloren! Wieso willst du mir trotzdem helfen?“

Der Sammler lächelte, doch es war ein falsches Lächeln, denn seine feinen Züge bewegten sich nicht natürlich zu seinen angezogenen Mundwinkeln. „Wie alles auf dieser Welt, hast auch du immer noch einen Wert. Aber es wird nicht deine Seele sein, die ich im Austausch für deinen 'Wunsch' verlange.“
 

Ungläubig richtete sich das Mädchen auf und stand wieder auf zwei Beinen. Doch sie zitterte so sehr, dass sie alle Mühe hatte, nicht sofort wieder umzukippen. Es klang zu gut, um wahr zu sein und Joan hatte sie davor gewarnt, mit Dämonen Geschäfte zu machen. Aber wenn er ihr wirklich geben konnte, was sie wollte, dann war ihr alles gleich.

„Nicht meine Seele?“, fragte sie skeptisch nach. „Warum nicht? Ich dachte das ist, was Dämonen normalerweise im Austausch für ihre Dienste wollen!“

Der Collector starrte sein Weinglas an und betrachtete die Reflexion seiner selbst fasziniert.

„Natürlich ist die Seele ein sehr wertvolles Gut. Das Wertvollste, was ein einfacher Mensch zu bieten hat.“ Nun blickte er Valerie wieder unverwandt in die Augen. „Besonders du, die du durch einen waschechten Engel geleitet wirst, wärst eine hervorragende Investition.“

Plötzlich verhärtete sich sein Tonfall. „Andererseits bist du trotz deiner Gaben nicht einmal imstande, meinen niedersten Diener zu bezwingen. Man könnte sagen, so etwas wie du verkauft sich schlecht.“

„Sorry Valval, er meint damit, dass du eine Versageri- Was!?“, kreischte Orion und hüpfte aufgeregt umher. „Niederster Diener!? Aber ich hab die heiße Braut doch abserviert! Wieso-!?“

„Misch dich bitte nicht ein, Orion“, sprach Collector gelangweilt.

Frustriert ließ der Schattengeist seinen Kopf, sozusagen seinen ganzen Körper, hängen und seufzte. „Nicht mal bezahlt werde ich für all die Demütigungen …“

 

„Aber wenn meine Seele nicht gut genug ist, was dann?“, wollte Valerie nun aufgebracht wissen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er sonst noch von ihr verlangen könnte.

Der Sammler lächelte nun wieder hinter seiner schleierhaften Maskerade aus vorgespielten Emotionen. „Weißt du, es gibt Dinge, die besitzen seither einen hohen Wert. Wie die Seelen. Haben wir die Macht über diese, können wir nach dem Tode ihres Besitzers alle darauf folgenden Inkarnationen jener Existenz nach unserem Belieben lenken. Wer sich mir also verkauft, ist solange unter meiner Kontrolle, bis seine Seele erlischt.“

„Warum willst du meine Seele dann nicht!?“, fauchte Valerie und trat ungestüm einen Schritt vor. „Warum ist sie nicht gut genug!?“

„Du bist verdorben durch die Gefühle, die du tief in dir hegst“, erklärte der Sammler daraufhin mitleidig. Er nahm einen Schluck vom Glas in seiner Hand. „Du kannst mich nicht täuschen. Dein Groll gegenüber Anya Bauer ist kein Geheimnis, nicht für uns. Von größtem Wert aber sind die Seelen, die sich aus reiner Aufopferung aufgeben.“

Seine Stimme wurde kalt. „Zu denen gehörst du aber nicht. Wenn wir jeden erhören würden, der unserer habhaft werden will, würde das empfindliche Gleichgewicht unserer Welt binnen kürzester Zeit zusammenbrechen. Und ich persönlich bin mit ihr so zufrieden, wie sie ist. Veränderungen sind nicht mein Ding, verstehst du? Außerdem gibt es noch genug andere Gründe, warum wir nicht jede Seele annehmen, die uns über den Weg läuft.“
 

Valerie biss sich so sehr auf die Lippe, dass es blutete. Wie konnte er es wagen!? Er kannte sie doch gar nicht! Die Schmerzen, die sie in sich trug, konnte er sich doch gar nicht vorstellen!

„Was willst du dann?“, fragte sie leise.

Nun sah der Collector ihr wieder in die Augen. Dabei stand in den seinen eine Zuversicht geschrieben, die das Mädchen zutiefst beunruhigte. „Deinen Namen.“

„W-was!?“

„Du hast recht gehört, deinen Namen.“ Er lachte auf. „Sicher, deine Seele ist im Vergleich immer noch viel wertvoller als dein Name. Aber es gibt für jede Ware einen passenden Markt. Und warum das eine nehmen, wenn das andere auf lange Sicht viel lukrativer ist?“

Valerie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht! Warum ausgerechnet meinen Namen? Wie soll man sich das denn vorstellen!?“
 

Wenn man seinen Namen an jemanden verkauft, besitzt dieser jemand Macht über ihn. Er vermag bis in die tiefsten Winkel der Seele vorzudringen und ist auf diese Weise mit dir verbunden. Es ist anders, wenn man über die Seele verfügt. Der Name steht nur für Wissen, keine Kontrolle. Dennoch solltest du dir das alles gut überlegen, Valerie! Vergib mir, dass ich überhaupt erwogen habe, dich hierher zu führen! Wir hätten niemals hierher kommen dürfen! Möge ich Gottes Strafe empfangen für meine Torheit, denn dich trifft keine Schuld!

 

„Joan …“

Valerie verstand es nicht. Wenn die Seele so viel wertvoller war, als ihr Name, warum wollte der Collector dann Letzteren haben? Lag es nur daran, dass sie Anya für das hasste, was sie Marc angetan hatte? Nein!

„Der Name ist mir sofort von Nutzen“, erklärte der Sammler plötzlich amüsiert darüber, wie hin und her gerissen das Mädchen doch war. „Eine Seele vermag ich erst einzusammeln, nachdem sie den Körper verlassen hat. Allerdings würde ich dem Spektakel rund um Eden gerne aus der Ehrenloge beiwohnen. Wissen kann nie schaden. Aber erwarte nicht von mir, dass ich mich in dieses Geplänkel einmische. Dafür ist es nicht bedeutend genug.“

 

Tief durchatmend, straffte sich Valerie und sah dem rothaarigen Mann entschlossen in die Augen. „Mein Name also?“

Er nickte.

„Du weißt sicher bereits, was ich als Gegenleistung dafür erwarte?“

Der Sammler lächelte. „Bei jemandem wie dir ist so etwas nicht schwer zu erraten. Es gibt zwar einige Einschränkungen, aber die sind minimal. Es ist machbar. Über die Details werde ich dich aufklären, wenn wir den Handel abgeschlossen haben.“

„Dann haben wir jetzt einen Vertrag“, meinte Valerie steif und schritt auf den Esstisch zu. Sie reichte dem jungen Mann ihre Hand entgegen und wartete darauf, dass er einschlug.

Dieser nickte. „Wie du meinst. Jetzt gibt es endgültig kein Zurück mehr für dich.“

 

 

Turn 17 – And Then I Said No

Eines Morgens bekommt Anya überraschend Besuch von dem Dämonenjäger Matt. Nachdem sie erfolglos versucht, ihn einen Kopf kürzer zu machen, offeriert er ihr plötzlich ein unerwartetes Friedensangebot. Er bietet sogar an, Anya alles über Eden zu erzählen, was er in den letzten Wochen in Erfahrung bringen konnte. Anya geht zähneknirschend darauf ein, doch während Matts Bericht taucht Alastair auf. Einen Verräter genannt, beginnt Matt in der Hoffnung auf Schlichtung ein Duell. Doch plötzlich …

 

Turn 17 - And Then I Said No

Turn 17 – And Then I Said No

 

 

„Ohhh, komm schon, stirb endlich!“, fauchte Anya aufgebracht. „Stirb, stirb, stirb! Dir zermansch' ich das Hirn, du miese Ratte-“

Es klingelte von unten und ein schriller Schmerzensschrei ertönte plötzlich. „Oh verdammter Kackmist, Game Over!“

In blutigen Lettern flimmerte die verhängnisvolle Botschaft über Anyas Fernseher. Die hockte im Schneidersitz vor der Glotze und starrte ebenjene mit offenem Mund an. Einen Wutschrei später schepperte schon der kabellose Controller ihrer Spielkonsole gegen den Apparat. Noch einen Wutschrei später realisierte Anya, dass sie soeben ihren Fernseher um die Ecke gebracht hatte.

„Oh fuuuuuuuuuuuuuuuuuck!“, fluchte sie und sprang auf.

Wer auch immer gerade ihre tadellose Gewinnstrecke UND ihren uralten Röhrenbildfernseher ruiniert hatte, würde dafür mit dem Leben zahlen müssen!

 

Außer sich vor Zorn stampfte sie durch das Zimmer, schnappe sich dabei Barbie, die neben der Tür an der Wand lehnte und eilte schließlich die Treppen hinab ins Erdgeschoss. Ihren mit Nägeln und Rasiermesserklingen bespickten Baseballschläger geschultert, war sie zu allem bereit, was wehtun konnte.

Breitbeinig baute sie vor der Haustür auf, während es abermals klingelte.

„Oh Kumpel, ganz blöde Idee“, murmelte sie bereits mit grimmigen Vergnügen und beugte sich zu dem Spion. Nur für den Fall, dass es Nick oder Abby waren, schließlich tötete man nicht einfach seine Nutztiere. Denn wenn sie jetzt durch diese Tür stürmte, war sie nicht mehr zu stoppen.

Doch statt ihren Freunden erkannte sie durch die Linse verformt eine Person in einem schwarzem Mantel, die sich gerade von der Klingel neben der Haustür entfernte und plötzlich selbst in den Spion schaute. Es waren graue Augen.

Anya wich zurück, starrte dann neugierig wieder durch. Nun stand der junge Mann mit verschränkten Armen da und tippte regelmäßig mit der Fußspitze auf den Boden. Schwarzes, nach hinten hoch abstehendes Haar, eine genervte Mimik, besagte graue Augen – Anya wurde ganz anders. Diesen Typen kannte sie doch!

 

Eben der hämmerte plötzlich gegen die Tür. „Mach endlich auf, ich weiß, dass du zuhause bist!“

Anyas Augen verengten sich zu Schlitzen. Wieso stand ausgerechnet -der- vor ihrer Tür!? Hatte diese Knalltüte etwa Todessehnsucht?

„Ob ich zuhause bin?“, murmelte sie und warf einen Blick auf Barbie. „Du wirst dir gleich wünschen, dass jemand ganz laut 'nein' geschrien hätte, Mistkerl! Ahhhhhhhhh!“

 

Unter ihrem Kampfschrei riss sie die Tür auf und holte blindlings mit Barbie aus. Der Schwarzhaarige wusste gar nicht, wie ihm geschah, als Anya auf ihn losging und wich gerade noch rechtzeitig zurück, als sie wie ein Berserker nach ihm schlug.

„Stopp!“, rief der Dämonenjäger Matt und hob die Hände, von denen eine bandagiert war, nur um sie rasch zurückzuziehen, da sie sonst von Barbie zerfetzt worden wären.

„Stirb!“, schrie Anya und scheuchte den jungen Mann quer über den Rasen. Immer wieder musste der sich ducken oder Ausweichschritte machen, nur um nicht von der blonden Furie zermalmt zu werden.

„Bist du verrückt geworden!? Lass das!“, schrie er Anya an, die aber gar nicht daran dachte und ihm mit einem Abwärtshieb den Schädel spalten wollte. Matt warf sich zur Seite und sah, wie Gras und Erde durch die Luft spritzen, als Barbie ihn verfehlte und auf dem Boden aufschlug.

„Stirb, stirb, stirb!“, kreischte Anya ihn von der Seite nur an, während sie Barbie wieder anhob und nun nach seinen Beinen ausholte. Matt zog sie rechtzeitig zurück, sodass wieder nur der Rasen der Familie Bauer einstecken musste. „Warum willst du nicht endlich sterben!?“
 

Bevor Anya jedoch wieder zuschlagen konnte, trat Matt mit beiden Füßen zu. Anya, die sich vor ihn aufgebaut hatte um den Gnadenstoß zu liefern, wurde an beiden Schienbeinen getroffen und torkelte mit unmenschlichem Geschrei zurück. Gleichzeitig stützte Matt sich mit beiden Händen ab und sprang geschickt auf. Doch die Belastung seines verletzten Arms ließ ihn aufstöhnen.

„Ich kann auch austeilen, wenn ich will!“, meinte er genervt und rieb sich dabei über die bandagierte Stelle. „Ah, verdammt!“

Anya stützte sich auf Barbie ab und legte mit schmerzverzerrter Miene die Hand auf ihr linkes Bein. „Mistkerl, das war unfair! Halt beim nächsten Mal einfach still, 'kay!?“

„Kein Bedarf!“, motzte er zurück.

„Schade, dann eben auf die harte Tour! Hieyhieyhiey!“

Wieder stürmte Anya unter einem misslungenen Xena-Kampfausruf auf ihren Gegner zu und schwang Barbie von einer Seite zur anderen, um ihrer blinden Wut Ausdruck zu verleihen. Bei Matt angelangt, versuchte sie es wieder mit einem Abwärtshieb, doch als der Dämonenjäger auswich, änderte sie die Richtung des Schlages und war sich des Sieges gewiss. Dummerweise schien ihr Gegenüber mit so etwas gerechnet zu haben, denn er war schneller als sie und machte einen Schritt nach vorn, packte Anyas Handgelenk, drehte es. Und ehe sie sich versah, hatte er sie einfach entwaffnet.

 

„Lass mich los!“, brüllte sie ihn an und versuchte sich aus seinem Griff zu winden, doch Matt zog ihren Arm und somit auch sie nur näher an sich heran.

„Erst wenn du mir zuhörst“, antwortete er ärgerlich. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Ich bin nicht hier, um dir etwas anzutun!“

„Das ist aber schade! Ich hab nämlich ganz viele Ideen, was ich dir antun könnte!“

Eine davon war, dass sie ihm ihr Knie in die Kronjuwelen rammen wollte. Leider blockte Matt den Angriff mit seiner freien Hand ab, was Anya jedoch die Gelegenheit gab, sich loszureißen, Barbie aufzusammeln und sich neu zu formieren.
 

Mit erhobenem Baseballschläger stand sie Matt gegenüber. „Na!? Noch 'ne Runde gefällig!? Ich werde gerade erst warm!“

„Kein Bedarf“, brummte er wieder, wich aber dennoch ein wenig zurück. Dabei bemerkten beide gar nicht, wie zwei Fahrradfahrer mit ungläubigen Blicken an Anyas Grundstück vorbeifuhren und in die Pedale traten, als sie erkannten, wer da gerade im Begriff war, lebenslang hinter Gitter zu kommen.

„Was willst du dann überhaupt hier!?“, verlangte Anya zu wissen. „Ich kaufe nix von Pennern! Schon gar nicht von welchen, die meine Freundin erpressen wollten!“

„Die Fragen erst stellen, wenn das Opfer schon tot ist, huh?“, erwiderte Matt bissig. „Zum Glück bin ich kein Schwächling, der sich von einem Mädchen fertig machen lässt!“

„Pass auf, was du sagst! Dieses Mädchen war allein dieses Jahr schon 37 Mal auf dem Polizeirevier! Und das sind nur die Leute gewesen, die gepetzt haben!“

„Ich werde in mehreren Bundesstaaten wegen Mordes an meinem Vater gesucht!“

„Pah! Das kann ich locker überbieten! ICH werden in -allen- Bundesstaaten wegen-“

Doch Anya realisierte, dass das, womit sie sich gerade brüsten wollte, noch in der Planungsphase befand und sie bedauerlicherweise kein derartiges Delikt auf dem Kerbholz hatte. Noch nicht!

„Oh verdammter Kackmist! Aber ich habe auch schon jemand umgebracht. Marc Butcher, wenn dir das was sagt?“

Gleichzeitig verfinsterte sich ihr Blick deutlich.

„Also Gleichstand?“ Matt pfiff anerkennend. „Hab in der Zeitung davon gelesen. Demnach bist du für den Brand im Park verantwortlich. Aber Marc Butcher killen? Dachte der wäre bei dem Brand umgekommen? Außerdem hab ich dich bisher eher so eingeschätzt, dass du zu der Sorte Mensch gehörst, die im letzten Augenblick kneift.“

„Eine Anya Bauer kneift nicht!“

Matt nickte grinsend. „Anscheinend. Hab dich wohl unterschätzt.“

Plötzlich wurde sein Blick ernster. „Allerdings sollten wir nicht in der Öffentlichkeit über so etwas reden. Wie ich schon sagte, bin ich nicht hier, um dir zu schaden. Im Gegenteil. Ich bin gekommen, um dir ein Friedensangebot zu machen!“

Anya lachte auf und deutete bedrohlich mit ihrer Waffe auf ihn. „Bin ich Mutter effing Theresa oder was!? Ich HASSE Frieden! Und werde ihn bestimmt nicht mit jemandem schließen, der mich neulich noch in einem Sarg sehen wollte!“

 

Doch bevor die Blondine wieder mit Barbie auf ihn losgehen konnte, zückte Matt eine Karte aus seinem Ärmel. Entgegen Anyas Erwartungen handelte es sich nicht um einen Zauber der Dämonenjäger, sondern um eine gewöhnliche Duel Monsters-Karte.

„Wie soll ich es sagen, die Umstände haben sich geändert. Die hier kriegst du, wenn du dich mit mir hinsetzt und erstmal nur zuhörst, was ich zu sagen habe“, erklärte Matt ruhig.

„Bah, ich bin nicht käuf-“

Doch als sie erkannte, um welche Karte es sich handelte, klappte ihre Kinnlade hinunter. „Nein! Das kann nicht sein! Das ist bestimmt 'nen Fake oder eine Bombe!“

„Nein, ist sie nicht. Sieh selbst“, erwiderte Matt und warf Anya die Karte zu.

Die fing sie zwischen Mittel- und Zeigefinger auf und starrte ehrfürchtig das Artwork an. „Unmöglich! Woher hast du die!?“

„Manche Leute -sind- käuflich. Hab sie vom Schwarzmarkt. Unglückliche Geschichte, der ursprüngliche Besitzer hatte ein paar Bekannte im Untergrund, die am Ende nicht seine Freunde waren. Egal. War jedenfalls nicht gerade billig.“

Anya hielt das Fusionsmonster wie einen Schatz in der Hand.

Von [Gem-Knight Zirconia] gab es nur sehr wenige Exemplare, da jene vor einiger Zeit als eine von verschiedenen Preiskarten auf internationalen Turnieren ausgegeben wurden. Doch so weit zu kommen war für Anya immer nur ein unerreichbarer Traum gewesen. Und jetzt hatte sie die Karte, die besondere, die fast vergessene, die, die nie Teil ihrer Sammlung war, endlich in den Händen!

 

Die Betonung lag auf hatte, denn Matt stand plötzlich vor ihr und riss sie ihr wieder aus der Hand. Verdutzt starrte sie den Dämonenjäger an, als habe er gerade Barbie verbrannt. „Sorry, aber behalten darfst du die nur, wenn wir jetzt reingehen und uns unterhalten.“

„Ich bin nicht käuflich!“, fauchte sie und versuchte das wertvolle Stück aus seiner Hand zu reißen, doch er wich aus. „Gib die her!“

„Hast wohl Blut geleckt, huh? Na, was wird wohl siegen? Gier oder Sturheit?“

In Anya spielte sich derweil ein nahezu epischer Kampf ab. Natürlich wollte sie die Karte haben, mehr als jede andere. Aber doch nicht von dem! Bloß hätte sie dann endgültig ihre Sammlung vollständig! Aber wegen dem und nicht aus eigener Kraft! Doch wann bot sich schon so eine Gelegenheit, immerhin wurde [Gem-Knight Zirconia] nicht mehr gedruckt? Aber dann stünde sie in der Schuld ihres Feindes! Andererseits …

„Ach scheiß drauf, gib das Teil her! Von mir aus höre ich mir dein Gelaber an!“ Drohend hob sie ihren Zeigefinger und schulterte Barbie. „Aber komm nicht auf dumme Gedanken! Ich kann mir das Ding auch so holen, vergiss das nicht!“

Matt grinste triumphierend. „Na bitte, geht doch!“

Wenn der wüsste, dachte Anya hinterhältig. Sobald das Teil ihr gehörte, würde es eine Nervensäge weniger auf der Welt geben! Als ob sie es ihm so leicht machen würde, immerhin hatte sie noch eine Rechnung wegen Abby mit ihm offen! Wen interessierte schon der beknackte Fernseher, heute war ihr Glückstag!

 

~-~-~

 

Zusammen betraten Anya und Matt das Wohnzimmer der Familie Bauer. Anya deutete auf die Couch an der Nordwand und meinte giftig: „Mach's dir bequem! Aber nicht zu sehr, lange wirst du hier nämlich nicht sitzen!“

„Werden wir noch sehen“, erwiderte Matt kühl und zog an ihr vorbei, ließ sich in das schwarze Leder fallen und breitete sich zu Anyas Ärgernis aus, als würde ihm das Haus gehören. Er schlug in lässiger Pose ein Bein über das andere und legte sein Kinn auf den Handrücken, wobei er sich mit dem Ellbogen an der Lehne abstützte. Anya hingegen nahm auf einem der beiden Sessel Platz und saß Matt schräg gegenüber, wobei sie Barbie griffbereit an besagtem Sessel anlehnte.
 

„Okay, was willst du?“, fragte sie herrisch und forderte im gleichen Atemzug: „Und rück' die Karte raus, wenn wir schon dabei sind!“

Matt zuckte nur mit den Schultern und schob [Gem-Knight Zirconia] über den Glastisch. Mit einer hastigen Bewegung schnappte sich Anya das wertvolle Stück und funkelte den Schwarzhaarigen feindselig an.

„Ich mach's kurz. Ich bin hier, weil ich nicht will, dass du zu Eden wirst“, erklärte Matt schließlich tonlos. „Das hat zwei Gründe. Einer wäre, dass du auch andere Menschen neben dir ins Unglück stürzen würdest, was nicht in meinem Interesse liegt. Der andere ist, dass niemand weiß, was genau Eden ist und wie sich das auf unsere Welt auswirken wird. Die Gefahr, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen, ist viel zu groß. Kannst du mir folgen?“

Anya blinzelte zweimal, ehe sie ebenso kühl erwiderte: „Aha.“

 

Dann richtete sie ihren Blick auf das Fusionsmonster in ihren Händen und wollte gespannt den Effekttext lesen, als sie plötzlich aufschrie: „Huh!? Kein Effekt!?“

„Hast du etwas anderes erwartet? Das ist die stärkste Karte der Gem-Knights. Da kann selbst das Geschenk von deinem Dämonenfreund nicht mithalten“, meinte Matt spitzzüngig. „Sag bloß, das wusstest du nicht?“

„Das ist doch Beschiss!“, donnerte Anya wütend. „Was interessieren mich 2900 Angriffspunkte, wenn das Teil sonst nix auf den Kasten hat!? Wieso zum Teufel passiert so etwas immer mir!?“

Matt grinste. „Schon mal was von Karma gehört?“

„Davon redet Abby auch andauernd. Ist das ne neue Seife oder so!?“ Anya schnaubte wütend. „Ist ja auch egal! Das klären wir später!“

 

Die beiden sahen sich kurz schweigend an, ehe Matt sich am Kinn rieb. „Also, wie viel weißt du über Eden und die Gründer?“

Anya machte kurz ein nachdenkliches Gesicht. Zumindest gab sie sich Mühe, doch tatsächlich musste sie gar nicht lange grübeln, um eine Antwort zu finden. „Dass das Teil am 11.11. ne Party feiert und ich sozusagen der Stargast bin?“

„Mehr nicht?“ Matt schien aufrichtig überrascht und beugte sich mit großen Augen nach vorne. „Nimmst du das hier etwa nicht ernst? Dir bleiben verdammt nochmal nur noch ein paar Tage bis dahin! Was zur Hölle hast du die letzten Wochen getrieben!? “

„Ähm, mich mit Möchtegerndämonen und Dämonenjägern herumgeschlagen?“ Anya runzelte verärgert die Stirn. „Entschuldige, dass ich nicht in deinen Kreisen verkehre und daher auf uralte Bibliotheken zurückgreifen muss! Ist doch nicht meine Schuld, wenn in den Schinken dort nur Schwachsinn steht! Woher soll ich wissen, wo es die -guten- Infos zu finden gibt!?“

Doch Matt fasste sich nur an die Stirn und schüttelte fassungslos den Kopf. „Das glaub ich jetzt nicht. Hast du ein Glück, dass ich hier bin. Andernfalls würdest du blindlings in dein Verderben rennen.“

Plötzlich meinte er aufgebracht: „Anya, du hast gerade mal noch zwei Wochen Zeit, alles vorzubereiten! Wenn es nicht wegen -ihm- wäre, wäre es mir vollkommen gleich, was mit dir geschieht!“

Allerdings ließ sich das Mädchen nicht von seinen Worten beeindrucken und antwortete schnippisch: „Gott, hab ich aber ein Glück … Wie wäre es, wenn du mir erstmal erklärst, was ein Gründer überhaupt ist! Und was heißt hier eigentlich vorbereiten?“

 

Ich denke, mit Gründer meint er mich. Allerdings tappe ich, was diese Vorbereitungen angeht, ebenso im Dunkeln wie du, Anya Bauer.

 

„Was heißt hier, du denkst!?“, wandte sich Anya an die Decke des Wohnzimmers. „Kann es sein, dass du in der Dämonenschule, als es um Eden ging, zufällig wegen akuter Hirnabstinenz gefehlt hast!?“

„Weiß er nicht, dass er ein Gründerindividuum ist?“, fragte Matt überrascht.

Anya verzog verärgert das Gesicht und ließ sich in die Lehne des Sessels fallen. „Offensichtlich nicht, Schlaumeier. Aber du. Wie wäre es also, wenn du den Mund aufmachst und zu singen beginnst? Bevor ich auf die Idee komme, Barbie als Vorhut reinzuschieben!“

„Ist im Grunde ganz einfach“, meinte der Schwarzhaarige und ließ sich ebenfalls wieder zurückfallen. „Die Dämonen, die als Gründer bezeichnet werden, sind die einzigen ihrer Art, die die Vorgänge rund um Eden in Gang setzen können. Als du den Pakt mit deinem unsichtbaren Freund geschlossen hast, hast du damit automatisch alles in die Wege geleitet. Herzlichen Glückwunsch, in zwei Wochen wird der Turm von Neo Babylon deine Schule platt machen. Gut gemacht!“

„Häh? Hast du das gewusst?“, fragte Anya Levrier, da sie sonst keine Idee hatte, was sie sagen sollte. Ihr war das alles jetzt schon viel zu kompliziert.

 

Ja. Der Turm von Neo Babylon ist essentiell für unser Unterfangen. Ohne ihn ist es unmöglich, Eden zu werden.

 

„Komisch. Warum überrascht mich es mich gar nicht, dass du mir das bisher verschwiegen hast?“, fragte Anya bissig und wandte sich an Matt. „Deine Erklärung, Einstein?“

Der junge Mann in Schwarz schloss die Augen und überlegte. Kurz darauf öffnete er sie wieder und setzte zur angeforderten Erklärung an. „Hör zu, Anya. Mein Wissen ist auch nur sehr lückenhaft, deswegen werde ich dir nicht sagen können, wie du Eden wirst, geschweige denn genau das verhindern kannst. Alles was ich weiß, habe ich aus diversen Aufzeichnungen, die die Dämonenjäger und gescheiterten Gründerindividuen uns hinterlassen haben. Hätte Refiel in dem Duell zwischen dir und Alastair deinen 'Kumpel' nicht als Gründer erkannt, wüssten wir bis heute nicht, womit wir es zu tun haben.“

„Ahja. Und weiter?“

Anya spielte gelangweilt mit einer blonden Strähne, die ihr im Gesicht hing.

Seufzend legte Matt seine Unterarme auf die Oberschenkel und ließ den Kopf hängen.

„Sie alle beschreiben den Beginn dieses Prozesses wie folgt. Zunächst formt der Gründer mit einem Menschen, der ihm würdig erscheint, einen Pakt. Dieser ist der Grundbaustein für alles, was folgt. Dort, wo er geschlossen wurde, wird zum vorgesehenen Tag der Turm von Neo Babylon erscheinen.“

„Das wäre ja in der Aula“, überlegte Anya. Plötzlich legte sie ein triumphierendes Grinsen auf, als sie realisierte, was Matts Worte bezüglich der Livington High bedeuteten. „Geil! Heißt das, die Schule verschwindet?“

„Weiß ich nicht. Was ich weiß ist, dass du nur im Inneren des Turms zu Eden werden kannst.“

„Dann bleib ich dem Teil einfach fern“, schloss Anya daraus stolz und lehnte sich entspannt zurück. „Problem gelöst.“

Matt lachte zynisch auf. „Als ob. Die letzten Gefäße der Gründer, die das versucht haben … ach egal.“

Wieder ließ er den Kopf hängen. „Es funktioniert nicht. Bisher hat niemand der Betroffenen einen Weg gefunden, den Prozess von Edens Erwachen aufzuhalten. Genau wie es wohl noch nie jemandem gelungen ist, Eden zu erwecken.“

 

Ich habe es in der Vergangenheit bereits versucht. Auf der höchsten Spitze des Turms, im Kristallsaal, sollte es stattfinden. Doch mein Gefäß starb einen elendigen Tod, bevor das eigentliche Ritual überhaupt begonnen hatte. Bis heute habe ich dafür keine Erklärung gefunden.

 

„Huuu, die guten Nachrichten häufen sich“, brummte Anya und richtete ihr Wort an Matt. „Das wird ja immer besser. Weißt du zufällig, warum bisher jeder gescheitert ist?“

„Offensichtlich weil die falsche Menge an Zeugen als Opfer angeboten wurde.“

Einmal mehr runzelte Anya in ihrer Unwissenheit die Stirn und verschränkte genervt die Arme. „Und das Ganze heißt übersetzt soviel wie … ?“

„Es heißt“, sprach Matt und sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Auch wurde er plötzlich sehr leise, dass Anya sich regelrecht in seine Richtung beugen musste. „Es heißt, dass du allein nicht imstande bist, Eden zu wecken.“

„Ahja?“

„Ja …“ Mit einem Ruck sah er weg. „Du brauchst diejenigen, die die Zeugen der Konzeption genannt werden. Menschen, die ebenfalls im Pakt mit einer hohen Wesenheit stehen. Du erkennst sie an den Malen an ihren Armen, die deinem ähneln. Jede Wesenheit hat dabei ihr eigenes Symbol. So hat es zumindest einer der gescheiterten Gründer ausgedrückt.“

Die Blondine hob ebendiesen Arm und betrachtete das schwarze Kreuz im Dornenkranz auf ihrer Haut. Anschließend sah sie wieder auf. „Klingt scheiße.“

„Ist es auch, denn sie müssen für Eden geopfert werden. Aber wie viele gebraucht werden, das weiß niemand. Und das ist der Grund, warum ich hier bin. Die Zeugen … du wirst sie ins Unglück stürzen.“

 

Anya Bauer! Wenn das der Wahrheit entspricht, ist Valerie Redfield in großer Gefahr! Sie besitzt ebenfalls ein solches Mal!
 

Noch bevor Levrier geendet hatte, sprang Anya mit funkelnden Augen auf. „Eden, ich komme! Alter, endlich werd' ich diese Dumpfralle los! Hallelujah!“

Matt klatschte sich die Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Hast du überhaupt zugehört? Da könnten Menschen sterben! Wegen dir!“

Allerdings interessierte das Anya nicht. Sie blickte gleichgültig auf ihn herab und verzog keine Miene, als sie sagte: „Wen juckt's?“

„Mich!“

Nun war auch Matt aufgesprungen.

 

Ich sage das nur ungern, aber auch Marc Butcher muss demnach ein Zeuge der Konzeption gewesen sein. Das ist also die Verbindung, die ich zu diesem Dämon, Isfanel, gespürt habe. Sein Gefäß ist ein potentielles Opfer gewesen. Das erklärt, warum ich beim letzten Versuch, Eden zu erwecken, gescheitert bin. Ich habe nicht um die Existenz jener Zeugen der Konzeption gewusst … doch …

 

Allerdings hörte Anya gar nicht zu, sondern funkelte nur ihr Gegenüber an. Dabei erwiderte sie nicht minder aufgebracht und wild gestikulierend: „Wen verdammt nochmal juckt's? Es hat doch jeder selbst die Wahl, ob er diese Paktkacke annimmt oder nicht! Redfield hätte eben das Kleingedruckte lesen müssen! Und ich werde sicher nicht wegen der …“

Doch Anya wusste nach wie vor nicht, was genau die Konsequenzen ihres Scheiterns waren. Deswegen stampfte sie wütend auf. „Ich werde definitiv, aber so was von sicher NICHT aufgeben, klar!? Was soll ich auch tun, wenn es sowieso keinen Weg gibt, den Mist zu beenden!?“

„Du bist ein Monster, weißt du das!?“, erwiderte Matt, dessen Kopf hochrot vor Wut geworden war. „Und da heißt es, ich wäre die Verkörperung eines Dämons, huh!? Lächerlich!“

„Ach ja? Na warum killst du mich dann nicht, wenn ich doch so böse bin und du mich am liebsten loswerden würdest!?“, fragte Anya provozierend und winkte Matt tollkühn zu sich. „Lass uns da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben!“

„Pah!“, raunte der Dämonenjäger und winkte ab. Er wandte sich dem Fenster zu und durchschritt das Wohnzimmer. Den Blick von ihr abgewandt, murmelte er verbittert: „Was glaubst du wohl? Wenn das ginge, hätte Alastair schon längst kurzen Prozess mit dir gemacht.“

Das Mädchen schnalzte mit der Zunge und grinste gehässig. „Der hat wohl eingesehen, dass ich in einer anderen Liga spiele als er.“

Matt sah sie über seine Schulter hinweg hasserfüllt an. „Soll das ein Scherz sein? Nur weil du nahezu unsterblich bist, heißt das nicht, dass du uns überlegen bist.“

 

Er weiß davon!?

 

„Wovon?“ Anya blinzelte verdutzt. „Huh?“

Vor Verwirrung verzichtete sie sogar auf ihre obligatorischen Protestsprüche inklusive Beleidigung und Drohgebärden. „Unsterblich, ich? Bin ich endlich ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen worden?“

Matt lachte zynisch auf. „Klar, als größter Kotzbrocken der Menschheit! Pff, so etwas Ähnliches hat deine Freundin damals auch gesagt, als ich ihr davon erzählt habe.“

„Danke, du hast ja doch Ahnung“, erwiderte Anya, stolz auf seine ursprünglich als Beleidigung gemeinten Worte. „Aber was soll das heißen, meine Freundin habe etwas Ähnliches gesagt? Meinst du Abby?“

„Als ich ihr sagte, dass der Pakt mit dem Gründer dir zeitweilige Unsterblichkeit verleiht, hat sie auch so einen ähnlichen Witz gerissen.“ Der Schwarzhaarige musste bei dem Gedanken daran schmunzeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieses Mädchen noch nicht geahnt, was ihr bevorstand.

Doch als er sah, wie Anyas Züge sich verhärteten, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. „Sie hat dir nichts davon erzählt?“

„Allerdings …“

Matt stöhnte auf und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Oh verdammt! Und ich Idiot serviere dir das auch noch auf dem Silbertablett?“

Er schüttelte den Kopf und musste auflachen. „Man … ich und mein Glück. Da zerfetzt die mir den Arm und erzählt dir dann nichts von alldem?“ Schließlich pfiff er anerkennend. „Respekt. Diese Abby ist sogar loyal ihren Feinden gegenüber.“

„Aller-dings“, knurrte Anya unmenschlich und ballte eine Faust.

Mit einem Mal sah der Dämonenjäger das Mädchen mit einem fiesen Grinsen an. „Ob das daran liegt, dass sie sich umentschieden und die Seiten gewechselt hat?“

„Das werden wir gleich herausfinden!“, donnerte Anya wütend. „Wenn ich die in die Finger bekomme, mache ich sie kalt, dann warm und anschließend wieder kalt!“

 

Es hatte sie wie ein Schlag getroffen. Nicht die Unsterblichkeit, die war ihr egal. Aber dass Abby ihr nichts davon erzählt hatte, war für Anya schlichtweg Verrat. Ausgerechnet sie, ihre beste Freundin!

Wie viel hatte sie von Matt erfahren? Alles eben Gesagte? Oder gar noch mehr? Warum!?

Nach allem, was Anya für sie getan hatte. Was zugegebenermaßen etwas mehr hätte sein können, aber dennoch! Sie hatte Abby davor bewahrt, eine Mörderin zu werden, noch dazu hatte sie sie überhaupt erst aus den Fängen Alastairs befreit und sie hatte ihr ihr Selbstvertrauen wiedergegeben, nachdem sie Angst vor sich und ihrer Herkunft entwickelt hatte! Und was war der Dank!?

Verrat! Diese miese Lügnerin! Was sollte dann das auf dem Dach neulich? Wollte Abby sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich umbringen und hatte es schlichtweg aus Feigheit nicht durchziehen können?

Anya wusste nicht mehr, ob das Mädchen noch Freund oder Feind war. Genau wie Levrier, der ihr all dies ebenfalls verschwiegen hatte.

Sie würde die beiden-!

 

„Oh verdammt!“, polterte Matt plötzlich und schreckte vom Fenster zurück.

„Was ist denn!?“, fauchte Anya ihn an, denn sie hasste es, wenn man ihre theatralischen Momente unterbrach. Nicht mal ungestört aufregen konnte man sich mit dem!

Matt deutete mit dem Daumen Richtung Fenster. „Ich schätze, wir haben unerwartet Besuch bekommen.“

Widerwillig trat Anya zu ihm und sah hinaus auf die Straße. Und als sie erkannte, was er meinte, stöhnte sie frustriert auf. „Oh, na toll! Jetzt ist auch noch Oddstrange McWeirdo hier. Und ich dachte echt, der Tag kann nicht mehr beschissener werden!“

 

Wenn man jedoch Alastairs vernarbtes Gesicht dort draußen recht betrachtete, wie er dort auf dem Bürgersteig vor Anyas Gartentür stand, mochte man glatt vom Gegenteil ausgehen. Denn Anyas Zorn schien nichts zu sein im Vergleich zu dem, der Alastair offensichtlich hierher geführt hatte. Still stand er da und wartete, hatte er die beiden am Fenster schließlich längst bemerkt.

 

„Das wird jetzt weniger lustig“, meinte Matt nachdenklich. Er wandte sich vom Fenster ab und schritt durch das Wohnzimmer, um das Haus zu verlassen. Anya blickte ihm genervt hinterher.

„Was will der überhaupt hier? Will der mir plötzlich auch helfen?“

Sie folgte ihm zur Haustür.

„Nein“, erwiderte Matt, wobei er schon vor ebenjener stand. „Ganz im Gegenteil. Alastair will dich am liebsten auf einem Scheiterhaufen sehen. Nur geht das eben nicht so leicht. Aber dass er sofort spitzgekriegt hat, dass ich mit dir gemeinsame Sache machen will? Naja, so misstrauisch wie er ist.“

„Gibt's etwa Ärger im Paradies oder was ist los?“, raunte Anya spitz. „Ich dachte ihr seid'n Team?“

„Wart ab und sieh selbst.“

Das gesagt, öffnete Matt die Tür und trat ins Freie, dicht gefolgt von Anya, der langsam der Kopf vor so viel Informationsinput zu dröhnen begann. Dabei rief sie ihm hinterher: „Und nur damit du es weißt, ich glaube dir sowieso kein Wort! Du und ich, Partner? Pah, eher heirate ich Nick!“

„Pff, wenn du meinst …“

 

Als Matt dicht gefolgt von Anya über den Weg hin zur Gartentür des Grundstücks ging, richtete er seinen Blick starr auf Alastair. Es war wie ein Marsch bei einer Beerdigung, so kam es dem Dämonenjäger zumindest vor. Und so wie er Alastair kannte, plante dieser wahrscheinlich schon fleißig an der seinen.

„Was für ein seltener Anblick“, spottete Alastair, als die beiden Partner sich schließlich durch den Zaun getrennt gegenüber standen. „Der Jäger und seine Beute, vereint.“

„Na so weit sind wir noch nicht“, gab Matt sich mit einem unbedarften Schulterzucken gelassen.

Anya ihrerseits fügte scharfzüngig hinzu: „Und werden es auch nie sein! Niemand, der Anya Bauer-“

„Halt den Mund, Schlangenzunge“, verlangte Alastair ruhig aber bestimmend und schenkte dem Mädchen gar keine Beachtung, fixierte sich stattdessen auf Matt. „Hast du mir irgendetwas zu sagen?“

„Kommt drauf an, was du hören willst.“

„Eigentlich spielt es keine Rolle, was dich hierher geführt hat. Du lässt dich auf sie ein? Das macht uns zu Feinden.“ Der entstellte Alastair in seinem roten Mantel zog aus einer Innentasche ebenjenes ein Messer und zeigte damit auf seinen Freund. „Erwartete keine Gnade, nur weil wir uns nahestanden.“

Matt lachte fassungslos auf und breitete seine Arme aus. „Du willst das wirklich durchziehen? Ohne zu wissen, warum ich überhaupt hier bin? Seit wann bist du so verdammt ignorant?“

 

Doch statt einer Antwort erwartete Matt ein Ausfallschritt nach vorne. Das Messer schoss an seiner Wange vorbei, während er nach rechts auswich und Alastairs Arm packte. Allerdings konnte er den darauf folgenden Faustschlag seines Gefährten nicht abwehren und wurde an der Wange getroffen.

„Hör auf damit!“, forderte Matt, machte einen Satz über Anyas Gartentor und stand Alastair nun direkt gegenüber. Nur um anschließend dessen Hieben und Stichen ausweichen zu müssen.

Zeitgleich staunte Anya, wie schnell die beiden in ihren Bewegungen eigentlich waren. „Alter Falter!“

 

Was erwartest du? Diese beiden haben sich dem Kampf gegen die unseren verschrieben. Dass sie dazu körperlich und geistig trainiert sein müssen, ist eine Selbstverständlichkeit.

 

„Ach halt die Klappe!“

Das Mädchen hoffte darauf, dass einer der beiden es schaffte, den anderen einen Kopf kürzer zu machen. Dann müsste sie nämlich nur noch die Reste beseitigen. Zu denen übrigens auch Abby gehören würde!

 

Matt wich ein weiteres Stück von Alastair zurück. „Hör doch endlich zu!“

„Wieso sollte ich? Du wusstest um die Konsequenzen deines Handelns!“ Alastair verzog wütend sein Gesicht, was bei seinen vielen Brandnarben nahezu grotesk wirkte, als trage er eine Maske. „Schon damals, als du Idee hattest, einen Dämon auf sie zu hetzen, habe ich geahnt, dass es irgendwann hierzu kommen würde! Wie gut, dass wir das nie umgesetzt haben! Dennoch hat dich der heilige Refiel deswegen im Auge behalten! Ich musste wissen, was in dir vor sich geht!“

„Dann hat dein Haustier mich also ausspioniert, huh?“, erwiderte Matt bissig. „Du vertraust wirklich niemandem, oder?“

Alastair jedoch polterte: „Rede nicht so über einen Engel! In der Tat, ich vertraue niemandem! Und du bist der beste Beweis dafür!“

Auf seine harschen Worte hin zuckte Matt zusammen, denn er konnte die Wahrheit in ihnen nicht verleugnen.

„Recht hat er …“ Anya ebenso wenig.

 

„Bleibt mir wohl nichts anderes übrig …“

Plötzlich zückte Matt aus der Tasche seines schwarzen Ledermantels zwei weiße Karten, von denen er eine in die Höhe warf und eine direkt auf Alastair zu. Es gab zwei grelle Lichtblitze und als Anya ihre Augen öffnete, musste sie schlucken.

Der Himmel war verdunkelt, in tiefstem Blau, als wäre die Nacht angebrochen. Außerdem schien es so, als wären einige der Häuser des beschaulichen Vororts Livington plötzlich durch unsichtbare Mauern direkt in ihrer Mitte durchtrennt worden. Wie ein Würfel schien der Bannkreis sich über ihr Umfeld gelegt zu haben.

Sie stöhnte resignierend. „Jetzt geht das wieder los …“

Plötzlich loderten schwarze Flammen um die beiden auf. Anya wich erschrocken zurück, als jene den Gartenzaun verbrannten und einen Teil des Grundstücks zu verschlingen begannen.

„Spinnst du!? Meine Mutter wird mich dafür umbringen!“, keifte sie dabei und zeigte auf das Feuer, denn sie wusste bereits durch das Duell mit Alastair, dass der Schaden bestehen bleiben würde, trotz Bannkreis. Dass die Flammen aber auch auf das Nachbargrundstück herfielen, war Anya auf der anderen Seite völlig egal. So sparte sie sich wenigstens die Mühe damit, es irgendwann selbst zu tun.

„Sorry, aber das muss sein“, entschuldigte sich Matt, während vor ihm und Alastair jeweils ein schwarzes Tuch aus Samt schwebte. Anya erkannte sie wieder, es waren diese Dinger, die wie Duel Disks funktionierten. „Tut mir leid um dein Grundstück, aber bevor Alastair hier noch völlig durchdreht, dachte ich mir, dass wir das unter uns regeln sollten. Ohne Zuschauer versteht sich.“

„Und deswegen ein Duell?“, fragte sein Kamerad höhnisch.

Matt nickte ihm mit siegessicherer Mimik zu. „Sicher. Kann ja sein, dass du mir an den Kragen willst. Bei mir sieht das allerdings etwas anders aus. Irgendwie muss ich mich ja verteidigen, oder?“

 

Alastair betrachtete das schwebende Tuch mit dem eingenähten Duel Monsters-Spielplan darin, seine eigene Schöpfung. Die Flammen würden erst verschwinden, wenn der Zauber, der in dem schwarzen Stoff verwoben war, seine Wirkung verlor. Und das ging nur durch ein Duell. Er hatte also gar keine andere Wahl.

Wütend sah er auf.

„Was bezweckst du mit dieser Farce? Du verbündest dich mit dem Feind und nun das?“ Er richtete sich dabei an Anya. „Was soll das, Dämon? Hast du seinen Verstand verhext?“

Nicht weniger abweisend und zynisch erwiderte die: „Das musst du schon Matt von Schwafel fragen und nicht mich!“

„Kapierst du es nicht?“, herrschte jener seinen Freund und Mentor an. „Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten! Anya zu töten ist so oder so nahezu unmöglich, warum also versuchen wir nicht, ihr stattdessen zu helfen?“

Alastair verengte seine Augen zu Schlitzen und zischte: „Warum würde ich so etwas tun wollen? Sie ist eine Dämonenanbeterin und sollte vernichtet werden!“

„Genau das ist doch der springende Punkt! Dazu sind wir nicht in der Lage und das weißt du! Ich für meinen Teil werde aber nicht einfach nur zusehen, wie du in Lebensgefahr schwebst! Ich habe schon einmal meine Familie verloren, das wird mir kein zweites Mal passieren!“

Plötzlich erweckte Matt den Eindruck, als wäre er unendlich traurig. Er neigte den Kopf zur Seite und biss sich auf die Lippe, scheinbar erdrückt von der eigenen Hilflosigkeit gegenüber seinem Freund.

 

Erstaunt wandte Anya sich an den Schwarzhaarigen, welcher die Fäuste ballte und mit entschlossenem Blick auf Alastairs Reaktionen abwartete. „Was geht denn mit dir ab? Seit wann ist ausgerechnet der denn in Gefahr?“

„Sag's ihr“, verlangte Matt daraufhin von seinem Gegenüber.

„Pff …“

Alastair schloss die Augen und hob seinen rechten Arm, ehe er den roten Stoff seines Mantels wegschob. Und was Anya dort erblickte, verschlug ihr glatt die Sprache. Neben dem vernarbten Gewebe war deutlich ein gelbes Mal zu sehen, welches eine Lanze darstellte, die direkt durch den Brustkorb eines Skeletts ging, einem schräg nach unten gerichtetem Pfeil gleich.

„W-was!?“, sprudelte es schließlich aus dem Mädchen heraus. „Der auch!?“

„Das war der Preis, den ich zahlen musste, um des Heiligen Refiels Kraft zu empfangen“, erklärte Alastair emotionslos. „Wie du siehst, spielt es keine Rolle, ob Engel oder Dämonen dich erwählen. In beiden Fällen wirst du ein Zeuge der Konzeption.“

 

„Verstehst du nun, warum ich mit dir zusammenarbeiten will?“, fragte Matt Anya bedrückt. „Wirst du zu Eden, geht er womöglich hopps.“

Er wandte sich an das Mädchen und musste erstaunt bemerken, dass sie nicht mehr auf der anderen Seite des schwarzen Feuerwalls stand. Erschrocken stellte er fest, dass sie am Boden lag und sich nicht rührte.

„Anya!“, rief er und starrte Alastair verwirrt an. „Was ist mit ihr?“

„Ihr Dämon hat sie ins Elysion befohlen“, antwortete jener unterkühlt. „Sieht so aus, als gäbe es Dinge, die er vor uns nicht bereden will. Im Elysion kann Refiel ihn nicht hören.“

„Bist du dir sicher? Sie-“

Alastair schnaubte. „So besorgt bist du also um jemanden, der vor Kurzem noch dein Erzfeind war. Kümmere dich nicht um sie. Bin nicht ich es, der im Mittelpunkt deiner Aufmerksamkeit stehen sollte?“

Aufgewühlt sah Matt abwechselnd zur bewusstlosen Blondine und Alastair, nicht wissend, wie er darauf reagieren sollte. Ihm war klar, dass mit seinem Freund ohnehin nicht zu diskutieren war. Sie beide wussten, dass sie das Duell austragen mussten, damit ihr loderndes Gefängnis verschwand, doch die Frage war, wie Alastair spielen würde. Er hatte Refiel, mit dem er realen Schaden durch seine Angriffe anrichten konnte. Matt hatte da bedeutend weniger Glück.

 

„Wenn du wirklich diesen Pfad beschreiten willst, sind wir fortan Feinde“, sprach Alastair ungerührt von der Verzweiflung seines ehemaligen Kameraden, denn diese war jenem regelrecht ins Gesicht geschrieben. So war es immer gewesen, wenn in Matt ein Kampf um die Frage entfacht war, was das Richtige sei.

Der Dämonenjäger schüttelte auf Alastairs Worte hin vehement den Kopf. „Hör auf zu reden, als wäre alles so simpel, verdammt! Du warst es doch erst der Auslöser für alles! Wegen dir hat Anya den Pakt geschlossen! Also tu nicht so, als wäre alles meine Schuld! Stattdessen solltest du uns lieber helfen, einen Ausweg aus dieser Misere zu finden!“

„Ich werde niemals mit Dämonen kooperieren!“ Das war Alastairs letztes Wort. Um dies zu verdeutlichen, legte er sein Deck auf die dazugehörige Fläche des schwebenden Tuches, welches sich verhärtete und zu einer Marmorplatte wurde.

„Dann werde ich dich eben dazu zwingen!“, erwiderte Matt und tat es ihm gleich.

Das entlockte dem hochgewachsenen Mann mit dem langen, schwarzen Haar, von dem ihm ein Teil in Form eines Zopfes über der linken Schulter lag, ein höhnisches Gelächter. „Thh! Und wie willst du das anstellen? Mit einem bedeutungslosen Duell wie diesem? Du müsstest mich schon töten, um etwas an dieser Situation zu verändern. Aber zu so etwas bist du nicht in der Lage, auf die eine oder andere Weise. Warst du noch nie.“

Die traurige Wahrheit ließ Matt zusammen krampfen. Dennoch blieb er kämpferisch und versuchte sich an aufgesetzter guter Laune, wie er es immer tat, wenn er in Wirklichkeit verzweifelt war. „Wart es ab. Wie du weißt, bin ich immer für eine Überraschung gut.“

„Hmpf!“

Schließlich schrien beide: „Duell!“

 

[Alastair: 4000LP / Matt: 4000LP]

 

„Ich bin der Herausforderer, also fange ich auch an!“, stellte Matt klar, nachdem beide über ihr Startblatt verfügten.

Doch kaum hatte er sein Deck berührt, durchlief ein eisiges Gefühl seinen Arm und breitete sich von dort im ganzen Körper aus. Seine Sicht verschwamm und statt der schwebenden Marmorplatte entstand ein völlig anderes Bild vor seinen Augen.

 

Alastair stand ihm in erhabener Pose im schwarzen Flammenkreis gegenüber, während weit über ihm eine eine weiße, mechanische Kreatur schwebte. Metallische Schwingen besaß sie, wie die eines Engels. Verbunden waren sie mit einem goldenen Ring, der sich am Rücken jenes Wesens befand, das statt Beinen eine Art Turbine am Unterleib besaß. Es streckte seinen rechten Arm in Matts Richtung und bündelte von der Handfläche aus eine gleißende Lichtkugel.

Das war's wohl“, sagte er, ohne überhaupt zu wissen warum er das tat. „4400 Angriffspunkte sind genug, um mich mit einem Schlag zu vernichten. Dumm gelaufen, huh? Hat ja nicht lange gedauert.“

Das waren nicht seine Worte, dachte Matt daraufhin erschrocken und erkannte, dass dies eine Vision sein musste. Und er kannte dieses Monster, dem Alastair nebenbei lauthals den finalen Angriff befahl. Es war [Vylon Epsilon].

Judgment Bomber!“

Alastairs engelhafte Kreatur schoss nun die Lichtkugel in seiner Hand auf Matt ab, welcher schreiend in einer Explosion unterging.

 

Sogleich verschwamm alles und Matt sah wieder den Spielplan vor sich schweben, immer noch die Finger auf die oberste Karte seines Decks gelegt.

Fassungslos, was gerade geschehen war, blickte er auf und starrte Alastair an. „Was … war das?“

„Wovon redest du?“, erwiderte der kühl. „Willst du nun beginnen oder nicht?“

„K-klar.“

Er zog hastig und ließ das eben Erlebte Revue passieren. Alastair hatte ihn mit einem Schlag besiegt, das war, was er gesehen hatte. Doch wieso? War das die Zukunft? Wenn ja, warum hatte er diese gesehen? Das ging doch weit über seine Fähigkeiten und die eines Dämonenjägers im Allgemeinen hinaus!

Matt warf prüfend einen Blick auf sein Blatt. Was immer er da gesehen hatte, es musste etwas bedeuten! Konnte das Refiels Einwirken gewesen sein, um zu verhindern, dass etwas Schlimmes geschah?

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Nein, Refiel war ganz auf Alastairs Seite. Beziehungsweise kam es ihm eher so vor, als würde Refiel Alastair regelrecht lenken. Diesem Engel, den er nie gesehen hatte, traute Matt ohnehin nicht über dem Weg. Es war völlig undenkbar, dass der ihm beistehen wollte.

Also woher kam diese Vision dann?

Egal was es war, Matt war nicht so töricht, sie einfach zu ignorieren. Wenn Alastair wirklich vorhatte, ihn binnen eines Zuges zu besiegen, musste er unbedingt auf Nummer Sicher gehen. Denn es war zu erwarten, dass das, was Matt eben gesehen hatte, schon nächste Runde geschehen würde.
 

„Ich setze ein Monster verdeckt!“, rief Matt und knallte jenes auf den Spielplan. Daraufhin erschien besagte Karte vor ihm in vergrößerter Form und Querlage. „Außerdem aktiviere ich [Foolish Burial]. Damit schicke ich ohne Umschweife ein Monster von meinem Deck auf den Friedhof.“

Der junge Dämonenjäger schnappte sich sein Deck und zückte schließlich [Steelswarm Scout], den er zusammen mit seiner Zauberkarte auf den Ablagestapel legte. „Sehr gut. Zug beendet!“

Matt überkamen jedoch Zweifel. In die Zukunft zu sehen war unmöglich! Nein, wegen seiner Nervosität musste ihm seine Fantasie einen Streich gespielt haben. Anders war das nicht zu erklären, was er gesehen hatte.

 

„Mein Zug.“

Alastair legte wortlos [Vylon Prism] auf seinen Spielplan. Sofort im Anschluss erschien das weiß-goldene Wesen, einem hohen Schild in Prismaform nachempfunden, vor ihm.

 

Vylon Prism [ATK/1500 DEF/1500 (4)]

 

„Nun von meiner Hand die Magiekarte [Celestial Transformation]. Dank ihr beschwöre ich von meiner Hand ein Monster der Gattung Fee als Spezialbeschwörung.“ Er legte sein Monster neben [Vylon Prism] und reckte stolz das Kinn. „Dabei gehen jedoch die Hälfte seiner Angriffspunkte verloren und es wird am Ende des Zuges sterben. Ich wähle [Vylon Hept].“

Eine weitere weiße Gestalt erschien, die breite Arme, dafür aber keinen Unterleib besaß. Goldene Schwingen ragten aus seinem breiten Rücken und ließen es nicht weniger edel erscheinen als seinen Kameraden.

 

Vylon Hept [ATK/1800 → 900 DEF/800 (4)]

 

„Was-!?“ Matt konnte es nicht glauben. Das bedeutete-!

Alastair schwang seinen Arm aus. „Du weißt, was dich jetzt erwartet. Ich stimme den Stufe 4-Empfänger [Vylon Prism] auf [Vylon Hept] ein! Infinite power lies within the tormented soul! Rule this world with your penetrating gaze! Synchro Summon! Descend down, [Vylon Epsilon]!“

Ein gleißendes Licht breitete sich im Bannkreis aus, als [Vylon Hept] durch die vier typischen, grünen Synchroringe flog, in die sein Kamerad zersprungen war. Was folgte war eine regelrechte Lichtexplosion. Ein mechanisches Schnarren ertönte daraufhin, als über Alastair eine weiße Maschine mit ebenso weißen Metallschwingen herabstieg. Jene Flügel waren an einem goldenen Ring befestigt, der über seinem Rücken angebracht war und wie alle Vylon-Monster mangelte es auch Epsilon an Beinen, wofür er stattdessen eine turbinenähnliche Vorrichtung besaß, mit der er zu schweben vermochte.

 

Vylon Epsilon [ATK/2800 DEF/1200 (8)]

 

„Unmöglich …“, murmelte Matt fassungslos im Lichte des majestätischen Ungetüms.

„Natürlich ist das möglich. Und sieh her, es ist noch nicht vorbei!“ Alastair zückte [Vylon Prism] zwischen seinen Fingern hervor und erklärte: „Indem ich mein Leben um 500 Punkte verkürze, kann ich diese Karte zu einer Ausrüstungsmagie umfunktionieren, sobald sie den Friedhof betritt. Diese verbindet sich nun mit [Vylon Epsilon] und stärkt es nur im Falle eines Kampfes um 1000 Angriffspunkte!“

 

[Alastair: 4000LP → 3500LP / Matt: 4000LP]

 

„Also 3800 im Ernstfall“, zählte sein Gegner nur gebannt mit, als eine durchsichtige Abbildung des prismaartigen Schildes in [Vylon Epsilon] verschwand. „600 fehlen noch …“

„600?“, hakte Alastair mit unterschwelligem Erstaunen nach. „Du weißt also schon, was jetzt geschehen wird?“

„Man könnte sagen, ich kann es mir denken“, erwiderte Matt grimmig. Was er gesehen hatte, es würde eintreten. Aber das war völlig absurd!

„Hmpf, wie auch immer. Ich aktiviere von meiner Hand die Ausrüstungsmagie [Vylon Material], die meine Kreatur um 600 Angriffspunkte verstärken wird. Doch ich benutze [Vylon Epsilons] Effekt und schicke besagte Ausrüstung sofort wieder auf den Friedhof, um dein Monster zu vernichten! Declaration Of Superiority!“

Epsilon legte seine gewaltigen Hände aufeinander und schoss eine Lichtkugel auf Matts gesetzte Karte ab, die in einer grellen Explosion zerfetzt wurde. Kurz erschien eine schwarze Bienengestalt, die jedoch unter dem Druck des unnatürlich lodernden Infernos einfach zersprang.

„Wie du weißt, erhalte ich eine neue Vylon-Magiekarte, wenn [Vylon Material] auf den Friedhof geschickt wird.“ Alastair zeigte eine weitere Kopie besagten Ausrüstungszaubers vor. „Diese hier soll es sein und deinen Untergang besiegeln, indem ich mein Monster zurück auf 4400 Angriffspunkte bringe und dich mit einem Schlag vernichte!“

 

Ein dünner Stachel schoss aus den weißen Flammen und drang direkt in [Vylon Epsilons] Brust ein.

Matt stand mit verschränkten Armen hinter seiner Marmorplatte und grinste zufrieden. „Dacht ich's mir doch. Du hast gerade [Steelswarm Sting] zerstört und damit deinen Untergang besiegelt, nicht meinen. Wie du weißt, reißt Sting ein beliebiges Ritual-, Fusions- oder Synchromonster mit sich ins Verderben. Bye bye, [Vylon Epsilon]!“

Mit einem noch lauteren Knall detonierte der Stachel in der Brust des mechanischen Engels und riss ihn so in tausende Stücke. Erstaunt sah Alastair nach oben, von wo überall Einzelteile seiner Kreatur herabregneten und sich auflösten. Nebenbei nahm er aufgrund der Tatsache, dass [Vylon Material] bei der Zerstörung seines Monsters auf den Friedhof gelegt wurde, die dritte und letzte Kopie ebenjener vom Deck aufs Blatt.

„Tja, sieht so aus, als hätte der Schüler seinen Meister überholt. Ich kann deine Gedanken lesen, weißt du?“, triumphierte Matt zufrieden. Und überspielte damit den Fakt, dass er diesen Sieg nur dieser seltsamen Eingebung zu verdanken hatte.

„Du hast 'meine' Gedanken anscheinend nicht zu Ende gedacht“, holte Alastair ihn da plötzlich mit unheilverkündender Stimme auf den Boden der Realität zurück. „Magiekarte, [Monster Reborn]!“

„Was-!?“

Dort, wo eben noch Alastairs Monster zerfetzt worden war, regenerierte es sich in bläulichem Licht nun wieder zu alter Pracht.

 

Vylon Epsilon [ATK/2800 DEF/1200 (8)]

 

„Verdammt“, schrie Matt fassungslos, „das kann doch nicht wahr sein!“

„Dachtest du ernsthaft, ich hätte mit so etwas nicht gerechnet?“ Alastair schnaubte abfällig. „Maße dir nicht an, dich über mich zu stellen. Wissen allein genügt dazu nicht. Das beweise ich dir jetzt! Ich rüste [Vylon Epsilon] mit [Vylon Material] aus!“

Um seine Kreatur erleuchtete eine silberne Aura.

 

Vylon Epsilon [ATK/2800 → 3400 DEF/1200 (8)]

 

Anschließend streckte Alastair seinen Arm aus und zeigte erbarmungslos auf Matt. „Empfange deine Strafe, Verräter! [Vylon Epsilon], Judgment Bomber!“

„Oh verdammt!“

Matt wich noch zurück, doch es geschah innerhalb eines Herzschlags. Die monströse Maschine spannte ihre Schwingen und schoss in so hoher Geschwindigkeit eine gewaltige Lichtkugel aus seinen Händen ab, dass für Matt gar nicht daran zu denken war, sich zu schützen.

Laut krachend wurde er erwischt und in einer gleißenden Kuppel gefangen, aus der immer wieder und wieder Blitze auf ihn herab sausten, bis er schreiend in die Knie ging und umkippte.

 

[Alastair: 3500LP / Matt: 4000LP → 600LP]

 

Sein schwarzer Mantel war an einigen Stellen aufgerissen und verbrannt. Dennoch richtete Matt sich ächzend auf und versuchte darüber zu lachen. „Das ist wohl schief gegangen.“

Wankend auf die Beine gekommen, starrte er ungläubig Alastairs Monster an. „Damit habe ich echt nicht gerechnet.“

„Und deswegen wirst du mich nie übertreffen können, Matthew Summers.“ Alastair nahm seine letzte Handkarte und legte sie hinter seinem Monster auf den Spielplan. „Diese hier setzte ich, um dein Urteil endgültig zu fällen. Du wirst diesen Kreis nicht lebend verlassen.“

„Obwohl wir Freunde sind?“, ächzte Matt und hielt sich die Schulter dabei. „Machst du es dir mit deiner Verräternummer nicht etwas zu leicht?“

„Das sind die Gesetze der Dämonenjäger“, rechtfertigte Alastair sich jedoch nur kalt, „die, die wir alle einhalten müssen. Der Kodex. Tu nicht so, als ob du das nicht hast kommen sehen.“

Sein Gegner erwiderte jedoch nur trotzig: „Ich habe dir wohl zu viel Menschlichkeit und Verstand zugetraut. Sorry, mein Fehler!“

„Das Gerede eines Dämonenfreundes interessiert mich nicht. Du bist am Zug. Nutze ihn weise, denn es wird dein letzter sein.“

 

Na wie wird er dann erst reagieren, wenn er erfährt, dass wir gleich einen netten Plausch haben werden?

 

Matt erstarrte, als er diese spöttische Stimme vernahm. Sofort erkannte er, dass Alastair sie nicht gehört haben konnte. Woraufhin ihn ein unheimlicher Verdacht beschlich.

„Was bist du?“, flüsterte er. „Hast du mir etwa diese Vision geschickt?“

 

Was ich bin spielt doch gar keine Rolle. Menschen … immer müssen sie alles kategorisieren. Aber ja, das war ich. Wer auch sonst?

 

„Warum bist du hier und hilfst mir?“ Matt verzog wütend das Gesicht. „Bist du Anyas Dämon? Wenn ja, verzichte ich auf deinen Beistand!“

 

Oh mitnichten, ich bin nicht Levirer. Nenne mich einfach … Another. So, und jetzt zum Geschäft.

 

 

Turn 18 – In Cold Blood

Der Dämon 'Another' stellt Matt vor die Wahl, einen Pakt mit ihm einzugehen. Matt, der um die Lebensgeschichte Alastairs weiß und in Another denjenigen erkennt, der für den Tod von Alastairs Eltern verantwortlich ist, verweigert jedoch jegliche Kooperation. Doch im Angesicht seines früheren Freundes wird ihm klar, dass er ohne Hilfe machtlos ist und nicht mit Gnade rechnen darf. Sollte er den Pakt allerdings annehmen, wird er selbst zu einem Zeugen der Konzeption und somit womöglich zum Opfer Edens, was wiederum auch ein Tor für völlig neue Möglichkeiten öffnet. In Matt entfacht ein schrecklicher Kampf zwischen seiner Loyalität zu Alastair und der Frage, was das Richtige ist …

Turn 18 - In Cold Blood

Turn 18 – In Cold Blood

 

 

„A-another?“, stammelte Matt leise, in der Hoffnung, dass Alastair diesen Namen nicht hörte.

 

Der einzig Wahre. Von deiner Gemütslage her zu urteilen schätze ich, dass du meinen Namen bereits einmal gehört hast?

 

„Soll das ein verdammter Scherz sein?“

Matt bemühte sich, so leise wie möglich zu sprechen, auch wenn er am liebsten schreien wollte. Doch wenn Alastair etwas davon mitbekam, wären die Folgen undenkbar.

Another war schließlich der Dämon, der Alastairs Familie auf dem Gewissen hat. Und nun sprach er zu ihm, Matt!

„Was willst du hier?“, zischte dieser leise und ließ seinen Gegner dabei nicht aus den Augen, tat so, als überlege er sich eine Strategie mit den vier Karten auf seiner Hand.

 

Eigentlich wollte ich einen alten Freund besuchen, doch wie es scheint, ist der gerade etwas verhindert. Lass mich raten, du hast in seiner Gegenwart die Worte Dämon und Freund in einem Satz gesprochen? Armer Kerl, ich hab ihm wirklich zugesetzt, nicht wahr?

 

Auf die gehässigen Worte hin biss Matt die Zähne zusammen, um bloß nicht die Fassung zu verlieren. Allein anhand der Selbstgefälligkeit dieses Wesens konnte er abschätzen, wie sehr Alastair Another hassen musste. Ein Gefühl, das Matt mit ihm spätestens jetzt zu teilen begann.

„Willst du ihm etwas antun?“, fragte er im Flüsterton. „Dann sei dir schon mal hinter die Ohren, dass ich dich eigenhändig vernichten werde! Ach vergiss es, das werde ich so oder so!“

 

Das sagen sie alle. Seit über fünfzehn Jahren verfolgt mich der Bengel und jedes Mal, wenn wir uns begegnen, endet es in einer Katastrophe. Warum glaubst du, dass du besser bist als er, Grünschnabel?

 

„Halt's Maul!“, fluchte Matt nun und hätte sich ohrfeigen können.

„Was ist los?“, fragte Alastair nicht weiter überrascht. „Gehen die Nerven mit dir durch? Du bist am Zug, Verräter.“

„Ich muss noch etwas überlegen“, grinste Matt gequält, „ist sozusagen ein innerer Konflikt, wie ich dir am besten in den Arsch trete.“

 

Momentan sieht es aber nicht so aus, als würdest du das können. Eigentlich ist es eher anders herum der Fall. Und das weißt du auch.

 

„Was immer du hier bezwecken willst, ich rate dir zu verschwinden!“

 

Sonst? Willst du mich mit deinen Zaubertricks foltern? Was glaubst du denn, warum Alastair mich bisher nicht erledigt hat? Weil körperlose Wesen leider nicht sehr anfällig für Klingen sind. Auch nicht, wenn sie verhext sind. Aber die Erfahrung wirst du sicher auch noch machen. Wenn du noch so lange lebst, heißt es.

 

Matt schnaufte wütend.

Was wollte diese Bestie hier? Ausgerechnet jetzt musste der sich einmischen! Er, der der Grund war, warum Alastair ein Dämonenjäger geworden ist! Und dieses Wesen redete nun auf ihn ein?

Ganz egal wie man es betrachtete, Matt wusste, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte. Wenn Refiel Anothers Anwesenheit bemerkte, würde Alastair nicht eher schlafen, bis es einen Summers weniger auf der Welt gab!

 

Was meinst du? Soll ich dir helfen? Du kennst ja das Procedere schon vom Hörensagen. Aber ich verspreche dir, dass es live ein völlig anderes Erlebnis ist.

 

Daraufhin glaubte der Dämonenjäger seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte Another ihm soeben einen Pakt angeboten?

„Hilfe!? Von dir!?“

 

Gewiss. Du wirst sicherlich einsehen, dass deine Lage nicht gerade die Beste ist. Zähl doch mal deine Lebenspunkte. Da macht's einer nicht mehr lange.

 

[Alastair: 3500LP / Matt: 600LP]

 

Zwar war es richtig, dass Matt deutlich im Nachteil war, aber zu glauben, er würde sich auf einen Pakt einlassen war wahnsinnig! Und schon gar nicht mit Another, dem wohl heimtückischsten Dämonen, dem er und Alastair je begegnet waren.

Mehr oder weniger zumindest, Matt selbst hatte Another nie getroffen, da Alastair immer alleine auf die Jagd ging, wenn sein Erzfeind involviert war.

 

Natürlich saß Matt in der Patsche, das wusste er. Sein Feld war leergefegt, seine Hand bestand aus vier relativ nutzlosen Karten und Alastair kontrollierte sowohl eine unglaublich gefährliche Kreatur, als auch eine verdeckte Karte. Was spielte es da für eine Rolle, dass sein Blatt leer war?

Geradezu majestätisch bäumte sich [Vylon Epsilon] auf und spreizte seine Schwingen, die an einem goldenen Ring über seinem Rücken befestigt waren.

 

Vylon Epsilon [ATK/3400 DEF/1200 (8)]

 

„Verschwinde!“, zischte Matt und zog von seinem Deck, welches sich auf der schwebenden Marmorplatte befand, auf der der Spielplan von Duel Monsters abgebildet war.

Doch als Matt die gezogene Karte erblickte, seufzte er. Sie würde ihm zwar etwas Zeit verschaffen, stellte aber keine Lösung für sein Problem dar, an Alastairs Monster vorbeizukommen.

 

Sieh an, sieh an. Sind wir immer noch so überzeugt von uns?

 

Matt warf einen Blick über die schwarzen Flammen, die den Duellbereich umgaben, damit jener nicht betreten oder verlassen werden konnte. Anya lag immer noch bewusstlos am Boden, da ihr Geist sich vermutlich im Elysion befand und direkt mit Levrier kommunizierte. Das Elysion war der einzige Ort, der zu hundert Prozent sicher vor Refiels Observation war. Wobei es fraglich war, ob Levrier überhaupt darum wusste.

 

Dennoch! Wie war Another hier hereingekommen? Denn um die Nachbarschaft herum hatte Matt einen Bannkreis erschaffen, der aus helllichtem Tag eine tiefe Nacht gemacht hatte. Zudem wirkte es in ihm so, als wären einige Gebäude in ihrer Mitte durch die Wände des Bannkreises geteilt worden.

So einen Bannkreis zu betreten war ohnehin schon sehr schwer. Wenn man jedoch noch nicht einmal über ein Gefäß verfügte, wie es bei Another der Fall war, waren die Chancen unglaublich gering, sich Zugang zu seinem Inneren verschaffen zu können. Woraus Matt mit erzürnter Miene schloss, dass Another bereits hier war, als er den Kreis errichtet hatte. Denn man konnte bei dieser Art von Bannkreis nur diejenigen aussperren, um deren Präsenz man vorher wusste.

Verfolgte Another Alastair etwa?

 

Nanu, so still? Denkst du über meine Worte nach?

 

Dem mochte zwar so sein, was Matt sich allerdings nicht anmerken lassen wollte. Er richtete wieder sein Augenmerk auf sein Blatt und musste leise fluchen. Im Zug zuvor hatte er [Steelswarm Scout] auf den Friedhof geschickt und ursprünglich vorgehabt, ihn nächste Runde von dort zu reanimieren und [Steelswarm Moth] zu beschwören, womit er zwei Karten von Alastairs Spielfeldseite auf dessen Hand zurückgeben konnte. Nur gab es jetzt ein Problem: er hatte nicht mehr genug Lebenspunkte für dieses Unterfangen!
 

„Okay“, fasste sich Matt schließlich ein Herz und zückte eine Karte aus seinem Blatt. Es war die, die er zuvor gezogen hatte. „Diese Runde schlagen wir etwas ruhigere Töne an. Ich aktiviere [One Day Of Peace]. Wir beide ziehen jetzt eine Karte und können bis zum Ende deines nächsten Zuges keinen Schaden mehr an den Lebenspunkten des Gegners anrichten.“

„Du musst wirklich verzweifelt sein“, erwiderte Alastair, der die ganze Zeit über geduldig gewartet hatte und nun eine Karte zog. „Das schindet auch nur Zeit. Lange wirst du so nicht durchhalten.“

Matt zog ebenfalls und ärgerte sich über die Tatsache, dass sein Freund recht hatte. Besonders angesichts seiner neu aufgezogenen Karte, die komplett nutzlos für ihn war. Es half nichts, er musste zusehen, eine halbwegs solide Verteidigung aufzubauen. „Okay! Ich setze eine Karte verdeckt und dazu noch ein Monster im Verteidigungsmodus! Wollen wir erstmal sehen, ob du Recht behältst!“

Die beiden Karten tauchten vor ihm auf, als er sie auf den Spielplan legte.

 

Komm schon, wir beide wissen, dass er recht hat. Und glaub mir, Matt Summers, es wird noch schlimmer werden. Ich weiß es, ich habe es gesehen.

 

„Verschwinde endlich aus meinem Kopf, du elende Ratte! Leg dich meinetwegen mit Alastair an, der wartet nur darauf!“

 

Eigentlich bin ich auch deswegen hierher gekommen. Die Dinge entwickeln sich zurzeit nicht so, wie ich es mir erhofft habe. Deshalb muss ich sie jetzt gerade biegen.

 

„Was soll das jetzt heißen!?“

 

Darüber können wir reden, wenn Alastair seinen Zug beendet hat. Ich denke, du wirst dann etwas kooperativer sein.

 

Matt pfiff abfällig. Von wegen! Dank des Effekts seiner Zauberkarte war er den ganzen nächsten Zug lang über geschützt!

„Mein Zug“, verkündete sein Gegner derweil und zog auf zwei Karten auf. Er blickte mit vereister Mimik auf und setzte ein künstliches Lächeln auf. „Es mag stimmen, dass ich nicht effektiv anzugreifen vermag, doch den Effekt von [Vylon Epsilon] kann ich dennoch nutzen.“

Die über ihm verharrende Engelskreatur legte seine massiven Handflächen aufeinander und bündelte in ihnen eine gleißende Lichtsphäre.

„Indem ich einmal pro Zug eine Ausrüstungsmagie von meiner Kreatur entferne“, erklärte Alastair, nahm [Vylon Material], mit der Epsilon ausgerüstet war und legte sie auf den Ablagestapel, „zerstöre ich eine deiner Karten. Dein Monster ist mein Ziel.“

 

Vylon Epsilon [ATK/3400 → 2800 DEF/1200 (8)]

 

Im Anschluss feuerte der mechanische Engel seine Energiekugel ab und löste auf Matts Spielfeldseite eine heftige Explosion aus. Mit wehendem Haar stieß Matt einen wütenden Seufzer aus, hatte er doch gehofft, dass Alastair sich auf seine verdeckte Karte und nicht auf [Steelswarm Gatekeeper] konzentrieren würde.

„Effekt von [Vylon Material] aktivieren“, rief Alastair unbeirrt, „wenn es auf den Friedhof gelegt wird, erhalte ich eine neue Vylon-Magiekarte von meinem Deck.“

Er zeigte sie zwischen seinen Fingern hervor. „Dies ist [Vylon Segment]. Und ich rüste [Vylon Epsilon] damit aus, sodass es nun nicht länger als Ziel von Monster- und Fallenkarteneffekten erwählt werden kann.“

Mit einer Karte in der Hand beendete er schließlich seinen Zug. „Dein Ende ist nahe.“

 

„Verdammter Mist“, knurrte Matt im Angesicht von [Vylon Epsilon]. Jetzt war diesem Ding noch schwerer beizukommen. All seine Hoffnung ruhte nun in seinem nächsten Zug.

„Kann ja nur schief gehen“, gluckste er niedergeschlagen und griff nach seinem Deck. „Aber so schnell lass ich mich nicht abservieren! Draw!“

Mit Schwung zog er die nächste Karte von dem Stapel vor ihm, doch als er sie erblickte, lachte er ironisch auf. „Das war ja so was von klar …“

 

Hab ich dir zu viel versprochen? Bist du jetzt bereit zu verhandeln?

 

„Niemals!“, donnerte Matt entschlossen. Another sollte endlich Land gewinnen, er würde diesem Monster nicht einmal klein beigeben, wenn er dafür seine geliebte Tara wiedersehen konnte. Solche wie der waren der Grund, warum Alastair ein so hasserfülltes und kompromissloses Leben führte. Er durfte nicht so enden, sagte sich Matt, denn wenn er seine Freundin und seine Schwester Sophie jemals wiedersehen wollte, musste er überleben!

Doch wie sollte er das in seiner jetzigen Situation anstellen? Er war Alastair gegenüber machtlos …

 

Worte, gesprochen mit solcher Endgültigkeit. Bist du einfach nur einfältig oder sehnst du dich etwa nach dem Tod?

 

„Weder noch!“

 

Warum dann diese harsche Zurückweisung? Du hast doch noch gar nicht darüber nachgedacht, was die Vorteile wären, mich an deiner Seite zu haben.

 

„Es gibt keine!“

Nein, dachte sich der Dämonenjäger, er würde sich nicht für die Worte dieser Kreatur öffnen!

Sicher gab es einen Weg, Alastairs eisernem Griff zu entkommen. Er musste nur nachdenken!

 

Und wieder diese Engstirnigkeit. Heißt das, du willst deinen Freund nicht retten? Immerhin könntest du Anya Bauer eigenhändig töten, solltest du über Kräfte verfügen, die von einem Pakt herrühren. Etwas, das Alastair nicht von sich behaupten kann, mit seinem kleinen Engelchen auf der Schulter.

 

Allerdings schüttelte Matt entschieden den Kopf. Das waren doch nur armselige Versuche, ihn verführen zu wollen. Natürlich bestand diese Möglichkeit im Falle eines Vertrags zwischen ihm und Another, doch es gab so vieles, was dagegen sprach. Einmal abgeschlossen, war dieses Wesen in ihm verankert, konnte im Schlimmstfall sogar seinen Körper übernehmen! Außerdem …

Matt sah über die Flammen hinweg zu der am Boden liegenden Anya. Sie schien immer noch im Elysion gefangen zu sein.

Er hatte ihr das Friedensangebot gemacht. Es jetzt zu brechen ging gegen seine Grundsätze, auch wenn sie objektiv gesehen immer noch seine Feindin war. Außerdem war es ohnehin schon schlimm genug, dass Alastair ihn als Verräter ansah. Noch ein Gesinnungswechsel würde alles nur verkomplizieren, zumal das jetzt hinsichtlich seines Freundes sowieso etwas spät kam …

 

~-~-~

 

„Was zur Hölle soll das!?“, fauchte Anya wütend.

Sie stand inmitten des leuchtenden, sich drehenden Mosaiks der Erde, welches ihr Elysion darstellte. Um sie herum nur die Dunkelheit, fand sie sich Levrier gegenüber, welcher einmal mehr seine Form nach Anyas Vorbild gewählt hatte. Aus der Weite betrachtetet sahen sie aus wie Zwillingsschwestern. Nur anhand der zornigen Mimik konnte man Anya identifizieren, während Levrier eher teilnahmslos in die Leere starrte.
 

„Ich denke, ich weiß nun, was wir tun müssen, um Eden zu werden.“

„Das ist aber schön für dich! Lass mich raten, diese Laberbacke Matt hat dir den entscheidenden Tipp gegeben?“, fragte Anya zynisch und verschränkte die Arme. „Wir müssen alle opfern, die ein Mal haben, nicht wahr?“

Levrier neigte seinen Blick auf sie herab und nickte. „Das ist korrekt. Nun, da er es gesagt hat, fühle ich, wie mein Wissen wiederkehrt. Die Frage ist … warum lag es verborgen? Wie konnte ich etwas derart Wichtiges vergessen?“ Er fasste sich nachdenklich an die Stirn. „Es gibt nur eine Erklärung dafür. Jemand muss mein Gedächtnis manipuliert haben.“

„Oder du hast ganz einfach Alzheimer“, kommentierte Anya das Ganze gallig. Sie stemmte die Hände in die Hüften und grinste fesch. „Alt genug bist du ja dafür.“

„Vielleicht irre ich mich auch.“

„Wäre ja nicht das erste Mal. Aber damit, dass du nutzlos bist, habe ich mich schon lange abgefunden.“

 

„Wir müssen die Orte finden, an denen die Pakte geschmiedet worden sind.“

„Huh?“ Überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel horchte Anya auf. „Und warum?“

„Mein Gedächtnis ist noch nicht klar“, antwortete Levrier, immer noch mit der Hand auf der Stirn, „doch allein ein Opfer zu erbringen reicht nicht. Wir müssen sie in eine Verbindung setzen. Nur so werden sie zu wahren Zeugen der Konzeption.“

Anya zuckte mit den Schultern. „'kay, dann machen wir das.“

„Nimm das nicht auf die leichte Schulter!“, mahnte Levrier Anya plötzlich laut. „Erkennst du denn nicht, was es bedeutet, Eden zu werden? Du musst nicht einfach nur deine Menschlichkeit aufgeben! Du musst Leben opfern. Valerie Redfield. Sie ist deine Freundin. Und auch wenn du Alastair hasst, könntest du ihn einfach so dem Limbus zum Opfer fallen lassen?“

„Mir doch egal! Dann sollen sie eben verrecken!“

„Du kannst mich nicht täuschen, Anya Bauer!“, polterte Levirer nun und zeigte gnadenlos mit dem Finger auf sie. „Alle, aber nicht mich. Jemanden zu töten war und wird nie deine Absicht sein. Dafür schätzt du das Leben zu sehr!“

Getroffen blickte das Mädchen weg. „Halt den Mund! Du weißt gar nichts über mich, du elender Parasit! Was soll dieses ganze Gelabere überhaupt? Du willst doch Eden werden! Sei doch froh, dass es an der Ausstattung dafür nicht mangelt!“

„Ich werde zu Eden werden“, meinte Levrier nun wieder ruhig, „deine Person spielt keine Rolle mehr, ich könnte deinen Körper jederzeit für mich in Anspruch nehmen. Was ich dir verdeutlichen will ist das Schicksal dieser Menschen, sollte mein Vorhaben gelingen. Und es wird zu deinem Schicksal werden, wenn wir versagen. Der Limbus.“

 

Das schon wieder, dachte das Mädchen ärgerlich. War das jetzt das neue Trendwort? Langsam kam sie mit diesen ganzen Quatschbegriffen nicht mehr mit …

„Uuuuuuh, wie schreeeeckliiiiiich! Was zum Teufel ist dieser verdammte Limbus überhaupt? Wieso machst du so ein Geheimnis daraus?“

„Wenn du wirklich wissen willst, was der Limbus ist, so werde ich es dir sagen.“ Levrier schloss die Augen und neigte seinen Kopf zur Seite. „Jeder Pakt basiert auf einem Versprechen gegenüber dem Wesen, welches ihn anbietet. Es gibt viele Formen und Arten eines Pakts. Manche Versprechen gelten solange, bis das Gefäß stirbt, andere – so wie unseres – bis zu einem bestimmten Tag oder Ereignis. Doch egal was auch die Bedingungen sind, sollte dieses Versprechen gebrochen werden, wird die Seele des Gefäßes in den Limbus gezogen.“

Alles was Anya von sich gab, war ein knappes: „Aha.“

„Seelen können dem Limbus auf ganz unterschiedliche Weisen zum Opfer fallen. Sie können verbannt werden oder der Tribut für einen höheren Zweck sein, wie es bei Edens Erwachen der Fall ist. In unserem Fall würde der Pakt deiner Freunde zerbrechen, wenn wir sie opfern. Daher werden ihre Seelen in den Limbus gezogen.“

„Ja, ja, kommst du auch mal zum Punkt“, giftete Anya und verschränkte ungeduldig die Arme. „Was-ist-der-Limbus!?“

„Der Ort ohne Wiederkehr. Keine Macht dieser Welt vermag es, in ihn einzudringen, oder ihn zu verlassen. Wenn deine Seele einmal dort gefangen ist, kann sie nie wieder reinkarniert werden.“ Levrier öffnete die Augen. „Er ist die wahre Hölle, von Wesen jenseits unserer Vorstellungskraft erschaffen, um zu bestrafen, was sich gegen die natürlichen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt auflehnt. Natürlich weiß niemand, was genau im Limbus auf uns wartet …“ Er sah nun Anya tief in die blauen Augen. „… aber eine Seele kann nicht ohne Weiteres schwinden. Du wirst unsterblich sein, gefangen in einer Welt aus deinen schlimmsten Albträumen. Du oder die Opfer, die Eden dargebracht werden müssen. Das ist, was sie über den Limbus sagen.“

„In dem Fall“, entgegnete Anya leise, „Pech für sie.“

 

~-~-~

 

„Verdammt“, zischte Matt mit schweißnasser Stirn. Alles Denken hatte nichts gebracht, die Situation blieb unverändert – er stand kurz vor seiner Niederlage. Und dieser verdammte Dämon wollte nicht aufhören, ihn mit seinen Worten einzulullen.

 

Ist das dein Lieblingswort? Wie wahr, du bist verdammt dazu, durch die Hand deines besten Freundes zu fallen. Oh schade, schade, ich hätte dich wirklich für klüger gehalten. Du versuchst nicht einmal, hinter die Fassade zu sehen.

 

„Was soll das heißen!?“

 

Für dich und Alastair bin ich der Mörder seiner Familie. Dies bestreite ich auch nicht. Aber habt ihr euch jemals gefragt, -warum- ich ausgerechnet seine Eltern getötet habe?

 

Keuchend schreckte Matt zurück, als die Welt um ihn herum zu einer einzigen schwarzen Masse mutierte. Glühender Wind schlug ihm entgegen, als er sich plötzlich einem lichterloh brennenden, zweistöckigen Haus gegenüber sah. Außer dem Knistern der Flammen war kein Laut zu vernehmen. Die Straße um ihn herum war verschneit, es war mitten in der Nacht.
 

„Das ist der Tag, an dem Alastair zu einem Waisenkind wurde“, sprach plötzlich jemand neben dem überraschten Matt. Dieser erstarrte, als er die Person an seiner Seite bemerkte. Welche sein Zwillingsbruder hätte sein können. Doch sofort realisierte er, dass dies nur Another war, der sein Aussehen missbrauchte.

„Warum zeigst du mir das!?“, verlangte Matt erzürnt zu wissen.

„Um ein Exempel zu statuieren. Diejenigen, die Eden zu nahe kommen, bringen nur Leid über sich und ihre Liebsten“, erwiderte Another ernst und zeigte auf die brennende Tür des Hauses, welche plötzlich aufschwang. „Dort. Der Engel Refiel erbarmt sich dem unschuldigen Alastair.“

„Was soll das heißen!?“, fauchte sein Gegenüber aufgebracht und würdigte dem, was dort aus der Tür kam, keines Blickes. „Was hat Eden damit zu tun?“

„Eine Menge. Alastairs Eltern waren Dämonenjäger, gefürchtet von allem, was den Menschen Angst einjagt. Doch so gefährlich sie auch waren, so dumm waren sie auch. Sie wollten mithilfe einer gefährlichen Technik Edens Erwachen erzwingen und hätten dabei das gesamte Weltgefüge auseinander gerissen.“ Der falsche Matt drehte sich zu seinem fleischlichen Gegenstück um. „Wenn Eden erweckt werden soll, dann auf natürliche Weise, innerhalb des Zyklus, der nur etwa alle 200 Jahre stattfindet. Ihr versuchtes Eingreifen in Dinge, die nicht geändert werden dürfen, wurde mit dem Tode bestraft. Ich wurde lediglich auserkoren, ihr Richter zu sein.“

„Von wem, huh!? Vom Teufel!?“

„Vom Schicksal.“
 

Matt schnaufte aufgebracht und wandte den Blick ab. Die Selbstgefälligkeit dieser Bestie war zu viel für ihn. Was immer Alastairs Eltern getan hatten rechtfertigte nicht, einem Kind die Familie zu rauben! Abgesehen davon war er sich sicher, dass dies ohnehin nur Lügen waren. Um ihn zu bezirzen.

 

Überrascht sah er auf, nur um eine völlig in Weiß verhüllte Person zu sehen, die einen bewusstlosen, vielleicht zwölfjährigen Jungen in den Armen trug und über die Straße direkt an ihnen vorbei schritt. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, war nicht zu erkennen, wie Alastairs Retter aussah. Doch auch so wusste Matt bereits, dass es sich um Refiel handelte.

„Sie hassen uns.“

„Mit recht!“

Another lachte auf. „Wie wahr. Gerade Refiel ist ein besonderes Exemplar von Engel. Er tut alles, um Gottes Wohlgefallen zu erringen. Einzig zu dem Zweck, zum Erzengel erhoben zu werden.“

„Mir doch egal. Ich kann den Kerl sowieso nicht leiden.“ Obwohl er ihn nie gesehen hatte, fügte Matt dabei noch im Gedanken hinzu.

„Er dich auch nicht. Wie ich ihn einschätze, bist du ihm sicher ein Dorn im Auge“, meinte Another amüsiert, „wenn es nach ihm ginge, dürfte kein Mensch einen freien Willen besitzen. Schon gar nicht sein Schützling.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Ich bin heute in Plauderlaune“, reagierte Another mit einem Schulterzucken. „Wenn es uns nicht gäbe, hätten die Engel schließlich keinen Job.“

Plötzlich drehte er sich mit einem diabolischen Grinsen zu Matt um. „Immerhin sind wir sozusagen für den Tod einer ihrer Kultfiguren verantwortlich.“
 

Mit einem Schlag wurde Matts Umfeld in tiefes Schwarz getönt. Erschrocken stellte er fest, dass er auf einem kreisrunden Mosaikbild stand, welches unzählige Zahnräder abbildete, die ineinander verkeilt waren. Das Bild drehte sich unter seinen Füßen.

„Elysion …“, murmelte er erstaunt und sah auf. „Ich habe gar nicht gemerkt-!“

„Wer noch nie hier war, bemerkt den Übergang nicht. Schon das brennende Haus gehörte dazu“, erklärte sein Spiegelbild auf der gegenüberliegenden Seite des Mosaiks. „Aber die Zeit des Redens ist jetzt vorbei. Nach wie vor haben wir zu klären, ob du einen Pakt mit mir schließt oder nicht.“

„Du kennst die Antwort bereits!“

Mit der flachen Hand deckte Another plötzlich seine linke Gesichtshälfte ab. „Natürlich tu ich das, du wiederholst dich wie eine ausgeleierte Schallplatte. Du könntest ja nie mit einem bösen Dämon wie mir zusammenarbeiten.“

Irritiert von der Geste seines Gegenübers schwang Matt wütend den Arm aus. „Verdammt richtig!“

Daraufhin rückte Another mit seiner Hand zur anderen Gesichtshälfte. „Könnte man meinen. Deine Lippen sagen nein, aber in deinem Inneren sieht es doch ganz anders aus. Du weißt, dass du mit meiner Macht Anya Bauer vernichten und so deinen Freund retten könntest. Das willst du doch. Wenn du Alastair verraten vermagst, dann sie erst recht.“
 

Matt schluckte. War er so einfach zu durchschauen?

Er wollte Alastair um alles in der Welt retten, weil dieser ihm ein neues Leben geschenkt hatte. Die ständige Flucht vor der Polizei hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Ohne Aufgabe war er ziellos durch die Welt gewandert.

„Sie kamen ohne Vorwarnung …“

Es war in einer Seitengasse gewesen, als sie ihn entdeckt hatten. Vor drei Jahren, an -dem- Tag …

 

Hände hinter den Kopf“, befahl einer der Polizisten.

Eingekesselt wie er war, blickte der heruntergekommene Matt nach vorn und zurück, doch zu beiden Seiten lauerte je ein Polizist mit gezückter Dienstwaffe.

„Das ist er, Hank“, meinte der Polizist, der ihm direkt gegenüber stand. „Den Typen hab ich neulich erst auf einem Fahndungsfoto gesehen! Pff, hast dich ja ganz schön verändert, Kleiner!“

Es stimmte, Matt war viel hagerer als damals, ungepflegt mit Dreitagebart und ungewaschenen Klamotten. Und auch wenn sein Haar etwas länger war, waren ihm die Grundzüge erhalten geblieben.

„Auch das noch“, brummte er fassungslos.

Was meinst du Willy, wie viel bekommen wir für den?“, fragte Hank, der Polizist hinter ihm, seinen Partner.

„Vielleicht 'nen neuen Job? Immer nur auf die Suche nach verdorbenen Seelen zu gehen ist langweilig. Lieber will ich was mit 'nem gewissen Nervenkitzel.“

Matt horchte auf. Irgendetwas stimmte mit diesem Mann nicht. Bildete er sich das ein, oder- Nein! Die Augen, sie waren anders! Er konnte es nicht definieren, aber ihre Form war unmenschlich.

„Verdorben? Sie kennen mich doch gar nicht!“

Halt den Mund, du Rotzgöre! Allein dein Anblick macht mich krank“, erwiderte Willy voller Abscheu. „Du bist nicht das, für was du dich ausgibst! So einen wie dich können wir nicht gebrauchen in unseren Riegen! Nahezu widerlich rein …“

Matt stieß mit dem Rücken gegen die Häuserwand, panisch einen Blick zurückwerfend. Auch der andere Polizist hatte plötzlich diese unheimliche Ausstrahlung. Und die Augen, sie verfärbten sich langsam schwarz, komplett schwarz!

Was seid ihr!?“, fragte Matt hysterisch. „Ihr seid keine Cops!“

„Doch sind wir! Nebenberuflich“, lachte Willy, „wir fangen böse Buben. Und die besten von ihnen schicken wir an einen Ort, den du wohl am ehesten als 'Hölle' kennst. Aber du bist wertlos!“

„Drum werden wir dich wohl erschießen müssen“, fügte Hank hinzu, „ich meine, als gesuchter Mörder? Wer würde es uns verübeln?“

Matt wandte sich an den Polizisten vor ihm, bereits fieberhaft nach einem Ausweg suchend. „Soll das ein verdammter Scherz sein!? Ich wehre mich doch gar ni-“

Doch bevor er geendet hatte, schnellte eine Messerklinge aus dem Hals des Polizisten Willy hervor. Auch seine Augen waren pechschwarz, doch glühten kurz auf, ehe er zusammenbrach.

„Das solltest du aber“, sprach die Gestalt, die aus dem Nichts hinter dem Mann erschienen war. Es war Alastair.

 

Das war der Tag, als Alastair ihm das Leben gerettet und sich fortan um ihn gekümmert hatte. Über drei Jahre lag das nun zurück. Matt seufzte. Er musste die Schuld begleichen. Aber sicher nicht, indem er einen Pakt mit dem Wesen einging, das Alastairs Familie auf dem Gewissen hatte. Nicht auszudenken wären die Konsequenzen eines Pakts! Denn egal welche Kräfte er erlangte, Another könnte praktisch jederzeit seinen Körper übernehmen, wenn er nicht vorsichtig war. Noch dazu wäre er ebenfalls ein Zeuge der Konzeption, eines der potentiellen Opfer für Edens Erwachen.

Und Anya … er konnte sein Versprechen, ihr zu helfen, nicht brechen. Auch wenn sie zu töten das geringere Übel wäre.

„Mit mir kannst du Edens Erwachen aufhalten“, sagte Another in Matts Gestalt ruhig, „ohne mich zusehen, wie dein Freund geopfert wird. Natürlich gäbe es eine dritte Alternative.“

„Welche!?“

„Du tötest ihn. Dann würdest du seiner Seele zumindest den Limbus ersparen.“

Aufgebracht stampfte Matt auf. „Einen Teufel werde ich tun!“

„Selbstverständlich kannst du das nicht. Vorher müsstest du an seinem Herrchen vorbei … und natürlich deiner eigenen Naivität. Dein Egoismus wird ihm nur Leid bringen.“

„Ich werde ihn nicht verraten!“

Another lachte auf. „Das hast du bereits getan. Und ganz gleich was du sagst, kannst du dich am Ende doch nicht vor der Wahrheit verschließen. Matt Summers, du strebst nach meiner Macht.“

Eine Faust ballend, zeigte der junge Mann außer sich vor Zorn auf sein Gegenstück. „Red' nicht weiter!“

„Wusstest du, dass ein Pakt nicht mit Worten geformt werden muss? Die Antwort liegt in der Seele“, erklärte Another und schloss die Augen, „und deine Seele wünscht sich nichts mehr, als Eden zu vernichten. Und deshalb werden wir den Pakt schließen!“

„Ich sagte nein!“

„Und ich ja!“
 

Der falsche Matt zersprang plötzlich in tausende schwarze Partikel, die eine Wolke bildeten. Erschrocken wich das Original zurück, als jene auf ihn zugeschossen kam. Überall drangen die schwarzen Kugeln in seinem Körper ein, während Matt schreiend auf die Knie fiel und sich den Kopf hielt.

„Verschwinde! Ich lasse dich nicht hinein!“, rief er stur.

Doch eine Antwort erhielt er nicht. Das brauchte er auch gar nicht, denn als das Mosaik unter ihm zerbrach und er in die Tiefe fiel, wusste Matt, dass Another nicht gelogen hatte. Der Pakt war ohne seine Zustimmung geformt worden.

„Wie …?“, murmelte er leise, als er in der Ferne ein grelles Licht bemerkte. Ein Schatten wurde auf ihn geworfen, schmal, dafür aber unglaublich hoch. Matt hielt eine Hand vor sein Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Glockengeräusche ertönten im Hintergrund, als das Bild vor ihm deutlicher wurde. Der schwarze Turm lief immer spitzer gehend zusammen, doch an seinem Ende thronte eine mächtige Kuppel mit langen, hornartigen Auswüchsen, an denen dutzende goldene Glocken befestigt waren.

Bevor Matt jedoch weitere Details erhaschen konnte, blendete ihn das Licht so stark, dass er die Augen zusammenkneifen musste.

 

„... dass du so tief fallen würdest …“

Matt schreckte auf. Er stand noch immer vor dem Duel Monsters-Spielplan und hielt seine Karten in den Händen. Er blickte herüber zu Alastair, der leichenblass war und wie eine Salzsäule mit geweiteten Augen verharrte. „Einen Pakt zu formen … nun bist du wahrlich einer von ihnen.“

„E-es ist nicht-“

„Halt den Mund!“ Alastair zeigte mit dem Finger auf ihn. „Refiel hatte recht! Ich hätte dich damals nicht am Leben lassen dürfen! Irgendwann würdest du mich ins Unglück führen und sieh, was nun geschehen ist! Jetzt kann dich nichts mehr retten!“

Nicht wissend, wie er darauf reagieren sollte, betrachtete Matt seinen Arm und hielt geschockt inne. Tatsächlich war da das Symbol eines Pakts. In violetter Farbe gehalten, war dort ein sphärenartiges Objekt, das von dämonischen, ledrigen Schwingen umhüllt war. Der letzte Beweis, dass Another ihn in den Pakt gezwungen hatte.

„Wie ist das möglich!?“ Matt konnte es nicht glauben. Kein Dämon konnte einen Pakt ohne Einwilligung eingehen! Wieso traf das auf Another nicht zu!?

 

Anstatt vergossener Milch nachzuweinen, solltest du lieber deine neuen Kräfte nutzen und dich zur Wehr setzen. Du stehst jetzt auf einer Ebene mit ihm, was den kleinen Nachteil hat, dass er dich jetzt erst recht töten will. Er mag halt keine anderen Götter neben sich.

 

„Halt's Maul, du-“
 

Oh, bitte … nur nicht so wütend. Ich hab es dir doch erklärt, oder? Dein Kopf sagt nein, deine Seele hat regelrecht ja geschrien. Wieso überspringen wir nicht dein weinerliches Gehabe und kommen zur Sache? Vielleicht erweist sich unsere Partnerschaft ja für beide Seiten als nützlich?

 

„Red Klartext!“

 

Womöglich gibt es einen Weg, ihn und Anya Bauer zu retten. Und alle anderen Involvierten. Doch dafür brauchst du wohl oder übel meine Hilfe. Die wirst du auch bekommen, wenn du mir hilfst.

 

„Und was willst du!?“

Matt glaubte kein Wort von dem, was Another da sprach. Einen Weg, alle zu retten!? Den gab es höchstens im Märchen! Keine seiner Aufzeichnungen verwies auf so eine Option und auch wenn sie nicht alles abdeckten, sagten alle Quellen, dass diejenigen, die als Gefäß für die Gründer dienten, für immer verloren waren.

 

Das ist sehr simpel. Zerstöre den Turm von Neo Babylon für mich.

 

„Warum!?“
 

Warum nicht? Darüber hast du selbst schon nachgedacht, daher solltest du hier wohl kaum an deine moralischen Grenzen stoßen. Mehr verlange ich im Gegenzug für meine Hilfe nicht. Wenn du mir nicht vertraust, lass mich dir meine Aufrichtigkeit beweisen, indem ich mir deinen Körper nicht sofort zum Untertan mache.

 

Matt schnaufte aufgebracht. Er fühlte sich unendlich hilflos. Niemals wollte er dieser mordenden Bestie seinen Körper überlassen, aber sie hatte jetzt die Zügel in der Hand. Und es gab keine Möglichkeit, sie wieder loszuwerden …

„Wenn du nicht sofort deinen Zug durchführst, werte ich ihn als beendet“, mischte sich Alastair nun wieder ein. „Und bedenke, dass ich dich exorzieren muss. Du weißt, was das heißt?“

„Meine Seele kommt in den Limbus …“ Die Erkenntnis traf Matt wie ein Schlag. Jetzt, da er in einem Pakt stand, würde der erzwungene Verlust Anothers dazu führen, dass seine eigene Seele im Limbus verloren geht. „Auch das noch. Wenn ein Paktträger stirbt, ist es nicht so schlimm. Aber wenn dabei sein Paktdämon gewaltsam entfernt wird, landet die Seele im Limbus …“

Alastair nickte knapp. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“
 

Nervös ließ Matt den Blick auf sein Blatt sinken. Er konnte nichts mehr tun! Es gab keine Strategie, die ihn aus dieser Situation brachte. Alastairs [Vylon Epsilon] war zu stark, gut beschützt dank [Vylon Segment], noch dazu besaß Alastair eine verdeckte Karte. Ihm hingegen blieben nur eine beinahe nutzlose Falle und vier ebenso unbrauchbare Handkarten.

„Es ist vorbei“, murmelte er leise.
 

Sieh in deinem Extradeck nach. Dachtest du, ich würde einen Pakt mit dir schließen, nur um im Anschluss wieder ausgetrieben zu werden?

 

Widerwillig folgte Matt der Anweisung und griff nach seinem Extradeck, welches gesondert auf der linken Seite seiner schwebenden Marmorplatte lag. Es befanden sich nur wenige Karten darin, Xyz-Monster, die er in seiner momentanen Lage nicht beschwören konnte. Doch …

„Dieses ist neu!“, stellte er überrascht fest. „Das ist-“

 

Das Symbol unseres Paktes, korrekt. Ich war so frei sie so zu gestalten, dass sie deinem Freund große Schwierigkeiten bereiten kann. Los, beschwöre sie.

 

„Nein!“

 

Also willst du lieber für alle Zeiten im Limbus gefoltert werden? Wenn du meinst …

 

Der Dämonenjäger schüttelte den Kopf. Er konnte unmöglich das 'Geschenk' dieses Dreckskerls annehmen! Dieser Pakt basierte nicht auf gegenseitiger Zustimmung! Und er war gewiss kein Sklave Anothers, er würde sich nicht auf dessen Hilfe einlassen!

Matt schluckte. Aber wenn er es nicht tat, würde er seinen nächsten Zug nicht mehr erleben …

 

Stell dich nicht so an, es ist nur eine Karte. Alastair würde sich auch nicht scheuen, Refiels Geschenk gegen dich einzusetzen.

 

Refiel war zumindest ein Engel!

Egal wie Matt es jedoch drehte und wendete, es gab keine Alternative. Es musste sein, wenn er seinem Freund das Schicksal ersparen wollte, was dieser ihm nun androhte.

Schließlich nickte er. „Von mir aus … Aber wage es nicht, dich noch weiter einzumischen.“
 

Wenn die Situation es gebietet, werde ich entsprechende Maßnahmen einleiten.

 

„Tch!“ Matt sah zu Alastair auf. „Ich weiß, was du von mir denkst. Wir werden darüber reden, sobald dieses Duell vorbei ist. In Ruhe und ohne Morddrohungen.“

„Wenn dieses Duell vorbei ist, wird einer von uns nicht mehr leben. Bete, dass ich es sein werde.“

„Als ob ich so etwas tun würde! Verdammt, warum bist du bloß so stur und verbohrt!?“ Matt musste auflachen. Das zeichnete seinen Freund eben aus. Irgendjemand musste den Kerl endlich von seinem hohen Ross herunterholen. Und er konnte es schaffen, das wusste er. Auch wenn er die Art und Weise, wie es geschehen sollte, alles andere als gut hieß. Auf der anderen Seite hingegen war er selbst Schuld an seiner Lage, immerhin hatte er sich Anothers Worten überhaupt erst geöffnet. Er musste jetzt das Beste aus seiner ohnehin schon brenzligen Situation machen.

 

[Alastair: 3500LP / Matt: 600LP]
 

Vylon Epsilon [ATK/2800 DEF/1200 (8)]

 

„Zeit, endlich meinen Zug zu machen!“

Noch stand er diesem engelshaften Maschinengeschöpf gegenüber, dachte Matt grimmig, aber nicht mehr lange! Er schwang seinen Arm über das Tablett vor ihm aus. „Verdeckte Falle! [Infestation Ripples]! Ich zahle 500 Lebenspunkte, um ein Steelswarm-Monster von meinem Friedhof zu reanimieren! Komm zurück, [Steelswarm Sting]!“

 

[Alastair: 3500LP / Matt: 600LP → 100LP]

 

Aus dem Boden, aus einer rosaroten Masse, die sich wie eine Pfütze ausbreitete, entstieg eine fliegende, schwarze Dämonengestalt, die stark an eine Hornisse erinnerte.

 

Steelswarm Sting [ATK/1850 DEF/0 (4)]

 

„Nun von meiner Hand: [Double Spell]“, rief Matt und zeigte den Zauber zwischen Mittel- und Zeigefinger vor, legte ihn anschließend auf den Spielplan, „indem ich eine Zauberkarte abwerfe, kann ich eine solche von deinem Friedhof wählen und ihren Effekt aktivieren. Und ich dachte da an [Monster Reborn], um [Steelswarm Gatekeeper] wiederzubeleben! Erscheine!“

Matt legte [Recurring Nightmare] auf den Friedhof. Ein grelles Licht erstrahlte neben seinem Hornissenmonster, woraus schließlich eine gepanzerte, auf vier Beinen laufende Kreatur trat. Zwar hatte es Ähnlichkeit mit einem Käfer, wirkte jedoch in seiner schwarzen Aufmachung gleichzeitig dämonisch.

 

Steelswarm Gatekeeper [ATK/1500 DEF/1900 (4)]

 

Braver Junge.

 

„Denk nicht, dass ich das freiwillig tue! Ich habe keine andere Wahl!“, donnerte Matt und streckte entschlossen den Arm aus. „Nun erschaffe ich das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster geboren! Xyz-Summon! Falle über die Welt wie eine Plage hernieder, [Steelswarm Roach]!“

Matts Monster verwandelten sich in violette Lichtstrahlen. Jene wurden von einem schwarzen Loch inmitten des Spielfeldes aufgesaugt, welches sich gleichzeitig mit Matts Ankündigung geöffnet hatte. Aus dem dunklen Wirbel hervor trat eine lange, humanoide Gestalt, die in ihrer Hand ein Rapier trug. Die goldenen Schwingen der aufrecht stehenden Schabe wirkten wie ein Umhang, der Schultern und Rücken bedeckte. Zwei grelle Sphären kreisten dabei um das Monster.
 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

Alastair rümpfte die Nase. Seine vernarbten Lippen formten die Worte: „Ist das alles?“

„Keinesfalls“, reagierte Matt gelassen und zückte eine weitere Zauberkarte von seinem Blatt, „im Gegenteil, er ist genau das, was ich gebraucht habe! Denn damit kann ich [Xyz Energy] aktivieren!“

Die beiden um [Steelswarm Roach] rotierenden Lichtkugeln strahlten golden auf.

Matt erklärte: „Im Austausch für ein Xyz-Material kann ich eines deiner offen liegenden Monster vernichten! Und da dein [Vylon Epsilon] durch den Effekt von [Vylon Segment] nur vor den Effekten von Monster- und Fallenkarten sicher ist, kannst du nichts gegen die Zerstörung unternehmen!“

Matts Kriegerschabe streckte ihr Schwert stolz in die Höhe, während eine weiße Aura um sie entstand. Jene explodierte regelrecht, als Roach seine Klinge nach vorn schwenkte und damit auf Alastairs Monster deutete. Wie aus der Pistole geschossen schnellte ein Energieball, dessen Zentrum eines der Xyz-Materialien war, auf die mechanische Kreatur zu und brachte sie mit einem donnernden Grollen zu Fall. Es folgte eine Explosion, die Alastairs langes, schwarzes Haar unstet aufflattern ließ.

„Effekt von [Vylon Segment]“, sprach jener jedoch unbekümmert, „ich erhalte nun eine neue Vylon-Magiekarte von meinem Deck als Ersatz. Meine Wahl fällt auf [Vylon Filament].“

Er zeigte den Ausrüstungszauber Matt und fügte ihn seiner Hand hinzu, welche nun aus zwei Karten bestand.

Sein Gegner, der nur eine Handkarte besaß, grinste zufrieden. „Sieht ganz so aus, als wäre ich wieder im Rennen, huh?“ Anschließend warf er einen Blick auf [Steelswarm Roach], um welche nunmehr nur noch eine Sphäre kreiste. „Du hast jetzt freie Bahn! Los, attackiere ihn mit Piercing Shadow Strike!“

Über den Boden schwebend, schnellte die Schabe auf Alastair zu und zielte mit der Klinge in ihrer Hand direkt auf dessen Brust. Doch anstatt einen Treffer zu landen, gelang es ihrem vermeintlichen Opfer, die Schneide geschickt zwischen seinen Fingern festzuhalten.

„Das allein wird mich nicht zu Fall bringen“, sagte er dazu, zog an dem Schwert und schleuderte Roach mit einer schnellen Bewegung Richtung der schwarzen Flammen. Gerade noch rechtzeitig konnte der Insektenmann seinen Flug mitten in der Luft abbremsen und kehrte zu Matt zurück, welcher alles überrascht mit angesehen hatte.

 

[Alastair: 3500LP → 1600LP / Matt: 100LP]

 

Voller Anerkennung musste Matt pfeifen. „Wow, netter Move. Den muss ich mir merken.“

„Spar dir das! Eine Kreatur geboren aus der Finsternis, so wie sie es ist, wird mir niemals Schaden zufügen können!“

„Was du nicht sagst? Noch so einen Treffer wirst du nicht schönreden können. Ich beende meinen Zug.“

 

Matt verschränkte besorgt die Arme. Er hatte ins Spiel zurückgefunden, doch nur aufgrund Anothers Hilfe. Aber war es das wirklich wert? Nun hasste Alastair ihn noch mehr als zuvor. Selbst wenn er gewann, was würde danach geschehen? Sein Freund war niemand, der offen für Kompromisse war. Ihn mithilfe eines Paktes zu besiegen bedeutete nur, seinen Stolz anzugreifen, was Alastair im Umkehrschluss noch viel mehr gegen ihn aufbringen würde. Es war ein Teufelskreis.

Vielleicht hätte er sein Schicksal einfach akzeptieren sollen, dachte Matt betrübt. Another zuzuhören war der größte Fehler seines-

„AH!“

 

Infinite evil, waiting to get purged! Be the voice of his justice! Synchro Summon! Purify this twisted world! [Vylon Ultima]!“

Grelles Licht blendete Matt, als Alastair seine Hand gen Himmel streckte. Von dort erschien eine gewaltige Kreatur, bestückt mit sechs goldenen Schwingen. Ein mechanischer Erzengel, dessen Leib einem Kreuz nachempfunden war. Um seinen Hals ragte ein goldener Kragen, richtete er doch über all jene, die sich gegen seinen Meister stellten.

„Das … kann nicht sein“, murmelte Matt fassungslos. „Das ist das Ende!“

„Wie wahr. Erkennst du nun, wie töricht es war, den Dämonen zu lauschen?“ Eine Träne rann über Alastairs vernarbtes Gesicht. „Unsere Wege werden sich nun auf ewig trennen. Ich bete dafür, dass du im Limbus deine Fehler erkennen und Gottes Gnade erhalten wirst. Leb wohl, Matt …“

 

Matt stöhnte auf und hielt sich seine pochende Stirn. „Nicht schon wieder …“

Noch eine von Anothers Visionen? Bedeutete das, dass Alastair ihn in seinem nächsten Zug besiegen würde? Aber wie?

Sein Blick fiel auf Alastairs verdeckte Karte, die er in seinem ersten Zug gesetzt hatte. Er kannte nur eine Karte im Deck seines Freundes, die imstande war, alle für [Vylon Ultimas] Beschwörung benötigten Monster aufs Spielfeld zu bringen.

„[Vylon Link]“, murmelte er leise.

 

Das ist die Zukunft, die dich unter normalen Umständen erwarten würde. Doch fürchte dich nicht, ich habe für alles vorgesorgt. Er wird dich nicht besiegen können. Wart einfach ab und genieße die Show.

 

„Tzz.“

Anothers unbekümmerten Worte beruhigten Matt kein bisschen. Zwar zweifelte er nicht an ihrer Glaubwürdigkeit, doch missfiel ihm zusehends die Abhängigkeit, die zwischen ihnen bestand. Im Grunde lenkte Another nun dieses Duell. Und seine Eingriffe glichen praktisch Betrug, etwas, was Matt bis aufs Mark hasste. Das war nicht die Weise, auf die er seinen Freund zur Besinnung bringen wollte!

 

„Ich bin am Zug“, verkündete jener jedoch nach wie vor seelenruhig und zog eine Karte. Mit nun drei Karten auf seiner Hand, strahlte er eine Siegesgewissheit aus, die Matt ins Schwanken brachte. Würde wieder geschehen, was Another ihm gezeigt hatte? Oder war Refiel im Begriff zu intervenieren? Dem Engel traute er das durchaus zu.

„Verdeckte Falle aktivieren!“, rief Alastair und schwang den Arm aus. „[Vylon Link]! Zu Kosten einer Vylon-Ausrüstungsmagie kann ich drei Vylon-Monster von meinem Friedhof auferstehen lassen. Jedoch büßen sie ihre Offensivkraft, ihre Effekte und einen Stufenstern ein. Außerdem verlieren sie während dem Ende meines Zuges ihr neugewonnenes Leben wieder!“

Matt schreckte innerlich auf. Also hatte er mit seiner Vermutung Recht gehabt! Dann bedeutete das wohl …

Vor Alastair erschienen der Reihe nach das prismaförmige [Vylon Prism], der engelsgleiche [Vylon Hept] und schließlich sogar [Vylon Epsilon].

 

Vylon Prism [ATK/1500 → 0 DEF/1500 (4 → 3)]

Vylon Hept [ATK/1800 → 0 DEF/800 (4 → 3)]

Vylon Epsilon [ATK/2800 → 0 DEF/1200 (8 → 7)]

 

Bereite dich darauf vor, [Steelswarm Roachs] Effekt zu benutzen!

 

Gleichzeitig streckte Alastair seine Hand gen Himmel. „Ich stimme mein Stufe 3 [Vylon Prism] auf mein Stufe 7 Synchromonster [Vylon Epsilon] ein! Infinite evil, waiting to get purged! Be the voice of his justice! Synchro Summon! Purify this twisted world! [Vylon Ultima]!“

Und wie Matt es vorhergesehen hatte, blendete ihn grelles Licht, als das gigantische Wesen aus der Dunkelheit der Nacht herabstieg und alles im näheren Umkreis erleuchtete.

„Unglaublich“, murmelte Matt fasziniert und gleichzeitig erschüttert. „Wirklich gut …“

 

Vylon Ultima [ATK/3900 DEF/3500 (10)]

 

„Aber noch lange nicht gut genug!“, schrie er nun und entfernte das verbliebene Xyz-Material von [Steelswarm Roach]. „Da die Stufe deines Monsters weit über 5 liegt, kann ich den Effekt meines Monsters aktivieren! Jenes wird die Beschwörung deines [Vylon Ultima] schlichtweg für ungültig erklären! Prohibition Of Obscurity!“

Wie ein schwarzer Pfeil schoss an Matts Schabe an dem riesigen Wesen vorbei, absorbierte noch im Flug die übrig gebliebene Sphäre und zerteilte mit nur einem Schwertschlag das kreuzförmige Monster.

„Nein!“ Alastair weitete seine Augen, als sein Monster sich einfach im Nichts auflöste. „Wie kann eine Kreatur der Finsternis-!?“

„In dieser Welt ist alles möglich“, antwortete Matt ihm ernst, „nicht alles ist schwarz oder weiß, Alastair. Nur weil ich einen Pakt geschlossen habe, bin ich noch lange kein Dämon!“

Aber konnte er im Angesicht von Another wirklich seinen eigenen Worten glauben, fragte Matt sich schuldbewusst.

 

~-~-~

 

„Bist du dir sicher, dass du wirklich dazu in der Lage bist, Anya Bauer?“

Das Mädchen lachte verächtlich auf und drehte ihren Finger über die Schläfe. „Spinnst du? Keiner von denen ist mein Freund. Weder Redfield, noch diese beiden Penner da unten.“ Mit einem verächtlichen Nicken deutete sie hinab zu der Sphäre, die alles widerspiegelte, was in der Zwischenzeit zwischen Matt und Alastair geschah. „Außerdem könntest du doch sowieso jederzeit die Kontrolle übernehmen.“

Levrier stellte sich neben sie und beobachtete das Geschehen. Matt hatte soeben das Monster beschworen, welches er als Symbol seines Paktes mit dem Dämon erhalten hatte. „Nun sind es drei Zeugen. Opfer für Eden. Kannst du ihren Verlust verschmerzen?“

Die Blondine zuckte unbedarft mit den Schultern. „Klar kann ich das. Wie gesagt, die Drei sind nicht meine Freunde. Wenn es sowieso keine Alternative gibt, aus diesem Kackmist herauszukommen, müssen sie eben die bittere Pille schlucken. Ich habe keinen Grund, Rücksicht auf sie zu nehmen. Warum sollte ich auch freiwillig in diesem beschissenen Limbus enden wollen?“

„Getreu dem Motto 'Lieber die als ich'?“

„Bingo.“

 

In Anyas blauen Augen stand grausame Gleichgültigkeit geschrieben. „Bleibt die Frage, wie wir dafür sorgen, dass es noch mehr Opfer gibt.“

Überrascht sah Levrier das Mädchen an. „Du bist wirklich zu allem entschlossen? Was hat deine Meinung geändert? Du wolltest nie Eden werden, doch nun …“

Anya neigte ihren Kopf mit einer finsteren Grimasse Richtung ihres Gegenübers. „Nur damit das klar ist: ich tue das nicht für dich! ICH bin hier immer noch der Boss! Und ehe ein beknackter Dämon auf die Idee kommt, meine Freunde zu solchen Opfern zu machen, nehme ich das lieber selbst in die Hand und picke mir ein paar entbehrliche Loser raus, klar?“

Levrier schloss die Augen. „Deine Einstellung ist löblich. Aber ich befürchte, dass wir in dieser Hinsicht nichts unternehmen können. Ich kann nur einen Pakt schließen.“

„Also müssen wir uns die anderen Idioten woanders herholen?“

„Ja. Nur wird das nicht reichen.“

Skeptisch hob Anya eine Augenbraue und beobachtete Matt dabei, wie er den Gegenangriff auf seinen Freund einleitete. „Oh, Überraschung … soll heißen?“

„Es ist nur eine Eingebung … aber als dieser Matt Summers den Pakt geschlossen hat, ist sein Elysion in sich zusammengebrochen. Und anschließend sofort reinkarniert, genau wie bei dir. Seine Teile haben sich zu einem neuen Gefüge vereint. Die letzte Antwort … sie ist im Elysion der Zeugen verborgen. Dessen bin ich mir sicher.“

„Aha.“
 

Levrier nickte. „Mehr noch. Dort, wo die Pakte geschlossen werden, hinterlassen sie eine Spur in der realen Welt. Sie ist verschwindend gering, doch in letzter Zeit gehen immer stärker werdende Schwingungen von diesen Orten aus. Anfangs habe ich dem keine Bedeutung zugeschrieben, doch es scheint mehr dahinter zu stecken.“

Er machte eine kurze Pause. „Ich schlage deshalb vor, wir sehen uns das an, sobald diese beiden ihre Zwistigkeiten beigelegt haben.“

„Positiv. Hab ja sonst nix zu tun“, brummte Anya unzufrieden und kehrte ihrem Partner den Rücken zu. Sie schritt über die Mosaikplatte, auf welcher die Erde abgebildet war. In ihrer Mitte blieb sie stehen. „Ich kann's gar nicht erwarten bis das alles hier vorbei ist …“

„Willst du deshalb deine Bekannten opfern?“

„Nein … aber wenn nicht ich, wer sonst? Ist doch deine letzte Chance, oder? Die solltest du nicht vergeigen. Aber keine Panik, mit mir an deiner Seite kannst du gar nicht verlieren.“

Levrier schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, sagte aber nichts. Jedoch musste er lächeln, glaubte er, einen der seltenen Blicke auf Anyas wahre Persönlichkeit erhascht zu haben. Was ihn gleichzeitig aber auch traurig stimmte …

 

~-~-~

 

„Es tut mir leid, Alastair, aber ich kann es mir nicht leisten, hier zu versagen“, sprach Matt mit schlechtem Gewissen. Die letzten Teile von [Vylon Ultima] hatten sich aufgelöst.

Doch anstatt sich seine drohende Niederlage einzugestehen, blieb Alastair seelenruhig. Er ballte eine Faust und hob sie auf Kopfhöhe. „Du hast nicht versagt, sondern ich. Anstatt dich vor den Verlockungen der Dämonen zu beschützen, habe ich dich direkt in ihre Arme getrieben …“

„Huh!?“

„Vergib mir, Matt. Du hattest die ganze Zeit recht, es war meine Schuld.“

Überrascht vom Sinneswandel seines Gegenübers hellte sich Matts Miene auf. „Meinst du das ernst?“

„Ja!“ Mit einem Mal streckte Alastair seinen Arm aus, seine Stimme bebte. „Deswegen werde ich dir so bald wie möglich folgen! Ich habe mein Recht zu leben verwirkt! Wie soll ich mit dem Wissen leben, dich ins ewige Unglück getrieben zu haben!?“

 

Oh großartig. Jetzt dreht er richtig durch. Bieg das wieder gerade!

 

Matt jedoch war zu geschockt von den Worten seines Freundes. Umso mehr, als eine Träne über die vernarbten Wangen Alastairs rann. Verzweifelt rang der Schwarzhaarige nach Worten. „Du irrst dich, Alas-“

„Schweig! Ich ertrage es nicht mehr! Der Gedanke, dich nicht retten zu können, ist unerträglich! Wie konnte es dazu kommen!?“, fragte Alastair in ungewohnt flehender Manier. „Was habe ich getan, dass mein einziger Freund den Dämonen verfällt?“

Schlagartig änderte sich seine Tonlage. „Ich werde sie töten, jeden, den ich finden kann! Und ich werde im Kampf fallen, um Buße zu tun!“

„Hör auf!“

„Nein! Ich kann deine dämonenverseuchte Stimme nicht länger ertragen, Matt!“ Alastair schnappte sich eine Karte von seinem Friedhof. „Ich aktiviere den Effekt von [Vylon Prism]! Wenn es auf den Friedhof gelegt wird, zahle ich 500 Lebenspunkte, um es an eines meiner Monster auszurüsten! An [Vylon Hept]!“

 

[Alastair: 1600LP → 1100LP / Matt: 100LP]

 

Um Alastairs Engelsmaschine leuchtete eine weiße Aura auf.

Matt schwante Übles. Alastair konnte doch nicht etwa-!?

„Da [Vylon Hepts] Effekt blockiert ist, muss ich auf die Schnellmagie [Vylon Polytope] zurückgreifen! Sie beschwört alle ausgerüsteten Vylon-Monster auf mein Spielfeld, die, sobald sie das Spielfeld verlassen, verbannt werden!“

Blitze schlugen um [Vylon Hept], als aus seinem Inneren plötzlich das schildartige [Vylon Prism] austrat.

 

Vylon Prism [ATK/1500 DEF/1500 (4)]

 

„Oh verdammt“, stieß Matt aus, welcher seine Befürchtungen nun Realität werden sah, „Alastair, hör auf damit! Wir können über alles reden!“

„Die Zeit des Redens ist vorbei, Matt! Ich kann dich nicht retten, aber zumindest deine Seele befreien! Und für diese Sünde möge mich Gott ebenfalls in den Limbus schicken, damit ich dein Leid dort teilen kann!“ Alastair streckte seinen Arm in die Höhe. „Ich stimme mein Stufe 4 [Vylon Prism] auf mein Stufe 3 [Vylon Hept] ein! Divine light guides the way to heaven! The mourning soul strifes towards purification! Synchro Summon! Arise, [Vylon Sigma]!“

Prism zersprang in vier grüne Ringe, die Hept durchquerte. Ein Lichtblitz folgte, als abermals eine mächtige Kreatur aus der Höhe hinab Richtung Spielfeld stieg. Und genau wie alle Vylon-Synchromonster war sie atemberaubend schön. Mit je drei goldene Ringe an beiden Armen und einem großen siebenten über dem Rücken, wirkte [Vylon Sigma] mit seinen silbernen Schwingen nicht minder erhaben als [Vylon Epsilon] und [Vylon Ultima].

 

Vylon Sigma [ATK/1800 DEF/1000 (7)]

 

„Das kann doch nicht wahr sein“, stöhnte Matt entgeistert. Er blickte auf seine Duel Disk und stellte fest, dass seine [Steelswarm Roach] keinerlei Xyz-Materialien mehr besaß, um die Beschwörung von Alastairs Monster zu annullieren.

 

Was regst du dich so auf, dieses Ding ist schwächer als dein Monster?

 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

„Wenn du mal in die Zukunft gesehen hättest, wüsstest du, dass du da falsch liegst“, murmelte Matt im Angesicht seines Freundes.

Jener schien sich wieder beruhigt zu haben, von seiner Verzweiflung war keine Spur mehr zu entdecken. Ruhig sagte er: „Ich werde dich in guter Erinnerung behalten, Matthew Summers. Der einzige Freund, den ich jemals hatte … [Vylon Sigma], Harmonic Wave Buster!“

Das himmlische Wesen streckte seinen ganzen Körper durch und schickte eine gleißende Welle in Matts Richtung.

„Oh verdammt!“

 

 

Turn 19 – Fools Day

Während Anya, Matt und Alastair sich ihren inneren Konflikten ausgesetzt sehen, trifft Nick im Livingtoner Park eine junge Frau namens Melinda. Jene scheint nach ihrem Bruder zu suchen, einem Benny. Und als Nick ein Foto von Melinda und ihrem Bruder sieht, nimmt ihre Begegnung einen überraschenden Verlauf an …

Turn 19 - Fools Day

Turn 19 – Fools Day

 

 

[Alastair: 1100LP / Matt: 100LP]

 

„Es ist aus …“, murmelte Matt, geblendet von der Lichtwelle, die ihn erfasst hatte. Sie glitt durch ihn hindurch, gefolgt von immer neuen Wellen, die Alastairs engelsgleiches Wesen, [Vylon Sigma], aussendete.

 

Vylon Sigma [ATK/1800 DEF/1000 (7)]

 

Jener stand mit verschränkten Armen vor seinem Monster und beäugte kritisch, wie Matt und sein Insektenritter [Steelswarm Roach] durch Sigmas Attacke den Boden unter den Füßen verloren und in der Luft zu schweben begannen.

 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

„Dass es soweit kommen musste …“

„Schlimme Dinge passieren eben“, presste der hilflos in der Luft liegende Matt ächzend hervor, „und ich ziehe sie irgendwie magisch an, huh?“

„Warum du?“ Alastair fasste sich an die Stirn. „Ein Pakt mit einem Dämon, um Dinge zu ändern, die nicht zu ändern sind … du bist zu sanft, egal wie gleichgültig und grausam du dich versuchst zu geben. Warst es schon immer.“

Matt lachte krächzend auf. Er hatte sich mit seinem bevorstehenden Ende abgefunden. „Sag das nicht. So hört es sich an, als wäre ich eine totale Lusche.“

„Ich kenne die Wahrheit über dich.“

Überrascht horchte Matt auf.

„Der Mord an deinem Vater. Nicht du hast ihn begangen, sondern deine Schwester, Sophie. Du hast sie lediglich gedeckt, weil du dachtest, du wärst besser für ein Leben auf der Flucht geeignet. Aber als Dämonenjäger darf man nicht selbstlos sein, denn es bedeutet, dass man früher oder später vom rechten Pfad abkommt, von ihm fortgelockt durch schlangenzüngige Dämonen.“

 

Ein kalter Schauder überkam Matt. Alastairs Worte schnitten sich in seine Seele wie ein Messer in Butter. Wie hatte er das herausgefunden!?

Er hatte sich für seine Schwester geopfert, die der Tyrannei ihres Vaters ein Ende gesetzt hatte. Aber außer ihnen beiden wusste niemand darum!

Matt musste schlucken. War er wirklich so leicht zu durchschauen? Wie jämmerlich …

 

Alastair streckte den Arm aus. „Ich kann dich nicht gehen lassen, Matt. Nicht einmal retten kann ich dich jetzt noch. Aber ich verspreche, deine Schwester zu beschützen und mich um sie zu kümmern, bis zu dem Tag, an dem ich dir in den Limbus folgen werde.“

„Halt den Mund, Idiot“, brummte Matt, der nun aufrecht in der Luft schwebte, sich aber nicht rühren konnte, „sie lebt ein anderes Leben als wir. Jemand wie du kann sie nicht beschützen. Außerdem steht sie nicht auf Frankenstein.“

„Das sind also deine letzten Worte?“

Matt grinste verschlagen. „Ist doch allemal besser als 'oh mein Gott, verschone mich!', oder nicht?“

Alastair musste ebenfalls lachen. Und realisierte, dass er seinen Partner bereits jetzt vermisste. Dennoch war es zu spät und obendrein seine Aufgabe, dass kein Dämon in Menschengestalt auf Erden wandelte.

„Das ist der Abschied“, sagte er leise und ballte seine ausgestreckte Hand zu einer Faust. „Effekt von [Vylon Sigma] aktivieren. Wenn ich einen Angriff deklariere, wird meine Kreatur automatisch mit einer Ausrüstungsmagie von meinem Deck versehen. Mit [Vylon Material] erhöhe ich so ihre Angriffskraft um 600!“

Die weiße, metallische Gestalt leuchtete grell auf. Dann streckte sie ihren Körper noch einmal durch, um eine letzte, gleißende Welle auszulösen, die Matt erfasste.

 

Vylon Sigma [ATK/1800 → 2400 DEF/1000 (7)]

 

Dieser schloss die Augen und musste schmunzeln. Er hatte alles versucht, um seinen Freund aus den Fängen Edens zu befreien und war kläglich gescheitert. Hoffentlich würde Alastair stark genug sein, selbst einen Weg aus der bevorstehenden Katastrophe zu finden.

„Der Limbus … gleich weiß ich, wie er ist …“

Die funkelnde, weiße Welle riss ihn wie ein Sturm mit sich.

 

Sei kein Narr, Menschensohn! Denkst du, ich wäre nicht auf so etwas vorbereitet? Für wen hältst du mich?

 

Und während Matt mit vollem Karacho auf die schwarze Flammenwand hinter ihm zuschoss, riss er entgegen seinem Willen plötzlich den Arm in die Höhe. Auch die Worte, die er dazu sprach, waren nicht die seinen. „Incarnation Mode! Jederzeit während meines Zuges kann ich [Steelswarm Roach] zu einer höheren Wesenheit erheben! Ich rekonstruiere das Overlay Network und benutze Roach als Xyz-Material, um aus ihm ein neues Rang 4-Xyz-Monster zu machen!“

Kurz vor dem Feuer kam Matts Körper ruckartig zum Stehen, verharrte in der Luft. Als würden sich Fesseln von ihm lösen, schwebte er nun mit gleichgültiger Mimik auf der Stelle. Gleichzeitig wurde [Steelswarm Roach] in das schwarze Loch gezogen, welches bei jeder Xyz-Beschwörung erschien. Rote, violette und schwarze Blitze schlugen daraus empor, als schließlich eine riesige Gestalt daraus empor stieg.

„Nein! Das ist-!“ Alastairs Augen weiteten sich beim Anblick des kolossalen Monsters, welches sich vor Matt wie eine eiserne Mauer aufbaute und allein mit seiner Anwesenheit [Vylon Sigmas] Angriff wirkungslos werden ließ.

Und es war auch hauptsächlich Eisen, welches seinen Blick versperrte. Ein Breitschwert von der Größe eines Hochhauses wurde in den Boden gerammt, als ein muskulöser Kakerlakenmann in goldenem Umhang damit in die Knie ging. Und in derselben Farbe kreiste auch eine Energiesphäre um das riesige Insekt.

„[Steelswarm Vanguard – Roach Styx]!“, rief Matt und schwang majestätisch seinen Arm aus. „Schütze unsere verbliebenen Lebenspunkte!“

 

Steelswarm Vanguard – Roach Styx [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

Alastair hielt sich stöhnend den Kopf, so stark war die unbegreifliche Macht, die von diesem Koloss ausging. „Was hast du getan, Dämon!?“

„Nur, was notwendig war.“ Elegant fiel der besessene Matt zurück auf den Boden und schritt auf die schwebende Marmorplatte zu, um dort das neue Xyz-Monster auf [Steelswarm Roach] zu legen. „Keine Sorge, ich bin schon wieder weg. Ach und versuch gar nicht erst, Roach Styx anzugreifen, denn diese Kreatur kann nur durch Xyz-Monster im Kampf vernichtet werden.“ Er legte sich Mittel- und Zeigefinger an die Schläfen und schwenkte sie sogleich aus. „Bye bye!“

Kurz darauf kippte Matt ächzend nach vorn und tat es Alastair gleich, hielt sich den pochenden Schädel. „Was zum-!? Wie hat er-!? Und so schnell!“

 

Merk dir eins, Kindchen, ich habe immer ein Ass im Ärmel. Nutze es gut, denn noch eine Chance wirst du nicht bekommen.

 

Alastair indes atmete tief durch. Zwar mochte von den Werten her kein Unterschied zu Matts altem Monster bestehen, doch war dem Mann mit dem langen, schwarzen Haar und dem Zopf über der Schulter durchaus bewusst, dass der Teufel im Detail steckte.

„Eine verdeckte Karte“, brummte er, innerlich hin und her gerissen. Er musste sich gegen diese Ausgeburt der Hölle wehren! Aber durch sie konnte er Matt noch ein paar Minuten länger sehen. Und doch, für jenen war jede weitere Minute unter der Herrschaft dieses Monsters Folter! Er musste ihn davon erlösen, um jeden Preis!

Ohne weitere Handkarten sagte er schließlich: „Du bist dran … Matt? Oder doch nur der Dämon in ihm?“
 

Jener richtete sich, von seinem schwebenden Spielplan abstützend, stöhnend auf. „Ich fürchte, du musst mit dem Original Vorlieb nehmen. Whew, ich dachte schon, die himmlischen Glocken des Limbus zu hören … “

„Wirklich!?“

„Nein!“, empörte sich Matt. Gleichzeitig zog er seine nächste Karte. „Als ob! Reagier' nicht gleich auf alles so leichtgläubig, wenn das Wort Himmel benutzt wird!“

Alastair atmete tief durch. „Machst du dich über mich lustig!?“

Grinsend rieb sich sein Gegner unter der Nase, was Alastair aufgrund des überdimensionalen Kakerlakenritters jedoch nicht sehen konnte. „Klar, wann immer es geht!“

„Das ist ernst! Merkst du nicht, wie du immer tiefer in die Abgründe des Bösen gezogen wirst!? Sieh dir dieses Wesen an! Es ist die Verkörperung der Sünde!“

Matt legte seinen Kopf in den Nacken, betrachtete seine neue Kreatur. „Klar, es ist groß und sieht bedrohlich aus. Aber es hat mir den Arsch gerettet, also werde ich mich nicht beschweren.“

„Du bist genau wie dieses Monster, wie Kakerlaken. Einfach nicht tot zu kriegen. Ich weiß nicht, ob ich dich dafür loben oder verachten soll. Warum machst du es mir so schwer!?“

Seufzend legte Matt eine Hand auf den kalten Marmor. „Weil ich nicht so leicht aufgebe wie du. Wo du blind auf Dinge vertraust, die womöglich gar nicht existieren, suche ich nach greifbaren Alternativen. Und die einzige, die ich zurzeit sehe, ist eine Kooperation mit Anya, denn die will garantiert nicht, dass sie zu Eden wird.“

Alastair stöhnte verärgert. „Was sie will spielt keine Rolle. Es ist zu spät, war es in dem Moment, als sie sich auf den Dämon in ihr eingelassen hat.“

„Ach ja?“, brauste Matt plötzlich auf. „Wie gut, dass du allwissend bist! Wenn es für sie zu spät ist, dann auch für dich, denn du wirst es sein, der den blutigen Weg zu Eden pflastern wird! Was gewinnst du überhaupt durch diesen Blödsinn!?“

„A-“

„Gar nichts! Im Gegenteil, du richtest einen Freund hin, der für dich kämpft! Meine Meinung lässt du nicht zu, weil sie unheilig ist? Fein! Dann bin ich lieber mit dem Teufel liiert, als eine Marionette meiner eigenen Dickköpfigkeit!“

Regungslos verharrte Alastair auf der Stelle und sagte nichts.

 

Mit einem Schlag riss Matt die schwarze Karte seines neuen Monsters in die Höhe. „Ich werde dir zeigen, dass du dich irrst! Während der Standby Phase erhält [Steelswarm Vanguard – Roach Styx] von meinem Friedhof so viele Xyz-Materialien, bis er drei besitzt!“

Zwei weitere goldene Sphären umkreisten die gigantische Kakerlake, die Matt nach einem Wechsel in die Angriffsposition wieder auf den Spielplan knallte. Dabei schob er noch [Steelswarm Gatekeeper] und [Steelswarm Needle] unter sie.

Der insektoide Ritter erhob sich, zog seine gewaltige Klinge aus dem Boden und ließ in seiner stehenden Position zu, dass Alastair Matt durch die Lücke zwischen den Beinen wieder sehen konnte.

 

Steelswarm Vanguard – Roach Styx [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

„Wollen mal sehen, was das Teil so drauf hat“, raunte Matt kämpferisch, „und oha, da haben wir doch auch schon gleich den ersten, sehr praktischen Effekt! Er kostet mich auch nur zwei Xyz-Materialien!“

Der Schabenritter hob beidhändig sein Breitschwert in die Höhe und absorbierte damit zwei der goldenen Sphären, bis die Klinge violett zu glühen begann.

Matt indes streckte seinen Arm aus. „Durch diese Fähigkeit kannst du in diesem Zug keine Karteneffekte mehr aktivieren! [Steelswarm Vanguard – Roach Styx], benutze Clear Effector Mist!“

Alastair wich erschrocken einen Schritt zurück, als das alles überragende Insekt seine Waffen horizontal in seine Richtung schwang und damit eine violette Welle aussendete, die den Dämonenjäger wie einen Sturm erfasste. Er stöhnte auf, als dichter Nebel sein Feld einzuhüllen begann. Durch ihn war es kaum noch möglich, die Umgebung zu erkennen.

„Nun Effekt Nummer zwei aktivieren, auch wenn er laut der Karte hier eigentlich der erste ist! Ist ja auch egal!“, ließ Matt ihm jedoch keine Verschnaufpause. „Im Austausch für ein weiteres Xyz-Material kann Roach Styx ein beliebiges Monster der Stufe 5 oder höher verbannen!“ Wieder steckte sein Monster die Klinge in die Höhe und absorbierte die verbliebene Lichtkugel. „Und ich dachte da irgendwie an [Vylon Sigma]! Banishing Blade!“

Wie ein ein Richter seinen Hammer bei der Verkündung des Urteils fallen ließ, ließ Matts Krieger seine Klinge auf Alastairs Engelsmaschine niedergehen, die sich bei der Berührung auflöste. Und durch den aktivierten Clear Effector Mist konnte Alastair auch keine Vylon-Zauberkarte von seinem Deck seiner Hand hinzufügen, als [Vylon Material] auf den Friedhof abgelegt wurde.

Was blieb, war Alastairs leeres Spielfeld.

„Sehr gut“, sprach Matt zufrieden, „sieht so aus, als wäre ich härter als du.“

„Red' keinen Unsinn …“, knurrte sein Gegner erbost. „Was du erreicht hast, hast du nur deinem 'Freund' zu verdanken.“

„Weil ein anderer versucht hat mich zu töten.“ Matt kratzte sich am Hinterkopf. „Sei kein schlechter Verlierer, Alastair. Ich werde deine verdrehte Ansicht von Recht und Unrecht aus dir rausprügeln, wenn es sein muss. Es wird Zeit, dass die Dinge sich ändern!“

 

Bei deinem Vorhaben musst du jedoch vorsichtig sein. Wenn du ihn jetzt angreifst, kannst du sein Leben beenden, denn dank unseres Pakts kannst du nun meine Kräfte nutzen. Solltest du dies wünschen, werde ich sie in deinen nächsten Angriff katalysieren. Aber da ich die Antwort sowieso kenne, kannst du unbedarft angreifen, ich werde sicherstellen, dass ihm nichts geschehen wird dabei. Denke nur daran, dass ich dies nicht für dich tue.

 

Dass Another sich nun wieder einmischte, erregte Matts Unmut. „Hör auf zu reden, wenn du weißt, was du tun sollst.“

Auch wenn der Einwand begründet sein mochte, war es in der Tat etwas ganz anderes, was dem jungen Mann Sorge bereitete. Refiel. Wenn zwei Dämonen sich bekämpften, musste einer sterben, ehe der Konflikt enden konnte. Wer garantierte ihm, dass Refiel kein falsches Spiel spielte und tatsächlich nur ein manipulativer Dreckskerl war, der Alastair benutzte? Ein Dämon?

Wäre dem so, würde der Angriff Alastair das Leben kosten, da Another gezwungen wäre, seine Kräfte einzusetzen. Jedoch würde der Konflikt nicht enden können, solange er es nicht tat. In dem Fall würde einer von ihnen sterben müssen, früher oder später. Sollte er also blind angreifen oder stattdessen abwarten und sich besiegen lassen, um diese Theorie zu prüfen? Nein, aufgeben war ebenfalls keine Lösung, denn selbst wenn Refiel wirklich ein Engel war und das Prinzip des Blutzolls nicht griff, würde Alastair ihn dennoch aufgrund des Paktes umbringen wollen.

Aber was war mit Another? Er war immerhin Alastairs Erzfeind und auch wenn er ihm gezeigt hatte, was damals angeblich wirklich vorgefallen war, hieß das gar nichts. Genauso gut konnte das alles nur eine Lüge sein, um ihn, Matt, dazu zu bringen, Alastair zu töten. Bloß wenn das stimmte, könnte es schon zu spät sein. Der Pakt war geschlossen …

 

Egal wie Matt es auch betrachtete, es gab keine Alternativen. Alle Möglichkeiten liefen darauf hinaus, dass einer von ihnen sterben könnte. Und er würde nur wissen, wie sich die Dinge wirklich verhielten, wenn er angriff. So schwer es ihm auch fiel. „Okay … [Steelswarm Vanguard – Roach Styx] … direkter Angriff! Infestation's Hammerfall!“

Hoffentlich war es kein Fehler, dachte Matt verzweifelt, als Roach Styx mit seiner Klinge ausholte und sie Richtung Alastair zu schwingen begann.

 

~-~-~

 

Es gab gewisse Dinge, die Nick Harper nicht wusste. Zum Beispiel, dass er als Kind kurz davor stand, zur Adoption freigegeben zu werden. Letztendlich hatten seine Eltern ihn nur deshalb behalten, weil die Nachbarn sonst unangenehme Fragen gestellt hätten. Was Nick auch nicht wusste: sie bereuten ihre Entscheidung von damals zutiefst.

 

Allerdings waren dies Lappalien im Vergleich zu dem, was Nick an diesem angenehmen Oktobertag entging. Während seine Freundin Anya im Begriff war, eine fatale Entscheidung zu treffen und zwei Dämonenjäger und Freunde erbittert miteinander rangen, erfreute Nick sich an den Farben des Herbstes. Statt sich an den Kämpfen rund um Ehre, Verrat und Freundschaft zu beteiligen, hockte er auf einer Bank im unbeschädigten Teil des Livingtoner Parks und beobachtete all die Bäume um ihn herum, die bereits ihre Blätter verloren hatten. Und auch wenn es ziemlich kühl war, trug der hochgewachsene junge Mann ein beiges T-Shirt und Shorts, obwohl seine Gänsehaut davon zeugte, dass er fror.
 

Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen hätte man meinen können, dass er über die wichtigen Fragen des Lebens nachdachte. Tatsächlich fragte er sich aber, ob das um ihn herumliegende Laub wieder an die Bäume wachsen würde, sobald der Frühling begann.

 

„Ein schöner Tag, nicht wahr?“, fragte ihn plötzlich jemand von der Seite. „Ist hier noch ein Platz frei? Die anderen Bänke sind alle besetzt.“

Nick drehte neugierig seinen Kopf zur Seite und blinzelte verdutzt. Eine Frau mit braunem Haar, das nach hinten wie eine Welle verlief, stand neben der Bank und blickte ihn erwartungsvoll an. Auffällig war, dass ihre Jeans dreckig und mit Löchern übersät war. Und auch ihr roter Rollkragenpullover hatte schon deutlich bessere Tage gesehen. Aber Nick störte das nicht, sie hatte immerhin Brüste.

„Ich glaub schon“, gluckste er zufrieden.

Das war wirklich sein Glückstag, was Nick schon wusste, seit seine Mutter ihn heute morgen trotz ihrer Wut wegen des verlorenen Hundert Dollar-Scheins nicht geschlagen hatte! Was bedeutete es schon, dass er den Rest des Jahres dafür hungern musste?

Er freute sich über die Gesellschaft. Sonst waren immer alle anderen Menschen sofort unhöflich zu ihm gewesen. Und hatten meist keine Brüste oder für seinen Geschmack zu wenig davon. Aber er mochte Anya trotzdem.
 

Die Fremde nahm Platz neben ihm und atmete tief durch, sah den grauen Himmel an. „Nicht mehr lange, dann wird es schneien. Mir macht die Kälte ja normalerweise nichts aus, aber dieses Jahr könnte ich ruhig auf sie verzichten.“

„Hehe, ich hab nichts gegen Kälte“, sprach Nick und dachte dabei an aufblühende 'Rosen'. Dann fügte er hinzu: „Schnee schmeckt gut.“

Was ihn an seinen Hunger erinnerte. Und wiederum seinen Magen knurren ließ. „Sorry, das macht er manchmal.“

Überrascht schaute die Frau ihn an. „Hunger? Warte, ich hab was. Ist nicht viel, aber immerhin etwas.“

Sie setzte den Rucksack, den sie bei sich trug, auf ihrem Schoß ab und holte daraus einen Müsliriegel hervor, den sie Nick lächelnd reichte. „Bitteschön! Oh, wo sind überhaupt meine Manieren? Ich bin Melinda.“

„Und ich gerettet“, strahlte Nick über beide Backen und nahm das Geschenk wie einen kostbaren Schatz an. Ehe er gierig das Papier abriss und den Riegel in einem Bissen hinunter schlang. „Aber geboren wurde ich als Nick. Kannst mich aber auch Gott nennen, hehe.“

Anstatt sich jedoch über seinen schrägen Humor aufzuregen, kicherte Melinda. „Du erinnerst mich an meinen Bruder. Er ist auch so'ne Marke.“ Plötzlich stöhnte sie traurig auf. „Ich frage mich, wo er jetzt stecken mag.“

 

Kurz war es zwischen ihnen still.

„Im Knast?“

Wieder lachte Melinda auf Nicks Kommentar hin auf. „Nie im Leben, Benny würde nie ein Verbrechen begehen.“ Plötzlich gewann ihre Stimme etwas Zögerliches. „Aber sag, hast du ihn zufällig gesehen? Warte, ich habe ein Bild.“

Jenes kramte sie ebenfalls aus ihrem Rucksack hervor und gab es Nick. „Zugegeben, es ist etwas alt, aber er hat sich nicht sehr verändert.“

Nick nahm das Polaroid entgegen. Es zeigte einen jungen Mann zusammen mit Melinda, wie sie in einer nächtlichen Stadtkulisse Sombrerohüte trugen und mit roten Gesichtern in die Kamera grinsten. Melindas Haar war kürzer als jetzt und sie trug eine dezente Brille. Ihren Bruder kannte Nick bereits, auch wenn er auf dem Bild gepflegter wirkte und dazu noch aussah, als stecke er mitten in der Pubertät. „Der sucht nach dir.“

„Huh? Du meinst … er?“ Sie zeigte auf Benny.

Nick nickte.

„Benny … sucht nach mir?“

„Nein, er hieß Henny. Oder Kenny. Nein, warte, ich hab's gleich … Penner!“

Melinda blinzelte verdutzt. „Henry? Das ist sein zweiter Vorname.“

Vehement schüttelte Nick besserwisserisch den Kopf. „Nein, es war definitiv Penner! Anya hat gesagt, dass sie nichts von Pennern kauft.“
 

Die Erwachsene jedoch war bereits aufgekratzt aufgesprungen, wobei ihr Rucksack auf den Boden fiel. „Wo hast du ihn gesehen? Und wann!?“

„Uhh … weiß ich nicht mehr …“

„Bist du dir sicher, dass er es war?“, fragte sie aufgeregt und fasste Nick an den Schultern. „Wenn ja, muss ich sofort verschwinden! Er wird- Urgh!“

Sie fasste sich stöhnend an die Stirn und ging in die Knie. Ohne aufzusehen, fragte sie plötzlich kühl. „Anya Bauer war bei dir, sagtest du?“

„Jup.“

Mit geweiteten Augen schreckte sie hoch und taumelte von Nick zurück, sich immer noch den Kopf haltend. „Renn' weg!“

„Keine Lust. Lass uns lieber verstecken spielen.“

„Wieso?“ Sie ließ den Arm sinken. „Wenn ich dich doch sofort töten kann?“

Sie beugte sich stöhnend vor, als hätte sie Magenschmerzen. „Urgh! Nick, renn' weg! Er wird jeden Moment-“

Nick aber erkannte gar nicht, was mit Melinda vor sich ging. „Töten ist doof. Dann wäre ich ja tot.“

„Das ist kein Spiel“, schrie sie ihn an, „er ist in mir! Er will dich umbringen, weil du Anya Bauers Freund bist! Ich kenne weder dich noch sie, aber ihr beide seid in Gefahr! Ich kann nicht län- AH!“

Anstatt aber ihrer dringlichen Aufforderungen nachzukommen, trat Nick näher an sie heran und nahm sie in den Arm. „Alles wird gut, ich bin ja da.“

 

Ein Faustschlag in den Magen verriet ihm jedoch schnell, dass gar nichts gut wurde. Zurück torkelnd und sich dabei den Bauch haltend, erschrak Nick, als er in Melindas emotionsloses Gesicht starrte.

„Dieses Mädchen …“, murmelte sie dabei und besah ihre Hände, „was für ein dickköpfiges Kind. Selbst nach unserem Pakt kann sie mich noch unterdrücken. Wohlan, es liegt den ihren eben im Blut.“ Dann sah sie auf. „Und du bist also ein Freund von Anya Bauer?“

„Hehe, ihr -Freund-“, gluckste Nick und zwinkerte mit den Augenbrauen. „Aber warum schlägst du mich?“

Melinda streckte jedoch den Arm aus und schleuderte Nick mit einer unsichtbaren Druckwelle über die Bank hinweg, sodass er rückwärts über diese fiel und direkt auf dem Kopf landete.

„Au!“ Nick sprang auf und rieb sich die schmerzende Stelle. „Du bist ein Geist, oder?“

„Nein. Mein Name lautet Isfanel. Als Freund von Anya Bauer hast du ihn gewiss schon gehört, vermute ich.“

„Du bist … Marc?“

„Mein letztes Gefäß trug diesen Namen. Und wäre es nicht dank deiner Freundin, würde er jetzt noch unter den Lebenden weilen.“ Die von Isfanel besessene Melinda trat einen Schritt vor und hob wieder ihre Hand. Nick duckte sich reflexartig – weil er etwas Glitzerndes am Boden entdeckt hatte – und entging so seinem Tod, denn die Rinde eines Baumes direkt hinter ihm platze wie ein Ballon auf.

„Oh, nur ein Kronkorken!“, beklagte er sich enttäuscht und schaute von der Lehne der Bank auf. „Wenn du nicht Marc bist, dann … vielleicht eines dieser Dinger?“

„Wovon sprichst du?“ Isfanel ließ die Hand sinken.

„Die, die damals beim Eishockeyspiel mitgespielt haben. Alle haben sich gekloppt wegen denen. Oder die, die uns in Victim's Sanctuary angegriffen haben. Das waren dieselben.“

„Meine Person hat nichts mit derartigen Geschehnissen zu tun.“ Die besessene Melinda verengte ihre Augen zu Schlitzen. „Aber das hier ist mein Werk.“

 

Nick sah auf. Der Park hatte sich nicht weiter verändert, doch es war still geworden. Keine Menschen waren mehr um sie herum – er hatte es gar nicht bemerkt! Und der Himmel hatte eine rosa Farbe angenommen. Wie Zuckerwatte. Mhmm, Zuckerwatte ...

„Du kannst nicht entkommen. Also versuche gar nicht erst, dich zu wehren.“ Isfanel trat wieder näher an die Bank heran und hob seine Handfläche. „Mir widerstrebt es, einen Unschuldigen zu vernichten, aber du stellst eine potentielle Gefahr dar. Zudem wird dein Tod der erste Schritt sein, um Anya Bauer in den ihren zu schicken.“

Plötzlich sprang Nick auf und sah Isfanel direkt in die Augen. „Sag das nochmal!“

„Was?“

„Was?“

„Ich-“

„Ich auch!“

„Stirb!“ Isfanel schickte eine weitere Welle in Nicks Richtung, der seinerseits ruckartig zur Seite sprang und mitansah, wie die Bank zerfetzt wurde. Stöhnend zuckte Isfanel anschließend zusammen, als hätte sich ein ziehendes Gefühl in ihm breit gemacht. Anschließend blinzelte er überrascht, als sein Gegenüber grinste. „Warum lachst du?“

„Nix! Oder doch? Weiß nicht. Meine Eltern sagen immer, ich wäre besonders.“

„Eine Barriere … in deinem Verstand. Wer hat sie erschaffen?“ Die besessene, junge Frau schüttelte den Kopf. „Es spielt keine Rolle. Dieser Ort wird dein Grab sein.“
 

„Duell!“ Nick hatte seine Duel Disk gezückt und grinste. „Genau wie in den Filmen! Das wollt ich immer schon mal tun, hehe.“

„Ich habe keine Absicht-“

Doch ehe sich Isfanel versehen konnte, lag Nick ihm zu Füßen und zerrte an Melindas Hose. „Ach komm schon, bitte! Ich will auch ein Holyfoot-Star sein! Nur ein Duell! Ich tu auch alles was du willst.“ Er grinste verschlagen. „Wirklich alles!“

„Was ist mit dir-!?“

„Feigling!“ Nick sprang auf, schritt zurück und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Der Nickinator erkennt sofort, wenn seine Feinde sich fürchten! Und kein Wunder, er ist schließlich der beste Duellant auf dem Planeten!“

 

Isfanel verstand nicht, wie dieser Menschling ihm so furchtlos gegenüber treten konnte. Es mochte an seiner mangelnden Intelligenz liegen, doch etwas an ihm riet Isfanel zur Vorsicht. Zwar schien er über keine unnatürlichen Kräfte zu verfügen, aber als Freund von Anya Bauer sollte er nicht unterschätzt werden. Zumal er recht flink zu sein schien.

Und Isfanel rief sich in Erinnerung, dass er mit seinen Kräften sparsam umgehen musste. Allein der Bannkreis kostete viel Kraft. Wenn er noch mehr davon freisetzte, um diesen Nick zu vernichten, gelang es seinem Gefäß am Ende noch, die Kontrolle zurückzugewinnen. Etwas, dass er sich nach all der Arbeit nicht leisten konnte. Allein sie in einen Pakt zu zwingen hatte ihn an den Rand der Zerstörung gebracht, nachdem er sich von Anya Bauers Angriff nur sehr langsam erholt hatte.

Vielleicht wäre es das Beste, auf seinen Vorschlag einzugehen? In einem Duell verbrauchte er weniger Kraft. Und sein Gegner stellte in dem Fall ein leichtes Ziel dar.

Doch was, wenn es eine Falle war? Nein, es gab keine Anzeichen dafür. Er besaß keine besonderen Kräfte, das stand fest. Auch wenn etwas an seinem Elysion anders war, als bei gewöhnlichen Menschen …

„Du willst unbedingt ein Duell?“, fragte Isfanel schließlich steif. „Wie du willst. Ein Feigling bin ich nicht. Doch wisse, dass es nichts an deinem Schicksal ändern wird!“

„Filmstar zu werden? Cool!“ Nick grinste breit.

 

Kurz darauf standen sie sich mitten auf dem Kiesweg gegenüber, mit erhobenen Duel Disks.

„Es hat lange gedauert, zurückzubekommen, was mir gehört“, sprach Isfanel und schob sein Deck in den Apparat an seinen Arm. „Nun wird sich zeigen, ob mein damaliger Paktpartner bei der Wahl seines Symbols richtig entschieden hat oder nicht.“

„Ich versteh nur Bahnhof“, gluckste Nick, „aber das bin ich gewohnt! Zück schon mal Zettel und Stift, denn wenn der Nickinator mit dir fertig ist, wirst du sie brauchen, um-“ Der hochgewachsene Kerl kratzte sich am Kopf. Er hatte glatt vergessen, was er sagen wollte. Leise murmelte er zu sich selbst: „Merke! Nächstes Mal Onkel Google mitbringen für coole Sprüche.“

„Willst du noch länger warten, oder soll ich dich doch auf der Stelle vernichten?“

„Okay, bin schon bereit!“, strahlte Nick und schob sein Deck ebenfalls in die Duel Disk. „Duell!“

 

[Nick: 4000LP / Melinda: 4000LP]

 

„Ist es ein Vogel? Ist es ein Flugzeug? Nein!“, rief Nick, zog nach seinem Startblatt noch eine Karte und ließ sie ungeschickt auf den Boden fallen. „Es ist die Schwerkraft!“

„Was machst du da?“ Isfanel rührte sich keinen Millimeter und beobachtete seinen Gegner verwirrt dabei, wie er seine Karte wieder aufhob.

„Weiß nicht“, machte sich Nick nichts aus der Verwirrung seines Gegners, schloss die Augen und legte die erstbeste Karte, die er greifen konnte, auf die Duel Disk.

„Und heute in Nicks Wundertüte …“ Er sah nun auf den Apparat an seinem Arm und das Monster darauf. „Oh, es ist [Wind-Up Soldier]!“

Aus dem Boden schoss ein etwa ein Meter großer, grüner Spielzeugsoldat, dessen Kopf die Form eines Magneten hatte. Er ließ einmal seine Zangenhände um 360° drehen, ehe er in Kampfposition ging.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Die und die und die!“ Drei verdeckte Karten machten sich vor Nick breit. „Und nicht vergessen: der Nickinator kennt all deine Schwachstellen! Zug beendet!“

Isfanel schürzte seinerseits die Lippen. „Du wirst es bereuen, diesen Vorschlag gemacht zu haben. Womöglich denkst du von mir, dass ich ein grausames, nach Blut dürstendes Wesen bin …“

„Bist du nicht!?“, fragte Nick voller Empörung.

„Nein. Doch solange meine Existenz in Gefahr ist, kann ich deine Freundin Anya Bauer nicht ignorieren. Sie darf nicht zu Eden werden!“

„Find' ich auch!“ Nick verschränkte mit fest entschlossener Mimik die Arme. „Nicht, solange sie mir nicht die 10 Dollar wiedergegeben hat, die sie mir geliehen hat!“

Den Kopf schüttelnd, gab Isfanel es auf, an den Verstand seines Gegners zu appellieren. Allein aufgrund seiner mangelnden Intelligenz war er nicht imstande, die Situation zu begreifen, in der Isfanel sich befand. Jener selbst war sich derer nicht so sicher, wie er es sein musste. Denn auch wenn Eden eine Gefahr für ihn war, wusste er so verdammt wenig darüber.

 

Doch das spielte jetzt keine Rolle. Dieser Bursche war sein Feind, wenn auch nur durch eine unglückliche Fügung des Schicksals. Und wenn er seinen Plan umsetzen wollte, musste er sein Blut vergießen. Und das vieler anderer Menschen, die in Kontakt mit Anya Bauer standen.

„... denn sie sind ihre Schwachstelle …“, murmelte er leise und zog seine sechste Handkarte.

Er würde jeden vernichten, der Anya Bauer irgendetwas bedeutete. In der Hoffnung, sie damit in den Wahnsinn zu treiben, damit sie sich selbst richtete. Dann konnte selbst der Gründer ihr nicht helfen.

„Schnellzauberkarte“, rief er schließlich, „[Emergency Teleport]! Damit kann ich von meinem Deck ein Psi-Monster der Stufe 3 oder weniger beschwören, wobei es jedoch am Ende des Zuges wieder verbannt wird! Und nun erscheine, [Winda, Priestess Of Gusto]!“

Eine Säule aus blauem Licht entstand vor Isfanel. In ihr setzte sich aus kleinen, viereckigen Partikeln ein grünhaariges Mädchen zusammen, das über ihr weißes Kleid einen braunen Mantel trug und auf dem ein grüner Vogel saß. Stolz schwang sie ihren Zauberstab, in dessen Kopf ein länglicher Smaragd eingesetzt war.

 

Winda, Priestess Of Gusto [ATK/1000 DEF/400 (2)]

 

„Nun zu meiner normalen Beschwörung“, setzte Isfanel den Zug ohne Umschweife fort, „ich schicke [Gusto Gulldo] in den Kampf!“

Der Vogel auf ihrer Schulter flog in die Höhe, wuchs und trug nun plötzlich einen grünen Helm sowie ein Reitgeschirr um seinen Körper.

 

Gusto Gulldo [ATK/500 DEF/500 (3)]

 

Mit einem Schlag schwang die willenlose Melinda ihren Arm aus, während sie rief. „Nun stimme ich das Empfängermonster [Gusto Gulldo] der Stufe 3 auf [Winda, Priestess Of Gusto] der Stufe 2 ein! The feather of hope is blown away by divine winds! A storm embraces the lost valley! Synchro Summon! Reverberate, [Daigusto Gulldos]!“

Der Vogel flog in hohem Tempo an Winda vorbei und wuchs dabei weiter, als sie auf seinen Rücken sprang. Zusammen schossen sie hoch in die Luft, waren nicht mehr zu sehen, bis sie wie eine eisige Böe einmal um das Spielfeld fegten und schließlich vor Isfanel Halt machten. Nun war Gulldos endgültig erwachsen und trug eine stachelige Rüstung, während seine mächtigen Schwingen ihn und Winda über der Erde hielten.

„Cool, so eine Synchrobeschwörung hab ich noch nie gesehen. Da waren ja gar keine Ringe und Blitze und so“, plapperte Nick begeistert. „So was will ich auch!“

 

Daigusto Gulldos [ATK/2200 DEF/800 (5)]

 

„Du begreifst nicht, wie gefährlich diese Kreatur ist. Deswegen lass mich dir eine Kostprobe ihrer Macht geben! Indem ich zwei Gusto-Monster von meinem Ablagestapel ins Deck zurückschicke, vernichtet Gulldos eines deiner offen liegenden Monster!“

Und kaum hatte Isfanel [Winda, Priestess Of Gusto] und [Gusto Gulldo] von seinem Friedhof aufgenommen, schickte sein Riesenvogel durch nur einen Flügelschlag einen Wirbelsturm in Richtung [Wind-Up Soldier], der stöhnend durch die Luft geschleudert wurde. Als er meterweit entfernt auf dem Boden aufprallte, zersprang er in tausend Stücke.

„Ohhh“, jammerte Nick ihm mit ausgestreckter Hand und Tränen in den Augen hinterher. Schließlich blinzelte er. „Irgendwas hab ich vergessen … ahja, verdeckte Zauberfalle! [My Body As A Shield]! Für 1500 Lebenspunkte passiert jetzt irgendwas!“

Die mittlere seiner gesetzten Karten sprang auf, gab sich durch den grünen Rand als Zauberkarte zu erkennen, klappte dann aber wieder zu.

„Du hast den Zeitpunkt ihrer Aktivierung verpasst“, sprach Isfanel ungerührt, „wenn du so weiter machst, wird deine Dilettantismus dein Grab sein.“

Nick grinste breit. „Sooorrryyy!“

„Zauberkarte [One For One]!“ Die braunhaarige Frau hielt die Karte in die Höhe. „Durch den Abwurf eines Monsters von meiner Hand wird ein ebensolches von meinem Deck beschworen. Einzige Einschränkung ist, dass seine Stufe 1 betragen muss. Also erscheine, [Gusto Egul]!“

Ein wesentlich kleinerer, dunkelgrüner Vogel umkreiste plötzlich seinen älteren Bruder. Aber auch das junge Tier war gut gepanzert und trug einen Helm, dessen Kamm messerscharf erschien.

 

Gusto Egul [ATK/200 DEF/400 (1)]

 

Doch Isfanel hielt bereits eine weitere Karte in der Hand. Es war die, die er für die Aktivierung seiner Zauberkarte ursprünglich abgeworfen hatte. „Der Effekt von [Gusto Griffin] aktiviert sich nun! Wenn er von meiner Hand abgeworfen wird, ruft er ein Gusto-Monster von meinem Deck aufs Spielfeld. Und dieses Mal gibt es keine Stufenbeschränkung! Höre meine Stimme, [Windaar, Sage Of Gusto]!“

Ein weißer Wirbelsturm schoss aus dem Boden und ließ einen grünhaarigen Mann daraus springen, der einen klingenbesetzten Metallstab schwang. Gekleidet war er wie ein Wanderer, doch hatte er einen stillen Zauberspruch auf den Lippen.

 

Windaar, Sage Of Gusto [ATK/2000 DEF/1000 (6)]

 

Der kleine Vogel schwirrte nun um den Priester herum, wuchs und als Egul groß genug war, sprang Windaar auf dessen Rücken.

„Silence lies within the wisper of the winds! A word of power is spoken! Synchro Summon! Arise, [Daigusto Eguls]!“

Das Reittier des Wanderers war nun genauso imposant und mächtig gepanzert wie sein Artgenosse, welcher von Winda kontrolliert wurde. Nick staunte Bauklötze über die Tatsache, dass Isfanel mühelos zwei starke Synchromonster in wenigen Schritten beschworen hatte.

 

Daigusto Eguls [ATK/2600 DEF/1800 (7)]

 

Im Angesicht der beiden Riesenvögel verging Nick das Grinsen. „Oh oh, das sieht aus, als ob es gleich weh tun wird …“

„Ich werde es schnell beenden. Meine Monster, doppelter Angriff auf die Lebenspunkte meines Gegners! Löscht ihn aus! Twin Cyclones!“

Beide Kreaturen stiegen mit ihren Reitern auf und erzeugten zusammen zwei Wirbelstürme, die immer wieder ineinander übergingen und unbändig auf Nick zu rasten.

Jener geriet in Panik. „Was mach ich jetzt? Die?“

Er drückte wahllos auf einen Knopf seiner Duel Disk, wodurch wieder [My Body As A Shield] aufsprang, nur um wieder nach unten zu fallen. „Dann die?“

Wieder klappte eine von Nicks gesetzten Karten auf. Dieses Mal war es eine Falle, wie man an dem purpurnen Rand erkennen konnte. Auf ihr abgebildet war ein Richter, der aus einem Sumpf entstieg und einen Duellanten vor die Wahl zwischen einer goldenen und einer Eisenaxt stellte. Der Zwillingswirbelsturm prallte an der Karte ab und verharrte fortan auf der Stelle.

„[Half Or Nothing]“, raunte Isfanel mit seiner weiblichen Stimme verärgert. „Diese Karte zwingt mich, entweder die Angriffskraft meiner Monster bis zum Ende des Zuges zu halbieren oder gar ganz auf die Battle Phase zu verzichten.“

„Äh, ja, genau das!“

„Da es keine Monster auf deiner Seite des Spielfeldes gibt, sehe ich keinen Grund, den Angriff abzubrechen! Also los!“

 

Daigusto Gulldos [ATK/2200 → 1100 DEF/800 (5)]

Daigusto Eguls [ATK/2600 → 1300 DEF/1800 (7)]

 

Nicks Falle wurde unter dem Getöse der Zyklone zerfetzt. Ihr Besitzer wurde schlussendlich von ebenjenen erfasst und wie ein Stück Papier durch die Luft geschleudert. Schreiend landete er schließlich in einem Busch in der Nähe des Kiesweges, auf dem die beiden sich duellierten. Mit zuckendem Bein jammerte er: „Kann mich bitte jemand hier herausholen? Hier ist es dunkel und ich hab Angst. Und hab ich erwähnt, dass das gerade sehr weh getan hat? Aua!“

 

[Nick: 4000LP → 1600LP / Melinda: 4000LP]

 

„Ich setze zwei Karten“, ließ Isfanel sich davon nicht beirren und schob seine letzten beiden Handkarten in die dazugehörigen Slots seiner Duel Disk. „Zug beendet. Damit erlangen meine Monster ihre ursprüngliche Stärke wieder. Und zusätzlich aktiviert sich nun der Effekt von [Daigusto Eguls]!“

Für einen kurzen Augenblick leuchteten die Augen des größeren der beiden Vögel rot auf.

„Indem ich ein Gusto-Monster von meinem Friedhof verbanne, zerstöre ich eine gesetzte Karte meines Gegners.“ Isfanel steckte [Windaar, Sage Of Gusto] in die hintere Hosentasche von Melindas zerschlissener Jeans. „Meine Wahl fällt auf [My Body As A Shield], damit du mein weiteres Vorgehen nicht behindern kannst.“

Wieder leuchteten Eguls' Augen rot auf und dieses Mal explodierte Nicks Karte.

 

Daigusto Gulldos [ATK/1100 → 2200 DEF/800 (5)]

Daigusto Eguls [ATK/1300 → 2600 DEF/1800 (7)]

 

Dieser kam schließlich auf allen Vieren angekrabbelt, gezeichnet von etlichen Schnitten im Gesicht und an seinem beigen T-Shirt. „Aua …“

„Wenn das alles ist, was du an Schmerzen erdulden kannst, geht von dir wahrlich keine Gefahr aus.“ Isfanel sah mit hochnäsiger Mimik auf Nick herab. „Jemand wie du kann niemanden beschützen. Anya Bauer wird sterben, dafür sorge ich. Das ist meine Bestimmung!“

Nick richtete sich langsam auf. „Verstehe … eine Bestimmung also? Willst du auch wissen, was meine ist?“

Überrascht von diesem merkwürdigen Tonfall, musterte Isfanel den jungen Mann interessiert. „Etwas an dir hat sich soeben verändert.“

„Nein“, antwortete Nick kühl und putzte sich beiläufig etwas Dreck von der Kleidung, „nichts hat sich verändert. Alles ist, wie es immer war. Damit das auch so bleibt, muss ich jetzt leider Ernst machen. Meine Freundin leidet auch ohne dich schon genug.“

„Was soll das bedeuten?“

Plötzlich blickte Nick mit einer Ernsthaftigkeit in seinen Augen auf, die man so noch nie bei ihm erlebt hatte. „Es bedeutet, dass ich keine Rücksicht mehr auf Melinda nehmen kann. Vielleicht bin ich gar nicht so nutzlos, wie alle immer denken? Bevor du Anya auch nur ein Haar krümmst, musst du erst an mir vorbei! Das ist -meine- Bestimmung!“

 

~-~-~

 

„Unmöglich!“ Matt war sprachlos, konnte nicht glauben, was er da sah.

Der violette Nebel um Alastair hatte sich durch den Schwung von Roach Styx' Schwert verzogen und war unverhofft an einem dreieckigen, weiß glühenden Energieschild abgeprallt, den drei kleine, kugelförmige Apparate an den Ecken erzeugten. Jenes Kraftfeld schützte Alastairs Linke und stellte ein unüberwindbares Hindernis für die Klinge dar.

„Wie-!“ Der junge Schwarzhaarige realisierte erst jetzt, was ihm bereits viel früher hätte auffallen müssen. Alastairs gesetzte Karte war fort.

Jener erklärte ruhig: „Ich habe sie bereits aktiviert, als du versucht hast, meine Effektaktivierungen zu unterbinden. Es handelt sich hierbei um [Delta Shield], eine Falle, die umso effektiver wird, je höher die Stufe des Monsters war, welches ich für ihre Aktivierung als Ziel ausgewählt habe. So reicht schon ein Stufenstern aus, um in diesem Zug einmalig Kampfschaden zu annullieren, wie ich es hier getan hab.“ Er deutete auf die dreieckige Barriere. „Da [Vylon Sigmas] Level aber auch über 4 lag, konnte ich zudem eine Karte ziehen und wäre imstande gewesen, mein Monster vor feindlichen Angriffen zu schützen. Wenn meine Kreatur sogar der Stufe 8 angehört hätte, wäre sie zusätzlich noch immun gegen sämtliche Karteneffekte gewesen, wodurch die deine nicht imstande gewesen wäre, Sigma zu verbannen. Doch du hattest Glück.“

Mit seiner neu gezogenen Handkarte verharrte Alastair anschließend nachdenklich, schien gar in jenen Gedanken verloren zu sein.

Matt fand jedoch seine Sprache wieder. „Verdammt! Du bist mindestens genauso hartnäckig wie ich!“

„Zumindest etwas, das wir gemeinsam haben …“

 

Ich gebe es auf. Entweder bist du einfach nur unfähig, oder dieser Typ hat seit meiner letzten Begegnung mit ihm ordentlich dazugelernt. Langsam bereue ich es, dich als Paktpartner gewählt zu haben.

 

Daraufhin zischte Matt verärgert. Innerlich war er jedoch auch erleichtert, denn zumindest lebte Alastair noch. Blieb bloß die Frage, ob er selbst dessen nächsten Zug noch überstehen würde.

„Ich setze eine Karte“, meinte er schließlich gefasst. Wie er Alastair kannte, würde der nächste Runde von Refiels Fähigkeit Gebrauch machen und das Schicksal beeinflussen. Alles im Sinne eines finalen Offensivschlags.

Hoffen wir mal, dass mir meine Falle den Arsch retten wird, dachte er und beendete seinen Zug schließlich mit einer Handkarte. „Du bist.“

 

Und kaum hatte Alastair seine Hand auf sein Deck gelegt, begann sie weiß zu leuchten, was binnen Sekundenbruchteilen auf die Karten überging.

„Ich hab geahnt, dass er das tun wird“, brummte Matt frustriert. „Das wird übel.“

 

Hoffentlich tötet er dich. Hätte ich einen eigenen Körper, würde ich angesichts dieser Farce im Boden versinken vor Scham …

 

Was bei Matt allerdings nicht gut ankam. „Bist du auch mal still!?“

„Das ist der letzte Zug!“, rief Alastair ihm zu. „Ich werde das ein für allemal beenden! Draw!“

Ein gleißendes Strahlen ging von ihm aus, als er schwungvoll zog. Im Kontrast dazu stand der aus schwarzem Marmor bestehende Spielplan, der wie das sprichwörtliche Auge des Sturms aus dem Licht herausstach.
 

Alastair sah seine neue Handkarte an und nickte. Refiel hatte ihm wieder den Weg gewiesen. Matt mit einem traurigen Blick musternd, schloss er die Augen. Um dessen Misstrauen gegenüber Refiel wusste er, es war kein Geheimnis. Und es ehrte Alastair auch, dass sein Freund sich um ihn sorgte.

Aber er war keine Marionette des Himmels. Refiel hatte nie Befehle gegeben, sondern ihn immer vor die Wahl gestellt. Vor die Wahl gestellt, das Richtige zu tun.

Und jetzt war das Richtige, Matt von seiner Qual zu erlösen. Im Moment mochte dieser glauben, dass dieser Dämon ihn nicht verraten wird. Aber er hat ihm ohne Zweifel einen Pakt aufgezwungen und es war offensichtlich, dass dieses Miststück etwas plante. Dem musste er einen Strich durch die Rechnung machen, auch Matt würde das so wollen, wenn er nur die nötige Weitsicht besäße!

„Ich beschwöre [Vylon Pentachloro]!“, tönte Alastair erhaben und fühlte sich in seinem Vorhaben dadurch bestärkt.

Vor ihm formte sich ein metallisches Wesen langsam zu einer Gestalt. Erst war da der fünfeckige Körper aus dunklem Stahl, dann die zwei Arme und letztlich ein goldener, radähnlicher Kopf.

 

Vylon Pentachloro [ATK/500 DEF/400 (4)]

 

Matt schluckte. Was würde jetzt folgen? Ein Empfängermonster für eine weitere Synchrobeschwörung? Oder gar etwas ganz anderes-!?

„Mögen die Schuldgefühle mich zurück zu dir führen“, sprach Alastair leise und schob eine Zauberkarte in den dazugehörigen Slot seiner Duel Disk. „[Machine Duplication]! Damit verdreifache ich ein Maschinenmonster mit einer maximalen Offensivstärke von 500!“

Erschrocken beobachtete sein Gegner, wie zwei durchsichtige Kopien links und rechts aus [Vylon Pentachloro] schossen, ehe sie eine feste Gestalt annahmen.

 

Vylon Pentachloro x3 [ATK/500 DEF/400 (4)]

 

„Nein! Das ist-!“

Alastair streckte mit entschlossener Mimik den Arm aus. „Werde Zeuge der Macht Gottes! Ich erschaffe das Overlay Network!“

Seine drei Monster wurden zu gelblichen Lichtern, die in den schwarzen Wirbel gezogen wurden, welcher sich in der Mitte des Spielfeldes aufmachte. „Erscheine, [Vylon Disigma]!“

„Ein Xyz-Monster!? Aber woher-“

Aus den Tiefen der Finsternis entstieg eine gar groteske Gestalt. Sie wirkte ganz anders als die anderen Vylon-Monster. Dunkel und bösartig war die Grimasse des Wesens, dessen überdimensional großer Kopf auf zwei miteinander verbundenen, quadratischen Plattformen lag. Aus den langen Armen, die aus Disigmas Kopf ragten, schossen etliche schwarze Klingen. Während die drei Xyz-Materialien als weiße Sphären um es kreisten und dabei das Gold an seinem Körper zum Glänzen brachten, verschlug es Matt beinahe die Sprache.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]
 

„Was … ist das?“ Er hatte diese Kreatur noch nie in Alastairs Deck gesehen.

„Das Geschenk des Engels Refiel“, antwortete dieser, „seine Macht übersteigt die eines jeden Dämons! Siehe den Grund für sein abscheuliches Äußeres! Absorbiere das Böse dieser Welt, absorbiere [Steelswarm Vanguard – Roach Styx]!“

Der Mund der abstrusen Engelsmaschine öffnete sich, als sie damit begann, den riesigen Kakerlakenritter einzusaugen. Dieser schrumpfte dabei immer mehr und kaum war er verschwunden, verfärbte sich eine der um Disigma kreisenden Sphären violett.

Matt sah fassungslos auf seinen Spielplan. Hätte Alastair angegriffen, wäre er ihm mit seiner Falle [Rising Energy] zuvor gekommen. Doch ohne sein Monster ging das nicht. Es war … vorbei.

 

Gratulation! Du hast nach allen Regeln der Kunst versagt! Kann ich jetzt gehen?

 

„Halt den Rand“, murmelte Matt nur schwach.

„Weil es das Böse in sich aufgenommen hat, um es zu reinigen“, erklärte Alastair plötzlich und deutete auf seine Kreatur, „ist es selbst zu einer finsteren Silhouette verkommen. Nun mag es dem Unwissenden selbst wie ein Dämon erscheinen … aber seine Intentionen sind nach wie vor rein.“

Matt musste auflachen. Er sah seinen Freund tief in die Augen, denn er erkannte die Parallelen zwischen dem entstellten Alastair und seinem Monster. „Du vergleichst dich damit? Dass ich nicht lache! Es ist eine Karte! Die hat keinen freien Willen! Und kein Gewissen! Sie tut nur das, wozu sie erschaffen, beziehungsweise missbraucht wird! Aber du! Du glaubst, du kannst dich vor der Verantwortung drücken, indem du blind irgendwelchen Überzeugungen folgst!“

Alastair streckte seine Hand aus. „Matt-“

„Und selbst wenn es wirklich besser für alle ist, wenn ich hier und jetzt sterbe, hast du als Mensch trotzdem versagt! Als Freund!“ Der Schwarzhaarige ließ bedrückt den Kopf hängen. „Tu was du willst. Ich glaube, ich habe jetzt erkannt, dass ich gegen den Engel an deiner Seite keine Chance habe.“

Alastair schüttelte vehement den Kopf. „Du irrst dich, Matt! Ich will-“
 

Es ist genug, Alastair. Lass ihn leben.

 

„Refiel!“, schoss es aus dem Dämonjäger überrascht.

Matt schreckte ebenfalls auf, denn auch er hatte die sanfte, warme Stimme vernommen. Er sah sich um, doch nirgendwo war ein Zeichen des Engels, es loderten nur die schwarzen Flammen, während Anya nach wie vor bewusstlos auf der anderen Seite im Garten der Familie Bauer lag.

„Wieso mischt der sich jetzt ein!?“, platzte es aus Matt heraus.

 

Dieser Kampf ist sinnlos. Du, Matt Summers, hast eine große Sünde auf dich geladen. Doch nicht heute soll der Tag sein, an dem der Herr über dich urteilt. Aber du, Alastair, hättest es besser wissen müssen.

 

„Was!?“

 

Dein Freund hat sich und sein Seelenheil für dich geopfert. Was er nicht hätte tun müssen, wenn du ihm mit Gnade begegnet wärst. Gottes Regeln zu befolgen heißt nicht, sie für den eigenen Wahn zu missbrauchen. Ein Wissen, das dieser Junge dir voraus hat.

 

„Refiel, ich-“
 

Nein, Alastair. Der Schmerz um den Verlust der geliebten Familie darf uns nicht blind für diejenigen machen, die noch auf Erden weilen. Deine Aufgabe, die schändlichen Dämonen von Gottes Werk zu vertreiben, bis der versprochene Tag gekommen ist, ist löblich. Doch heute bist du zu weit gegangen. Lass mich dich deshalb auf den richtigen Pfad zurückführen.

 

Alastair fiel gebannt und gleichwohl erschrocken von den Worten des Engels auf die Knie. Eine einzelne, goldene Feder fiel vor seine Füße. Er las sie auf und betrachtete sie, wie sie sich in seinen Fingern auflöste. „Was … soll ich tun … ?“

 

Frage deinen Freund. Er hat die Antwort gefunden. Und diese Antwort ist der einzige Weg, seine und die Seelen aller anderen Opfer dieses verachtungswürdigen Spiels zu retten. Höre auf ihn, denn es sind die Worte der Weisheit …

 

Matt spürte instinktiv, dass der Engel damit fort war. Die Wärme, die er mit sich gebracht hatte, ebenso.

Schließlich rieb er sich den Hinterkopf. „Man, der scheint sich ja gerne reden zu hören.“

„Was soll ich tun?“, fragte Alastair da plötzlich und sah fragend zu Matt auf. „Hat er … recht?“

Sein Freund zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Glaub jedoch nicht, dass ich ihm vertraue. Wenn er aber schon auf meiner Seite steht, will ich mich mal nicht so anstellen …“ Plötzlich streckte er lächelnd die Hand nach Alastair aus, als wolle er nach ihm greifen, auch wenn sein Gegner mehrere Meter entfernt auf den Knien lag. „Lass uns dieses Chaos gemeinsam bekämpfen! Und alle retten! Dich, mich, Anya … alle! Wir werden das schaffen! Wir müssen!“

 

Und da sagst du, der Engel redet viel? Diese menschliche Theatralik ist hundertmal schlimmer …

 

„Halt endlich die Klappe, Dämon!“, zischte Matt zwischen den Zähnen.

Alastair jedoch hatte seine Entscheidung längst getroffen. Er streckte die Hand ebenfalls aus, auch wenn Matt so weit von ihm entfernt war. „Dann erfahre jetzt meine Antwort. [Vylon Disigma], direkter Angriff! Sacred Black Obliteration!“

Es traf seinen Gegner völlig unvorbereitet. „Was!?“

Die grauenhafte Kreatur von Alastair erzeugte zwischen den Händen seiner enorm langen Armen eine schwarze Energiesphäre, aus der es kurz darauf einen Speer formte. Es spielte sich für Matt alles in Zeitlupe ab, als das Monster seine Waffe griff und wie befohlen in seine Richtung warf.

Dann folgten eine finstere Explosion und ein schmerzerfüllter Schrei. Rauch verdunkelte das Spielfeld.

 

[Alastair: 1100LP / Matt: 100LP → 0LP]

 

Und als dieser sich verzog, lag Matt regungslos am Boden, die Augen fest geschlossen.

„Ich hoffe, das ist dir Antwort genug“, sprach Alastair kühl und trat schließlich an seinen Freund heran. „Es war die einzig mögliche.“

Die schwarzen Flammen lösten sich in Luft auf. Was blieb war die unnatürliche Nacht, die Matts Bannkreis über den eingesperrten Teil Livingtons gebracht hatte, denn dieser hatte sich noch nicht aufgelöst.

„Wie langweilig!“, raunte plötzlich eine penetrant genervte Stimme. „An deiner Stelle hätte ich ihn umgenietet, Narbengesicht!“

 

Matt schreckte auf und betrachtete im Sitzen seine Hände. „Ich lebe?“

„Leider“, posaunte Anya enttäuscht und schritt von dem kleinen Gartenweg der Familie Bauer auf den Dämonenjäger zu. Dabei rieb sie sich ein Auge. „Man, ich hab wohl echt das Beste verpasst, huh?“

„Kein Blutzoll? Dann ist Refiel wirklich … ein Engel“, murmelte Matt jedoch leise und beachtete Anya gar nicht. Denn wäre Alastairs Partner ein Dämon, hätte das Duell nur mit seinem Tode enden können.

„Sieht so aus, als ob wir Gesprächsbedarf haben“, brummte Alastair und taxierte Anya mit einem giftigen Blick. „Nur weil ich sein Leben verschont habe, bedeutet das noch lange nicht, dass ich mit dem Dämonenpack gemeinsame Sache mache!“

Schließlich erhob sich Matt und gesellte sich neben Anya, welche patzig erwiderte: „Als ob ich mit dir zusammenarbeite!“
 

„Danke, Alastair.“ Matt lächelte. „Danke, dass du mir genug vertraust, um einen Weg einzuschlagen, der nicht meinen und Anyas Tod durch deine Hand nach sich zieht.“

„Hmpf! Ob das so sein wird, hängt ganz von dir ab.“

„Ich weiß!“ Der Schwarzhaarige nickte knapp. Er sah abwechselnd die anderen beiden an, ehe er schließlich mit einem geheimnisvollen Schmunzeln verkündete: „Und ich habe da auch schon eine Idee, die unsere Probleme lösen könnte. Allerdings würde ich vorschlagen, dass wir uns dafür an einen Tisch setzen und alles in Ruhe durchgehen.“

„Mit ihr?“

„Mit ihm!?“

Alastair und Anya funkelten sich voller Abscheu an. Doch unbeirrt von der gegenseitigen Feindseligkeit griff Matt sie beide unter jeweils einem Arm und zerrte sie Richtung Anyas Haus. „Ja, wir drei! Wenn ihr beide nicht so dämlich wärt, müssten wir das hier alles jetzt nicht durchmachen, verdammt!“

Anya gab nur einen resignierenden Zischlaut von sich, während Alastair es gleich vorzog zu schweigen. Was Matt nur in seiner Vorahnung bestätigte, dass ihre Zusammenarbeit alles andere als einfach werden würde. Aber sie saßen alle im selben Boot, es musste sein! Hier ging es nicht mehr um Dämonen oder Engel, sondern ums Überleben!

 

 

Turn 20 – Unmasked

Die Zusammenarbeit von Matt, Alastair und Anya steht unter keinem guten Stern. Matts Idee spaltet die Lager und schafft statt Einigkeit nur Streit. Auf der anderen Seite stellt sich Nick dem Kampf gegen Isfanel und legt einen erstaunlichen Persönlichkeitswandel hin. Während er Isfanel etwas über seine gemeinsame Vergangenheit mit Anya verrät, gewinnt er durch ein überraschendes Manöver die Oberhand. Schließlich gelingt es ihm, Isfanel eine interessante Information zu entlocken, doch gleichzeitig …

Turn 20 - Unmasked

Turn 20 – Unmasked

 

 

„Nicht länger auf Melinda Rücksicht nehmen?“ Isfanel rümpfte die Nase. „Was kann ein Mensch wie du schon tun?“

„Vielleicht mehr als du denkst“, antwortete Nick selbstsicher.

„Bist du dir da so sicher? Selbst wenn ich dich bisher unterschätzt haben sollte, stehst du mit dem Rücken zur Wand.“ Mit einem Kopfnicken deutete die brünette Frau auf Nicks Spielfeldseite.

Die war, abgesehen von einer verdeckten Karte, komplett leergeräumt. Im Gegenzug besaß Isfanel mit [Daigusto Gullos] und [Daigusto Eguls] zwei mächtige Vogelkreaturen, sowie gleich zwei gesetzte Karten. Dafür hatte er zumindest keine Karten mehr auf der Hand. Anders als Nick, der immerhin noch über zwei verfügte.

 

Daigusto Gulldos [ATK/2200 DEF/800 (5)]

Daigusto Eguls [ATK/2600 DEF/1800 (7)]

 

Allerdings verzog Nick beim Anblick der beiden Monster keine Mimik. Eher schaute er sich um, ob es auch wirklich keine Zuschauer gab. Aber nein, er war gefangen in einem Bannkreis, der den Himmel in rosafarbenes Licht tauchte. Da er das Ende seines Gefängnisses nicht erkennen konnte, schätzte er, dass der gesamte Park betroffen war. Und wie er von Abby erfahren hatte, kam man hier nur raus, wenn der Erzeuger es zuließ – oder starb. Letztes war jedoch keine Option für Nick, wenn man betrachtete, dass in dem Fall auch Melindas Leben auf dem Spiel stünde.

Doch der junge Mann war sich der Tatsache bewusst, dass er sich viel mehr um sein eigenes Leben sorgen sollte. Besonders wenn man einen Blick auf die Duel Disk warf.

 

[Nick: 1600LP / Melinda: 4000LP]

 

Es war sein Zug. Nick zog daher energisch und betrachtete seine neue Karte nachdenklich.

„Egal welchen Weg du einschlägst, das Ziel ist immer dasselbe“, sprach Isfanel selbstsicher auf ihn ein. „Selbst wenn du mich besiegst, hast du dadurch nichts gewonnen. Verletzen können mich nur Wesen höherer Macht und du bist nur ein Mensch. Was du tust ist zwecklos.“

„Wenn du meinst“, erwiderte Nick kalt. Plötzlich zückte er eine Karte aus seinem Blatt. „Ich beschwöre [Wind-Up Magician]!“

Kurze Zeit später tauchte vor ihm ein Spielzeugmagier auf, der etwa bis zu Nicks Hüfte ging. Mit seinen Zangenhänden hielt er einen Zauberstab fest.

 

Wind-Up Magician [ATK/600 DEF/1800 (4)]

 

Anschließend schwang Nick seinen Arm aus. „Ich aktiviere meine Falle! [Call Of The Haunted]!“ Innerlich zufrieden, dass er Isfanel im letzten Zug von ihr abgelenkt hatte, griff er nach dem Friedhofsschlitz seiner Duel Disk, aus der eine einzelne Karte gefahren kam. „Damit rufe ich den [Wind-Up Soldier] von meinem Friedhof zurück im Angriffsmodus aufs Feld! “

Neben dem Magier gestellte sich nun auch noch ein grüner Kämpfer, dessen Kopfform an einen Magneten erinnerte.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Anya und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten“, sprach Nick weiter und streckte nun seinen Arm aus. „Effekt von [Wind-Up Soldier] aktivieren. Bis zur End Phase steigen seine Stufe und seine Angriffskraft um eins beziehungsweise 400 an.“

Der kleine Soldat wuchs plötzlich auf Nicks Größe an.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]

 

„Damals verhielten sich die Dinge nicht anders als heute. Anya war schon immer sehr temperamentvoll gewesen.“ Nick deutete nun auf seinen Magier. „Jetzt aktiviere ich [Wind-Up Magicians] Effekt, welcher durch [Wind-Up Soldiers] Effektaktivierung ausgelöst wurde, wodurch ich ein Wind-Up-Monster von meinem Deck beschwören kann. Wie alle Effekte dieser Monsterreihe, kann auch er nur einmal aktiviert werden. Erscheine, [Wind-Up Dog]!“

Lautes, elektronisch verzerrtes Gebell ertönte, als der Magier seinen Zauberstab schwang und zwischen ihm und dem Soldaten einen kleinen, blauen Spielzeughund erscheinen ließ, aus dessen Rücken ein Aufziehschlüssel ragte.

 

Wind-Up Dog [ATK/1200 DEF/900 (3)]

 

„Sie war immer das Thema der Erzieherinnen gewesen“, führte Nick seine Erklärung bezüglich Anya ruhig fort, griff dabei nach seinem Blatt. „Sie haben ihr Bestes gegeben, sie zu bändigen. Haben mit ihr geredet, wollten ihr helfen, als ihr Vater zusammen mit seinem Sohn, Anyas Bruder, gegangen ist.“

Mit finsterem Blick zückte er eine Zauberkarte. „Aber keiner hat kapiert, dass Anya kein Mitleid brauchte, weil es nichts geändert hätte. Ich war damals selbst ein Kind, habe aber mehr verstanden als so mancher Erwachsener.“

Isfanel verschränkte skeptisch die Arme. „Wieso erzählst du mir das?“

Unbeirrt führte Nick jedoch seine Geschichte fort, wobei er die Zauberkarte in den dazugehörigen Slot seiner Duel Disk einführte. „Anya brauchte jemanden, an dem sie all ihren Frust abladen, dem sie sich aber gleichzeitig anvertrauen konnte. Vorher schon, und nach dem Verlust ihres Bruders und ihres Vaters umso mehr.“

„Und du bist dieser jemand?“

„Exakt“, antwortete Nick ihm kalt, „aber sie hat in all den Jahren nie über sich geredet, nicht einmal. Alles, was ich am Ende tun konnte, war für sie den Trottel zu mimen, um sie zum Lachen zu bringen, bis ich irgendwann nichts anderes mehr getan habe.“

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während sein Tonfall deutlich aggressiver wurde. „Aber selbst gelacht hat sie kaum und wenn doch, war es nie die Art von Lache, die ich ihr abgewinnen wollte.“

Einen abwertenden Blick auf Nick werfend, schüttelte Isfanel abweisend den Kopf. „Eine traurige Geschichte. Aber so wenig mich das angeht, so wenig interessiert es mich auch. Ich bin nicht hinter ihr her, weil sie so eine kümmerliche Gestalt ist, sondern weil sie eine Gefahr für mich darstellt. Und daran ändern auch deine Sentimentalitäten nichts, Mensch.“

„Ich war noch nicht fertig“, blieb Nick jedoch unberührt davon, hatte er schließlich mit nichts anderem gerechnet. „Selbst wenn ich nicht imstande bin, Anya glücklich zu machen, werde ich bestimmt nicht zulassen, dass du ihr das letzte Bisschen nimmst, das sie noch hat. Uns!“

„Genau das werde ich ab-“

Nicks Zauberkarte sprang nun auf. Er rief ihren Namen laut. „[Inferno Reckless Summon]! Sollte ein Monster mit 1500 oder weniger Angriffspunkten als Spezialbeschwörung auf meine Spielfeldseite beschworen werden, kann ich alle weiteren Exemplare davon von meinem Deck beschwören! Dafür kannst du dasselbe bei einem beliebigen deiner Monster tun!“

Zwei weitere Spielzeughunde tauchten zwischen Nicks Magier und Soldat auf, während sich auf Isfanels Spielfeldseite nichts veränderte.

 

Wind-Up Dog x3 [ATK/1200 DEF/900 (3)]

 

Zufrieden schickte Nick seine Zauberkarte nach ihrer Benutzung auf den Friedhof. Da Isfanel nur zwei Synchromonster besaß und diese vom Extradeck gerufen werden, konnte er keine weiteren Exemplare seiner Vögel beschwören. Das lief gut.

„Selbst jetzt, da dein Feld voller Monster ist, stellst du keine Bedrohung für mich dar“, höhnte sein Gegner nur.

„Man soll den Tag nicht vor den Abend loben“, konterte Nick kalt.

„Was soll das bedeuten?“

„Sieh doch selbst! Ich benutze den Effekt eines meiner [Wind-Up Dogs] und erhöhe so seine Stufe um 2 sowie seine Angriffskraft um 600!“

 

Wind-Up Dog [ATK/1200 → 1800 DEF/900 (3 → 5)]

 

„Ich erschaffe das Overlay Network“, gröhlte Nick nun und riss den Arm in die Höhe.

Ein schwarzer Wirbel tat sich im Boden vor ihnen auf, welcher sowohl den Soldaten, als auch den von Nick gestärkten Hund in Form brauner Lichtstrahlen absorbierte. Plötzlich trat aus dem Schlund ein neues Monster hervor. „Wir schaffen das, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Über zwei Meter groß war Nicks roter Roboter. Zwar zeigte sich Isfanel von dem Bohrer an seinem Arm, als auch von dem abgekoppelten, frei schwebenden, linken Hammerarm von Zenmaioh unbeeindruckt, doch das änderte nichts an der majestätischen Erscheinung des Monsters, welche völlig anders war als alle zuvor von Nick gespielten Aufziehkreaturen.

„Neckisch“, kommentierte Isfanel das eindrucksvolle Äußere von Nicks Monster hämisch, „passend zu deiner Rolle, wenn man es recht bedenkt. Und auch wenn es zweifelsohne sehr stark anmutet, ist es letztlich auch nur ein Teil eines schwächlichen Ganzen. Ein Teil von dir.“

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5}]

 

Doch zu Isfanels Überraschung schloss sich das Overlay Network nicht, als Nicks Maschinenkrieger daraus hervorgetreten war. Im Gegenteil, plötzlich wurden auch die anderen beiden [Wind-Up Dogs] zu braunen Lichtstrahlen, die in das schwarze Loch im Boden gezogen wurden.

„Weiter geht’s! Ich weite das Overlay Network aus und beschwöre nun [Wind-Up Carrier Zenmaity], nur um sofort seinen Effekt zu nutzen! Indem ich ein Xyz-Material abkopple, kann ich ein Wind-Up-Monster von meinem Deck beschwören! Los, [Wind-Up Knight]!“

Noch während aus dem dunklen Wirbel die Spielzeugversion eines Flugzeugträgerschiffs auftauchte, schoss sie von einer ihrer beiden Rampen etwas ab, das wild um das Spielfeld zischte, ehe es vor Nick landete. Es war ein Spielzeugritter in weißer Rüstung, der sich mit Schild und Schwert bewaffnet aufrichtete, wobei ein Aufziehschlüssel aus seinem Rücken ragte.

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3}]

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Was!?“, staunte selbst Isfanel, als er mitansah, wie nun Nicks [Wind-Up Magician] sowie der eben erst erschienene Ritter wieder in das Overlay Network gezogen wurden, jeweils als roter und gelber Lichtstrahl.

„Dachtest du, hier wäre schon Schluss?“ Nick verzog seine Augen, sein Gesicht formte eine grimmige Maske. „Ich mag zwar keinen Dämon an meiner Seite haben, aber mich zu unterschätzen wirst du noch bitter bereuen! Runde drei! Erscheine, [Wind-Up Zenmaister]!“

Mit einem Satz landete vor Nick noch ein großer Roboter, doch war dieser weißgrün, besaß vier Düsenantriebe als Beine und wirkte trotz seines Körperumfangs ziemlich agil. Er ballte seine mächtigen Hände zu Fäusten.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/1900 → 2500 DEF/1500 {4}]

 

Die zwei Lichtsphären, die um ihn kreisten, leuchteten auf, anders als die, die um Zenmaioh und Zenmaity tanzten.

„Zenmaister wird mit seinem Xyx-Material stärker, 300 Angriffspunkte für jedes, das er besitzt“, erklärte Nick das Phänomen.

„Tch“, zischte Isfanel und wich dennoch einen Schritt zurück.
 

Er musste zugeben, dass dieser Bursche ihn überrascht hatte. Drei mächtige Xyz-Monster in einem einzigen Zug zu beschwören, obwohl er zuvor bereits mit aller Macht in die Ecke gedrängt worden war? In einem hatte er recht. Man durfte ihn nicht unterschätzen.

Isfanel grinste selbstsicher, was überhaupt nicht zu Melindas unscheinbarer Person passte. Nein, selbst wenn dieser Junge ihn besiegen könnte, würde das nichts ändern. Er besaß keinerlei Kräfte, obwohl leichte Rückstände einer großen Macht aus seinem Elysion drangen. Soviel hatte Isfanel mittlerweile erkannt. Doch das bedeutete nur mehr, dass er unbedingt vernichtet werden musste. Allein dass er offenbar Kontakt mit einer höheren Wesenheit hatte, war bedenklich. Und nicht zuletzt war er ein Bekannter Anya Bauers.

 

„Effekt von [Wind-Up Arsenal Zenmaioh] aktivieren!“, rief Nick seinerseits und streckte den Arm aus. Dessen Monster in der Mitte hob plötzlich seinen Bohrarm und absorbierte damit eine der Lichtkugeln um ihn herum. „Damit zerstöre ich zwei gesetzte Karten auf dem Spielfeld. Deine!“

Wie aus dem Nichts tauchte sein großer Roboter plötzlich vor Isfanel auf, welcher überrascht zurückschreckte. Den Bohrer bereits auf die beiden Fallenkarten vor den Füßen des Feindes gerichtet, war Isfanel jedoch schneller. „Kette! Ich aktiviere [Whirlwind Of Gusto]! Durch das Zurückschicken von [Gusto Griffin] und [Gusto Egul] in meinem Friedhof kann ich ein Gusto-Monster mit 1000 oder weniger Verteidigungspunkten von meinem Deck beschwören! Los, [Winda, Priestess Of Gusto]!“

Und obwohl ein Wirbelwind aus Isfanels aufgesprungener Falle zischte, in der sich die kleine, grünhaarige Magierin verborgen hielt, ließ Zenmaioh seinen Arm niederfahren und zerstörte zumindest [Dust Storm Of Gusto], die andere gesetzte Karte.

Den Zauberstab schützend vor sich haltend, stand Winda in der Mitte des Spielfelds von Isfanel, umgeben von den beiden Kampfvögeln.

 

Winda, Priestess Of Gusto [ATK/1000 DEF/400 (2)]

 

Nick jedoch zückte unlängst die nächste, seine letzte Handkarte. „Zeit für eine neue Hintergrundkulisse. [Xyz Territory]!“

Der Kiesweg unter ihnen brach plötzlich auseinander, als der gesamte Park in rotes Dämmerlicht getaucht wurde. Plötzlich begannen die Xyz-Materialien von Nicks Monstern zu pulsieren, während um die beiden Roboter und den Schiffsträger eine schwarze Aura entflammte, aus der weiße Funken sprühten.

Doch anders als Isfanel es erwartete, passierte zunächst nichts weiter. Gleichzeitig schloss Nick die Augen und überlegte. Es stand nun drei gegen drei. Sowohl sein Zenmaioh, als auch [Daigusto Eguls] waren gleichstark, während Zenmaister [Daigusto Gulldos] Angriffskraft um 300 Punkte toppen konnte. Zumindest erschien es für Isfanel so …

„Los [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]! Vernichte [Daigusto Eguls]“, befahl Nick schließlich siegessicher. „Wind-Up Power Punch!“

„Du willst also beide Monster opfern?“, raunte Isfanel.

„Nein! Ich will gewinnen!“ Das gesagt, schoss plötzlich Zenmaiohs Hammerarm auf den grünen, gepanzerten Vogel in der Luft zu wie eine Rakete. „Wenn ein Xyz-Monster unter Einfluss von [Xyz Territory] mit einem anderen Monster kämpft, erhält es 200 Angriffspunkte multipliziert mit seinem Rang! Das wären im Falle von Zenmaioh ganze 1000 Angriffspunkte!“

Von Nicks Worten geschockt, erkannte Isfanel nun die gesamte Strategie hinter Nicks Spiel und konnte nur noch einmal mit den Augen blinzeln, als die Hammerfaust ein Loch in Eguls riss, plötzlich auf ihn hinab stürzte und eine gewaltige Explosion auslöste.

„Kyaahh!“, schrie er mit Melindas hoher Stimme und wurde davon geschleudert.

 

[Nick: 1600LP / Melinda: 4000LP → 3000LP]

 

Schließlich kehrte Zenmaiohs Arm zu ihm zurück und koppelte sich an seinen Besitzer an.

Sich langsam aufrichtend, betrachtete der in Staub gehüllte Isfanel verwundert den Arm seines Gefäßes. Er blutete. Zwar war es keine ernsthafte Verletzung, die er binnen weniger Minuten zu heilen vermochte, doch fragte er sich, wie es seinem Gegner gelungen war, sie ihm überhaupt zuzufügen.

„Wie hast du das bewerkstelligt?“, verlangte er schroff zu wissen, als er wieder auf beiden Beinen stand.

Etwa durch die Macht, die er gespürt hatte? Aber nein, sein Elysion hatte sich nicht im Geringsten verändert. Da war nichts, was ihm seine Kraft hätte leihen können!

 

Nick lächelte zufrieden. „Nichts Außergewöhnliches. Zugegeben, ich musste ganz schön ackern, um die Server der AFC zu täuschen, aber es hat sich offensichtlich ja gelohnt.“

„Du hast … das Sicherheitsprogramm ausgeschaltet?“

„Exakt. Die Minidrohnen, die die Duellhologramme erzeugen, sind nun so eingestellt, dass die Dinge, die sie erzeugen, so realistisch wie möglich sind.“ Nachdenklich verschränkte der junge Mann die Arme. Es war nicht zu vergleichen mit Abbys Fähigkeit, aus Fiktion Realität zu machen, kam gar nicht einmal an Anyas beziehungsweise Levriers Fähigkeiten heran. Dennoch war es eine ernst zu nehmende Waffe, die durchaus Verletzungen zufügen konnte.

Normalerweise hatten nur bestimmte autorisierte Individuen Zugriff auf diese Funktion, aber Nick wäre nicht Nick, wenn er sich mit seinen Hackerfähigkeiten von so etwas aufhalten ließe. „Ich würde vorschlagen, dass du mich in Zukunft etwas ernster nimmst. Wie du weißt, können noch [Wind-Up Zenmaister] und [Wind-Up Carrier Zenmaity] angreifen.“
 

Anstatt sich jedoch davon verunsichern zu lassen, schwang Isfanel hochmütig den Arm aus. „Narr! Wisse, dass nur meinesgleichen mir ernsthafte Wunden schlagen kann! Was du tust, schädigt mein Gefäß lediglich temporär. Jede dieser Verletzungen werde ich binnen kurzer Zeit heilen!“

„Mag sein, dass ich dich nicht damit töten kann“, erwiderte Nick, „will ich auch gar nicht, denn Melinda ist unschuldig in die Sache hineingeraten und sollte nicht unser Sündenbock sein. Aber das Leben kann ich dir damit allemal schwer machen!“

„Du-!“

„Was?“, erwiderte Nick eisig. „Ich tue nur, wozu ich wegen dir gezwungen werde! Du fürchtest Eden? Warum arbeiten wir dann nicht zusammen!?“

„Weil unsere Vorgehensweisen grundverschieden sind. Als körperliche Wesen fürchtet ihr den Tod, das Ende. Euer Denken ist darauf fokussiert, eure Zeit optimal zu nutzen, dem Tod mit allen Mitteln zu entgehen.“ Isfanel nickte plötzlich heftig und lächelte geheimnisvoll. „Ja, meinesgleichen ist zeitlos, wird nicht im Verlaufe der Jahrhunderte älter und schwach. Und doch werde ich verschwinden, wenn Eden erwacht. Und das werde ich mit allen Mitteln zu verhindern wissen, selbst wenn es die Leben einiger Menschen kosten wird. Ich bin zu wichtig, um zu verschwinden!“

Ärgerlich schüttelte Nick daraufhin mit dem Kopf. „Ist das nicht ein Widerspruch? Was du fürchtest, ist auch nur der Tod in andere Worte gehüllt. Wo sind unsere Denkweisen unterschiedlich?“

„Ganz einfach. Ihr Menschen könnt keine Opfer eingehen. Dazu seid ihr zu egoistisch.“

„Man sollte aber unterscheiden, was den Begriff 'Opfer' ausmacht. Für dich sind Opfer wahrscheinlich nur ein nötiges Übel, um zu erreichen, was du bezweckst.“ Nick schnaubte. „Du hast aber keine Verbindung zu ihnen, ihre Existenz und ihr Ableben spielen für dich keine Rolle. Für uns, die wir Anya helfen wollen, ist das aber etwas ganz anderes. Weder können wir sie über die Klinge springen lassen, weil das einfacher ist, noch andere in die Sache hineinziehen und sie gefährden, nur um Anya zu retten.“

Isfanel lachte auf. „Ideale … Du redest so, als wüsstest du, womit du es zu tun hast. Aber die Realität sieht so aus: du weißt gar nichts. Weder wie du sie retten kannst, noch wie du ihr Schicksal zu erfüllen vermagst.“

Getroffen sah Nick zur Seite, schwieg.

„Allein deshalb werde ich mich euresgleichen nicht unterwerfen. Ihr wäret nur Ballast.“

 

Aufgebracht richtete Nick wieder seinen Blick auf Isfanel und streckte den Arm aus. „Bisher hast du ebenfalls nicht durch Erfolg geglänzt, also plustere dich gefälligst nicht so auf! Anya lebt und ich werde dafür sorgen, dass das auch so bleibt! Und jetzt nimm eine weitere Kostprobe des 'Ballasts'! Zenmaister, greife [Daigusto Gulldos] an! Wind-Up Armored Fist! Und dank [Xyz Territory] erhält er während des Kampfes 800 zusätzliche Angriffspunkte!“

Damit stand es 3300 gegen 2200. Zenmaister fuhr einen seiner Arme an einer Drehspirale aus und schlug damit aus der Distanz auf den kleineren grünen Vogel und seine Reiterin ein, die beide schreiend explodierten. Wieder wurde Isfanel von einer Explosion erfasst und auf den Boden geworfen.

 

[Nick: 1600LP / Melinda: 3000LP → 1900LP]

 

„[Wind-Up Carrier Zenmaity], greife [Winda, Priestess Of Gusto] an! Wind-Up Launcher!“

Schon schoss der Spielzeugflugzeugträger einen Torpedo in Form eines Hais auf die kleine Magierin ab, die kreischend ihr Ende unter dem Beschuss fand.

Doch kaum war sie verschwunden, stand an ihrer Statt ein kleines Eichhörnchen. Sein weiß-grünes Fell erinnerte entfernt an Blitze, wobei es, um diesen Eindruck noch zu bestärken, eine Haube mit einer Antenne trug, an der sich Energie auflud.

 

Gusto Squirro [ATK/0 DEF/1800 (2)]

 

Stöhnend erhob sich die brünette Frau. „Wenn Winda stirbt, beschwört sich ein Gusto-Empfänger-Monster von meinem Deck.“

„Deshalb ist es also hier“, schlussfolgerte Nick und griff nach seiner Duel Disk. „Ich entferne jetzt ein Xyz-Material von [Wind-Up Zenmaister], um Zenmaity in die verdeckte Verteidigungsposition zu wechseln. Allerdings wird jener während der End Phase aufgedeckt, welche ich jetzt einläute. Aber zumindest kannst du dir so nicht seine vergleichsweise geringe Angriffskraft zunutze machen, um mir zu schaden.“

Kurzzeitig tauchte der Spielzeugflugzeugträger ins Nichts ab, nur um dann wieder aufzutauchen, doch dieses Mal in Querlage, um Nick vor Angriffen abzuschirmen. Gleichzeitig sanken Zenmaisters Angriffspunkte, da er nun nur noch ein Xyz-Material besaß. Doch für Nick war es wichtig, seinem Gegner möglichst wenig Spielraum für Angriffe zu bieten. Denn durch [Xyz Territory] kam Zenmaity nur auf maximal 2100 Angriffspunkte, Zenmaister immerhin noch auf 3000 in seiner derzeitigen Lage.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/2500 → 2200 DEF/1500 {4}]

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3}]
 

Um jedes seiner drei Xyz-Monster kreiste noch eine Sphäre. Selbst wenn Isfanel Fallen setzte, würde Nick sie mit [Wind-Up Arsenal Zenmaioh] leicht ausschalten können. Er hatte alles seit seinem ersten Spielzug geplant …

„Das sollte reichen“, schloss er seinen Gedanken laut ab.

Dabei war ihm bewusst, dass seine Handlungen sich mit seinen Absichten widersprachen. Er wollte Melinda eigentlich vor Isfanel beschützen, doch verletzte sie stattdessen mit seinen Angriffen. Hoffentlich spürte sie nichts, solange sie kontrolliert wurde.

„Nicht annähernd“, versicherte Isfanel ihm jedoch tückisch und kam schwankend auf die Beine. Gezeichnet von einigen blutenden Wunden, griff er nach seinem Deck, wobei seine Hand plötzlich weiß aufleuchtete. „Nicht einmal annähernd.“

 

~-~-~

 

Hätte es in der Küche der Familie Bauer Grillen gegeben, hätte ihr Zirpen das eisige Schweigen mit Leichtigkeit übertönt. Doch so saßen sich drei Menschen an dem runden Tisch gegenüber, die grundverschiedener nicht hätten sein können. Zwei davon zogen es vor, sich gegenseitig missbilligende Blicke zuzuwerfen.

Der dritte, Matt, hatte einen Ellbogen auf den Tisch gelegt und stützte seinen Kopf auf der Handfläche ab, dabei immer wieder genervt stöhnend. „Wie lange wollt ihr euch noch anschweigen und anstarren?“

„Bis er tot umfällt“, lautete Anyas trotzige Antwort. „Ich glaub, ich mache in Punkto Todesblick langsam Fortschritte, was auch endlich Zeit wurde. Siehst du es, da!“ Sie zeigte direkt auf Alastairs entstelltes Gesicht. „Da ist eine Narbe, die vorher noch nicht da war!“

Schließlich grinste sie dreckig. „Whoops, sorry, mein Fehler. Bei so vielen verliert man leicht den Überblick. Siehst immer noch genauso scheiße aus wie vorher, Kumpel!“

Alastair erwiderte das mit knirschenden Zähnen: „Mach dich über mich lustig, solange du noch kannst! Denke nicht, dass ich dir vertraue, Dämon!“

Seufzend dachte Matt sich dabei im Stillen, dass Anya vermutlich schon vor ihrem Kontakt mit Levrier so war wie sie war. Zumindest konnte er froh sein, dass -sein- innerer Dämon sich nicht auch noch einmischte. Der war schließlich seit dem Duell mit Alastair verdächtig still geworden. Aber umso besser.

 

„Wollten wir uns nicht über den Plan unterhalten?“ Matt funkelte beide böse an. „Ihr wisst schon. Den Plan, unseren Arsch zu retten?“

„Erstmal rettest du jetzt deinen Arsch und lieferst mir 'ne gute Ausrede, warum unser Rasen jetzt aussieht, als hätte jemand darauf 'nen beschissenen Scheiterhaufen angezündet! Ansonsten wird Mum das von dir töten, was ich übrig gelassen habe! Was nicht besonders viel sein wird!“ Anya schnaufte sauer. „Ich meine, nicht dass ich was gegen Scheiterhaufen hätte … aber da bin ich leider die Einzige in der Familie. Also besorg' mir ein Alibi!“

„Du kannst unmöglich von mir verlangen, mit dieser Dämonenbrut zusammenzuarbeiten“, empörte sich Alastair in seiner tiefen Stimme. „Ihre Selbstsucht wird uns keine Hilfe sein. Ich bin immer noch der Meinung, dass wir sie vernichten sollten!“

Anya sprang vom Stuhl auf, woraufhin dieser umkippte. Drohend erhob sie ihre rechte Faust. „Ach ja!? Versuchs doch, Sackgesicht! Ach nein, das kannst du ja nicht, weil ich zufällig unsterblich bin!“

„Nicht komplett“, raunte Alastair und ließ sich nicht von Anya einschüchtern. „Mir würde etwas einfallen, verlass dich drauf, Schlangenzunge.“

„Hört ihr jetzt endlich auf damit!?“, polterte Matt entnervt und fauchte Anya an: „Und du setz' dich gefälligst wieder hin! Verdammt, wir sind hier nicht im Kindergarten!“

Allein aus Protest verharrte Anya und warf ihm einen trotzigen Blick zu.
 

„Dann mache ich eben den Anfang“, stöhnte der jüngere der beiden Dämonenjäger schließlich. „Ich habe gesagt, dass ich eine Idee habe, um unseren Arsch aus der Scheiße zu ziehen. Wir sitzen alle drei im selben Boot. Anya, du willst bestimmt genauso wenig Eden werden, wie wir die Opfer für Edens Erwachen.“

„Verdammt richtig!“

Alastair rümpfte die Nase und lehnte sich mit gleichgültiger Mimik zurück. „Was schlägst du vor?“

Sehr gut, dachte Matt, der nun endlich die Aufmerksamkeit der beiden gewonnen hatte. „Alastair, du weißt doch, dass der Eden-Kreislauf etwa alle 300-400 Jahre stattfindet. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, formt das Gründerindividuum einen Pakt, um am vorhergesehenen Tag den Turm von Neo Babylon zu beschwören.“

Sein Partner regte keine Mimik. „Korrekt.“

„An der höchsten Spitze des Turms befindet sich der Ort, an dem Eden erwachen soll. Das heißt, der Turm und Eden sind miteinander auf irgendeine Weise verbunden. Ohne Turm kein Eden, kein Eden ohne Turm.“

Plötzlich strahlte Anya über beide Backen. „Sag, dass du das tun willst, was ich immer schon mal tun wollte …“

„Verdammt richtig“, stimmte Matt in ihr spitzbübisches Grinsen ein, „wir jagen diesen verdammten Turm in die Luft!“

 

~-~-~

 

„Das ist-!“

Nick traute seinen Augen kaum, als Isfanel voller Schwung zog und damit ein erdrückendes Gefühl in seinem Inneren auslöste, gefolgt von einer starken Druckwelle. Er wusste genau, was Isfanel soeben getan hatte – dasselbe wie Anya in ihrem Duell gegen Abby, als sie am Rande der Niederlage stand!

Isfanel hatte das Schicksal verändert!

Dessen Augen glühten weiß, als er seine neu gezogene Karte betrachtete, nur um sie dann vorzuzeigen. „Sehr gut! Ich aktiviere [Xyz Drain]! Diese Zauberkarte absorbiert sämtliche Xyz-Materialien aller Monster, die sich im Angriffsmodus befinden und lässt mich für jedes von ihnen eine Karte ziehen. Jedoch darf ich danach für zwei Züge keine Karten setzen!“

Von Zenmaister und Zenmaioh schossen plötzlich die beiden Lichtsphären in Isfanels Richtung und wurden von seiner Duel Disk absorbiert, woraufhin er schließlich wieder mit leuchtender Hand zwei Karten zog.

„Argh“, krächzte Nick, der sowohl mit dem Druck von Innen, als auch der ausströmenden Energie Isfanels von Außen zu kämpfen hatte. Heftiger Wind peitschte ihm ins Gesicht, als er sich an die Brust fasste.

Außerdem besaß Zenmaister jetzt kein Xyz-Material mehr und verlor somit noch mehr Angriffspunkte.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/2200 → 1900 DEF/1500 {4}]

 

„Exzellent“, meinte Isfanel zufrieden beim Anblick seiner beiden Handkarten, „man könnte sagen, genau das, was ich gerade gebraucht habe.“

„Wie nennt man das bei euch? Das Schicksal beeinflussen? Also für mich hört sich das eher nach betrügen an“, erwiderte Nick gereizt.

„Nenn es wie du willst. Wenn man über Kräfte wie die meinen verfügt, sollte man sich auch nutzen! Und nun sieh her! Ich beschwöre [Kamui, Hope Of Gusto]!“

Aus einem Wirbelsturm tauchte neben Isfanels Eichhörnchen ein junges Mädchen mit grellem, grünem Haar auf, um dessen Hals ein ebenfalls grüner Schal wehte.

 

Kamui, Hope Of Gusto [ATK/200 DEF/1000 (2)]

 

Nick ahnte bereits, was ihm nun bevorstand.

„Du bist nicht der Einzige, der dies hier tun kann! Ich erschaffe jetzt das Overlay Network! Aus zwei Stufe 2-Monstern wird ein Rang 2-Monster!“

Sogleich öffnete sich ein schwarzer Wirbel inmitten des Spielfelds und sog Isfanels Monster in Form grüner Lichter in sich auf. „Stell dich dem Symbol meines Paktes! Steig auf in ungeahnte Höhen, [Daigusto Phoenix]!“

Aus dem Loch hervor spreizte eine schlanke, vogelartige Gestalt ohne Federn ihre knorrigen Schwingen. Stattdessen wirke es eher so, als besäße dieses Wesen Schuppen, die von einem grünen Brustpanzer teilweise verdeckt wurden. Sowohl von seinen Armen, als auch vom Kopf brannten smaragdgrüne Flammen, die die Flügel und Haarpracht stellten. Zwei leuchtende Sphären zogen ihre Kreise um jenes Wesen.

 

Daigusto Phoenix [ATK/1500 DEF/1100 {2}]

 

„Noch sieht mein Monster schwach aus, doch ich werde dafür sorgen, dass sich das ändert! Mit dieser Zauberkarte!“ Isfanel zeigte jene vor, auf der ein Mann abgebildet wurde, dem die gesamte Lebensenergie von einer dämonischen Silhouette geraubt wurde. „[Riryoku]! Sie teilt die Angriffskraft eines deiner Monster in zwei und überlässt die andere Hälfe meinem Monster!“

Plötzlich geschah das, was auf der Karte abgebildet war, mit [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]. Dieser gab ein leises Surren von sich, als seine Energie in Form eines Strahls auf den Phönix überging, welcher dadurch auf ein bedenkliches Maß anwuchs. Gleichzeitig ging Zenmaioh geschwächt in die Knie.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 → 1300 DEF/1900 {5}]

Daigusto Phoenix [ATK/1500 → 2800 DEF/1100 {2}]

 

„Das ist gar nicht gut“, murmelte Nick besorgt.

Zum Glück war [Xyz Territory] aktiv. So bekam sein Monster bei einem Angriff immerhin 1000 Angriffspunkte zurück, der Phönix hingegen lediglich 400, da er nur vom Rang 2 war. Damit stand es 2300 gegen 3200 Punkte.

Was Isfanel nicht im Geringsten störte.

„Ich aktiviere den Effekt meines Monsters! Indem ich ein Xyz-Material verbrauche, kann eines meiner Wind-Monster in diesem Zug zwei Angriffe ausführen!“ Dabei zog er [Gusto Squirro] unter der schwarzen Karte auf seiner Duel Disk hervor und schob sie in den Friedhofsschacht.

Erstaunt schrie Nick auf, als der brennende Riesenvogel eine der Lichtsphären mit dem langen Schnabel schnappte und fraß.

„Damit vernichte ich jetzt deinen Zenmaioh! Flame Of Life!“

Sofort spie der Phönix eine grelle, hellgrüne Flamme auf Nicks großen Spielzeugroboter, welcher unter den Flammen einfach schmolz. Unter der sengenden Hitze schrie Nick schmerzerfüllt auf und wandte sich ab, doch einige Funken hatten Brandlöcher in seiner Kleidung hinterlassen.

 

[Nick: 1600LP → 700LP / Melinda: 1900LP]

 

„Natürlich könnte ich jetzt auch noch deinen Zenmaister angreifen, doch das würde nicht ganz ausreichen, um dich zu besiegen“, taktierte Isfanel ungehemmt.

Nick wusste, dass das Blatt sich gewendet hatte. Zwar war richtig, dass es im Falle eines Kampfes zwischen Zenmaister und dem Phönix 2700 Angriffspunkte gegen 3200 stand und er mit 200 Lebenspunkten überleben würde, doch Isfanel hatte anderes im Sinn. Was nur verständlich war.

„Ich vernichte lieber deinen [Wind-Up Carrier Zenmaity], damit du nicht auf die Idee kommst, neue Monster durch seinen Effekt zu beschwören! Los, [Daigusto Phoenix], Flame Of Life! Versenge das Schiff!“

Genau das tat der nächste Flammenangriff auch. Bis auf das Gerüst brannte der Spielzeugflugzeugträger nieder, ehe er explodierte. Und hätte Nick ihn nicht zuvor in die Verteidigung gewechselt, wäre das sein Ende gewesen.

„Wie du siehst, werde ich immer einen Weg finden, um dir zuvorzukommen. Gib lieber gleich auf und füge dich deinem Schicksal, Mensch“, verkündete Isfanel verächtlich, „hiermit beende ich den Zug. Was bedeutet, dass der Angriffswert meines Monsters wieder zurückgesetzt wird.“

 

Daigusto Phoenix [ATK/2800 → 1500 DEF/1100 {2}]

 

Nick zog stöhnend seine nächste Karte. Der letzte Angriff hatte ihm ganz schöne Schmerzen verursacht, doch er biss die Zähne zusammen. Wofür er scheinbar belohnt wurde, strahlte er doch, als er erkannte, dass die neue Karte ihm weiterhelfen würde. „Los, [Pot Of Avarice]! Mit diesem Zauber schicke ich fünf Friedhofsmonster in mein Deck zurück, um dann zwei neue Karten zu ziehen!“

Was dieses Wesen nur durch betrügen erreichte, konnte Nick auch ohne billige Hilfsmittel schaffen, dachte er zufrieden und mischte seine drei [Wind-Up Dogs], [Wind-Up Magician] und [Wind-Up Carrier Zenmaity] ins Deck zurück, zog zwei neue Karten.

Doch seine neuen Karten waren beides Fallen, die er nicht umgehend einsetzen konnte. Der brünette Zweimetermann blickte jedoch entschlossen auf. „Dein Monster ist wieder so schwach wie am Anfang. Zenmaister kann es ohne Probleme besiegen! Los, Wind-Up Armored Fist!“

Wie schon einmal zuvor, nutze das Kampfspielzeug seinen ausfahrbaren Arm, um seinen Gegner mit einem Faustschlag niederzustrecken.

„Genau darauf habe ich gewartet! Werde Zeuge, wie ich dein Schicksal besiegele! Los, Incarnation Mode! Ich rekonstruiere das Overlay Network! Aus meinem Rang 2-Monster und seinem Xyz-Material wird ein neues Rang 2-Monster! Zeige dich, [Eternal Daigusto – Jade Phoenix]!“

Der Feuervogel wurde wieder in das schwarze Loch in der Mitte des Spielfelds gezogen. Ein heftiger Wind drang daraus hervor und brannte Nick regelrecht in den Augen, so heiß war es um sie herum geworden. Aus dem Wirbel drangen rote, schwarze und grüne Blitze, als plötzlich das neue Monster auftauchte.

War der alte Phönix das hässliche Entlein, hatte man es nun mit dem Schwan zu tun. Der gesamte, viel größer gewordene Körper des Feuervogels war nun von smaragdfarbenen Flammen bedeckt, schlanker und eleganter, einem Vogel nun wesentlich ähnlicher als es bei seinem Vorgänger der Fall war.

Anmutig schwang das Monster seine endlos lang erscheinenden Schwingen, wobei er mit jedem Schlag eine Hitzewelle auslöste. Es blieb oberhalb Isfanels in der Luft und sah wie ein Richter auf Nick herab, während es von zwei Lichtsphären umkreist wurde.

 

Eternal Daigusto – Jade Phoenix [ATK/1500 DEF/1100 {2}]

 

„Meine neue Kreatur ist noch mächtiger als die alte!“, rief Isfanel überzeugt davon, dass ihn nun nichts mehr aufhalten konnte.

„Mag sein, aber ich weiß von Abby längst, dass diese Dinger von Xyz-Monstern besiegt werden können! Also ist mein Zenmaister sehr wohl in der Lage dazu! Setze den Angriff fort, Wind-Up Armored Fist!“

„Dummer Junge! Wundert es dich nicht, warum ich den ewigen Phönix im Angriffsmodus gerufen habe!? Um seinen ersten Effekt zu aktivieren, der mich ein Material kostet! Reverse Of Life!“

Die Faust des Zenmaisters schnellte auf den großen Vogel zu, doch dieser konterte mit einem weißen Energiestrahl, den er aus dem Schnabel abschoss, nachdem er eines der Xyz-Materialen absorbiert hatte. Eine Explosion entstand, die Nick zurückwarf.

Als der Rauch sich verzog, war sein Monster noch da. Aber ebenso Isfanels Phönix. Und-!

 

[Nick: 700LP / Melinda: 1900LP → 2700LP]

 

„Er hat Lebenspunkte gewonnen!?“, schoss es aus dem verblüfften Nick heraus.

Sein Zenmaister hatte beim Angriff dank seiner Spielfeldzauberkarte 2700 Angriffspunkte gehabt, 800 mehr als der Phönix mit seinen, ebenfalls durch die Magie erhöhten, 1900.

„Das ist nur einer von drei Effekten, über die der ewige Phönix verfügt. Dieser hier kann einmal pro Battle Phase angewandt werden, um zu verhindern, dass eines meiner Monster durch einen Kampf fällt. Zusätzlich wird der Kampfschaden dabei in Lebenspunkte für mich umgewandelt.“

Kein Wunder, dass er angriffen werden wollte, dachte Nick ärgerlich. Hätte er das nur früher gewusst. Aber jetzt war er zumindest vorgewarnt.

„Ich setze diese zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug!“

Die beiden Fallen materialisierten sich vor seinen Füßen. Hoffentlich würde das genug sein, um Isfanel zu besiegen …
 

„Nun, ich bin am Zug!“, rief jener überschwänglich. „Du bist der Schlüssel, um Anya Bauer zu töten, Junge! Sie muss sterben! Wenn Eden erwacht, werden Kräfte freigesetzt, die deinen kümmerlichen Verstand überschreiten!“

„Was ist Eden überhaupt!? Warum muss Anya dafür geopfert werden!?“

„Eden ist … nein. Was hättest du davon, wenn du das wüsstest? Du wirst sowieso sterben! Also falle durch meine Hand!“

„Gibt es denn keinen anderen Weg, um Anya zu retten? Das würde dir doch ebenso helfen!“

„Sie müsste den Tod überleben, um überhaupt eine Chance zu haben“, donnerte Isfanel aufgebracht. „Und selbst dann-!“

Nick horchte auf. „Was soll das heißen?“

„Vergiss was ich gesagt habe! Du hast andere Sorgen!“
 

Plötzlich stiegen aus dem Boden zwei Lichtsphären empor, die zusammen mit der verbliebenen um den Jadephönix zu kreisen begannen.

Nick wusste, was das war. Die Incarnation Mode-Monster konnten jede Runde Xyz-Materialien vom Friedhof in sich aufnehmen, bis sie drei davon besaßen, damit sie ihre Effekte wieder und wieder aktivieren konnte. Anya hatte diese schmerzhafte Erfahrung machen müssen, als sie gegen Marc gekämpft hatte. Die Ressourcen dieser Monster waren unerschöpflich, was sie so extrem gefährlich machte.

Er musste besonders vorsichtig sein, so viel stand fest! Es ging ums Überleben, jetzt mehr denn je. Was er soeben erfahren hatte, könnte der Hoffnungsschimmer sein, den Anya so dringend brauchte!

„Zeit, den zweiten Effekt meines [Eternal Daigusto – Jade Phoenix] zu aktivieren! Indem ich zwei Xyz-Materialien verwende, kann ich zwei deiner Karten auf dem Spielfeld auf deine Hand zurückschicken! Los, Wind Scars Of Life!“

Als der Phönix zwei der Sphären mit seinen lodernden Flügen absorbierte, um dann tausende Windklingen in Nicks Richtung zu schleudern, schreckte dieser zusammen. Sein Zenmaister wurde getroffen und löste sich auf, doch er konnte nicht zulassen, dass der linken seiner beiden Fallen dasselbe Schicksal zuteil wurde. „Ich kette [Xyz Reborn] an! Mit ihr reanimiere ich ein Xyz-Monster vom Friedhof, wobei diese Karte danach ein Material für das beschworene Monster wird! Kehre zurück, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Plötzlich stand der große Spielzeugrobotter mit dem Bohrarm vor Nick und schützte ihn so vor den messerscharfen Klingen, die der Phönix ihnen entgegen warf. Dabei rotierte um ihn das von Nick angekündigte Xyz-Material.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5}]

 

„Gar nicht übel. Damit hast du dein Leben um einen weiteren Zug verlängert“, meinte Isfanel und betrachtete die Falle [Dust Tornado] in seiner Hand, die er aufgrund des Effekts von [Xyz Drain] erst nächste Runde setzen konnte.

Unbesorgt sah er wieder auf. „Aber du weißt, dass du dem ewigen Phönix nichts anhaben kannst. Er wird deinen Angriff wieder absorbieren. Und auch wenn du jetzt das stärkere Monster kontrollieren magst, wisse, dass der dritte und letzte Effekt von [Eternal Daigusto – Jade Phoenix], Storm Of Advancing Life, der mächtigste ist.“

„Ich höre?“

„Wenn ich diese Fähigkeit aktiviere, können all meine Wind-Monster dich direkt angreifen. Also völlig gleich, was du auch tust, nächste Runde werde ich dich besiegt haben! Zug beendet!“

 

Nick erstarrte. Bei seinem Lebenspunktestand war jeder direkte Treffer tödlich! Das hieß, dass ihm nur noch dieser eine Zug blieb, um einen Weg zu finden, wie er diese grässliche Kreatur besiegen konnte!

Er sah auf sein Deck. Wenn der verdammte Phönix doch nur angegriffen werden könnte!

 

„Es ist hoffnungslos. Dein Schicksal wurde in dem Moment besiegelt, als du mir begegnet bist.“

Aufgebracht erwiderte Nick auf die Überheblichkeit seines Gegners: „Ich habe es satt! Was mein Schicksal ist, bestimme ich und nicht du!“

Dann musste er jetzt etwas Gutes ziehen, dachte Nick entschlossen und schloss die Augen. Um dieses Möchtegernweissager ein Schnippchen zu schlagen. Einfach nur etwas Brauchbares. Für Anya …

„Draw!“

„Ja, zieh deine letzte Karte! Dein Ende ist so gut wie besiegelt!“

„Mein Ende?“, wiederholte Nick und betrachtete nachdenklich das, was er gezogen hatte. „Alles findet irgendwann ein Ende. Das ist das Prinzip des Lebens, die Endlichkeit. Aber wie unser Ende aussieht, obliegt ganz allein uns.“

Isfanel rümpfte die Nase. „In der Tat.“

Nick senkte den Kopf.

„Letztlich will ich aber nicht“, ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, „daran gemessen werden, wie ich gelebt habe. Sondern daran, wie ich gestorben bin.“

„Für Anya Bauer?“ Isfanels verächtlicher Tonfall war plötzlich verschwunden. Er war einer nahezu naiven Neugier gewichen, denn der Dämon schien Nicks Worte nicht zu verstehen. „Bedeutet sie dir so viel, dass du bereit bist für sie zu sterben, wenn es erforderlich ist?“

„Womöglich? Aber dieser Tag, der, an dem ich sterbe … ist nicht heute.“ Mit gefestigter Miene sah er Isfanel in die Augen. „Soweit habe ich noch nicht geplant!“

„Was du nicht sagst?“

„Das Einzige, was du gut kannst, ist Reden schwingen!“, klagte Nick seinen Gegner erbarmungslos an. „Selbst durch deine ominösen Betrügereien bist du nicht einmal im Stande, auch nur einen Menschen zu töten! Ich zeig dir, wie -ich- es machen würde! Zauberkarte! [Oni-Gami Combo]!“

 

Plötzlich verschwand die Sphäre um Zenmaioh in ebenjenem, woraufhin dieser plötzlich eine unglaublich starke Aura ausstrahlte, die regelrecht explodierte. Zudem wuchsen ihm aus dem Rücken ein weiteres Paar Arme, welches dem glich, welches er bereits besaß, nur dass sich Hammer- und Bohrarm dieses Mal an der jeweils anderen Körperhälfte befanden.

„Dieser Zauber ermöglicht es einem Xyz-Monster – im Austausch für all seine Materialien – diese Runde zweimal anzugreifen! Damit werde ich deinem Phönix ein Ende setzen, denn du kannst ihn nur einmal retten!“

„Und wenn schon“, protestierte Isfanel und schwang aufgebracht den Arm aus, „ich habe bereits eine genaue Vorstellung davon, wie ich dich besiege. Nächste Runde wirst du es sehen, auch ohne meinen ewigen Phönix!“

„Kapierst du es nicht!? Für dich gibt es keine nächste Runde! Los, Zenmaioh, greif [Eternal Daigusto – Jade Phoenix] mit Wind-Up Power Punch an! Und durch [Xyz Territory] erhalten unsere Monster während des Kampfes 200 Angriffspunkte pro Rang!“

Die Aura um Zenmaioh glühte noch stärker auf, als er mit satten 3600 Angriffspunkten wie ein Pfeil durch die Luft schoss. Noch im Flug feuerte er seine beiden Fäuste wie Raketen auf den Phönix ab.

„Narr! Damit hilfst du mir nur! Ich entferne das letzte Xyz-Material von meinem Monster, um damit deinen Angriff in Lebenspunkte für mich umzuwandeln!“ Isfanel riss [Kamui, Hope Of Gusto], welche unter der Karte des Jadephönix' lag, hervor. „Reverse Of Life!“

Sofort fraß der Phönix die letzte Energiekugel und schoss sogleich einen weißen Lichtstrahl aus seinem Schnabel, um die näher kommenden Fäuste abzufangen. Jene gingen in zwei Explosionen schließlich verloren.

 

[Nick: 700LP / Melinda: 2700 → 4400LP]

 

„Vergiss nicht, dass ich zweimal angreifen kann! Los, Zenmaioh, gib noch einmal alles! Gewinne!“

Isfanel brach in hysterisches Gelächter aus. „Das ist zwecklos! Selbst gestärkt durch deine Spielfeldzauberkarte vermag dein Monster es lediglich, den alten Lebenspunktestand herzustellen!“

„[Overwind]!“

Nicks Falle sprang plötzlich auf. Schlagartig begann sich der Aufziehschlüssel auf Zenmaiohs Rücken unglaublich schnell zu drehen.

„Jetzt werden die Werte meines Monsters verdoppelt! Und dabei wird der Boost, den Zenmaioh durch [Xyz Territory] bezieht, mit eingerechnet! Es ist -vorbei-!“

Ungläubig starrte Isfanel Nicks Monster an, dessen Aura nun regelrecht pulsierte. Mit seinen zwei verbliebenen Armen, den beiden Bohrern, griff es gnadenlos den in der Luft fliegenden Phönix an.
 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 → 3600 → 7200 DEF/1900 → 3800 {5}]

 

Mit lediglich 1900 Angriffspunkten hatte der Jadephönix dem nichts entgegen zu setzen. In einem grauenhaften, schrillen Schrei wurde er durch die Bohrer malträtiert und explodierte schließlich.

„Unmöglich“, schrie Isfanel zeitgleich mit dem Ableben seines Monsters und warf dann einen hasserfüllten Blick auf Nick. „Heute magst du gewonnen haben, aber das war gewiss nicht unsere letzte Begegnung!“

„Ich werde warten!“, erwiderte Nick.

Dann erfasste eine strahlend helle Druckwelle das gesamte Spielfeld und riss Nick, der die Augen geblendet zukniff, von den Füßen. Zu hören war nur Melindas schmerzerfüllter Schrei, welcher dem Jungen durch Mark und Bein ging.

 

[Nick: 700LP / Melinda: 4400LP → 0LP]

 

Hart schlug Nick schließlich auf dem Boden auf und rutschte zunächst ein Stück weiter, ehe er schließlich unweit der zerstörten Bank, auf der er und Melinda sich unterhalten hatten, zum Liegen kam.

 

~-~-~

 

„Das kann nicht dein Ernst sein!“, polterte Alastair, kaum hatte Matt seinen Einfall ausgesprochen. Mit der Faust auf den Tisch hauend, rechtfertigte er sich aufgebracht: „Wie kannst du dir sicher sein, dass uns das nicht schadet!?“

„Laber' keinen Unsinn, Narbenfresse“, fauchte Anya ihn an, welche hellauf begeistert von der Idee war. „Das ist das Beste, was ich je gehört habe! Ist doch logisch, Matt hat recht! Kein Turm, kein Eden!“
 

Und das von jemanden, der vor einer Stunde noch nicht einmal wusste, dass der Turm von Neo Babylon existiert …

 

„Schnauze da oben!“, bellte Anya mit Blick an die Decke.

„Es wäre eine endgültige Lösung“, erklärte Matt ruhig. „Wenn der Turm zerstört wird, kann nie wieder jemand diesem Irrsinn zum Opfer fallen.“

 

Und ich bin glücklich. Ich liebe dich, Matt. Hätte ich einen Mund, würde ich dich jetzt küssen, mein Märchenprinz.

 

Jedoch erwiderte der auf Anothers neckische Worte nichts, sondern schlug sich nur die Hand gegen die Stirn.

„Die Dinge sind nicht so einfach“, weigerte sich Alastair jedoch missmutig, sich mit dem Gedanken anzufreunden, den Turm zu sprengen. „Da sind Kräfte im Spiel, die über unseren Verstand hinaus gehen. Denkst du wirklich, dass sie von einem alten Gemäuer abhängig sind?“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber irgendwo im Turm ist etwas, das benötigt wird, um Eden zu erwecken. Welchen Grund sollte es sonst für seine Existenz geben? Es ist einen Versuch wert.“ Matt verschränkte nachdenklich die Arme. „Außerdem werde ich trotzdem nach Alternativen suchen.“

„Wir wissen nicht einmal, ob Eden jemals zuvor erwacht ist. Es ist durchaus möglich, dass Eden gar keine physische Form besitzt. Dann nützt auch eine Ladung Sprengsätze nichts!“

„Und wie Eden 'physisch' ist!“ Anya kratzte vor Wut über Alastairs Dickkopf schon mit den Fingernägeln über den runden Holztisch. „Was denkst du, wofür die Opfer gebraucht werden? Vielleicht will das irre Teil sich einen Superkörper aus unseren Leichen basteln!?“

„Absurd!“, polterte Alastair. „Selbst wenn das wahr wäre, würde das bedeuten, dass Eden momentan keinen Körper besitzt! Ergo kann es nicht zerstört werden! Außerdem werden dadurch auch Unschuldige gefährdet, wenn der Turm mitten in der Stadt explodiert!“

„Ach ja!?“ Anya schnaubte wie ein wütender Stier. „Dann beweis' mir, dass ich Unrecht habe!“

„Wie soll ich das tun, du törichte Dämonenbrut!?“

„Du willst doch nur, dass ich krepiere!“

„Exakt! Wäre es nicht für Matt, würde ich gewiss nicht hier sitzen!“

„Aufhören!“, schrie Matt, dem das Ganze langsam zu bunt wurde. „Ihr seid ja schlimmer als Kleinkinder!“

 

Also ich finde diese illustre Runde unterhaltsam. Aber jede Party braucht jemanden, der sie ruiniert. Wobei ich eher auf Alastair getippt hätte …

 

Er sah ein, dass es nichts brachte, mit diesen zwei Streithähnen zu diskutieren. Anothers spitze Zunge half auch nicht. Tief durchatmend versuche er den beiden die Sache noch einmal ruhig zu erklären. „Bisher verfügen wir, was Eden angeht, über kein gesichertes Wissen abseits davon, dass Opfer erforderlich sind. Alles was wir tun, könnte nach hinten losgehen. Aber da ein Pakt in der Regel nur auf einen einzigen Zweck ausgerichtet ist, glaube ich, dass es bei diesem Turm ebenfalls so sein muss.“

„Hmpf!“, war alles, was Alastair dazu einfiel.

Matt redete jedoch ungestört weiter. „Wir werden uns Gedanken machen, wie sich die Sprengung des Turms umsetzen lässt. Allein die dafür benötigten Materialien zu beschaffen wird nicht einfach sein, aber das überlassen wir einem alten Bekannten.“

 

Alastair horchte ziemlich überrascht auf. „Du meinst …?“

„Ja“, nickte Matt, „wir müssen seine Hilfe eben noch einmal in Anspruch nehmen. Anya, du wirst von uns hören. Hier.“

Er reichte der Blondine einen Zettel aus der Innentasche seines schwarzen Ledermantels. Darauf standen eine Adresse und eine Nummer geschrieben.

Das Mädchen nahm das Stück Papier derart widerwillig entgegen, als würde es eine ansteckende Krankheit übertragen. „Wenn du meinst … Damit kann ich euch erreichen?“

„Genau. Deine Telefonnummer haben wir bereits.“

Anya runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich will gar nicht wissen, woher.“

„Fürchtest du dich etwa vor einem Telefonbuch?“, kommentierte Alastair das bissig.

 

Indes erhob sich Matt. „Sobald ich etwas Neues in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich umgehend bei dir. Bis dahin … halt dich von jeglicher Art von Ärger fern.“

„Ich habe nicht das Gefühl, dass sie deinen Ratschlag beherzigen wird“, lästerte Alastair weiter und richtete sich ebenfalls auf. Anya zeigte ihm ganz undamenhaft einmal mehr den Stinkefinger als Antwort.

„Außerdem würde ich vorschlagen, dass wir etwa eine Woche vor Erscheinen des Turms alle Betroffenen versammeln sollten“, ignorierte Matt das Gezänk, was ihm jedoch insgeheim ziemlich schwer fiel. Dass Alastair sich so kindisch benahm, hatte er nie zuvor erlebt. „Dann besprechen wir alles und entscheiden uns, welchen Plan wir am Ende verfolgen wollen. Sofern wir wählen können, heißt es …“

Anya nickte knapp. „Meinetwegen. Ich werd's irgendwie einrichten, dass die anderen davon erfahren.“

„Also schön. Dann … bis bald.“

Matt reichte ihr die Hand, doch das Mädchen machte keine Anstalten, sie zu nehmen. Stattdessen brummte sie: „Zisch endlich ab, bevor Mum nachhause kommt!“

 

Als die Dämonenjäger schließlich das Haus verlassen hatten, atmete das Mädchen tief durch und ließ sich tiefer in den Stuhl fallen.

„Man, die sind anstrengend …“

 

Ein Wort der Warnung, Anya Bauer. Den Turm von Neo Babylon zu zerstören wird dir nur Leid bringen.

 

„Ach ja? Ich lasse es gerne auf einen Versuch ankommen, Sackgesicht!“

 

Wir werden sehen, ob sich dein Opportunismus am Ende auszahlt oder nicht. Vergiss nicht, dass ich auch noch ein Wörtchen in dieser Angelegenheit mitzureden habe.

 

„Ich weiß“, murrte sie, „du bist immer da, wo ich bin. Aber soll ich dir was sagen? Das macht mir keine Angst!“

 

~-~-~
 

Unter Schmerzen richtete Nick sich auf, stellte jedoch schnell fest, dass der Bannkreis sich aufgelöst und der Himmel wieder seine gewohnte, herbstlich graue Farbe angenommen hatte.

„Melinda!“, stieß er erschrocken hervor, als er begriff, was geschehen war.
 

Aber die war fort. Dort, wo sie gestanden hatte, war nunmehr nur noch ein Krater vorhanden. Auch andere Teile des Parks, wie der Kiesweg, hatten unter dem Duell stark gelitten.

Nick raffte sich auf. War Melinda etwa tot!?

Nein, sagte er sich und schüttelte den Kopf. Seine Angriffe haben sie verletzen, aber nicht töten können, weil er keine übernatürlichen Kräfte besaß. Sie musste am Leben sein, Isfanel war vermutlich nur geflüchtet, um seine Wunden zu behandeln.

„Er hätte mich trotzdem töten können“, murmelte Nick leise. Immerhin war er kurz benommen gewesen, für einen hinterhältigen Angriff wäre genug Zeit gewesen.

Weshalb er zu dem Schluss kam, dass Isfanel noch aus einem anderen Grund geflüchtet sein musste. Hatte es damit zu tun, dass er Melinda nur schwer zu kontrollieren vermochte?

Resignierend seufzte der hochgewachsene, junge Mann. Er musste-
 

„Was hast du meiner Schwester angetan!?“, schrie plötzlich jemand neben Nick, welcher ohne Vorwarnung umgerissen wurde.

„Sie war hier, nicht wahr!? Was ist passiert!? Rede!“

Erschrocken stellte Nick fest, dass er den jungen Mann, der sich auf ihn geworfen und nun am Kragen gepackt hatte, durchaus kannte.

„Henry!?“

„Rede!“, forderte der brünette Kerl jedoch nur aufgebracht.

Er hatte sich äußerlich kaum verändert. Immer noch strahlten seine eisblauen Augen förmlich, immer noch wirkte er etwas ungepflegt, nur seine Art war eine ganz andere. So aufgebracht hatte Nick – Anya einmal außen vor gelassen – nur selten einen Menschen erlebt, was besonders bei Henry überraschend kam, war dieser ihm doch als freundliche Person im Gedächtnis geblieben.
 

„Was ist denn hier passiert!?“, drang plötzlich noch eine Stimme zu ihnen.

Henry ließ von Nick ab und betrachtete den nächsten Neuankömmling, ein wunderschönes, schwarzhaariges Mädchen. „Und du bist?“

„Valerie Redfield. Bist du … hast du das auch gespürt?“

„Valerie!?“, staunte auch Nick und blinzelte verdutzt. „Was tust du hier!?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen! Joan hat gesagt, hier würde ein Kampf stattfinden!“ Anyas Erzrivalin fasste sich mit betrübter Miene an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ausgerechnet hier, wo- aber das ist jetzt nicht wichtig! Sag uns, was vorgefallen ist!“

„Genau das will ich auch wissen! Dieser Typ hat sich mit meiner Schwester Melinda duelliert, das weiß ich!“ Henry, der immer noch auf Nick hockte, wandte sich ebenjenem wieder zu. „Rede endlich!“

„Hehe … weiß nicht. Da war dieses … Isfanel? Und hat lustige Sachen gesagt … hehe, ich glaub, es mag mich.“

„Isfanel!?“, polterte Henry, aus allen Wolken fallend. „Was hat er gesagt!?“

 

Als Nick jedoch nicht antwortete, wollte Henry schon die Faust heben, als plötzlich etwas auf seinen Kopf sprang.

„Du stinkst“, meinte das kleine, schwarze Wesen abfällig und sah dann auf Nick herab. „Und du erst recht! Ich glaub, ich muss kacken …“

Ein leiser Furz war zu hören und schon thronte auf Henrys Haupt ein dunkelbraunes Häufchen AA, was jenen jedoch überhaupt nicht weiter zu stören schien. Kurz etwas irritiert von dem seltsamen, warmen Gefühl auf seiner Kopfhaut, ignorierte er dies in seiner Wut und fixierte sich einzig auf Nick.

Gleichzeitig sprang Orion wieder von Henry herunter und rannte zur Mülltonne neben der von Isfanel zerstörten Bank und verschwand in ebenjener, um sie zu plündern. Dabei drang seine Stimme gedämpft hervor. „Yummy, 'ne alte Bananenschale!“

Sein Kopf lugte schließlich aus der Öffnung der Tonne hervor. Die großen weißen, pupillenlosen Kulleraugen waren auf Nick gerichtet. „Und du, du bist jetzt mein Sklave und wirst alles tun, was ich dir sage! Du bist zwar dumm, aber irgendwie mag ich dich. Ich zieh bei dir ein!“

Daraufhin blinzelte Nick verdutzt, ehe er dämlich gluckste: „Coole Sache!“

„Was hast du meiner Schwester angetan?“, verlangte Henry aufgebracht zu wissen, ignorierte den Schattengeist und hob seine Faust, um jeden Moment zuzuschlagen.

Schützend hielt Nick sich die Arme vor das Gesicht, jammerte: „Hilfe, Valerie, tu doch was!“

„Ich schwöre dir, wenn du nicht gleich ausspuckst, was-“

Plötzlich packte jemand seinen Arm und hielt ihn fest. „An deiner Stelle würde ich mich erstmal beruhigen. Indem du Nick Angst einjagst, erreichst du nur das Gegenteil von dem, was du eigentlich willst.“

Der lang gewachsene, zerzauste Bursche schaute überrascht auf, um zu sehen, wer ihm da geholfen hatte. Valerie war es nicht, denn es war ein Mann, der ihm da zur Hand ging. Als Nick jedoch dessen Gesicht sah, fiel seine Reaktion äußerst wortkarg aus. „Du!?“

 

 

Turn 21 – A Glimpse Of Hope

Die Zeit schreitet unerbittlich voran und ehe Anya sich versieht, ist es bereits der 31. Oktober, Halloween. Anstatt jedoch die Party in ihrer Schule zu besuchen, grübelt sie zuhause über die bisherigen Ereignisse. Von einer inneren Unruhe getrieben, spaziert sie schließlich ziellos durch die Straßen, um zufällig bei Abby vorbeizusehen. Doch die ist nicht da, sondern mit einem ominösen „Freund“ auf der Feier. Der Sache eifersüchtig nachgehend, trifft Anya in ihrer Schule schließlich auf Abby und ausgerechnet Henry, vom dem sie Dinge erfährt, die sie sich im Traum nicht hätte vorstellen können …

Turn 21 - A Glimpse Of Hope

Turn 21 – A Glimpse Of Hope

 

 

Halloween. Anya hasste Halloween. Und sie liebte es. Überall waren Kinder, die tatsächlich so dreist waren, anderer Leute Süßigkeiten zu verlangen. Sobald es dunkel wurde, waren die Straßen voll von dieser Pest. Aber wann sonst hatte man die offizielle Erlaubnis, anderen Leuten den Schreck ihres Lebens zu verpassen? Unnötig zu erwähnen, dass Anyas Verständnis von Halloween sich grundlegend von dem anderer Menschen unterschied. Zumal sie gewiss kein Kostüm brauchte, um Schrecken zu verbreiten.
 

Doch ihr war an diesem Abend des 31. Oktobers überhaupt nicht danach, auch nur irgendeinem dahergelaufenen Vollidioten mit Barbie Angst einzujagen. Zumal sie wegen dem verbrannten Rasen im Garten ohnehin Ausgehverbot hatte – auch wenn jeder wusste, dass eine Anya Bauer sich nicht daran halten würde, wenn es darauf ankam.

Schon seit Tagen hatten diese verdammten Dämonenjäger sich nicht mehr gemeldet, obwohl Matt es versprochen hatte. Schlimmer noch, von Nick und Abby hatte sie ebenfalls nichts mehr gehört. Wobei sie doch mit Letzterer noch ein Hühnchen zu rupfen hatte bezüglich der Tatsache, dass jene ihr fundamentale Geheimnisse vorenthalten hatte.

Noch vor kurzem wäre Abby selbst dieses Hühnchen gewesen, doch Levrier hatte Anya dazu geraten, ihre Freundin zunächst anzuhören. Wäre sie eine Verräterin, hätte sie genug Möglichkeiten, der Blondine das Leben schwer zu machen, so seine Worte. Und zähneknirschend musste Anya daraufhin eingestehen, dass ihr Paktpartner damit ein gutes Argument lieferte. Außerdem hieß es doch 'in dubios Porree', demnach würde sie Abby vorerst verschonen.

 

Dennoch saß Anya schlechter gelaunt denn je in ihrem Zimmer und zählte die letzten Stunden des Monats. Waren diese erst verstrichen, hatte sie noch elf Tage Zeit, sich bezüglich Eden etwas einfallen zu lassen. Bloß was sollte sie tun? Selbst mit den neuen Informationen von Matt und Levrier war sie im Endeffekt genauso schlau wie vorher.

Die Orte, an denen Pakte geschlossen wurden, hatten laut Levrier eine Bedeutung. Und Opfer waren nötig, um Eden zu erwecken. Die Opfer und die Orte standen irgendwie in Zusammenhang, vermutlich über das Elysion. Aber für Anya ergab das keinen Sinn. Zumal sie nicht wusste, wie viele Zeugen der Konzeption überhaupt benötigt wurden. Mit Matt, Alastair und Redfield hatte sie drei. Was, wenn das zu wenig war? Und falls dem so war, woher bekam sie dann noch mehr Leute, die einen Pakt geformt haben? Die wuchsen schließlich nicht auf Bäumen.

 

Solltest du nicht in der Schule sein?

 

„Pff, die können sich ruhig ohne mich amüsieren“, raunte Anya und legte ihren Kopf gelangweilt auf ihre ausgebreiteten Arme an ihrem Schreibtisch. „Ist sowieso nicht übel, Hausarrest zu haben. Hab ich ne gute Ausrede.“

Während sie zuhause grübelte, fanden überall in Livington kleine oder größere Halloweenpartys statt. So auch in ihrer Schule. Vermutlich waren Abby und Nick gerade dort und hatten Spaß. Wahrscheinlich noch mit Beautyqueen Valerie. Sofern die sich gerade nicht in Selbstmitleid ertränkte.

„Ich war noch nie beim Homecoming oder bei den Weihnachtsfesten dabei, dann werd' ich bei der scheiß Party auch nicht aufkreuzen. Ich hasse Bälle und Partys!“

 

Denn das würde ja bedeuten, Spaß zu haben, ohne Leuten weh zu tun.

 

„Verdammt richtig! Wenigstens einer, der mich versteht!“

Dass Anya dabei Levriers Sarkasmus wie so oft nicht bemerkte, tat ihrer schlechten Laune jedoch auch nichts ab. „Ich glaub, ich geh raus. Vielleicht kann ich ein paar Knilchen ihre Fressalien abnehmen.“

 

Bist du dir wirklich sicher, dass du nicht zu der Party willst? Anya Bauer, du hast nicht mehr viel Zeit. Auch wenn die Nachforschungen bezüglich Eden wichtig sind, solltest du deine letzten Tage gut nutzen. Das könnte das letzte Mal sein, dass-

 

„Halt einfach die Klappe …“

Anya sprang schnaufend von ihrem Schreibtischstuhl auf und schnappte sich ihren Rucksack, der an einem Haken an ihrer Zimmertür hing.

Und während sie vom Flur aus die Treppe hinab ins Erdgeschoss rannte, rief sie: „Bin mal ne Weile unterwegs, Mom! Versuch gar nicht, mich aufzuhalten!“

Nur um sich dann zu entsinnen, dass jene sich mit ein paar Arbeitskollegen verabredet hatte und schon längst außer Haus war. Am Fuß der Treppe blieb sie kurz mit betrübter Mimik stehen, ehe sie das Haus verließ und die Tür hinter sich abschloss.

Warum musste Levrier ihr jedes Mal die Stimmung verhageln!?

 

~-~-~

 

Doch egal wohin Anya auch ging, die innere Unruhe – den wahren Grund dafür, dass sie durch die Straßen zog – schwand nicht aus ihrem Leib. Immer wieder gingen ihr Levriers Worte durch den Kopf.

Die letzten Tage gut zu nutzen? Aber wofür? Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was sie alles unbedingt machen musste, bevor sie starb. Klar gab es da Dinge, die sie gerne tun wollte, aber nichts davon war wirklich … wichtig. Nicht mehr. Irgendwie.
 

Während sie im Dunkeln unter der Straßenbeleuchtung entlang zog, fiel ihr Blick auf ein weißes Haus, das mit Toilettenpapier förmlich überzogen war.

„Oh.“ Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich in derselben Straße befand, in der die Masters wohnten.

„Süßes oder- Ahhhhh!“ Und sie hatte nicht bemerkt, wie sich drei Knirpse vor ihr aufgebaut hatten. Einer im Geisterkostüm, der sie soeben angesprochen hatte, eine Hexe und ein Skelett. „Mist Leute, das ist die freakige Anya Bauer! Die hat mich neulich beim Tag Turnier alle gemacht! Rennt weg, bevor sie euch auffrisst!“

Nur irritiert eine Augenbraue hochziehend, sah sie den Dreien hinterher, wie sie die Beine in die Hand nahmen.

Dann ging sie weiter, ohne den Drang zu verspüren, den drei Rotzlöffeln eine schmerzhafte Lektion in Sachen Respekt vor den Älteren zu erteilen. Wobei sie sich fragte, was plötzlich los mit ihr war. So lustlos war sie doch noch nie gewesen.

Anschließend setzte sie ihren Weg ins Ungewisse fort. Bis das Ungewisse sich in ein konkretes Ziel verwandelte. Abbys Haus. Vor dem sie wenige Minuten später stand.

Nicht wie sonst penetrant, sondern nur recht kurz die Klingel betätigend, verharrte sie ungewohnt geduldig vor der Haustür. Sie brauchte jetzt Rat, dringend. Und wenn jemand klug genug war, ihr zu helfen, dann Abby. Außerdem konnte sie dann gleich die Geschichte mit Matt aus dem Weg räumen.

 

„Hallo Anya?“, ließen die Worte von Mrs. Masters sie schließlich aufschrecken.

Jene Frau war erstaunlich groß, knackte fast die zwei Meter-Marke. Von außen sah man ihr auch nicht an, dass sie einen eher ungewöhnlichen Lebensstil pflegte. In stinknormaler Jeans und grünem Pullover gekleidet, zeugte lediglich ihre bunte Mütze davon, dass in ihr ein waschechter Rebell steckte. Wo andere Mütter mit ihren Kindern einen Zoo besuchten, protestierte Mrs. Masters bereits seit Jahren zusammen mit der ganzen Familie gegen alles mögliche, kettete sich dabei auch gerne mal an das Objekt, welches sie zu schützen gedachte.

„Ist Abby da?“, wollte Anya tonlos von der jung gebliebenen, brünetten Frau wissen.

„Nein, die ist mit ihrem Freund weg. Ich glaube, sie wollten auf die Party in eurer Schule.“

Doch bei Anya schrillten längst alle Alarmglocken. „Freund!? Abby!?“

Das Grauen in ihrem Kopf nahm langsam Konturen an. Abby kannte nur einen Jungen gut genug, um mit ihm eine Beziehung einzugehen. Und das war … !

„Etwa Nick!?“

„N-nein. Ich war auch ganz überrascht, als sie plötzlich- A-Anya!“

Doch die Blondine war längst auf dem Weg zur Schule.

 

~-~-~

 

„Was machst du denn hier, Bauer?“, fragte irgendein Typ mit Zorromaske und Pappbecher mit Limo in der Hand, als Anya keuchend im Gang ihrer Schule angekommen war. Alles hier war 'geschmückt' mit buntem Firlefanz, Konfetti lag auf dem Boden und ab und zu traf man auf ausgehüllte Kürbisse am Boden oder auf Tischen, die aus den Klassenzimmern in die Gänge gestellt worden waren. Am schlimmsten war aber die dröhnende Musik, denn wie Anya es erwartet hatte, wurde -kein- Death Metal gespielt. Noch beschissener konnte diese 'Party' gar nicht werden!

„Hast du Masters gesehen?“, fragte Anya scharf. Und schwor sich, dass wenn er jetzt nein sagte, ein Unglück passieren würde.

„Nein“, sprachs und wurde heftig von dem Mädchen angerempelt, sodass die Limo sich auf dem weißen Hemd des jungen Mannes verteilte.

Anya zischte durch die Gänge wie eine Dampflok auf Hochtouren. In irgendeinem Klassenzimmer musste Abby sein, denn die Aula wurde gerade renoviert und konnte demnach nicht so wie sonst üblich benutzt werden.

Als sie schließlich zehn Minuten erfolglos durch die Schule irrte und immer schlechter werdenden Verkleidungen begegnete, entschied sie sich zu drastischeren Methoden.

„Levrier“, schnaufte sie abgehackt, „such-Masters!“

 

Anscheinend verwechselst du mich jetzt sogar schon mit einem Spürhund.

 

„Red nicht, tu's einfach. Das kannst du doch, oder!?“

 

Wenn sie sich in eine Sirene verwandelt, dann könnte ich es. Aber ich glaube, dann wäre die Atomsphäre hier etwas anders. Ich weiß aber auch so, wo sie ist. Hinter dir.

 

Anya wirbelte verdutzt um und stand tatsächlich Abby gegenüber.

„Ich habe gehört, du hast mich gesucht?“, staunte jene nicht schlecht. „Was ist denn los, ist irgendetwas passiert?“

Indes wunderte sich die Blondine eher darüber, warum ihre Freundin nicht verkleidet war, sondern nur eines ihrer Reissackkleider trug. Andererseits spielte das gerade keine Rolle.

Immer noch außer Puste, hielt Anya Abby ihren Zeigefinger regelrecht unter der Nase. „Erstens: wieso hast du seit Tagen nichts mehr von dir hören lassen? Zweitens: was zur Hölle gibt dir das Recht, mir die Dinge, die Matt dir erzählt hat, einfach vorzuenthalten!? Und drittens: seit wann gehst du mit Nick aus!?“

Völlig verblüfft von Anyas Offensive stammelte Abby: „Äh Anya, immer schön der Reihe nach.“

„Ich warte!“, fauchte ihr Gegenüber aufgebracht und stampfte mit dem Fuß auf.

„Wie wäre es, wenn du etwas Geduld zeigst?“, mischte sich plötzlich jemand hinter Anya ein und zog an dieser vorbei. Und während diese Person sich zu Abby gesellte, erkannte die Blondine den jungen, diesmal viel gepflegter auftretenden Mann als Henry wieder. Der Henry, der sie mit Billigkarten vorgeführt hatte!

„Was willst du denn hier, Pennerkind!? Haben sie im Asylantenheim keinen Platz mehr für dich!?“

„Ich glaube, Melinda ist nicht hier“, meinte jener brünette Kerl resignierend an Abby gewandt, „aber danke, dass du mit mir hierher gekommen bist.“

„Kein Problem. Du hilfst uns ja auch.“

„Sie ignorieren mich“, murmelte Anya fassungslos.

 

Wie ich sie um diese Fähigkeit beneide …

 

Abby trat schließlich einen Schritt vor. „Komm Anya, lass uns einen Ort suchen, wo wir ungestört reden können. Es gibt da einiges, was du wissen solltest.“

Irgendetwas gefiel Anya nicht am Tonfall ihrer Freundin. Nicht nur, dass er so nachdenklich war, sondern auch auf befremdliche Weise distanziert. Da war doch was im Busch!

„Na schön! Aber wehe, mir gefällt nicht, was ihr mir zu sagen habt! Was will der Typ überhaupt hier?“

„Das erkläre ich dir, wenn du mitkommst“, meinte Henry genervt.

 

~-~-~

 

„Ihr verarscht mich“, murmelte Anya mit offenem Mund, nachdem die Drei sich in einem verlassenen Klassenzimmer eingefunden und die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Sie saß auf einem der Tische, welche allesamt an die hintere Wand gegenüber der Tafel gestellt worden waren und sah abwechselnd die beiden an, wie sie vor ihr standen.

„Lasst mich das klarstellen“, murrte sie und deutete mit abfälliger Gestik auf Henry, „der wohnt seit Neuestem bei dir, nachdem er zusammen mit Nick und Redfield plötzlich vor deiner Haustür stand.“

Abby nickte.

„Und er will Nick dabei beobachtet haben, wie der sich mit seiner Schwester, duelliert hat? Und Nick hat gewonnen!?“

Wieder nickte das Mädchen mit der getönten Brille.

„Meine Schwester ist besessen von einem Dämon“, fügte Henry an, „derselbe Dämon, der schon einen deiner Freunde kontrolliert hat. Sie ist entkommen, aber ich wette, dass sie noch irgendwo in der Stadt ist!“

„Und du“, raunte Anya nun und deutete nicht weniger abfällig auf Abby, „hilfst dem da nun dabei, diese Magdalena zu finden?“

„Ja.“
 

Das war der Moment, in dem Anya die Hutschnur platzte. Sie sprang vom Tisch und breitete wütend die Arme aus. „Hast du nichts Besseres zu tun!? Was ist mit mir!? Wieso vertrödelst du deine Zeit für den, obwohl ich deine Hilfe viel dringender brauche!?“

„Anya! Hast du nicht zugehört? Isfanel ist zurück! Das betrifft dich genauso wie Henry! Und außerdem bin ich nicht nur deine Freundin, sondern auch Henrys!“

„Seit wann das!?“

„Seit sie weiß, dass ich dir helfen könnte, dein kleines Paktproblem loszuwerden.“ Henry trat nun zwischen die beiden und starrte Anya verächtlich aus eisblauen Augen an. „Du hast richtig gehört. Das ist der Deal zwischen mir und Abby. Wenn sie mir hilft, Melinda zu finden, revanchiere ich mich im Gegenzug dafür und verrate euch, wie ich -meinen- Pakt aufgelöst habe.“

Anya war zu verdutzt, um etwas darauf zu erwidern, zumal die ganze Situation mit einem Schlag über ihren Kopf hinausgewachsen ist. Aber als Henry plötzlich den Ärmel seines schwarzen Pullovers hochkrempelte und ein verblasstes, grünes Symbol zweier ineinander verwobener Schwingen zu sehen war, wusste das Mädchen, dass er nicht log. Es war fast gar nicht zu erkennen, was auch erklärte, warum es ihr bei ihrem ersten Treffen nicht weiter aufgefallen war.

 

Das nenne ich eine Überraschung. So etwas habe ich nicht kommen sehen.

 

„Ahja, und bevor du etwas Falsches denkst: ich bin nicht Abbys -Freund-“, stellte Henry klar, „ihre Mutter soll das nur denken, damit ich bei ihr übernachten darf.“

Giftig erwiderte Anya nun: „Ist auch besser so! Wenn du sie antatscht, brech' ich dir jeden Knochen einzeln, klar!?“

„Henry ist ein Gentleman!“, empörte sich Abby.

Jener zog sich nun einen Stuhl heran und bedeutete Abby, sich zu setzen, was diese dankend tat. Da Anya ahnte, dass eine längere Geschichte auf sie zukam, nahm sie wieder auf dem Tisch Platz und ließ Henry dabei nicht aus den meeresblauen Augen. Selbstredend bereits darauf vorbereitet, jederzeit den Todesblick zu aktivieren.

 

„Du bist also mal …“, fing sie nach einer kurzen Zeit des Schweigens an.

„Ja. Ich war einmal ein Gefäß für einen Dämon. Das ist mittlerweile ein paar Monate her und seither suche ich meine Schwester Melinda, die ebenfalls in die Sache von damals verwickelt war.“

Abby seufzte schwer. „Anya, der Dämon, der Henry damals in den Pakt gezwungen hat, war ...“

„Isfanel“, beendete Henry den Satz. „Und nachdem ich seinen Pakt gebrochen hatte, hat er meine Schwester als neues Ziel auserkoren.“

 

Doch Anya verstand die Welt nicht mehr. Isfanel war derjenige, der Marc dazu gebracht hatte, sie töten zu wollen. Was hatte der mit Henry und dieser Melinda zu tun?

 

„Was Isfanels Ziel ist, solltest du längst wissen“, erklärte Henry weiter, „daran hat sich bis heute nichts geändert. Er will den Gründer vernichten, der dazu bestimmt ist, Eden zu werden. Den Gründer, mit dem du jetzt zusammenarbeitest.“

„Auszeit!“, donnerte Anya aufgebracht und formte mit ihren Händen ein T. „Was soll das heißen, du wurdest in den Pakt gezwungen? Das ist doch freiwillig!“

„Nein. Isfanel kann einen Vertrag erzwingen, wenn die richtigen Konditionen gegeben sind. Wie genau das abläuft weiß ich selber nicht, aber ich denke, es hat mit unserem Blut zu tun. Dass in unseren, Melindas und meinen, Venen dasselbe Blut fließt.“ Henry verschränkte die Arme. „Damals, als er mich kontrolliert hat, wusste er noch nichts von dir, vermutlich weil du damals den Pakt noch nicht geschlossen hattest. Erst als Melinda eines Tages verschwunden war, habe ich begriffen, dass er es auf sie abgesehen hatte, um das fortzuführen, wozu ursprünglich ich vorgesehen war.“

„Dich, beziehungsweise Levrier, zu vernichten.“ Abby seufzte schwer. „Aber er konnte Melinda nicht übernehmen, weil sie sich, warum auch immer, zur Wehr setzen konnte.“

Seine Hand auf Abbys Schulter legend, sah Henry sie dankbar an. Anya verstand die Geste nicht, für sie sah es eher so aus, als wolle er sich an sie heran machen. „Finger weg!“

Das mit einem finsteren Blick quittierend, ließ Henry wieder von Abby ab. Dabei sagte er: „Aber jetzt ergibt alles einen Sinn. Als Melinda untergetaucht ist, hat sie mein Deck mit sich genommen. Und damit auch die Karte des Pakts, [Daigusto Phoenix]. In ihrem Abschiedsbrief hat sie mir erklärt, dass sie um meinetwillen fortging, um mich vor Isfanel zu beschützen.“

Henry schluckte und wandte sich von den beiden ab. „Ich glaube, Isfanel hat sie absichtlich in dem Irrglauben gelassen, dass er mich wieder als Gefäß will.“

„Und ohne es zu merken, hat er sie auf ihrer Flucht in deine Richtung getrieben“, fügte Abby hinzu. „Melinda wollte wahrscheinlich verhindern, dass Henry dich umbringt. Dabei hatte Isfanel es die ganze Zeit auf sie abgesehen.“

„Wir vermuten, dass Marc nur zufällig in die Sache hineingeraten ist, weil Isfanel nicht imstande war, Melinda zu knacken.“ Mit nachdenklicher Mimik wandte sich Henry an Abby. „Aber nachdem der versagt hat, muss Isfanel zurück zu seinem ursprünglichen Plan gesprungen sein, Melinda zu übernehmen.“

 

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.

„Oh, sorry, falsches Zimmer“, meinte ein dunkelhäutiger Schüler und knallte die Tür wieder zu.

Verärgert von der Unterbrechung, schüttelte Abby den Kopf. „Na ja, und nachdem Melinda Nick getroffen hat, muss es Isfanel gelungen sein, die Kontrolle über sie zu übernehmen. Und da Nick unser Freund ist, wollte er ihn natürlich töten.“

„Das macht mir Kopfschmerzen …“, stöhnte Anya, die mit so viel Informationsinput nicht klar kam. „Also in Kurzform: der sucht seine Schwester, die jetzt 'n bisschen gaga ist und mir die Lichter ausknipsen will, weil er seinen Pakt brechen konnte?“

„'Der' hat auch einen Namen“, tadelte Abby ihre Freundin mit erhobenem Zeigefinger.

„Dann eben -Henry-!“

 

„Da ist noch etwas“, sprach jener nun und räusperte sich, „etwas, das ich euch beiden noch nicht gesagt habe. Es betrifft meinen Namen. Denn eigentlich darf niemand wissen, dass ich hier bin. Wenn die Presse Wind von dieser Geschichte bekommt, wird alles nur noch komplizierter. Was ich euch also jetzt anvertraue bleibt bis auf Weiteres unter uns.“

Anya runzelte die Stirn. „Was hat die Presse damit am Hut? Meinst du Rita Placatelirgendwas? Die Alte wird es nicht wagen, etwas über uns zu schreiben, seit Abby ihr eine Lektion erteilt hat!“

„Die Presse im Allgemeinen. Was denkt ihr, warum ich nie meine eigene Duel Disk verwende? Damit würde man mich sofort finden.“ Henry schritt an eines der Fenster und sah hinaus auf den kreisrunden Campusplatz, wo sich unter Laternenlicht einige Jugendliche unterhielten.

Was Abbys Neugier nur umso mehr anheizte. „Mach es nicht so spannend. Sag uns endlich, wer du bist.“

Henry drehte sich zu ihnen um. „Mein voller Name lautet Benjamin Hendrik Ford. Henry ist nur mein Spitzname.“

Abby fiel aus allen Wolken. „D-der Benjamin Ford!? Der, der seit Wochen vermisst wird!?“

Dann schoss es aus ihr heraus: „Jetzt weiß ich, warum du mir so bekannt vorgekommen bist, als wir uns das erste Mal gesehen haben!“

Gleichzeitig entsann sich Anya, dass sie einmal einen Zeitungsartikel über den vermissten Sohn der Abraham Ford Company gelesen hatte. Der Firma, die in den Staaten für den Vertrieb von Duel Monsters verantwortlich war.

„Der bin ich. Versteht ihr jetzt, warum ich untertauchen musste? Wenn die Presse erfährt, was mit Melinda geschehen ist, bricht ein Chaos ungeahnten Ausmaßes aus. Da aber außer mir niemand von dieser Sache weiß, musste ich die Dinge selbst in die Hand nehmen.“ Entschlossen sah er die beiden Mädchen an. „Ich muss Melinda finden, bevor ihr etwas zustößt!“

 

„Mir doch egal“, raunte Anya plötzlich herrisch, „mich interessiert nur eins. Wie ist es dir gelungen, den Pakt zu brechen?“

„Denkst du, das sag ich dir so einfach?“ Henry schüttelte entschieden den Kopf. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich dir vertrauen kann. Aber ich vertraue Abby. Deswegen wollte ich dich aus der Sache heraushalten und mit Abby alleine nach Melinda suchen.“

Provoziert von seiner Aussage zeigte Anya ihm kurzerhand den Stinkefinger. „Pff, Arschloch! Wer sagt denn, dass wir dir vertrauen können?“

„Anya“, versuchte Abby zu schlichten, „er ist kein schlechter Mensch! Er meint es ernst! Aber du musst ihn auch verstehen. Der Dämon, der dich zu töten versucht, benutzt seine Schwester als Mittel dazu. Er hat einfach Angst, dass ihr durch deine Hand etwas passiert!“

„Du halt dich da raus“, fauchte Anya das Mädchen an und sprang nun vom Tisch auf. Auch Abby erhob sich vom Stuhl, wurde aber sofort von der Blondine mit einer Hand weg geschubst.

„Hey!“, schritt Henry sofort dazwischen.

„Von einem Verräterschwein lass ich mir nichts sagen!“

Getroffen wich Abby zurück. „I-ich-!“

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass ich unsterblich bin, huh!? Dachtest wohl, ich muss das nicht wissen!? Oder dass für Edens Erwachen Opfer gebraucht werden! War alles nicht so wichtig, was!?“

„N-nein“, verteidigte Abby sich eher schlecht als recht, „ich wollte nur nicht, dass du am Ende etwas Dummes anstellst. Nicht, dass dir am Ende etwas passiert, weil du aus Neugier versuchst, dich umzubringen, um zu sehen, ob du wirklich unsterblich bist. Bei Selbstmord funktio-“

„Herrgott, das weiß ich alles längst, Masters!“, herrschte Anya ihre Freundin jedoch weiter aufgebracht an. „Aber ich hätte es gerne von dir erfahren und nicht von Matt!“

„Du hast Matt getroffen!?“

„Verdammt richtig! Und der ist im Moment eine größere Hilfe als du!“

Henry mahnte Anya: „Jetzt werd' mal nicht unfair! Abby hilft mir, um dir zu helfen!“

Wütend stampfte die Blondine auf. „Ich brauche ihre beschissene Hilfe aber nicht mehr! Turtel' ruhig weiter mit dem Pennerkind, Masters, ich hab's satt!“

„Dann-!“

 

Doch Abby brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen schluchzte sie plötzlich und stürmte aus dem Klassenzimmer. Noch ehe Henry etwas dagegen tun konnte, war das Mädchen verschwunden.

An der Türschwelle stehend, drehte er sich wutentbrannt zu Anya um. „Das hast du wirklich gut gemacht!“

„Tch!“ Anstatt Gedanken an Abby zu verschwenden, nahm Anya nun Henry ins Visier. „Irgendwie habe ich dich netter und respektvoller in Erinnerung. Was ist los, Prince Gossen-Charming, vermisst du Daddys Kohle?“

„Ich bin einfach nur angespannt, das ist alles! Und ich kann dich nicht leiden! Siehst du nicht, was du getan hast? Ist dir ihre Freundschaft überhaupt nichts wert!?“

„Was nützen mir Freunde, wenn ich eh bald krepieren werde!?“

„Du bist egoistisch! Denkst du, Gefühle sind nur einseitig?“ Henry schnaufte wütend. „Als wir uns damals getroffen haben, habe ich mich wirklich zusammengerissen. Anfangs dachte ich, du bist einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden. Aber dein Charakter ist einfach nur mies. Und als ich dein Mal sah, wusste ich, dass wir beide früher oder später aneinander geraten würden.“

„Ach ja? Dann hilf mich doch, dieses dämliche Teil loszuwerden!“ Anya hob ihren Arm und schob den Ärmel ihrer Lederjacke soweit beiseite, dass er das Mal an ihrem Unterarm sehen konnte. Plötzlich grinste sie hinterhältig. „Hmm, jetzt wo ich darüber nachdenke, ist das gar keine schlechte Idee …“

„Wovon sprichst du?“

Anya legte herausfordernd den Kopf in den Nacken. „Ganz simpel, Milchbubi. Wenn du mir nicht sagst, wie du dein Mal losgeworden bist, -könnte- es passieren, dass ich deiner Schwester Melanie die Lichter ausknipsen muss, wenn sie mich angreift.“ Anya fuhr sich mit dem Daumen über die Kehle. „Du weißt, Blutzoll und so.“

„Du würdest-!?“

„Nur, wenn ich muss.“ Schlagartig verlor sich ihre Gehässigkeit. „Es liegt an dir. Je früher ich das Ding loswerde, desto besser für deine Schwester. Ist in deinem Interesse.“

„Und du denkst, dass ich mich von dir erpressen lasse!?“, brauste Henry außer sich vor Wut auf. „Mein Verstand sagt mir, dass du nicht Unrecht hast, aber mein Herz nimmt das nicht hin! Ich lasse mich nicht erpressen, nicht von dir!“

 

Immerhin, du lernst dazu, Anya Bauer. Erpressung ist schließlich eine Steigerung zur bloßen Gewaltandrohung. Aber ich fürchte, ein Leben reicht nicht, um bis zur Stufe der Verhandlung aufzusteigen.

 

„Was mischt du dich jetzt da ein, Levrier!? Solltest du nicht zittern, weil ich auf dem Weg bin, dich loszuwerden?“

 

Warum sollte ich? Was immer der Junge dort glaubt erreicht zu haben, es ist zu bezweifeln, dass er wirklich von dem Pakt befreit ist. Vielleicht ist das Ganze auch eine Falle? Sonderlich viele Freunde haben wir uns bisher nicht gemacht. Ich für meinen Teil mache mir mehr Sorgen um die Absichten dieses jungen Mannes, als der bloßen Tatsache, dass er einen Weg zu kennen glaubt, einen Pakt zu brechen.

 

„Das werden wir gleich herausfinden.“

Sie wäre schließlich nicht Anya Bauer, wenn sie nicht einen Plan B hätte. Der war seither zwar immer der gleiche, aber immer noch der effektivste.

Anya setzte ihren Rucksack, den sie die ganze Zeit geschultert hatte, ab. Daraus hervor zog sie eine Duel Disk. Ursprünglich hatte sie geplant, nur ein paar Rotzgören um ihre Halloweenbeute zu erleichtern, aber das hier war viel eher ihre Welt. Der Typ würde singen, so viel stand fest.

„Eine Revanche für neulich?“, wunderte sich Henry, als Anya den Apparat anlegte. „Tz, als ob! Außerdem besitze ich keine Duel Disk!“

„Kein Problem“, meinte Anya unbekümmert, verließ kurzerhand das Klassenzimmer und kam wenige Minuten später, nach einem lauten Scheppern, mit einer Duel Disk zurück. Dabei wedelte sie mit ihrer freien Hand. „Blöder Spind, seit wann sind die so widerspenstig?“

Henry fing die Duel Disk geschickt auf, als Anya sie ihm zuwarf.
 

„Die Regeln“, sagte jene schließlich und stellte sich vor die Tafel. Als sie sich umdrehte, erklärte sie: „Da du nicht freiwillig mit der Sprache 'rausrückst, müssen wir das so klären.“

„Wer sagt, dass ich mitmache?“

Prompt war es wieder da, dieses kleine, gemeine Grinsen von Anya. „Oh glaub mir, das wirst du. Denn wenn du gewinnst, werde ich dir helfen, deine kleine Prinzessin zu finden. Und ich schwöre, ihr kein Haar zu krümmen, solange sie genug Sicherheitsabstand hält.“

„Und wenn du gewinnst?“

„Wirst du mir dein kleines Geheimnis verraten. Und mir helfen, das Mal loszuwerden. Wenn das klappt und ich frei bin, könnte ich mir sogar überlegen, dir vielleicht trotzdem zu helfen. Geht die Sache jedoch schief, oder du muckst auf …“ Anya fuhr sich nochmals mit dem Daumen über den Hals. „Dann kannst du deiner Schwester schon mal einen Sarg bestellen! Was sagst du? In beiden Fällen profitierst du, bei einem mehr, beim anderen weniger. Aber wir können das Ganze auch lassen, bloß sieht es dann ganz schlecht für Melissa aus!“

„Melinda!“, korrigierte Henry das Mädchen gereizt.

 

Ich bin begeistert, Anya Bauer. Das ist nicht mehr nur Erpressung, das ist raffinierte Manipulation. Natürlich wird er jetzt anbeißen, da die schlimmste Option für ihn die ist, dein Angebot auszuschlagen. Vielleicht habe ich dich unterschätzt …

 

Anya lächelte jedoch nur tückisch.

„... fein. Was soll ich auch anderes sagen?“

Henry war nur allzu deutlich anzusehen, was er wirklich von Anyas Vorschlag hielt. Sein Gesicht glich einer starren Maske, gezeichnet von Wut. Dennoch schritt er in die Mitte des Klassenraums, um Anya gegenüber zu stehen. Da die Tische nicht im Weg standen, konnte man sich hier duellieren.

„Dann ist es abgemacht“, sagte die Blondine. Beide Duel Disks fuhren aus und aktivierten sich mit einem Piepen. „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Henry: 4000LP]

 

„Ich mache den ersten Zug“, kündigte Henry an, nachdem er sein Startblatt gezogen hatte.

„Von mir aus. Aber denk nicht, dass sich das von damals wiederholen wird! Ich bin um einiges besser geworden, seit wir uns das letzte Mal duelliert haben!“

„Wenn du meinst …“ Henry nahm eine dauerhafte Zauberkarte aus seinem Blatt und zeigte sie Anya. „Dann zeig mir mal, wie gut du bist, wenn du auf deine Keycard verzichten musst! Ich aktiviere [Prohibition]! Damit verbiete ich die Benutzung einer von mir benannten Karte, solange [Prohibition] aktiv ist! Und in dem Fall wäre das [Gem-Knight Fusion]!“

Hinter Henry tauchte plötzlich eine Schriftrolle auf, die sich entfaltete und auf der das Abbild von Anyas wichtigster Zauberkarte abgebildet war.

„Tch! Ich brauche die nicht, um dich fertig zu machen!“ Doch ihre gekrümmte Körperhaltung strafte ihrer Worte eindeutig Lügen.

„Du wirst dir noch wünschen, das nicht gesagt zu haben. Ich setze zwei Karten verdeckt und gebe ab.“

Vor den Füßen ihres Gegners erschienen zwei gesetzte Karten mit dem Rücken nach oben zeigend.

 

Anya zog mit einem lauten Ausruf und betrachtete ihre Hand. Dort war unter anderem auch die versiegelte [Gem-Knight Fusion]. Zischend richtete sie ihren Blick auf den brünetten, jungen Mann.

Seinen Worten nach zu schließen musste er immer noch das jämmerliche Mülldeck spielen, das er sich irgendwo zusammengeschnorrt hatte, da seine Schwester sein eigentliches Deck besaß. Wenn das so war, würde er vermutlich wieder versuchen, diese absurden Kombos auszuspielen. Kein Monster gerufen zu haben, bedeutete vermutlich nur, dass er etwas in dieser Richtung vor hatte und mit einer Falle ihren Angriff abwehren wollte.

Und wenn es ein Angriff war, den er erwartete, sollte er ihn auch bekommen!

„Ich beschwöre [Gem-Knight Tourmaline]! Direkter Angriff!“

Vor Anya erschien ein Ritter in goldener Rüstung mit einem Turmalin-Edelstein in der Brust, der in seinen Handflächen einen Blitz entstehen ließ und auf Henry abfeuerte.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Henry hob den Arm, um den kanonenartigen Energieschuss abzufangen, doch wurde beim Aufprall geschockt. Da Anya aber keine Anstalten machte, ihre Kräfte einzusetzen – da sie es ohnehin so ohne Weiteres nicht könnte, selbst wenn sie wollte – wurde Henry nicht weiter verletzt.

 

[Anya: 4000LP / Henry: 4000LP → 2400LP]

 

Überrascht stellte Anya fest, dass Henry keine seiner Fallen aktiviert hatte. Aber umso besser für sie. Eine Faust in die Luft schlagend, rief sie stolz: „First Blood!“

Dann nahm sie ebenfalls eine Falle aus ihrem Blatt und setzte sie. „Die hier! Damit beende ich den Zug!“

 

Henry zog schwungvoll und lächelte zufrieden, als er seine neue Karte ansah. „Genau was ich gebraucht habe!“

Dann streckte er seinen Arm aus, mit der er die Karte hielt. „Verdeckte Falle! [Ojama Trio]! Sie erschafft drei Ojama-Spielmarken in Verteidigungsposition, die an dich gehen.“

Jeweils eine grüne, eine schwarze und eine gelbe Koboldgestalt in roten String-Tangas, alle drei nicht größer als eine Hand, tauchten plötzlich um Anyas Kopf auf und grinsten sie an.

 

Ojama-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/1000 (2)]

 

„Du gibst mir noch extra Monster!? Wie dämlich!“

Henry verzog die Augen zu Schlitzen. Dabei dachte er, dass wenn Anya sie nicht haben wollte, er ihr schon helfen würde, sie wieder zu entsorgen.

„Ich beschwöre von meiner Hand [Marauding Captain]! Und der kann ein Monster bis zu Stufe 4 von meiner Hand als Spezialbeschwörung beschwören! Erscheine, [3-Hump Lacooda]!“

Sowohl ein Krieger in eiserner Rüstung mit zwei Schwertern in den Händen, als auch ein erschöpftes Kamel mit dreckigen Bandagen um die Höcker gewickelt materialisierten sich auf Henrys Spielfeldseite. „Und jetzt von meiner Hand der Schnellzauber [Inferno Reckless Summon]! Damit verdreifache ich das eben gerufene [3-Hump Lacooda]! Dafür kannst du ebenfalls eines deiner Monster vervielfachen.“

„Dann rufe ich noch einen [Gem-Knight Tourmaline], aber im Verteidigungsmodus!“

Nachdem alle Monster erschienen waren, kontrollierte Anya die drei Ojamas sowie zwei goldene Ritter des Turmalins, während Henry seinerseits auf drei Kamele und seinen Krieger zurückgreifen konnte.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

Ojama-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/1000 (2)]

 

Marauding Captain [ATK/1200 DEF/400 (3)]

3-Hump Lacooda x3 [ATK/500 DEF/1500 (3)]

 

Er geht wirklich klug vor. Zunächst nimmt er einen direkten Angriff in Kauf, um keines seiner Monster im ersten Zug ausspielen zu müssen, wo er diese Kombo nicht einsetzen konnte. Dann blockiert er deine Monsterzonen mit Spielmarken, damit du das Potential seiner Zauberkarte nicht voll nutzen kannst. Was hat er als Nächstes vor?

 

Anya ihrerseits hatte eine Ahnung.

Aber es kam ganz anders. „Das ist die Zauberkarte, die ich eben gezogen hatte! Sie nennt sich [Flash Of The Forbidden Spell] und kann nur eingesetzt werden, wenn die Monsterzonen meines Gegners alle besetzt sind! Dann zerstört sie alle deine Monster auf einmal!“

„Was zum-!?“

Plötzlich regnete es Blitze auf Anyas Monster, die eines nach dem anderen explodierten.

„Und da jeder zerstörte Ojama dich 300 Lebenspunkte kostet, habe ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, erklärte Henry zufrieden.

 

[Anya: 4000LP → 3100LP / Henry: 2400LP]

 

Nur noch mit einer gesetzten Karte verbleibend, runzelte Anya wütend die Stirn. „Da sieht man es! Hättest du nicht so viel Glück, wäre das Duell damals mein Sieg gewesen, nicht deiner!“

„Ist das deine Ausrede?“, erwiderte Henry unbeirrt. „Glaub, was du glauben willst! Von dir erwarte ich keine Einsicht!“

„Ach ja? Dann greif mich doch an!“

„Worauf du Gift nehmen kannst! Leider besitze ich nur drei Xyz-Monster, von denen zwei nicht mit den Monstern gerufen werden können, die ich besitze. Daher opfere ich zwei [3-Hump Lacooda] durch ihren Effekt, um drei Karten zu ziehen!“ Und kaum hatte Henry sein zuvor leeres Blatt aufgestockt, streckte er den Arm aus. „Die beiden verbleibenden Stufe 3-Monster nutze ich, um das Overlay Network zu erschaffen! Zeig dich, [Grenosaurus]!“

Henrys Monster wurden zu braunen Lichtstrahlen, die in das schwarze Loch gezogen wurden, welches sich inmitten des Spielfelds auftat. Daraus hervor trat ein roter Dinosaurier, der auf zwei Beinen stand und dessen Schopf tatsächlich brannte. Um ihn kreisten zwei Lichtsphären.

 

Grenosaurus [ATK/2000 DEF/1900 {3}]

 

„An den erinnere ich mich noch! Mit dem habe ich letztes Mal kurzen Prozess gemacht und heute wird das nicht anders sein“, kündigte Anya selbstsicher an.

„Nur zu! Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte! Ancient Fire Burst!“

Aus seinen Nüstern schoss das urzeitliche Ungetüm eine Flammenwolke, die direkt auf Anya zusteuerte. Die schwang den Arm aus. „Ach ja? Dann komm ich dir mit der hier zuvor: [Pyroxene Fusion]! Pah! Dachtest du ernsthaft, [Gem-Knight Fusion] wäre meine einzige Möglichkeit, Fusionsbeschwörungen durchzuführen!? Diese Karte tut dasselbe, sie lässt mich Monster von meiner Hand verschmelzen!“

„Nein, genau damit habe ich gerechnet! Und ich bin vorbereitet! Konterfalle [Seven Tools Of The Bandit]! Sie annulliert deine Falle, kostet mich im Gegenzug aber 1000 Lebenspunkte!“

Anyas Falle zersprang mit einem Klicken. Kurz darauf traf sie die Feuerwolke und deckte sie ein, doch unter den Flammen hörte man nur Anyas gehässiges Gelächter.

 

[Anya: 3100LP → 1100LP / Henry: 2400LP → 1400LP]

 

Nachdem der Rauch verschwunden war, verschränkte Anya selbstherrlich die Arme vor die Brust und grinste süffisant. „Genau das ist, womit -ich- gerechnet habe. Schon als du [Prohibition] aktiviert hast, wusste ich, dass ein Teil deiner Strategie darauf abzielt, die guten Karten des Gegners zu blockieren, weil du selber nur Mist besitzt.“

„Und was heißt das?“ Henry runzelte die Stirn. „Deine Fusionsbeschwörungen wurde verhindert!“

„Stimmt … aber wer sagt, dass ich die überhaupt hätte durchführen können?“

„Dein Punkt ist … ?“

Anya klatschte sich eine Hand an die Stirn. „Alter, bist du schwer von Begriff? Ich habe eine Fehlaktivierung ausgelöst, um zu sehen, ob ich recht mit meiner Vermutung habe! Tatsächlich habe ich nur ein Monster auf der Hand, was nicht reicht, um zu fusionieren.“

„Du hast-! Du hast mich gelinkt!?“

Zufrieden nickte Anya. „Endlich hat er's geschnallt. Zu dumm, deine Konterfalle hast du ganz umsonst aktiviert. Oh, und du hast noch Lebenspunkte dafür verloren.“ Den letzten Satz hatte sie besonders betont, um Henry zu zeigen, dass das die Rache für das [Ojama Trio] war.

„Linke Bazille! Wenn du auf so etwas zurückgreifen musst, bist du echt armselig! Und ich dachte, du könntest nicht tiefer sinken! Aber das sind wohl die Mittel, auf die ein Amateur zurückgreifen muss!“

 

Das war ein brillanter Zug, Anya Bauer. Seit wann denkst du so strategisch?

 

Seit sie diesen Knilch nach allen Regeln der Kunst abservieren wollte, dachte Anya, sprach es aber nicht aus. Das war der Unterschied zwischen ihnen beiden. Er hielt sie immer noch für dieselbe Amateurin, gegen die er vor knapp zwei Monaten gespielt hatte. Sie hingegen hatte begriffen, dass keiner ihrer Gegner unterschätzt werden durfte. Und da sie nun wusste, wie er spielte, hatte sie sich darauf einstellen können. Manchmal reichte es nicht aus, sich nur innerhalb der Grenzen von Karteneffekten zu bewegen. Auch Dinge wie Fehlaktivierungen konnten als Strategie eingesetzt werden.

Es war so simpel … aber es fühlte sich gut an. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, manchmal nachzudenken? Nur manchmal!
 

Aufgebracht darüber, dass Anya ihn hereingelegt hatte, nahm Henry zwei Fallen und schob sie in die dazugehörigen Slots seiner Duel Disk. „Mit zwei gesetzten Karten gebe ich an dich ab! Was kommt als Nächstes? Willst du dieses Mal richtig schummeln? Nur zu, mir egal! Ich besiege dich auch so!“

„Als ob ich das nötig hätte!“

„Hast du aber! Abby hat mir viel über deine Duellweise erzählt! Wie oft hast du aus eigener Kraft gewonnen? Gab es nicht immer irgendeinen Umstand, der dir geholfen hat, deine Spiele doch noch zu drehen?“ Henry hatte sich regelrecht in Rage geredet. „Sieh es ein, alleine kriegst du nichts gebacken! Du wirst immer der Gnade deiner Gegner und deines Dämons ausgeliefert sein!“

„Stimmt … meine Quote ist lausig“, gab Anya offen zu. „Aber höre ich da Neid heraus? Schließlich muss man sich Hilfe auch verdienen!“

Henry stampfte mit dem Fuß auf. „Du wagst es von Neid zu reden? Wo du es doch offensichtlich nicht ertragen kannst, dass Abby andere Freunde außer dich hat? Mit deiner Eifersucht hast du kein Recht, so mit mir zu reden!“

„Volltreffer“, streute Anya jedoch nur Salz in die Wunde, „muss kacke sein, wenn man selber keine Freunde hat, weil man als reicher Schnösel nur ausgenutzt wird. Deswegen denkst du wohl, du kannst dich einfach in anderer Leute Freundschaften einmischen, was?“

„Darum geht es dir also? Du denkst, ich will dir Abby wegnehmen? Lächerlich!“ Henry lachte fassungslos auf. „Verwechsel' deine größte Angst nicht mit der Realität! Wenn dir Abby etwas bedeutet, dann behandle sie nicht nur wie ein nützliches, aber im Notfall entbehrliches Anhängsel! Deine Feindseligkeit mir gegenüber basiert auf nichts, du lässt dich von deinen Gefühlen täuschen! Weil du es auch gar nicht ertragen kannst, dass sie dir vielleicht um etwas voraus ist …“

 

Das war es, dachte Anya. Dieser Typ verstand überhaupt nichts!

Nein, wollte sie schon vorher Levriers Fähigkeit der Schicksalsbeeinflussung nicht einsetzen, wollte sie es jetzt erst recht nicht. Aus eigener Kraft würde sie diesem Typen das Maul stopfen, so viel war sicher!

„Draw!“, rief sie und bemühte sich um Fassung. Gar nichts verstand er!

Als sie das Gezogene ansah, wusste sie, dass ihre Entscheidung nicht falsch gewesen war. Sie nahm eine Zauberkarte aus ihrem Blatt hervor und rief: „[Silent Doom]! Damit wird ein normales Monster, wie [Gem-Knight Tourmaline] in Verteidigungsposition von meinem Friedhof beschworen! Außerdem rufe ich [Gem-Knight Garnet] als Normalbeschwörung!“

Vor Anya tauchten der goldene Ritter sowie ein Krieger in bronzener Rüstung auf. Letzter entfachte eine Flamme in seinen Händen, wobei der Granat in seiner Brust grell schimmerte.
 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Und jetzt beginnt der Spaß! Ich erschaffe das Overlay Network und überlagere meine beiden Stufe 4-Monster! Xyz-Summon!“

Wieder öffnete sich inmitten des Klassenzimmers der klaffende, schwarze Wirbel, in den die braunen Lebensessenzen von Anyas Monstern gezogen wurden.

„Hier kommt es“, murmelte Henry, „[Gem-Knight Pearl], dein Paktmonster!“

„... Fehlanzeige! Hier kommt meine wahre Perle und neue, alte Geheimwaffe, um überheblichen Pennerkindern eine Lektion zu erteilen! Erscheine, [Kachi Kochi Dragon]!“

Ja, dachte Anya zufrieden, damit hatte er sicher nicht gerechnet. Als sie damals ihr Deck umstellen wollte, hatte sie diesen alten Bekannten wiederentdeckt. Levrier hatte ihn letztlich in das von ihm erstellte Deck übernommen und Anya wusste nun zu schätzen, was ihr Dämon für sie getan hatte. Denn jetzt konnte sie ordentlich austeilen!

Aus dem Boden brach unter lautem Getöse ein Drache, dessen gesamter Körper von einer schützenden Kristallschicht überzogen war. Auf allen Vieren stand er, streckte seine mächtigen Schwingen aus und brüllte stolz, als um ihn zwei Lichtsphären zu kreisen begannen.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4}]

 

„Damit hast du nicht gerechnet, was!?“, flötete Anya. „Erinnerst du dich an damals, als du mit deinem [Black Ray Lancer] Pearls Effekt negieren wolltest, obwohl er keinen hatte? Du wirst dir noch wünschen, dass du das jetzt könntest! [Kachi Kochi Dragon], greif ihn an! Primo Sciopero!“

Der Drache flog pfeilschnell auf Henrys Dinosaurier zu und zerteilte ihn mit einem Klauenschlag wie ein Messer die Butter. Die Explosion ließ Henry aufschrecken.

 

[Anya: 1100LP / Henry: 1400LP → 1300LP]

 

„Mit Pearl hättest du mehr Schaden angerichtet“, sagte er, hatte aber das ungute Gefühl, dass ihm noch etwas bevorstand.

Und er sollte Recht behalten. „Irrtum, [Kachi Kochi Dragon] hat einen Effekt, von dem Pearl nur träumen kann! Wenn er ein Monster zerstört hat, kann er für ein Xyz-Material einmal pro Zug direkt nochmal angreifen! Also los!“ Anyas Monster fraß eine der Lichtkugeln um es herum und brüllte. „Secondo Sciopero! Beende es!“

„Niemals! Falle! [Damage Diet]! Sie halbiert den Schaden, den ich für diesen Zug erleide!“

Die Falle sprang vor ihrem Besitzer auf und stellte sich wie eine Mauer schützend vor ihn. Dennoch traf der Schlag des Drachens, als jener Henry angriff. Nämlich genau in die Brust und ließ ihn zurückweichen, da die Pranke einfach durch die Karte hindurch geglitten war.

„Verdammter Kackmist“, fluchte Anya enttäuscht. Um eine Haaresbreite war sie am Sieg vorbei geschlittert!

 

[Anya: 1100LP / Henry: 1300LP → 250LP]

 

Aber sie war noch längst nicht am Ende ihrer Kräfte. Sie sah ihre Hand an, welche aus zwei Fallen und [Gem-Knight Fusion] bestand.

„Ich setze drei Karten verdeckt. Du bist dran, Schnöselkind!“

Völlig gleich, ob er ein Penner oder Multimilliardär war, dieser Typ hatte sie mit seinen Worten beleidigt. Dafür würde er bluten müssen! Und dafür, dass er einen Keil zwischen sie und Abby geschlagen hatte. Dafür … erst recht!
 

Kaum hatte Anya das gesagt, riss Henry förmlich die nächste Karte von seiner Hand. Er wusste, dass jetzt etwas Gutes kommen musste, wenn er dieses Spiel noch für sich entscheiden wollte. Ohne Isfanels Kräfte konnte er dies jedoch nicht beeinflussen. Was er aber ohnehin nicht wollte, denn um diesem egoistischen Mädchen eine Lektion zu erteilen, durfte er sich nicht auf ihr Niveau herablassen.

„Das ist es“, sprach er leise, als er seine gezogene Zauberkarte betrachtete. „Ich aktiviere den Ausrüstungszauber [Symbol Of Heritage]! Wenn drei Monster desselben Namens auf meinem Friedhof liegen, kann ich eines davon reanimieren und mit dieser Karte ausrüsten! Also erscheine, [3-Hump Lacooda]!“

Eines von Henrys Kamelen tauchte wieder vor ihm auf. Um den Hals hatte es eine Kette mit einem Amulett hängen, in das ein gelber, ein roter und ein blauer Edelstein eingesetzt waren.

 

3-Hump Lacooda [ATK/500 DEF/1500 (3)]

 

„Und jetzt als Normalbeschwörung: [Grass Phantom]!“

Henry knallte förmlich seine letzte Karte auf die Duel Disk, woraufhin vor ihm eine grüne Kohlrübe auftauchte, aus deren Mund rosafarbene Tentakel lugten.

 

Grass Phantom [ATK/1000 DEF/1000 (3)]

 

„Ich habe noch einen Trumpf!“, rief Henry und schwang den Arm aus. „Ich erschaffe das Overlay Network!“ Seine beiden Monster wurden zu brauner und blauer Energie, die von dem sich öffnenden schwarzen Loch absorbiert wurde. „Land und Meer, Erde und Wasser, werdet eins! Steh mir bei, [Circulating Flow – The Gaia Cleaver]!“

Aus dem schwarzen Wirbel erhob sich eine eindrucksvolle Gestalt. Zwar hatte der Riese einen menschlichen Körperbau, doch bestand sein Körper aus purem, hellbraunem Gestein. Wie Venen flossen kleine Flüsse an seinen Armen und Beinen und in einer seiner Hände hielt der Gigant, der mit dem Kopf an die Decke des Klassenzimmers stieß, eine riesige Axt. Zwei Lichtsphären kreisten um ihn.

„Fett“, staunte selbst Anya beim Anblick dieses Monsters. Oder eher seiner Angriffspunkte.

 

Circulating Flow – The Gaia Cleaver [ATK/3500 → 2000 DEF/2000 {3}]

 

„Huh!?“ Plötzlich gingen von den beiden Sphären Blitze aus. Der Riese schrie auf und rollte sich zusammen. Binnen eines Herzschlags hatte er eine kugelrunde Form angenommen, sah aus wie ein Planet. Beinahe wie die Erde!

Anya blinzelte verdutzt. „Wieso hat das Teil Angriffspunkte verloren!?“

„Der Gaia Cleaver wird von seinem Xyz-Material versiegelt, wodurch seine Angriffskraft um deren Stärke sinkt.“

 

Verstehe. Da seine Materialien zusammen 1500 Angriffspunkte besitzen, hat dieses Wesen genauso viele Punkte verloren. Anya Bauer, das bedeutet aber auch, dass er nur seinen Effekt einsetzen und die Materialien wieder abkoppeln muss, um wieder stärker zu werden.

 

„So weit war ich auch schon“, zischte Anya leise.

Unruhig starrte sie auf die mittlere ihrer drei gesetzten Karten.

„Effekt des Gaia Cleavers aktivieren!“, rief Henry und zog das [Grass Phantom] unter seinem Xyz-Monster hervor. „Wenn du mindestens vier Karten kontrollierst, kann ich pro Zug eine davon zerstören!“

Plötzlich brach die Erdkugel, als eines der Xyz-Materialien in ihr verschwand, auf und verformte sich wieder zu dem Axt schwingenden Gesteinsriesen.

 

Circulating Flow – The Gaia Cleaver [ATK/2000 → 3000 DEF/2000 {3}]

 

Anya schnaufte nur. Nichts, womit sie nicht gerechnet hatte. Wieder fiel ihr Blick unauffällig auf die mittlere gesetzte Karte. Dann sah sie abwartend zu Henry auf.

„Ein Monster und drei gesetzte Fallen. Wenn ich [Kachi Kochi Dragon] vernichte, würde ein direkter Treffer reichen, um zu gewinnen“, meinte Henry, „aber täte ich das, würde ich Gefahr laufen, das Opfer einer deiner Fallen zu werden. Den Drachen kann ich auch so beseitigen, auch wenn ich dann noch eine Runde warten muss, ehe ich dich besiegt habe. Aber anders als du überstürze ich nichts!“

„Was ist also deine Lösung, Einstein?“, fragte Anya herausfordernd.

„Die Karte zu zerstören, die du die ganze Zeit anstarrst! Die in der Mitte!“

„Oh shit!“, stieß Anya erschrocken hervor.

Der Riese warf seine Axt nach Anyas gesetzter Karte, welche durch einen geraden Schnitt in zwei Teile geteilt wurde und explodierte. Das Mädchen nahm sie daraufhin aus ihrer Duel Disk und grinste hämisch. Dabei nahm sie einen gespielten, weinerlichen Tonfall an. „Was soll ich denn jetzt ohne meine [Gem-Knight Fusion] machen!?“

„Noch ein Bluff!?“

„... bingo! Damit hast du nicht gerechnet, was? Meine Karten nützen mir selbst dann noch, wenn ich sie gar nicht aktivieren kann!“

Henry starrte das Mädchen ungläubig an. „Wieder so ein Trick? Du kannst wohl nicht anders … aber deinen [Kachi Kochi Dragon] wird das auch nicht retten! Gaia Cleaver, greife ihr Monster an! Earth Glaive!“

Der Riese musste nur einmal mit dem Fuß aufstampfen, um mehrere Felsspitzen aus dem Boden schießen zu lassen, die alle zusammen Anyas Drachen aufspießten. Brüllend explodierte das Monster, wobei dessen Besitzerin genervt aufschrie.

 

[Anya: 1100LP → 200LP / Henry: 250LP]

 

„Zug beendet“, sprach Henry trotz allem halbwegs zufrieden, „nun sind wir wieder fast gleichauf. Wenn nicht ausgerechnet du meine Gegnerin wärst, würde das sogar Spaß machen …“

„Tch! Denk nicht, dass ich so leicht aufgebe!“

Nebenbei nahm der Riese wieder seine Planetenform an.

Die Arme verschränkend, schüttelte Henry den Kopf. „Tu ich nicht. Aber du solltest wissen, dass der Gaia Cleaver nicht von Monstereffekten zerstört werden kann, solange er Xyz-Material besitzt. Also versuch es gar nicht erst. Und denk gar nicht erst an einen Angriff, denn Gaia Cleaver kann bis zu 5000 Angriffspunkte einmalig abwehren. Sieh es ein, einen ganzen Planten kannst du nicht besiegen!“

„Was!? … pff, was auch immer.“

 

Damit war ihr Plan, das Ding sowohl mit [Gem-Knight Prismaura], als auch [Gem-Knight Ruby] zu zerstören gerade gestorben, dachte Anya genervt. Ihre einzigen Möglichkeiten, an dieses Ding heran zu kommen!

Jetzt musste sie wirklich etwas Gutes ziehen, wenn sie noch eine Chance haben wollte. Außer den zwei Fallen besaß sie keine Karten mehr.

Sie griff unschlüssig nach ihrem Deck.

 

Brauchst du meine Hilfe?

 

„... Hell no! Das werde ich alleine regeln! Draw!“

Nein, wenn sie dem Kerl beweisen wollte, dass sie auch ohne Hilfe gewinnen konnte, musste sie auf Levriers Fähigkeiten verzichten!

„Nur ein Monster, mehr brauch ich nicht“, murmelte Anya leise und drehte die Karte langsam in ihrer Hand um. Nur um dann die Augen zu schließen. Und in die Luft zu springen. „Hell yeah!“

Dann widmete sie sich wieder ihrem Gegner. „Sorry Kumpel, sieht nicht so aus, als ob du hier noch mal Land gewinnst! Ich beschwöre von meiner Hand [Gem-Knight Sapphire]! Zusätzlich reanimiere ich durch meine Falle [Birthright] ein normales Monster von meinem Friedhof, nämlich [Gem-Knight Tourmaline]! Erscheint!“

Und das taten sie. Sowohl ein Ritter in blauer Rüstung samt darin eingebettetem Saphir, der einen Schwall aus gefrorenem Wasser erzeugte, als auch der Krieger des Turmalins in goldener Rüstung. Letzterer war aus einem Loch im Boden aufgetaucht, nachdem Anyas Falle aufgeklappt war.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Es bedarf keiner Worte um zu wissen, was Anya vorhatte. Das Overlay Network öffnete sich abermals und absorbierte die Lebensessenzen ihrer Krieger. Kämpferisch rief Anya: „Erscheine, [Gem-Knight Pearl]!“

Aus dem schwarzen Wirbel trat ihr weißer Ritter hervor, dessen Waffen – seine sieben rosafarbenen Riesenperlen – ihm wie ein Rattenschwanz folgten, als er knapp bis an die Decke des Klassenzimmers stieg.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Das ist nicht einmal annähernd genug, um Gaia Cleaver gefährlich zu werden!“, protestierte Henry. „Mit deinem effektlosen Paktmonster erreichst du gar nichts!“

„Sagt wer?“ Anya hatte genug von diesem arroganten Mistkerl. Der würde jetzt sein blaues Wunder erleben! „Wenn du dachtest, ich würde nur einen Weg kennen, um ohne [Gem-Knight Fusion] zu fusionieren, hast du dich aber so was von geschnitten! Sieh her, meine letzte Fallenkarte! [Fragment Fusion]!“

Anyas Falle sprang auf und zeigte den weißen Ritter [Gem-Knight Crystal] in unendliche Leere fallend, wobei ein Wirbel aus Edelsteinen ihm folgte.

„Hiermit kann ich von meinem Friedhof Monster verschmelzen, indem ich sie aus dem Spiel verbanne!“, erklärte Anya hitzig, griff nach ihrer Duel Disk und zog zwei Karten aus ihrem Friedhof, die sie in ihre Hosentasche steckte. „Der einzige Nachteil ist, dass das beschworene Monster am Ende des Zuges das Zeitliche segnet! Aber mehr brauche ich auch nicht! Mach dich bereit, ich entferne Garnet und den zweiten Tourmaline von meinem Friedhof! Garnet, du bist das Herz, Tourmaline, du die Rüstung! Vereint euch!“

Plötzlich tauchten überall im Raum die verschiedensten Edelsteine auf. Weiße Energielinien bildeten sich überall zwischen ihnen und boten eine spektakuläre Show. Doch vor Anya geschah etwas Besonderes, denn dort wurde ein regelrechtes Netz gebildet. Fast wie ein Loch mutete es an und das war es auch, als mit einem Mal ein Krieger in roter Rüstung daraus vor dem Mädchen auftauchte.

„Endlich bist du hier, [Gem-Knight Ruby]!“

Mit wehendem, blauen Umhang und Lanze in der Hand, stand der Rubinritter direkt unter Pearl.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Und jetzt sieh zu und lerne! Ich opfere durch Rubys Effekt meinen Pearl, um Rubys Angriffspunkte um die von Pearl zu erhöhen! Zu mehr ist das nutzlose Ding eh nicht gut!“

Henry schreckte zurück. „Im Ernst!?“

„Aber so was von!“

Anyas Xyz-Monster löste sich in weißem Licht auf, welches von Rubys Lanze absorbiert wurde. Schließlich erglühte um den Ritter eine rosafarbene Aura.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 5100 DEF/1300 (6)]

 

Fassungslos starrte Henry den gestärkten Ritter an. „Das ist nicht wahr …“

„Tja, so ein Pech, was!? Dein dämliches Monster kann nur Angriffe blocken, die mit maximal 5000 Angriffspunkten ausgeführt werden! Sieht wohl so aus, als ob mein Ruby jetzt stark genug ist, um einen ganzen Planeten zu vernichten!“

Anya streckte zufrieden den Arm aus. Plötzlich wurde ihre Stimme ernst. „Du irrst dich. Abby ist für mich kein Anhängsel, sie ist die Einzige, die sich vorstellen kann, wie ich mich fühle! Und ja, verdammter Kackmist, ich bin eifersüchtig! Wie würdest du dich fühlen, wenn die einzige Person, der du vertraust, dir lauter Dinge verheimlicht!? Also hör gefälligst auf, dir einzubilden zu wissen, was andere Menschen fühlen! Kein Mensch kann jemals wissen, was der andere fühlt!“

Sie atmete ein letztes Mal tief durch, ehe sie befahl: „Los Ruby, Attacke! Sparkling Lance Thrust!“

„Pah … ist das ein schlechtes Omen oder was? Du und einen Planeten zerstören?“, fragte Henry plötzlich, als Anyas Monster auf den Gaia Cleaver zuraste und überging dabei bewusst ihren Appell. „Das lasse ich nicht zu! Von dir lasse ich mich nicht besiegen, niemals! Falle aktivieren!“

Erschrocken zuckte Anya zusammen. „Was!? Die habe ich total vergessen!“

 

Henry war erstaunt, gleichwohl aber auch rasend vor Wut. Dass dieses Mädchen es so weit gebracht hatte kam für ihn völlig überraschend. Vielleicht war sie wirklich nicht so dumm, wie er angenommen hatte? Aber selbst wenn das stimmte, änderte das nichts an ihrem Charakter. Allein ihn damit zu erpressen, Melinda etwas anzutun, war etwas, das er ihr niemals vergeben würde. Nein, sie würde seine Hilfe nicht erhalten, solange sie sich nicht grundlegend änderte!

Zwar hatte er ursprünglich geplant, sie mit seiner letzten Fallenkarte unter Hilfe der [Damage Diet] auf seinem Friedhof zu besiegen, doch es war letztlich anders gekommen. Aber zumindest eins konnte er noch tun. „Ich aktiviere [Destruction Ring]! Jener vernichtet eines meiner Monster, um uns beiden 1000 Punkte Schaden zuzufügen!“

Anyas Gesichtszüge entglitten ihr regelrecht, als sie das hörte. Geschieht dir recht, dachte Henry sich dabei schadenfroh.

 

Noch bevor Ruby mit seiner Lanze den Planeten berührt hatte, explodierte dieser unter lautem Getöse von selbst und schleuderte den Krieger weit zurück.

Anya wurde geblendet von dem grellen Licht und konnte nicht begreifen, was soeben geschehen war. Dieser Typ, er-

 

[Anya: 200LP → 0LP / Henry: 250LP → 0LP]

 

… hatte aus Verzweiflung tatsächlich ein Unentschieden provoziert.

Die Hologramme verschwanden, sodass die beiden sich schließlich im Klassenraum gegenüber standen und in gebeugter, von der Anspannung hervorgerufener Haltung hasserfüllt anstarrten.

„Das hast du wirklich gut gemacht!“, fauchte Anya garstig mit Schweiß auf der Stirn. Sie war so kurz davor gewesen, zu erfahren, wie sie den Pakt loswerden konnte. So nah dran!

 

Du hast gut gekämpft, Anya Bauer. Und damit meine Erwartungen an dich zum ersten Mal bei weitem übertroffen. Du warst deinem Gegner wahrlich ebenbürtig.

 

„Spar dir das, Levrier, ich habe nicht gewonnen!“, donnerte Anya aufgewühlt.

Hätte sie doch nur bessere Karten gehabt, dachte sie dabei frustriert. Dann hätte sie ihn vielleicht besiegen können! Nur daran hatte es gelegen, ihr Spiel war besser denn je gewesen!

Plötzlich stand Henry vor ihr und reichte ihr die Hand.

„Gutes Spiel“, sagte er dabei steif.

Allerdings wurde er dafür nur angeherrscht. „Was soll das jetzt!?“

„So zollt man dem anderen Respekt. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob du den verdient hast.“

Wütend schlug Anya seine Hand beiseite, wie schon beim letzten Mal, als sie sich duelliert hatten. „Deinen Respekt brauche ich aber nicht, Milchbubi!“

Die Hand sinken lassend, schüttelte Henry den Kopf. „Wie ich mir dachte, du hast tatsächlich nichts dazugelernt. Du bist vielleicht besser geworden, aber an deiner Einstellung hat sich nichts geändert.“

„Das ist nicht wahr.“

 

Die beiden drehten sich überrascht um, als Abby im Türrahmen stand.

„Anya hat zum ersten Mal zugeben, dass sie verletzlich ist.“ Das Mädchen schritt auf die beiden zu und lächelte, wischte sich dabei mit einem Taschentuch eine Träne unter der Brille weg. „Ich hab die ganze Zeit alles mit angehört. Und ich finde es toll, dass du dir so viel Mühe gegeben hast, ohne dich von Levriers Fähigkeit abhängig zu machen, Anya.“

„Du bist nicht mehr wütend?“, fragte Anya skeptisch, als Abby vor ihr stand und lächelte.

Jene schüttelte den Kopf. „Nein. Weil du recht hattest. Ich hätte dir diese Dinge nicht verschweigen dürfen. Und auch nicht hinter deinem Rücken mit Henry nach seiner Schwester suchen, obwohl du meine Hilfe genauso nötig brauchst.“

„Ich erinnere euch beide an unseren Deal“, mischte sich der brünette Kerl daraufhin ein. „Da Anya weder verloren, noch gewonnen hat, ändert sich nichts. Wenn ich Melinda gefunden habe, sage ich euch, wie ihr den Pakt brechen könnt. Eher nicht.“

Abby sah den jungen Mann daraufhin mit einem bedauernden Gesichtsausdruck an. „Tut mir leid, Henry, aber wir wissen bereits um diese Möglichkeit.“

„Was!?“, schoss es sowohl aus Anyas, als auch aus Henrys Mund.

Nickend deutete Abby auf den Spross der Ford-Familie. „Deine Geschichte hat bestätigt, was Nick von Isfanel erfahren hat, als sie sich duelliert haben. Da Isfanel dein Paktdämon war. Er hatte gesagt, dass man den Tod überleben müsste. Und das hast du getan, nicht wahr?“

Henry rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Schätze die Katze ist damit aus dem Sack, was?“

„Stimmt das?“, fragte Anya, die sich nicht sicher war, ob sie überhaupt verstand, was da gerade abging. „Du bist 'ne Leiche?“

„Nein!“, widersprach Henry. „Aber es ist wahr, dass ich an der Schwelle des Todes stand. Es ist ...“
 

„Du kannst uns die Geschichte später erzählen“, unterbrach Abby ihn freundlich und richtete sich an Anya. „Aber vorher muss ich dir etwas zeigen. Erst dachte ich, es wäre keine gute Idee, bloß hast du schließlich ein Recht darauf, es zu sehen. Keine Geheimnisse mehr zwischen uns, nicht wahr?“

Neugierig kratzte sich Anya am Kopf. Damit war die Sache wohl ein für alle Mal erledigt – endlich! Brummig fragte sie: „Wenn du meinst? Um was geht es denn?“

„Valerie ist zurück“, antwortete Abby geheimnisvoll. „Und … du wirst es sehen, wenn du mitkommst.“

„Redfield? Pff, was interessiert mich Daddys kleine Prinzessin?“

„Sie wartet auf uns bei sich zuhause. Komm einfach mit, okay?“

Henry zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, das geht mich nichts an. Ich verschwinde und suche weiter nach Melinda. Abby, wirst du mir trotzdem helfen?“

Das Mädchen nickte freundlich, aber zurückhaltend lächelnd. „Natürlich. Aber Anya ist auch meine Freundin.“

„Ich weiß. Wenn ich irgendetwas Interessantes erfahre, was Eden betrifft, teile ich es euch mit. Aber erwarte nicht, dass ich warm mit ihr werde.“

Anya stemmte wütend die Hände in die Hüften. „Gleichfalls! Und hey, was ist jetzt mit deinem kleinen Geheimnis?“

„Abby wird es dir erklären, da sie wahrscheinlich ohnehin schon alles durchschaut hat. Mehr müsst ihr auch nicht wissen, das ist Privatsache. Also dann, tschüss ihr beiden.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und hob die Hand zum Abschiedsgruß, während er das Klassenzimmer verließ.

Als er weg war, seufzte Abby nachdenklich. „Ich ahne, was vorgefallen ist. Kein Wunder, dass er so plötzlich weg wollte. Darüber spricht man bestimmt nicht gern.“

Anya, die keine Ahnung hatte, wovon ihre Freundin da sprach, zuckte mit den Schultern. „Mir egal, der Typ geht mir auf die Eierstöcke.“

„Er ist kein schlechter Kerl, er macht sich nur Sorgen um seine Schwester.“

„Was auch immer. Was ist jetzt mit Redfield?“

„Ja … lass uns gehen.“

 

~-~-~

 

„... und was macht eigentlich Nick?“, fragte Anya, während sie zusammen die letzten Meter Richtung der Villa der Redfields nahmen.

„Keine Ahnung, er hat mir zwar zusammen mit Henry und Valerie erzählt, was vorgefallen ist, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht versteckt er sich, weil er Angst hat? Du weißt ja wie Nick ist.“

„Wenn ja, werde ich ihn schon aus seinem Loch holen“, schnaubte Anya.

Wenn sie eines hasste, dann waren es Schisser. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Aber dass er sogar das Duell gewonnen hatte? Das zu glauben fiel ihr wirklich schwer. Nick doch nicht!

 

„Jedes Mal, wenn ich dieses Teil sehe, kommt die Pyromanin in mir hoch“, giftete Anya schließlich, als sie vor dem Grundstück der Redfields standen.

Es war sehr farbenfroh gehalten. Überall wuchsen Rosenstöcke und andere Blumen, eine Hecke trennte an beiden Seiten das Grundstück von den Nachbarn. Das dreistöckige Gebäude hingegen war komplett weiß und ähnelte in seiner Form ein wenig jenem berühmten Haus, in dem sich die Präsidenten den Hintern wund saßen.

Anya hasste es.

Am Tor angelangt, betätigte Abby die Klingel. Kurz darauf meldete sich eine weibliche Stimme über Lautsprecher. „Ja bitte?“

„Hi Val-“

„Redfield? Ich hab gehört, du wolltest mich sehen?“, raunte Anya da schon in den Sprecher.

„Anya? Du bist gekommen? Gut. Kommt rein“, antwortete Valeries Stimme tonlos und ein anschließendes Knacken deutete an, dass sie bereits aufgelegt hatte.

Die Torflügel schwangen daraufhin auf, sodass die Mädchen über einen kleinen Kiesweg hin zur Haustür gelangten. Jene öffnete sich, noch bevor sie angekommen waren. Valerie schien sie wirklich zu erwarten, trat sie schließlich nach draußen und kam ihnen eilig entgegen.
 

„Ich glaub, ich muss kotzen“, war Anyas erster Kommentar, als sie ihre geschworene Erzfeindin erblickte. „Was ist das da auf deinem Kopf, Redfield? Ein Propeller?“

Damit meinte sie die rosafarbene Schleife, welche das lange, schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband.

Tadelnd zischte Abby: „Anya! Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für so etwas!“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, entgegnete Valerie der Blondine kalt. „Kommt bitte mit.“

Und so folgten sie dem Mädchen in die Villa. Anya hatte ihre lieben Mühen, nicht eine der vielen Antiquitäten, die Valeries Vater sammelte, unauffällig zu demolieren. Das ganze Haus sah von innen viel älter aus, als von außen. Alles war mit Holz ausgearbeitet, wirkte alt und viel eher wie eine überdimensional große Winterhütte, denn wie die Villa eines Bürgermeisters. Zumindest war das Anyas Meinung.

„In die Küche“, sagte Valerie stocksteif und führte sie in ebenjene.
 

Und als Anya sie betrat, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Dort, auf dem Tisch sitzend …

„Was zur Hölle ist das denn!?“

„Oh, er hat wohl wieder Hunger. Zu dumm, bei Nick wird der Kühlschrank immer abgeschlossen, deswegen kommt er immer wieder hierher zurück.“

Anya wusste nicht, was das Ding dort war, das auf dem Esstisch der Familie Redfield saß und sich ein ganzes Tortenstück auf einmal in den Mund schob. Je länger sie es jedoch betrachtete, desto weniger wollte sie es wissen.

„Darf ich vorstellen? Das ist Orion“, kicherte Abby.

Der schwarze Schattengeist drehte sich zu den drei Mädchen um und starrte die Blondine mit seinen Kulleraugen an. Kurz musterte er ihre Statur, ehe er flötete: „Heiliger Mambajamba, ich glaub ich bin verliebt.“

Mit vorgehaltener Hand flüsterte Abby amüsiert zu Anya: „Das sagt er zu allen weiblichen Wesen.“

Orion hüpfte vom Tisch und lief auf Anya zu, was sich allerdings als fataler Fehler herausstellte, als diese ihn mit einem gezielten Kick gegen den Kühlschrank schleuderte. „Komm mir nicht zu nahe, du hässliches Ding!“

Von der Kühlschranktür herabrutschend, krächzte Orion. „Oh, eine Tsundere. Die liebe ich ganz besonders … aber diese hier ist irgendwie nur Tsun, kein bisschen Dere … Aua …“

„Redfield, was ist das für ein Ding!? Und was sucht es ausgerechnet bei dir!?“

„Joan hat mich zu ihm geführt. Er soll mich bewachen, wenn sie nicht da ist. Er ist ein Schattengeist, aber im Grunde ein guter Kerl … Hey! Nein Orion, wir machen unser Geschäft nicht in der Küche!“

Staunend sah Anya mit an, wie dieses Ding doch tatsächlich ein Häufchen auf Valeries teurem Parkettboden legte. Was ihm gleich die ersten Sympathiepunkte einbrachte.

„Ich kacke dahin, wo's mir passt! Ich bin doch keine Katze, die-“

Doch schon war Valerie auf ihn zugestürmt und hatte ihn gepackt. „Du gehst jetzt schön auf dein Töpfchen!“

Mit dem laut protestierenden Orion verließ sie kurzerhand die Küche. Genervt murmelte sie im Vorbeigehen an die anderen beiden gewandt: „Bin gleich wieder da.“

 

Und kaum war Valerie um die Ecke verschwunden, wandte sich Anya enttäuscht an ihre Freundin. „Und deswegen hast du mich hierher gebracht?“

„Auch, aber-“

„Hi Anya, hi Abby.“

Anya drehte sich um. Und dieses Mal schien es, als würde ihr Herzschlag einen Moment aussetzen.

Sie spürte, wie die Hitze in ihr aufstieg, war jedoch unfähig, etwas zu sagen, geschweige denn auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Das konnte nicht sein. Er war …

„Hi Marc“, grüßte Abby den großen, kräftigen Footballspieler zurückhaltend.

„Na, hast du Orion schon gesehen?“, fragte Marc Anya amüsiert, die es gerade noch so fertig brachte, zu nicken. „Ist schon ein komisches Kerlchen. Aber irgendwie lustig. Sein Stoffwechsel gibt mir aber zu denken.“

Einen Moment starrte der junge Mann irritiert das leere Kuchenblech auf dem Esstisch an. „Hat er den ganzen Kuchen gefuttert, den Valerie gebacken hat?“

„Ja, sieht so aus“, antwortete Abby ihm weiterhin schüchtern, dabei besorgt auf Anya schielend, die sich keinen Millimeter rührte.
 

„Lass mich endlich runter“, kreischte jemand hinter Marc im Türrahmen.

Valerie gesellte sich mit schockiertem Gesichtsausdruck zu ihm und ließ dabei glatt Orion fallen. Es war offensichtlich, dass sie nicht geplant hatte, dass Anya und Marc sich so begegneten. Wie in Trance sagte sie: „Anya, kann ich kurz mit dir unter vier Augen reden?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, packte Valerie die Blondine am Handgelenk und zerrte sie davon. Anya ließ es sich kommentarlos gefallen.

„Was ist denn mit denen los?“, wunderte sich Marc unbekümmert. „Hat das etwas mit Orion zu tun?“

„Nein“, antwortete Abby ihm betrübt. „Eher mit dir.“

Marc schob den Ärmel seines Pullovers beiseite. Zum Vorschein kam sein verblasstes Paktmal, das Langschwert, das eins mit einer Flamme wurde. „Also hiermit …“

„Unter anderem“, gab sich Abby weiterhin knapp.

Tatsächlich machte sie sich große Sorgen, um das, was Anya jetzt bevorstand. Die glaubte schließlich, Marc getötet zu haben. Dass er nun wieder zurück war …

Und nicht zuletzt hatten Valerie und sie seit damals nicht mehr miteinander gesprochen. Aber die Anspannung der Schwarzhaarigen hatte sie, seit sie zurück war, die ganze Zeit über gespürt und nun befürchtete Abby, dass jene Anspannung sich gegen Anya entladen würde.

„Hoffentlich geht das gut“, murmelte sie nachdenklich.

 

~-~-~

 

Kaum hatte Valerie die Tür ihres Zimmers geschlossen, rammte sie Anya mit voller Wucht gegen ebendiese.

„Damit eins klar ist: was du jetzt erfährst, wirst du niemandem erzählen! Nicht Abby, nicht Nick, nicht einmal Marc! Absolut niemandem, verstanden!?“

Anya, die zu verwirrt war, um zu protestieren, nickte.

„Gut!“ Valerie ließ jedoch nicht ab von Anya, presste sie eher noch härter gegen die Tür. „Marc lebt, du hast richtig gesehen! Ich habe ihn zurückgeholt!“

„Wie … wie hast du das angestellt!? Ich … dachte er sei …?“

„Ich habe sozusagen meine Seele dem Teufel verkauft, um ihm sein Leben zurückzugeben.“ Ihre Stimme wurde leise, fast kaum mehr hörbar. „Merk dir das hier gut: Marc erinnert sich nicht an die Dinge, die an jenem Tag geschehen sind, als du ihn kaltblütig getötet hast! Alle denken, er hätte deinen Angriff, beziehungsweise den Brand überlebt! Das bleibt auch so, verstanden!?“

 

Anyas Herz trommelte in ihrer Brust wie niemals zuvor. All die Erinnerungen, die sie verdrängen wollte, kamen zurück. Marc, der sie töten wollte, um Valerie davor zu bewahren, ein Opfer Edens zu werden. Marc, der es am Ende nicht geschafft hatte, das auch durchzuziehen. Marc, der lieber selbst sterben wollte, als sie umzubringen und sie provoziert hat, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.

Wieso lebte er wieder? Was hatte Valerie da bloß getan?

 

Jene redete ungehalten weiter: „Marc weiß nicht, dass er tatsächlich versucht hat, dich umzubringen. Für ihn ist jener Tag so verlaufen, als hätte Isfanel ihn verlassen, weil er nutzlos geworden ist. Diese Erinnerungen habe ich ihm einpflanzen lassen, damit er nicht an seinen alten Erinnerungen zerbricht. Er weiß aber sehr wohl, dass er darüber nachgedacht hat, dich zu töten. Deswegen …“

„W-“

„Komm ihm nicht zu nahe, klar!? Du hast ihn mir schon einmal genommen! Ich habe alles von Marc erfahren: von Eden und den Opfern, die erbracht werden müssen! Ich weiß, ich bin eines davon und nur deshalb werde ich dir helfen, diesen Terror zu beenden. Aber lass-ihn-in-Ruhe!“ Valeries Finger bohrten sich tief in Anyas Oberarme. „Sonst wirst du deines Lebens nicht mehr froh werden.“

Anya sagte nichts. Deshalb schüttelte Valerie sie heftig. „Hast du verstanden!?“

„Ja!“

 

Tief durchatmend ließ Valerie schließlich von Anya ab, fand ihre Fassung wieder. „Gut … ich habe einen großen Preis gezahlt, damit Marc wieder lebt. Mach das nicht kaputt!“

Wie denn, dachte Anya aufgewühlt. Sie verstand nichts von all dem, was heute geschehen war. Es war einfach zu viel!

„Orion ist auch nicht Joans Bote, sondern eine Art Wächter, der den von mir gezahlten Preis einfordert, wenn die Zeit gekommen ist“, erklärte Valerie weiter. „Aber all das bleibt unter uns!“

„Warum erzählst du mir das überhaupt!?“

„Damit du dir deiner Verantwortung bewusst bist! Nicht nur Marc hat eine neue Chance bekommen, sondern auch du! Was du getan hast, werde ich dir niemals vergeben! Aber zumindest hast du jetzt die Chance, dir selbst zu vergeben!“

„Aber-“

„Geh jetzt, Anya! Melde dich nur bei mir, wenn es wirklich wichtig ist! Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen!“

Wortlos kam die Blondine der Aufforderung nach und verließ Valeries Zimmer. Unwissend, was sie jetzt tun sollte. Marc war zurück … und mit ihm all die Probleme, denen sie zuvor aus dem Weg gegangen war.

 

 

Turn 22 – What I Didn't Dream About Jeannie

Zwei Tage sind vergangen, seit Anya die Wahrheit über Valeries Verschwinden erfahren hat. Unverhofft meldet sich Matt bei ihr und scheint einen Weg gefunden zu haben, wie sie den Pakt mit Levrier brechen kann. Durch einen Jinn, demselben Fabelwesen, welches angeblich jedem, der seine Lampe besitzt, drei Wünsche gewährt. Anya, die zunächst skeptisch ist, begleitet Matt auf den Weg zum Aufenthaltsort der Lampe. Doch die Dinge geraten völlig aus dem Ruder, als …

Turn 22 - What I Didn't Dream About Jeannie

Turn 22 – What I Didn't Dream About Jeannie

 

 

Anya Bauer, ich verstehe deinen Unmut, aber dies ist nicht die Zeit zum Trübsal blasen. Neun Tage haben wir noch Zeit, die letzten Vorbereitungen zu treffen, um Eden zu erwecken. Wenn wir scheitern, hat das für dich schlimme Konsequenzen! Und ich werde die letzte Chance verlieren, meine Bestimmung zu erfüllen!

 

Doch selbst Levriers eindringliche Worte erreichten nichts bei Anya. Zwei Tage war es jetzt her, dass sie Marc wiedergesehen hatte. Zwei Tage, in denen sie von so vielen Fragen und Zweifeln geplagt worden war wie nie zuvor.

Es war der 2. November und Anya Bauer wusste nicht mehr, was richtig noch falsch war. Sie wollte nicht im Limbus enden, gleichwohl aber auch nicht Eden werden. Letzteres bedeutete neben dem Verlust ihrer selbst auch, dass sie Menschen opfern würde. Was kein Problem wäre, wenn nicht die Zweifel aufgetaucht wären.

 

In der Zwischenzeit hatte sie Abby von der Zusammenarbeit mit den Dämonenjägern erzählt. Und wie sie es erwartet hatte, war ihre Freundin nicht gerade davon angetan. Zwar akzeptierte sie Anyas Entscheidung und stimmte sogar zu, dass die Hilfe der beiden dringend benötigt wurde, doch ihre Gefühle insbesondere gegenüber Matt machten es auch für Abby schwer, sich mit dem Gedanken der Kooperation anzufreunden.

Aber das war nicht das eigentliche Problem.
 

Valerie, Matt, Alastair und diese Melinda – sie alle waren Zeugen der Konzeption. Aber Anya wusste in ihrem Inneren, dass vier Opfer nicht reichten. Dann waren da noch Henry … und Marc. Ihre Male waren verblasst, sie hatten den Pakt gebrochen. Weil sie gestorben waren.

Abby hatte es ihr erklärt. So war man als Zeuge – anders als Gefäß eines Gründers – nicht unsterblich. Doch das eigene Leben war das Bindeglied zwischen Mensch und Dämon, völlig unabhängig vom Paktpartner. Wird es durchtrennt, verschwand der Pakt. So war Henry seinem Dämon Isfanel entkommen. Selbstmord. Mit anschließender Reanimation.

 

Hätte Anya die Wahl, würde sie es sofort ebenfalls probieren. Aber Levrier würde einfach ihren Körper übernehmen, bevor sie dazu kam. Das hatte er ihr deutlich gemacht und Anya wusste, dass er die Macht dazu besaß. Im Endeffekt konnte sie nichts gegen Levrier unternehmen, da er jeden Versuch, gegen seinen Willen zu handeln, im Keim ersticken würde. Es war zum Verzweifeln.

Und selbst wenn sie dazu käme sich zu richten, wäre es extrem riskant. Denn würde sie dabei wirklich sterben, wäre der nächste Halt der Limbus, weil sie als Gefäß des Gründers einen besonderen Pakt geschlossen hat.

 

Von all dem wussten die anderen jedoch nichts. Jedenfalls hoffte Anya das. Andererseits, wenn Abby so viel von Matt und auch Henry erfahren hatte, bestand kein Zweifel daran, dass sie bereits seit Langem wusste was Anya im Falle des Versagens blüht. Und dass sie im Grunde nicht gerettet werden konnte. Denn selbst wenn sie den Pakt brach, würde sie irgendwann eines natürlichen Todes sterben … und im Limbus laden. Das hatte Anya erkannt, nachdem sie lange über Marc und all die Dinge nachgedacht hatte, die ihr in den letzten Wochen passiert waren.

Wäre sie doch bloß ihrem Lieblingsmotto treu geblieben …

 

Mit trübem Gesichtsausdruck lag das Mädchen bäuchlings auf dem Bett und starrte in die Leere.

„Levrier, woher soll ich wissen, was wir zu tun haben!?“, fragte sie ihren unsichtbaren Begleiter wütend. „Du bist doch der Gründer. Warum denkst du nicht etwas nach!? Die ganze Zeit hast du nichts gemacht, weil du keine Ahnung hattest. Tu gefälligst nicht so, als ob alles meine Schuld wäre!“
 

Wie ich dir bereits einmal erklärt habe, wurde mein Gedächtnis manipuliert. Anscheinend sollte ich vergessen, wie man Eden erweckt, lange bevor ich es das erste Mal versucht habe. Ich bin nicht einmal imstande genau zu sagen, warum ich nur noch diese eine Chance besitze, Eden zu werden.

 

Aber war es nicht merkwürdig, dachte sich Anya dabei. Wer würde Levrier so etwas vergessen lassen wollen und warum überhaupt? … im Grunde war es ihr egal, das war sein Problem. Nur hing sie da ebenfalls mit drin.

 

Wir sollten uns zumindest einmal die Orte ansehen, an denen die verschiedenen Pakte geschlossen worden sind.

 

Anya überlegte kurz. „Das wären die Aula, Victim's Sanctuary, vor unserer Gartentür und im Park … wobei Marc wohl eh nicht mehr zählt.“

 

Wir sollten es uns trotzdem ansehen. Außerdem hast du vergessen, Alastairs Pakt aufzuzählen.

 

„Ich habe bloß keine Ahnung, wo der Narbenfreak das gemacht hat.“

 

Ich aber. Schließlich habe ich dich damals dort hingeführt. Es ist der Ort, an dem du die Leiche dieses Jungen gefunden hast.

 

„Jonathan?“ Anya blinzelte verdutzt. Den hatte sie in all dem Ärger total vergessen.

Sie hatte allerdings keine Lust, wieder die Bilder seiner gerösteten Leiche wach zu rufen. „Von mir aus, vielleicht seh' ich später da nach. Ich muss noch Hausaufgaben für Montag machen.“

 

Seit wann machst -du- Hausaufgaben?

 

Anya wollte antworten, dass sie das tat, seit ihr langweilig war. Doch das Telefon klingelte unerwartet, sodass sie vom Bett aufsprang und sich den schnurlosen Hörer von ihrem Schreibtisch schnappte, welchen sie in letzter Zeit erstaunlich oft benutzte.

„Was!?“, herrschte sie in den Hörer.

„Matt hier. Anya, hast du zufällig etwas Zeit?“

Auf ihre Armbanduhr schauend, die ihr kurz vor 3 Uhr nachmittags anzeigte, brummte Anya: „Ja, aber nur, wenn du gute Nachrichten hast.“

„Habe ich … vielleicht. Ich denke, ich habe einen Weg gefunden, wie wir dich von dem Gründer befreien können.“

„Da kommst du aber zu spät“, rümpfte Anya die Nase, „das weiß ich längst. Aber fast-krepieren ist leider keine Option.“

„W-was!? Was soll das heißen!?“

Anya stöhnte genervt. „Das Pennerkind Henry hat es mir erzählt. Kennst du nicht, ist aber nicht so wichtig. Er war selbst mal mit einem Dämon verpaktet … oder so … jedenfalls hat er sich selbst umgenietet, wurde aber rechtzeitig reanimiert. So hat er den Pakt gebrochen.“

Aufgeregt erwiderte Matt durch den Hörer: „Und das Mal? Ist es weg!?“

„Hmm, nein. Aber fast.“

„... verstehe. Wenn das so ist, würde ich mich nicht darauf verlassen, dass das stimmt. Womöglich ist es auch nur inaktiv.“

 

Der Gedanke ist mir ebenfalls gekommen. Aber da ich lediglich ein wenig Restenergie sowohl aus Marc Butchers, als auch aus Benjamin Hendrik Fords Elysion nach außen dringen gespürt habe, ist es schwer, eine wahre Aussage diesbezüglich zu treffen.

 

„Keine Ahnung, für mich kommt das jedenfalls nicht infrage.“

„Gut, ich hatte nämlich ohnehin eine Idee, die mehr Erfolg verspricht. Kennst du zufällig Aladdin?“

„Ja, wohnt gleich bei mir um die Ecke“, raunte Anya garstig, „was soll diese dämliche Frage denn? Für Disneyfilme bin ich zu alt! Guck dir das mit Alastair an!“

„Aladdin gibt es nicht erst, seit Disney Filme davon produziert hat. Die Geschichte entstammt ursprünglich einem Märchen. Außerdem geht es mir nicht um Aladdin, sondern um die Wunderlampe.“

„Soll das heißen … ?“

„Korrekt. Wir suchen einen Jinn.“

Erstaunt musste Anya glucksen. Ungläubig fragte sie: „Die gibt es wirklich?“

„Ja, was denkst du, woher dieses Märchen denn stammt? Allerdings sind Jinns unglaublich selten und das nicht ohne Grund. Aber wenn jemand dich von dem Pakt befreien kann, dann definitiv ein Jinn.“

„Und wie soll das gehen? Kann ich mir das von dem einfach so wünschen?“

„Erstmal müssen wir uns eine Lampe besorgen, die auch einen Jinn beherbergt und nicht nur etwas, das sich als Jinn ausgibt.“ Matt machte eine kurze Kunstpause. „Ich würde vorschlagen, du kommst hierher, damit ich dir alles in Ruhe erklären kann. Ein Bekannter von uns hat uns geholfen, eine Lampe ausfindig zu machen, bei der eine gute Chance besteht, dass ein Jinn drin ist.“

„Aber wieso ausgerechnet ein Jinn?“

„Jinns spielen in der obersten Liga der übernatürlichen Wesenheiten. Und wenn du etwas bekämpfen willst, ist es immer klug, dafür eine Kraft zu verwenden, die stärker ist als die deines Feindes.“ Matt lachte. „Genau deswegen sind schon viele auf falsche Jinns hereingefallen, weil sie deren Macht gesucht haben. Die echten sind deshalb so selten, weil andere Dämonen ihre Existenz als Gefahr für sich selbst betrachten und deshalb die Lampen vernichten. Was den Tod für einen Jinn bedeutet.“

„Mehr muss ich nicht wissen. Bin gleich da.“

Kaum hatte sie aufgelegt, warf sie den Hörer aufs Bett und suchte nach ihrem Rucksack.
 

Denkst du wirklich, dass du dich an diesen Strohhalm klammern solltest, Anya Bauer? Der Matt Summers spricht die Wahrheit, Jinns existieren. Aber sie sind genauso selten, wie er es beschrieben hat. Was, wenn wir auf einen Betrüger treffen?

 

„Dann mache ich den einen Kopf kürzer“, raunte Anya und packte ihre Duel Disk in den Rucksack. Nur für den Fall.
 

Ich werde nicht zulassen, dass du den Pakt auflöst.

 

„Warum übernimmst du dann nicht gleich meinen Körper und stoppst mich?“, erwiderte Anya abgelenkt und überlegte, ob sie Barbie mitnehmen sollte.

 

Das sollte ich. Aber nicht jetzt. Zunächst möchte ich sehen, ob wir es wirklich mit einem Jinn zu tun haben. Wenn dem so ist, könnte das sehr hilfreich für uns sein. Gewiss verfügt er über Wissen, welches mir verborgen ist.

 

Anya schulterte ihren Rucksack. „Da kann man wohl nichts machen, was?“

Mit diesen Worten verließ sie ihr Zimmer. Daran denkend, dass Levrier nicht bedacht hatte, dass er zwar ihren Körper übernehmen konnte, aber nicht Matts. Und der würde schon dafür sorgen, dass alles so lief, wie -sie- es wollte.

 

~-~-~

 

„Der ist ja auch hier“, war Anyas erster, selbstverständlich abfälliger Kommentar, als Matt ihr die Tür des Motelzimmers öffnete. Damit meinte sie Alastair, der draußen auf dem Parkplatz irgendetwas im VW-Bus des Dämonenjägergespanns suchte. Das Motel, das sich am Stadtrand befand, machte schon außen aufgrund der wenig genutzten Parkmöglichkeit einen verlassenen Eindruck.

„Wo soll er sonst sein?“, entgegnete Matt ihr im selben, flapsigen Tonfall. „Komm kurz rein, ich will nur schnell etwas holen.“

Kaum hatte Anya das bescheiden eingerichtete Motelzimmer betreten, runzelte sie schon die Stirn. „Lüftet ihr den Laden nicht mal? Hier stinkt's wie in einem Pumakäfig!“

Matt schritt hinüber zu einem kleinen Tisch, der in der hinteren Ecke des Raumes stand. Anya ihrerseits schlich sich zu den beiden Betten, die neben dem einzigen Fenster standen und grinste diebisch. Dann zog sie aus der Hosentasche einen kleinen Beutel hervor – feinstes Juckpulver, ihr Geschenk für Alastair. Ursprünglich war es für Redfield gedacht gewesen, doch im Moment wollte sie nicht an ebendiese denken. Außerdem hatte dieses Narbengesicht es nicht besser verdient!

„Das ist mein Bett“, brummte Matt, als er misstrauisch über die Schulter blickte. „Und an deiner Stelle würde ich das lassen. Bisher hat niemand Alastairs Echo vertragen.“

„Tch, der soll nur kommen“, tönte Anya großspurig, schritt zum anderen Bett und verteilte großzügig das Juckpulver unter der Decke.

 

Nachdem sie fertig damit war, sah sie Matt an, als erwarte sie ein Lob.

Doch der schwarzhaarige Dämonenjäger war bereits zur Tür gegangen und lehnte am Rahmen, auf das Mädchen wartend. „Wenn du mit deinem Schabernack fertig bist, können wir dann losfahren?“

„Wohin?“

„Zu dem Schloss, in das dieser Schlüssel passt“, antwortete Matt geheimnisvoll und hob seine Rechte, in der er einen kleinen Schlüssel hielt. „Ist heute angekommen, unser Paket. Wir werden es vom Bahnhof abholen, es liegt in Schließfach 2905.“

Anya ließ von Alastairs Bett ab und gesellte sich zu Matt. Den Schlüssel skeptisch betrachtend, fragte sie: „Und was finden wir darin?“

Er grinste keck. „Dreimal darfst du raten.“

Erstaunt sah Anya auf. „Die Lampe!?“

Matt nickte zufrieden. „Die einzig wahre. Ich wollte dir die Überraschung hier machen, nicht am Telefon.“

Das Mädchen, welches noch ganz verblüfft war, konnte ihr Glück gar nicht begreifen. „Aber woher hast du die!? Und so schnell? Ich dachte schon, wir müssen in irgendeiner Wüste danach graben!“

„Das haben andere schon für uns erledigt.“

„Wer!?“

„Hmm“, Matt fasste sich ans Kinn, „er ist ein guter Freund und Alastairs Ausbilder gewesen. Ich habe keine Ahnung, wie viele Gefallen wir ihm mittlerweile schon schulden.“

Der junge Mann strahlte förmlich bei seiner Erklärung. „Aber als ich ihm von deinem Problem erzählt habe, ist ihm sofort die Lampe in den Sinn gekommen. Wie er sie so schnell beschafft hat, weiß ich jedoch selbst nicht.“

Anya grinste über beide Backen. „Ist doch auch vollkommen egal, los, lass uns das Ding holen und diesen Kackmist beenden!“

 

Zusammen verließen sie das Motelzimmer und schritten hinüber zum Parkplatz, wo Alastair gerade die Kofferraumtüren des VW-Busses schloss.

Als er sich zu ihnen umdrehte, rümpfte er die Nase bei Anyas Anblick. An Matt gewandt fragte er: „Geht es los?“

„Jap.“

„Dann viel Glück. Und sei vorsichtig.“

„Ich weiß“, antwortete Matt und nickte.

Einen missmutigen Blick auf Anya werfend, erwiderte Alastair: „Mir gefällt nicht, dass sie an meiner Stelle mitkommen soll. Am besten lässt du sie hier. Ihr kann man nicht vertrauen.“

„Was!?“, fauchte Anya sofort außer sich.

Matt stellte sich sofort alarmiert zwischen die beiden. „Wenn du damit Levrier meinst, bin ich mir der Gefahr bewusst. Aber -er- hat gesagt, wir sollen sie sicherheitshalber mitnehmen. Und wenn uns beiden etwas zustoßen sollte, wer räumt hinter uns den Scherbenhaufen auf?“

Auch wenn der letzte Teil eher scherzhaft gemeint war, hörte man doch leise Zweifel heraus.

„Dieser alte Narr“, schnaufte Alastair und meinte damit offenbar seinen Ausbilder, „was denkt er sich dabei? Aber gut. Dank deiner neuen 'Kräfte' solltest du im Zweifelsfalle mit ihr fertig werden.“

„Klar.“

„Ich dachte wir sind'n Team!?“, empörte sich Anya.

Matt grinste sie über die Schulter blickend an. „Ach, auf einmal? Neulich hat sich das noch ganz anders angehört.“

„Vermassele es nicht“, mahnte Alastair und machte sich auf den Weg zum Motelzimmer.

Als er an den beiden vorbei ging, sagte Matt noch, seinem Freund den Rücken zugewandt: „Wird schon schief gehen. … Und wasch mal wieder deine Bettwäsche, die ist schon ganz muffig.“

Was Anya sofort mit einem Ellbogenstoß in die Rippen und einem: „Mistkerl!“ quittierte.

 

Nachdem sie in den Bus gestiegen waren und Anya ihren Rücksack nach hinten auf die Ladefläche geschmissen hatte, startete Matt den Motor. Kurz darauf waren sie bereits auf den Straßen Livingtons unterwegs, mit dem Ziel Bahnhof.

„Was ist das?“, fragte Anya und griff nach den vielen Ketten, Rosenkränzen, Kreuzen und Amuletten, die vom Rückspiegel hinunter hingen.

„Damit wollen wir Böses von uns fernhalten. Ich denke du kannst erahnen, was von Alastair ist und was von mir.“

„Hab da so'n Gefühl“, brummte Anya und ließ von dem Schmuck ab.

 

„Hör mal“, meinte Matt, als er gerade in eine Straße einbog. Und während er sprach, fuhren sie an dem riesigen Einkaufszentrum von Livington vorbei. Es war aufgebaut wie ein ovales Kolosseum, von hellblauer Farbe und versehen mit einem Glasdach. Viele Leute waren auf den Bürgersteigen unterwegs, betraten die einzelnen Geschäfte vom Außeneingang oder aßen einfach nur ein Eis. Denn der 2. November war ein ungewöhnlich schöner und vergleichsweise warmer Herbsttag.

„Wir haben es hier mit einem Jinn zu tun. Alector, Alastairs und teilweise auch mein Ausbilder, hat gesagt, dass er echt ist“, begann Matt mit seinen Ausführungen. „Aber ich traue dem noch nicht ganz. Alector ist zwar sehr verlässlich, aber ohne den Jinn getroffen zu haben ist es schwer, seine Identität zu verifizieren.“

„Heißt soviel wie?“ Anya kratzte sich unbedarft am Kopf und grinste beim Blick aus dem Fenster, als sie an Ernie Winter und seiner Mutter vorbeifuhren, welche Anya im VW-Bus erkannt hatten und ihre Schritte beschleunigten. „Der letzte Dschinni, den ich gesehen hab, war blau und ultranervig. Sag, dass eure anders sind.“

„Keine Ahnung ob sie blau sind. Aber ultranervig könnte hinkommen. Aber was ich eigentlich sagen will: vertraue dem Ding nicht. Vertraue nie einem Jinn, egal ob er nun echt ist oder nicht. Und pass genau auf, was du zu ihm sagst. Jinns sind bekannt dafür, dass sie möglichst viel Interpretationsraum nutzen, um Wünsche zu erfüllen. Und da es nur wenige Aufzeichnungen über das Verhalten von Jinns gibt, ist anzunehmen, dass sie keine angenehmen Gesellen sind.“

Anya gab sich allerdings optimistisch. „Nen Versuch ist es wert.“

„Sehe ich genauso.“

„Und wie läuft das ab? Muss ich wirklich nur an der Lampe reiben?“

Wieder bog Matt in eine Straße ein. In der Ferne sahen sie bereits das große, längliche Backsteingebäude, das den Bahnhof darstellte.

„Ganz so einfach ist das leider nicht. Du musst an ihr reiben, das ist wahr. Aber du musst sie mit deinem Blut einreiben. Außerdem meinte Alector, dass wir eventuell auch dein Blut dafür brauchen werden, um den Pakt zu lösen. Deswegen musst du mitkommen.“

Verdutzt blinzelte Anya. „Mit meinem Blut einreiben? Warum das?“

„Es funktioniert ähnlich wie ein Pakt. Der Unterschied ist, dass du durch dein Blut zum Meister des Jinns wirst. Aber du bist dadurch an ihn gebunden. Das heißt, du wirst ihn nicht eher wieder loswerden, bis du alle drei Wünsche aufgebraucht hast.“

Eins beschäftigte Anya jedoch schon eine ganze Weile. „Wie kann der überhaupt Wünsche erfüllen? Ich meine, schnippt der mit dem Finger und das war's?“

„Frag mich was Leichteres. Aber wir werden es herausfinden.“

 

Matt fuhr auf den weiträumigen Parkplatz neben dem Bahnhofsgebäude und stoppte den Wagen, nachdem er erstaunlich ungeschickt eingeparkt hatte.

„Was hat das Narbengesicht eigentlich vorhin gemacht?“

Anya schaute über die Rückenlehne in den hinteren Teil des Fahrzeugs. Im Laderaum stand nur eine Holztruhe auf ein paar Decken.

Ihr Fahrer zog den Schlüssel ab. „Vermutlich hat er ein paar Waffen für uns vorbereitet. Shotguns mit Salzkugeln als Munition, das Übliche. Aber so etwas funktioniert bestimmt nicht bei Jinns, zumal wir da nicht einfach bewaffnet rumlaufen können.“

„Kann ich mir eine davon ausleihen? Ich hab da noch-“

„Keine Chance“, polterte Matt, der genau wusste, woran Anya dachte. Aber er würde nicht daran schuld sein, wenn in Anyas Schule ein Amoklauf stattfand! Mit ernster Mimik fragte er: „Bereit?“

„Von mir aus“, brummte die Blondine sichtlich enttäuscht, fast schon schmollend.

„Und denk gar nicht dran, dich heimlich zu bedienen! Die Kiste ist abgeschlossen, nur ich und Alastair haben einen Schlüssel.“

Anya schnaubte wütend: „Spielverderber!“

Das gesagt, öffneten beide zeitgleich die Türen und stiegen aus.

 

~-~-~

 

„Von außen sah dieser Ort aber kleiner aus“, staunte Matt, als sie mitten durch den Haupteingang den Bahnhof betreten hatten. Gegenüber von ihnen führte bereits ein Weg direkt zu einem der Bahnsteige, über zwei Brücken innerhalb des Gebäudes konnte man die Gleise auf der gegenüber liegenden Seite erreichen. Die Treppen dazu befanden sich jeweils rechts und links von dort, wo die beiden sich umsahen.

Zusammen schritten die beiden auf die große Kreuzung zu, die sich vor ihnen auftat. Hier gab es Schalter für Tickets, Informationsstände und auch ein paar Geschäfte wie Bäckereien. Doch besonders der linke Teil des riesigen Ganges wurde von Schließfächern eingenommen.

Anya, welcher die vielen Menschen hier zuwider waren, zog Matt in genau jene Richtung.

„Welche Nummer war das nochmal?“, wollte sie ungestüm wissen.

„2905.“

„Hmm, hier ist 2879. Also noch etwas weiter in diese Richtung“, murmelte das Mädchen aufgeregt und zerrte den jungen Mann regelrecht hinter sich her.

„Nur nicht so stürmisch!“, beklagte der sich, als er weiter geradeaus geschleift wurde.

„Je früher das hier vorbei ist, desto besser für uns!“

„Schon klar. Aber sag mal … was ist mit deinem Dämon?“

 

Anya blieb abrupt stehen und ließ Matt los. Den hatte sie in ihrer Vorfreude völlig vergessen.

„Ich … weiß nicht“, antwortete sie zögerlich und bekam auf einmal ein flaues Gefühl im Magen. War das … nein, niemals! Eine Anya Bauer hatte keine Angst!

„Levrier“, rief sie deshalb, „willst du uns aufhalten?“

Keine Reaktion. Noch einen Moment abwartend, drehte Anya sich schulterzuckend zu Matt um. „Er antwortet nicht. Was bedeutet das?“

„Ich kann mich irren, aber vielleicht wartet er auf eine Gelegenheit, deinen Körper zu übernehmen. Du solltest mich die Sache mit dem Jinn regeln lassen.“

Sofort runzelte Anya die Stirn und wurde laut. „Nie im Leben! Das ist meine Angelegenheit, also regele ich sie, damit das klar ist!“

Ohne auf eine Antwort zu warten, preschte sie weiter vorwärts und suchte nach dem Schließfach. Endlos erschien ihr die Suche, bis sie schließlich auf der linken Seite die abgeblätterten Ziffern 2905 erspähte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie zusammen mit Matt vor dem Fach stand, das sich auf ihrer Kopfhöhe befand.

„Schlüssel!“, verlangte sie aufgeregt und riss diesen ihrem Begleiter regelrecht aus der Hand, kaum hatte er ihn gezückt. Anyas Hände zitterten, als sie ihn in das Schloss steckte, doch jenes wollte sich beim Umdrehen des Schlüssels nicht öffnen.

„Lass mich mal“, sagte Matt, packte Anyas Hand, steckte den Schlüssel richtig rein und öffnete ihr das Fach.

„D-danke“, brummte sie beschämt und wandte sich dem Inhalt des Schließfachs zu. Dort, in braunes Papier gewickelt, lag ein kleines Paket, nicht größer als ein paar aufeinander gestapelte Videospielhüllen.

„Wow“, staunte Anya, überwältigt von der Tatsache, dass da tatsächlich etwas lag. Sofort schnappte sie sich das Paket, schloss die Tür des Fachs, wobei jenes jedoch einen Spalt offen blieb.

„Pack es aus“, war nun auch Matt ganz aufgeregt bei der Sache.

 

Anya riss erst das Papier ab, dann öffnete sie das Paket darunter. Zum Vorschein kam eine Lampe, die genau dem Bild entsprach, welches man sich von ihr machte.

„Schätze nicht alles, was in den Märchen vorkommt ist gelogen, huh?“, war Anyas erster Spruch, als sie die aus Messing gefertigte Öllampe in den Händen hielt. Mit ihrem langen Schnabel hätte man genauso gut Teetassen füllen können.

„Tja … sieht ganz so aus.“

Überrascht beobachtete Anya, wie Matt aus seiner Hosentasche ein ausklappbares Messer zückte und wich instinktiv zurück.

„Keine Panik!“, wollte der sie mit erhobenen Händen beruhigen. „Aber wir brauchen Blut, schon vergessen?“

„Hier!?“

Matt schaute über seine Schulter, dann wieder zu Anya. „Ich glaube nicht, dass jemand sieht, was wir hier machen. Es muss ja kein großer Schnitt sein.“

Skeptisch reichte Anya eine Hand nach der Waffe aus. „Meinetwegen. Gib her.“

„Aber nur, wenn du mir die Lampe gibst, okay?“

Der Blick des Mädchens verdunkelte sich. „Klar.“

Was Matt skeptisch werden ließ. „Sicher?“

„... nein. Deswegen … sorry.“

 

Ehe Matt sich versah, packte Anya mit ihrer freien Hand die halb offen stehende Schließfachtür und schlug sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Matt direkt ins Gesicht. Dieser fiel stöhnend um, hielt sich eine blutende Nase. „Argh, was soll das!?“

„Wie gesagt, sorry, aber das muss sein!“

Während Matt sich, vom Schmerz gelähmt, am Boden hin und her rollte, schnappte Anya sich das auf den Boden gefallene Messer. Es war ihr völlig gleich, dass man sie dabei beobachten könnte.

Geschickt ließ das Ding einmal in ihrer Hand rotieren, ehe sie sich die Lampe unter den Arm klemmte und sich mitten über die linke Handfläche schnitt. Sofort ließ sie unter einem schmerzerfüllten Seufzer das Messer fallen, nachdem das Blut aus der Wunde sickerte. Daraufhin nahm sie die Lampe in die unverletzte Hand und strich mit der blutenden über das Messing.

„Komm schon, Dschinni, lass die Sau raus!“

 

Im Inneren der Lampe begann ein türkisfarbenes Licht zu leuchten, während jene selbst plötzlich durchsichtig zu sein schien. Ein eisiges Gefühl durchlief Anya, sie bekam schlagartig keine Luft mehr und kippte würgend zur Seite, sich an den Fächern abstützend.

Dabei bemerkte sie etwas Erschreckendes. Die Zeit, sie war stehen geblieben!

All die Menschen innerhalb des Bahnhofsgebäudes, sie rührten sich keinen Millimeter mehr. Selbst Matt, der immer noch am Boden lag und sich die Nase hielt, verharrte auf der Stelle. Auch hatte sich die Farbe der Umgebung grundlegend geändert – alles war Grau in Grau.

„Alter Falter“, staunte Anya und sah die Lampe an. Noch immer leuchtete ihr Inneres. Unwissend, was sie tun sollte, rief sie: „Komm da raus, ich weiß, dass du da drin bist!“

 

„Das bin ich bereits“, ertönte eine wohlbekannte Stimme hinter ihr.

Anya wirbelte um und stellte erstaunt fest, dass ihr Matt gegenüberstand. Dabei lag er gleichzeitig am Boden und rührte sich nicht.

„Verstehe“, murmelte das Mädchen unter heftigem Herzklopfen findig. „Du hast keine eigene Form, also nimmst du seine.“

„Falsch. Aber ihr Menschen seid es gewohnt, dass ihr mit euresgleichen redet. Deswegen diese Form. Nun sage mir, was ist dein Begehren?“

„Gleich zum Geschäft? So was mag ich!“

„Noch nicht ganz. Vorher kläre ich dich über die Bedingungen und Einschränkungen auf.“ Der Jinn deutete auf die Lampe in Anyas gesunder Hand. „Die Zeit wird für dich erst weiterfließen, wenn du all deine Wünsche aufgebraucht hast. Deswegen wäre es in deinem Interesse, wenn du bereits weißt, wonach du strebst.“

„Keine Sorge, Kumpel, das weiß ich genau!“

„Dann wisse, dass ich keine Wünsche erfüllen kann, die über meine Kräfte hinausgehen.“

Innerlich schreckte Anya auf. „Und wie weit ist das?“

„Das kommt auf die Art des Wunsches an. Solltest du nach etwas verlangen, das ich dir nicht geben kann, ist dein Wunsch verloren. Drei Dinge kann ich dir unter keinen Umständen gewähren: ich kann niemanden ins Leben zurückrufen, ich kann die bestehende Weltordnung nicht ändern und ich bin nicht imstande, dir Kräfte zu verleihen, die meinen gleichkommen. Außerdem ist es nicht möglich, sich mehr Wünsche zu wünschen.“

„Meinetwegen“, schnaufte Anya. Wenn er ihre Wünsche eh nicht erfüllen konnte, war es sowieso egal, ob sie sie verlor oder nicht. Aber bevor sie sie aussprach, wollte sie noch etwas in Erfahrung bringen. „Und du tust das ohne eine Gegenleistung zu verlangen?“

Der Jinn verzog keine Miene. „Dir muss bewusst sein, dass du den Preis für deine drei Wünsche bereits gezahlt hast.“

Er deutete auf die Lampe. Anya sah das gute Stück überrascht an, ehe sie begriff. „Das Blut?“

„Mit deinem Blut werde ich für Jahrhunderte weiterleben. Das ist die Gegenleistung, die du erbringen musstest. Nun sprich deine Wünsche aus.“

 

Anya ließ den Kopf hängen. Zwei Wünsche hatten sich auf dem Weg zum Motel in ihrem Kopf eingenistet. Die Freiheit … und stärkere Karten. Letzteres bedeutete Unabhängigkeit. Auch wenn sie es nie offen zugeben würde, hatte das Duell mit Henry ihren Stolz verletzt. Sie wollte deswegen nie wieder ein Duell verlieren. Aber sich das, die Unbesiegbarkeit, zu wünschen wäre viel zu plump. Eher wollte Anya lediglich die richtigen Startvoraussetzungen dafür. Was sie aus dem Karten machte, war etwas anderes. Geschenkte Siege wollte sie nicht – sie wollte sie sich erarbeiten.

Jedoch blieb die Frage offen, wofür sie den dritten Wunsch verwenden sollte. Auch für ihn hatte sie eine ungefähre Vorstellung … aber es behagte ihr nicht.
 

„Nenne deinen ersten Wunsch“, verlangte der Jinn mit schneidender Stimme von ihr.

Anya blickte auf und atmete tief durch. „Frage! Wünschen sich Jinns die Freiheit?“

„Nein. Wir sind an unsere Lampen gebunden, weil unsere Existenz darauf ausgelegt ist. Uns die Freiheit zu wünschen würde einem Todesurteil gleich kommen. Es gibt kein Leben außerhalb der Lampe für einen Jinn.“

Sein gleichgültiger Tonfall störte Anya. „Und du nimmst das so hin? Willst du nicht wissen, wie die Welt außerhalb der Lampe ist?“

„Wie ich sagte: unsere Existenz basiert darauf, uns vom Blut unserer Meister zu ernähren und ihnen ihm Gegenzug drei Wünsche zu erfüllen. Alles andere ist uns gleich.“

Selbst ein Roboter besaß mehr Emotionen, dachte Anya ärgerlich. „Von mir aus, dein Pech. Also, mein erster Wunsch …“

Sie sah wieder die Lampe an. Und erinnerte sich an Matts Warnung, mit ihren Worten vorsichtig umzugehen. Zunächst sollte sie ausprobieren, inwieweit der Jinn überhaupt ihre Wünsche umsetzte. Also sollte sie mit etwas Kleinem anfangen.

„Sperr die Lauscher auf“, richtete sie ihr Wort an ihn und presste ihm die Wunderlampe in die Hand, „mein erster Wunsch: ich möchte neue Duel Monsters-Karten! Sie sollen dem Gem-Knight-Thema angehören und von der Spielstärke her besser sein als alle meiner bisherigen Karten.“

Um das zu verdeutlichen, griff Anya nach der Deckbox an ihrem Gürtel und zückte daraus zwei Karten. „Siehst du die beiden hier? Das sind [Gem-Knight Pearl] und [Gem-Knight Zircon]! Beide sind superselten und haben hohe Angriffswerte, aber keine Effekte. Sie sind nutzlos! Deswegen nimm dir zum Beispiel Zircon als Vorlage und erschaffe eine neue Karte, die besser ist als er und im Kampf gegen Dämonen auch was taugt, verstanden?“

„Du irrst dich bezüglich der schwarzen Karte. Aber wie du wünscht. Wie viele dieser Karten verlangst du?“

Darüber hatte Anya nicht nachgedacht. Zu viele wären auch übertrieben. Es sollten einfach gute Bossmonster und praktische Ergänzungen sein, die zu ihrem Spielstil passten. „Sagen wir fünf.“

 

Der Jinn nickte knapp. „Dein Wunsch wurde erfüllt.“

„Was!?“, staunte Anya. „So schnell?“

„Sieh in dein Deck. Es wurde nach deiner Vorstellung ergänzt. Aber bedenke, dass dein erster Wunsch somit unwiderruflich verloren ist.“

Sofort zog Anya ihr Extradeck aus der Box und ging die Karten durch. Und staunte Bauklötze. Mit strahlenden Augen sah sie auf. „Das ist genau, was ich wollte! Woher hast du das gewusst!?“

„Dein zweiter Wunsch“, überging der Jinn jedoch Anyas Frage.

 

Die steckte ihre Deckbox wieder an ihren Gürtel, schnappte sich von ihrem Gegenüber die Lampe und betrachtete sie nachdenklich. Der zweite Wunsch sollte eine Steigerung sein, um zu sehen, wie weit der Jinn gehen konnte. Ihren ersten Wunsch hatte er genau so erfüllt, wie Anya es sich erhofft hatte. Sogar sie hatte nicht an manche der Dinge gedacht, die er umgesetzt hatte. Er war eindeutig ein echter Jinn!

Dennoch war da trotzdem eine Restspur Misstrauen. Und die Frage, wie sich ihr zweiter Wunsch nun gestalten sollte. Von dem Pakt befreit zu werden war vermutlich der größte, also sollte sie sich den bis zum Schluss aufheben. Bloß was konnte sie sich dann wünschen? Noch einige Kleinigkeit? Oder …?

„Das ist schwer“, murmelte sie in Gedanken versunken, „ich könnte Redfields Euter schrumpfen lassen. Aber ein Arsenal an Superwaffen für meine angestrebte Weltherrschaft klingt auch nicht übel.“

Aber nein … das wäre alles Schwachsinn. Verdammtes Gewissen!

 

„Also schön, her gehört“, wandte sich Anya wieder an den Jinn, der sie abwartend aus Matts emotionsloser Miene anstarrte, „mein zweiter Wunsch: ich kaufe Valerie Redfield von ihrer Schuld frei, die sie bezahlt hat, um Marc Butcher ins Leben zurückzurufen. Aber das bleibt unter uns, verstanden!?“

„Dieser Wunsch bedeutet, dass Marc Butcher stirbt. Soll er dennoch erfüllt werden?“

Anya schreckte zusammen. „Huh!?“

„Die Schuld ist der Austausch für sein Leben. Wird sie nichtig gemacht, wird auch das Leben dieses Mannes enden, denn er lebt nur durch den Zauber des Collectordämons. Ich besitze nicht die Kraft, diese Ordnung umzukehren. Soll ich dennoch fortfahren?“

„Nein!“, polterte Anya aufgebracht.

 

Das kam völlig unverhofft. Demnach konnte sie sich nicht bei Valerie revanchieren. Aber wenn er das nicht umsetzen konnte, dann …

„Dann lautet mein zweiter Wunsch, dass ich von Levrier getrennt werde! Kannst du das!?“, flehte sie förmlich. Bevor sie das nicht wusste, konnte sie sich keinen Kopf darüber zerbrechen, was sie in Punkto Valerie unternehmen sollte.

„Dein Wunsch“, sprach der Jinn leise, „ist erfüllt.“

Woraufhin Anya von grellem Licht geblendet wurde.

 

Laut scheppernd fiel die blutverschmierte Lampe auf den Boden.

Matt schreckte auf und betrachtete die Antiquität, sah dann hoch zu Anya. Sie rührte sich nicht vom Fleck, starrte in die Leere.

„Au, verdammt!“, fluchte er und betrachtete das Blut an seinen Händen. „Was sollte das!?“

Als er keine Antwort erhielt, wurde er stutzig. „Was ist los? Hast du den Jinn getroffen?“

Nun drehte sie sich zu ihm um. „In der Tat. Ich bin frei.“

„Im Ernst!?“ Matt sprang sofort auf und packte Anyas Arm, zog den Stoff der schwarzen Lederjacke weg – aber das Mal des in einem Dornenkranz gefangenen Kreuzes war noch da.

„Dann hast du dich verarschen lassen!“

„Oh … das ist kein Problem. Ich habe Levrier unter Kontrolle.“

Überrascht sah Matt auf. „Hast du dir das gewünscht? Aber dann-! Du Idiotin! Dadurch änderst du nichts! Der Turm von Neo Babylon wird trotzdem auftauchen! Was hast du dir dabei gedacht!?“

„Ich?“, fragte Anya tonlos. „Gar nichts.“

Mit einem Rückhandschlag wurde Matt hart gegen die Schließfächer geworfen.

„Der zweite Wunsch dieses Mädchens lautete, dass sie von der Wesenheit Levrier befreit werden wollte. Ich habe ihren Platz eingenommen.“

Matt hielt sich schockiert die Wange. „Du bist der Jinn!?“

„Dem ist so.“ Anya hob die blutige Hand und starrte sie fasziniert an. „Sie hat gefragt, ob ich mir Freiheit wünsche. Ein absurder Gedanke. Dennoch … sind ihre Worte zu mir durchgedrungen. Ist das Freiheit?“

 

Plötzlich ging Anyas Körper in schwarzen Flammen auf.

Matt wich schreiend zurück, aber er war nicht der Einzige, der schrie. Die Leute auf dem Bahnhof bemerkten das Feuer und flüchteten augenblicklich, riefen nach der Feuerwehr oder danach, dass jemand dem armen Mädchen helfen musste.

„Ich verstehe dieses Konzept nicht. Freiheit. Was soll ich jetzt tun?“

Fassungslos betrachtete Matt die vollkommen von den Flammen verschlungene Blondine. Um das Feuer selbst machte er sich dabei keine Sorgen, Levrier würde Anya heilen – sofern er es konnte. Aber irgendwie musste er diesen Fluch umkehren, schnell!
 

Sein Blick fiel auf die Lampe, die vor ihren Füßen lag. Aber wie sollte er sie zerstören? Die Waffen lagen im Wagen, und selbst wenn-

Aber da kam ihm ein neuer Gedanke. Er musste schnell sein!

Mit einem Hechtsprung warf er sich vor Anyas Füße und schnappte sich die Lampe, während er im Hintergrund hörte, wie jemand aufgeregt telefonierte. Aber die Schaulustigen waren ihm in dem Moment völlig egal.

„Ich bin frei“, sprach der Jinn und sah auf Matt herab, „ich kann keine weiteren Wünsche mehr erfüllen.“

„Das glaube ich aber nicht!“, donnerte der Dämonenjäger und wischte kurzerhand seine blutbesudelte Hand an der Lampe ab. „Du bist mit deiner Pflicht erst durch, wenn du alle drei Wünsche erfüllt hast. Und der letzte gehört jetzt mir!“

 

Innerhalb eines Herzschlages wurde die Welt in Grau getaucht. Matt sprang mit der Lampe in seinen Händen auf und wich von dem Jinn zurück, der jedoch keine Anstalten machte, ihn zu attackieren.

„Ich habe mich geirrt“, stellte dieser fest, „wie es scheint, kann ich doch noch einen Wunsch erfüllen. Aber nicht du bist es, der ihn stellen darf.“

„Doch, der bin ich!“, polterte Matt und zeigte ihm die Lampe vor. „Ich habe deine Lampe, an der mein Blut klebt! Da Anya ihn nicht stellen kann, werde ich es an ihrer Statt tun.“

„Richtig. Das Mädchen ist berechtigt, den letzten Wunsch zu stellen. Genau wie du. Deshalb kann ihn keiner von euch allein vortragen.“

„Dann hol sie her!“

„Unmöglich“, erwiderte der Djinn in seiner flammenden Gestalt tonlos, „sie ist an dem Ort, den sie sich gewünscht hat. Sie verlangte Freiheit und in ihren Herzen habe ich gesehen, dass sie fliehen wollte vor dieser Welt. Deswegen habe ich sie in eine andere geschickt. Ohne einen neuen Wunsch kann ich sie nicht von dort zurückholen.“

Matt brüllte regelrecht: „Aber wie soll ich den stellen, wenn sie nicht hier ist!?“

„Einer muss dem anderen das Recht dazu abnehmen, die Hälfte des Wunsches.“

 

Und daraufhin hatte Matt eine Idee. „Dann sollten Anya und ich uns duellieren! Um das Recht, den Wunsch äußern zu dürfen! Da du Anyas Körper besetzt hältst, bist du derjenige, der für sie antritt.“

„Das ist eine logische Konsequenz.“

Der Dämonenjäger horchte auf. „Heißt das, es ist machbar?“

„Das ist es.“

Stutzig erwiderte Matt darauf: „Und du würdest das machen?“

„Ja.“

„Aber warum? Solltest du nicht diesen Körper als deinen eigenen behalten wollen!? Deswegen hast du ihn doch übernommen, oder?“

Der Jinn sah wieder Anyas brennende Hand an. „Freiheit ist ein Konzept, das den Jinns fremd ist. Ich verstehe nicht, was es bedeutet, frei zu sein. Und ich strebe nicht danach. Mein jetziger Zustand muss geändert werden. Aber da ich der Vertreter des Mädchens bin, ist es mir unmöglich, dich gewinnen zu lassen.“

„Egal. Wenn du gewinnst, kannst du selbst den Wunsch benutzen, um alles wiederherzustellen.“

„Ein Jinn darf sich nichts wünschen. Jinns haben keine Wünsche. Nur Menschen.“

 

Matt stöhnte. Die Emotionslosigkeit dieses Wesens war unglaublich anstrengend. Aber er schien tatsächlich auf seiner Seite und ungewollt in diese Lage geraten zu sein. Was die Frage aufbrachte, warum Anyas Wunsch überhaupt schiefgegangen war. Hatte Levrier etwas damit zu tun?

Es war im Prinzip egal. Erstmal musste er zusehen, dass er Anyas Wunsch übernehmen konnte. Was sicherlich kein leichtes Unterfangen werden würde.

 

„Ich habe eine Kopie deines Decks erschaffen und dir eine Duel Disk gegeben“, sagte der Jinn.

Sofort spürte Matt die Last des Apparates an seinem Arm und sah ihn erstaunt an. Auch die flammende Anya besaß plötzlich eine.

„Ich werde nicht das Deck benutzen können, welches dem Mädchen gehört, denn ein starker Wille hindert mich daran, welcher von einer ihrer Karten ausgeht. Deswegen werde ich ein anderes, willkürlich gewähltes Deck verwenden. Bedenke, dass ich nicht absichtlich verlieren kann.“

„Schon kapiert“, meinte Matt und ging etwas auf Abstand. „Dann lass uns anfangen.“

„Wie du wünscht, Gebieter.“

 

[Matt: 4000LP / Jinn: 4000LP]

 

„Den Erinnerungen meiner Meisterin nach, wird sie verlangen, dass ich anfange“, sprach der Jinn weiterhin tonlos und zog gleich sechs Karten von seinem Deck.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, brummte Matt. Er schwor sich, dass wenn er mit dieser Sache durch war, eine gewisse Anya Bauer das wahre Ausmaß des Begriffs 'Rache' kennenlernen würde.

„Ich beschwöre [Serene Psycho Witch]“, kündigte der Jinn an und ließ eine futuristisch angehauchte, junge Frau mit bonbonfarbenem Haar vor sich erscheinen. In ihrer Hand hielt sie zwei mechanische Dolche, die mit Kabeln an ihrem Rücken befestigt waren.

 

Serene Psychic Witch [ATK/1400 DEF/1200 (3)]

 

„Da ich von diesem Punkt an nicht weiter agieren kann, beende ich meinen Spielzug.“

„Hmpf, kannst du nicht wenigstens so tun, als hättest du Gefühle?“, fragte Matt gereizt. „Dieser mystische Tonfall tut auf Dauer in den Ohren weh.“

„Dazu bin ich nicht in der Lage.“

„Dacht' ich mir!“

Matt wusste nicht, was schlimmer war. Sich mit dem Freak zu duellieren oder ihm zuzuhören. Aber was tat man nicht alles für seine Freunde?

 

~-~-~

 

Schritt nach Schritt, immer einer nach dem anderen. Aber es brachte nichts. Wie weit sie auch ging, es war, als würde sie auf dem Fleck verharren, nie voran kommen.

„Oh verdammter Kackmist, wenn ich den jemals in die Finger kriege-“, polterte Anya wutentbrannt.

Niemals einem Jinn vertrauen, das hatte Matt gesagt. Immer seine Wünsche konkret formulieren. Warum zur Hölle hatte sie sich nicht daran gehalten!? Weil denken lästig war … aber wie die Dinge jetzt standen, musste sie wirklich ihre Meinung diesbezüglich überdenken. Argh, da war es schon wieder!

Außerdem war nur Redfield schuld daran, dass sie jetzt hier war und das nur, weil sie der blöden Ziege ja unbedingt helfen wollte. Und als das nicht klappte, war Anya in Panik geraten!

„Wehe du biegst das nicht gerade, Dämonenjäger!“

„Na na, immer mit der Ruhe. Es könnte schlimmer sein.“

 

Anya drehte sich verwirrt um. Hinter ihr war etwas, ein Mann im Schneidersitz. Der schwebte!

„Okay, meine Hoffnung, dass das hier nur ein verfluchter Traum ist, ist gerade um 100% gewachsen“, sagte sie gallig in seine Richtung.

„Oh Kind, du bist fernab von Traum oder Realität“, sprach der Fremde und drehte seinen langen Bart um einen Finger. In seiner anderen Hand hielt er einen Stab. Anya ein zahnloses Lächeln schenkend, löste er sich aus seinem Schneidersitz und schritt nun auf sie zu. „Es war schon lange niemand mehr hier. Würdest du einem alten Mann eine Weile Gesellschaft leisten?“

 

Missmutig sah Anya in die Richtung, aus der sie glaubte gekommen zu sein. Nichts. Nur diese ungesunde, violette Leere. Die ganze Zeit war sie hier umhergeirrt und hatte rein gar nichts gefunden! Was war das für ein Ort, der sich scheinbar ins Unendliche ausdehnte!?

Wehe, der Dämonenjäger ließ dieses Mistvieh von Jinn entkommen! Sie schwor sich, beide selbst aus dem Jenseits – oder was auch immer das hier war – heraus zu verfolgen, bis ihre Köpfe neben dem von Valerie Redfield in ihrem Zimmer hingen. Selbst wenn sie sich daran nicht mehr erfreuen können würde!

„Fein“, murrte sie in die Richtung des Alten. „Hab ja sonst nix Besseres zu tun. Wahrscheinlich hast du es schon gemerkt, aber ich bin neu hier, Opa. Wurde von 'nem Jinn gelinkt.“

„Ohoho“, lachte der Mann. „Das Problem ist mir wohlbekannt.“

 

~-~-~

 

„Nur ein Monster? Das sollte nicht schwer werden“, sprach Matt im Angesicht der Psychohexe und zog auf, womit er schließlich sechs Karten auf in Hand hielt. „Für die habe ich schon die passende Antwort! Ich beschwöre den [Steelswarm Caller]!“

Ein humanoid anmutendes, schwarzes Wesen mit roten Insektenflügeln auf seinem Rücken erhob sich vor Matt, verharrte in gebückter Haltung.

 

Steelswarm Caller [ATK/1700 DEF/0 (4)]

 

„Angriff!“, befahl Matt und zeigte auf das Monster des in dunklen Flammen stehenden Jinns.

Mit einem Satz landete der Insektenmann vor der rosahaarigen Hexe und riss sie mit seinen klauenbesetzten Händen entzwei.

 

[Matt: 4000LP / Jinn: 4000LP → 3700LP]

 

„Wenn [Serene Psychic Witch] zerstört wird, verbannt sie ein Psi-Monster mit einem Höchstangriffswert von 2000 von meinem Deck“, erklärte der Jinn und schob die gewählte Karte in ein Unterfach seiner Duel Disk.

„Eine verdeckte Karte. Zug Ende!“, rief Matt nur. Seine Falle materialisierte sich vor ihm. „Das läuft doch gut!“

 

„Mein Spielzug“, kündigte der Jinn in seiner emotionsarmen Art an und zog, „nun kehrt das verbannte Monster auf mein Spielfeld zurück.“

Ein kleines, blondes Mädchen tauchte vor ihm auf. Sie trug einen Umhang und besaß einen Zauberstab, der eher an einen Morgenstern erinnerte, welcher durch mehrere Kabel mit ihrem Rücken verbunden war. Zudem schwebte sie in der Luft.

„[Esper Girl]“, nannte sie der Jinn. „Wenn sie beschworen wird, verbannt sie die oberste Karte meines Decks.“

Welche prompt abseits des Spielfelds mit dem Kartenrücken nach oben zeigend materialisiert wurde.

 

Esper Girl [ATK/500 DEF/300 (2)]

 

Matt wunderte sich, warum der Jinn so ein schwaches Monster gerufen hatte, wo es ihm doch hätte möglich sein müssen, eine Kreatur zu rufen, die die seine spielend leicht zerstören konnte.

„Ich beschwöre [Serene Psychic Witch] von meiner Hand als Normalbeschwörung“, erklärte der Jinn sein Tun und legte ein weiteres Exemplar seiner Hexe auf die Duel Disk, welche umgehend neben dem fliegenden Mädchen erschien.

 

Serene Psychic Witch [ATK/1400 DEF/1200 (3)]

 

„Nun führe ich eine Synchrobeschwörung durch, indem ich mein Stufe 2-[Esper Girl] auf die Stufe 3-[Serene Psychic Witch] einstimme. Aus ihnen wird der Stufe 5-[Magical Android].“

Das kleine Mädchen stieg in die Luft, zersprang in zwei grüne Lichtringe, die sich um die Hexe legten. Ein Lichtblitz folgte und schon stand vor dem Jinn ein neues Monster. Diese neue, junge Frau wirkte, als stamme sie aus einer fernen Zukunft. Mit elektronischem Schwert und Schild in der Hand, strahlte die Rothaarige große Zuversicht aus.
 

Magical Android [ATK/2400 DEF/1700 (5)]

 

„Nun, da [Esper Girl] auf den Friedhof gelegt wurde, erhalte ich die verbannte Karte“, fuhr der Jinn mit seinem Zug fort. Die neben dem Feld liegende, verdeckte Karte löste sich auf, als er sie sich aus dem Unterfach seiner Duel Disk nahm. „Nach den Regeln dieses Duells greife ich nun dein Monster an.“

„Schon kapiert“, raunte Matt sichtlich angenervt. „Aber das war ein Fehler! Verdeckte Karte aktivieren! [Infestation Tool]! Ich schicke ein Steelswarm Monster von meinem Deck auf den Friedhof“, wobei er [Steelswarm Scout] vorzeigte und entsorgte, „und stärke meinen Caller dafür bis zur End Phase um 800 Angriffspunkte!“

 

Steelswarm Caller [ATK/1700 → 2500 DEF/0 (4)]

 

Die Kriegerin griff mit ihrem großen Schwert an, doch der Insektenmann flog über sie hinweg und schlug ihr hinterrücks mit seinen Klauen ein Loch in die Brust, woraufhin sie kreischend explodierte.

 

[Matt: 4000LP / Jinn: 3700LP → 3600LP]

 

„Man, das ist einfach gewesen“, murmelte Matt, „zu einfach …“

„Ich gehe nun in die Main Phase 2 und aktiviere die permanente Zauberkarte [Soul Absorption].“

Nachdem ein Abbild der Karte vor dem Jinn erschien – darauf gezeigt wurde ein Mann, dessen Seele von verschiedenen Dämonenköpfen ausgesaugt wurde – ging von ihr ein blaues Leuchten aus.

„Ich fahre fort mit [Soul Release]“, sprach der Jinn, „womit ich fünf Karten von unseren Friedhöfen entferne. Diese sind zweimal [Serene Psychic Witch], [Esper Girl], [Magical Android] und [Steelswarm Scout].“

„Was!?“

Plötzlich schossen vier blaue Lichtsphären aus dem Friedhofsschacht des Jinns, sowie eine aus Matts Duel Disk. Sie alle wurden von dem blauen Licht von [Soul Absorption] angezogen und verschwanden schließlich in ihr.

„Wann immer Karten verbannt werden, erhält der Besitzer von [Soul Absorption] pro Karte 500 Lebenspunkte.“

Der Dämonenjäger fiel aus allen Wolken. „Aber das sind 2500 Lebenspunkte auf einen Schlag!“

„So ist es.“

 

[Matt: 4000LP / Jinn: 3600LP → 6100LP]

 

„Nun aktiviere ich die Zauberkarte [Psychic Feel Zone]. Sie beschwört ein Psi-Synchromonster im Verteidigungsmodus von meinem Extradeck, indem ich zwei aus dem Spiel verbannte Materialien dafür zurück auf meinen Friedhof lege.“ Der Jinn zeigte [Magical Android] und [Esper Girl] vor, ehe er sie in den Friedhofsschlitz schob. „Zusammen ergeben sie Stufe 7. Es erscheint nun [Psychic Lifetrancer]“

Zwei grüne Ringe schossen aus dem Friedhof des Jinns in die Luft, gefolgt von fünf leuchtenden Sphären. Kurz darauf ging eine blasse, schwarzhaarige Frau in blauer Bekleidung vor ihm in die Knie. Ihre linke Körperhälfte war die einer Maschine.

 

Psychic Lifetrancer [ATK/2400 DEF/2000 (7)]

 

„Na klasse“, brummte Matt im Angesicht des Cyborgs. „Ich wusste doch, dass da was faul war!“

„Nun aktiviere ich den Effekt dieses Monsters. Ich verbanne ein Psi-Monster von meinem Friedhof“, sprach der Jinn und entfernte von dort den [Magical Android], „und erhalte 1200 Lebenspunkte. Dazu kommen weitere 500 Lebenspunkte durch [Soul Absorptions] Effekt.“

Wieder wurde eine Seele von seiner Zauberkarte verschlungen.

 

[Matt: 4000LP / Jinn: 6100LP → 7800LP]

 

„Was zum-!? Wie soll ich so viele Lebenspunkte auslöschen!?“

„Das musst du selbst herausfinden. Entweder das, oder du verlierst dein Anrecht auf den letzten Wunsch“, zeigte sich der Jinn unberührt. „Ich setze zwei meiner drei Handkarten verdeckt und beende den Zug.“

Die Karten materialisierten sich vor ihm.

„Damit verliert mein Caller seine Bonuspunkte“, ging Matt widerwillig darauf ein.

 

Steelswarm Caller [ATK/2500 → 1700 DEF/0 (4)]

 

Das würde wohl länger dauern, dachte sich der Dämonenjäger dabei und zog schwungvoll. Eins stand fest, Anya würde tief in seiner Schuld stehen, wenn das erst vorbei war!

Behände griff er sich ein Monster aus seinem Blatt und rief: „Tributbeschwörung: Caller geht, [Steelswarm Mantis] kommt!“

In einem wirbelnden, blauen Licht verschwand Matts geflügelter Insektenmann. Stattdessen trat daraus eine neue Kreatur.

„Und nun aktiviert sich [Steelswarm Mantis'] Effekt, da ich sie als Tributbeschwörung gerufen habe! Für 1000 Lebenspunkte beschwört sie ein Steelswarm-Monster von meinem Friedhof und zwar den für ihre Beschwörung geopferten Caller! Außerdem ruft genau der, weil ich ihn als Tribut für die Beschwörung eines Steelswarm-Monsters angeboten habe, einen seiner Artgenossen der Stufe 4 oder abwärts von meinem Deck, [Steelswarm Sting]!“

Vor Matt tauchten gleich drei Monster auf einmal auf, nachdem er kurz zuvor erst sein altes geopfert hatte. Jenes war auch unter ihnen, dazu kamen noch [Steelswarm Mantis], der wie sein Name schon andeutete, ein schwarzer Mantismann war, sowie [Steelswarm Sting], eine pechschwarze Riesenhornisse mit Armen und Beinen.

 

[Matt: 4000LP → 3000LP / Jinn: 7800LP]

 

„Weiterhin aktiviere ich jetzt [Reasoning]! Nenne eine Stufe, danach schauen wir solange Karten von oberhalb meines Decks an, bis ein Monster darunter ist. Dieses wird beschworen, sofern es nicht die Stufe besitzt, die du genannt hast“, erklärte Matt den Effekt der Zauberkarte, die er in seine Duel Disk schob.

„Stufe 8.“

Schon die erste Karte, die Matt von seinem Stapel aufdeckte, war ein Monster. „Pech gehabt, [Steelswarm Gatekeeper] ist Stufe 4! Los, erscheine!“

Noch ein Insektenmensch gesellte sich zu den anderen. Dieser aber ging auf vier Beinen und basierte auf einem pechschwarzen, gepanzerten Käfer. Damit besaß Matt nun gleich vier Monster, die er in einem Zug gerufen hatte, welche sich im ganzen Gang des in Grau gefangenen Bahnhofs ausbreiteten.

 

Steelswarm Mantis [ATK/2200 DEF/0 (5)]

Steelswarm Caller [ATK/1700 DEF/0 (4)]

Steelswarm Sting [ATK/1850 DEF/0 (4)]

Steelswarm Gatekeeper [ATK/1500 DEF/1900 (4)]

 

Ohne Umschweife schwang er den Arm aus. „Los, Mantis, vernichte jetzt seinen [Psychic Lifetrancer]!“

Ruckartig flog der Mantismann mit den dünnen Flügeln auf seinem Rücken auf den weiblichen Cyborg zu. Doch jener wurde plötzlich ein helmartiger Apparat auf den Kopf gesetzt. Der Jinn sprach: „Das ist die Fallenkarte [Psychic Reactor]. Sie verbannt für diesen Zug alle kämpfenden Monster, wenn ein Psi-Monster in diesem Kampf verwickelt ist.“

Kaum hatte die Mantis den Cyborg mit einem Faustschlag niedergestreckt, lösten beide sich in blauem Licht auf und wurden zu Lichtkugeln, die von der Zauberkarte [Soul Absorption] absorbiert wurden.

 

[Matt: 3000LP / Jinn: 7800LP → 8800LP]

 

„Das ist doch nicht zum Aushalten“, schrie Matt regelrecht vor Wut und zeigte mit dem Finger auf seinen Gegner. „Aber ich kann dich jetzt wenigstens direkt angreifen!“

„Du irrst dich“, sprach der Jinn und ließ seine zweite Fallenkarte aufklappen. „Ich aktiviere [Brain Hazard]. Damit rufe ich ein verbanntes Psi-Monster zurück. Dies ist [Magical Android]!“

Matt erschrak, als aus dem Nichts die stolze, futuristische Kriegerin vor dem in schwarzen Flammen gehüllten Jinn auftauchte.

 

Magical Android [ATK/2400 DEF/1700 (5)]

 

„Verdammt! Das wird jetzt etwas wehtun, aber“, murmelte Matt grimmig, „von so etwas lasse ich mich nicht aufhalten! [Steelswarm Sting], opfere dich!“

Sein Hornissenmann schoss die Nadel an seinem Körperende auf die rothaarige Kriegerin ab, welche diese jedoch mit einem behänden Schwertschlag postwendend zurück zum Absender schickte. Getroffen von der eigenen Attacke, explodierte Matts Monster.

 

[Matt: 3000LP → 2450LP / Jinn: 8800LP]

 

Plötzlich bildeten sich Risse im Schwert des magischen Androiden.

„Zu dumm! Wenn [Steelswarm Sting] das Zeitliche segnet, nimmt er ein Synchro-, Ritual- oder Fusionsmonster mit sich!“ Matt zeigte mit dem Daumen nach unten. „Abmarsch!“

Und schon platzte das Schwert auf und löste so eine Explosion aus, die seine erschrockene Besitzerin mit sich riss.

Matt streckte da bereits den Arm aus. „Das hat mich ein paar Lebenspunkte gekostet, war die Sache aber wert! Gatekeeper, Caller, direkter Angriff!“

Seine beiden verbliebenen Monster setzten zeitgleich zum Angriff an. Und während der gepanzerte Käfer aus seinem Maul eine säurehaltige, gelbe Flüssigkeit spie, rannte der aufrecht gehende Insektenmann auf den Jinn zu und schlug mit seinen Klauen nach ihm.

 

[Matt: 2450LP / Jinn: 8800LP → 5600LP]

 

Als wäre jedoch nichts geschehen, verharrte der Jinn auf der Stelle.

„Sehr gut, das ist immerhin ein Anfang“, murmelte Matt vor sich hin. Dennoch hatte er das Gefühl, kaum voran zu kommen.

Plötzlich riss er den Arm in die Luft. „Und jetzt werden wir mal verhindern, dass du weiterhin ein Synchromonster nach dem anderen beschwörst! Ich erschaffe das Overlay Network! Xyz-Summon!“

Vor ihnen tat sich ein schwarzer Wirbel auf, welcher die beiden Insekten in Form violetter Lichtstrahlen in sich aufnahm. Matt brüllte dazu: „Steh mir bei, [Steelswarm Roach]!“

Aus dem Loch hervor trat ein edler Schabenritter, dessen goldener Umhang gleichzeitig sein Flügelpaar war. Mit einem Rapier in der Hand stellte er sich mutig seinem Feind, wobei zwei grelle Lichtkugeln um ihn kreisten.
 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

Doch etwas war merkwürdig, überlegte Matt und betrachtete das Mal an seinem Arm. Das sphärenartige Objekt, umhüllt von Dämonenschwingen, glühte nicht auf. Das letzte Mal, als er sein Paktmonster beschworen hatte, war dies jedoch der Fall gewesen. War Another etwa nicht hier?

Allerdings störte das Matt nicht im Geringsten. Er hasste dieses Wesen ohnehin wie die Pest dafür, dass es ihn in einen Pakt gezwungen hatte. Ohne ihn hätte er Alastair zwar nicht beschwichtigen können, doch der Preis dafür war groß gewesen. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um nachtragend zu sein.

„Ich setze eine Karte verdeckt und beende meinen Zug“, rief Matt und ließ die gesetzte Karte vor sich erscheinen.

 

„Dann beginne ich meinen Spielzug“, kündigte der Jinn an und zog eine Karte, die er kurz betrachtete, ehe er die andere aus seinem Blatt ausspielte. „Beschwörung. [Silent Psychic Wizard].“

Aus dem Nichts tauchte ein in blau gekleideter Krieger mit hochmoderner Lanzenwaffe ausgerüstet auf, die durch Kabel mit seinem Rücken verbunden waren, welcher seinerseits von seinem Umhang bedeckt wurde. Der Jinn erklärte dabei: „Dieses Monster verbannt ein Psi-Monster von meinem Friedhof.“

Schon entsorgte er den [Magical Android], wodurch abermals eine Seele von seiner Zauberkarte absorbiert wurde.

„Geht das schon wieder los!“, beklagte sich Matt lauthals darüber. „Verdammt!“

 

[Matt: 2450LP / Jinn: 5600LP → 6100LP]

 

Doch noch etwas bereitete ihm Sorgen. Ein Blick auf die Angriffspunkte des Psychokriegers verriet ihm, dass jener [Steelswarm Roach] ebenbürtig war.

 

Silent Psychic Wizard [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Und er hatte es kommen sehen, als der Jinn sagte: „Mein Monster greift nun deines an. Beide werden zerstört.“

Zeitgleich stürmten der Schabenritter und der Krieger aufeinander zu und lieferten sich ein erbittertes Duell mit ihren Waffen. Doch plötzlich grinste Matt verschlagen.

„Ganz dumme Idee! Ich hab noch ein Ass im Ärmel! Los, Incarnation Mode! Ich rekonstruiere das Overlay Network und mache aus meinem Rang 4-Monster ein neues Rang 4-Monster!“

„Das ist nicht möglich. Einmischungen von außen werden nicht geduldet.“

„Was!?“ Matt schnappte nach Luft. „Soll das heißen-!?“

„Du kannst nicht auf die Kraft deines Paktpartners zurückgreifen. Der Kampf wird fortgesetzt.“

Der Schwarzhaarige war fassungslos. Selbst Another musste sich der Macht dieses Wesens beugen und konnte nicht eingreifen!? Dann war das tatsächlich ein echter Jinn!

Es kam, was kommen musste: beide Monster landeten im selben Augenblick einen tödlichen Treffer und spießten sich gegenseitig auf, gingen zusammen in einer Explosion unter.

„Verdammt!“, schrie Matt aufgrund des Verlustes seiner Schabe.

„Effekt des [Silent Psychic Wizards] wird aktiviert. Er ruft nun das von ihm verbannte Monster auf mein Spielfeld. Und dieses wird dich angreifen.“

Mit Schrecken wich Matt zurück, als direkt vor ihm der [Magical Android] auftauchte und ihm einen heftigen Schlag mit ihrer Klinge verpasste. Doch Matt wehrte den Angriff mit erhobenem Arm ab und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn. „Nichts da! Meine Falle [Defense Draw] wird den Kampfschaden auf 0 setzen und mich eine Karte ziehen lassen!“

Unter einem leisen Surren klappte die gesetzte, purpurn umrandete Karte vor ihm auf und machte dem Kampf ein Ende. Die rothaarige Kriegerin sprang daraufhin unzufrieden zurück und landete vor dem Jinn, während Matt eine Karte zog und tief durchatmete. „Puh … wenn der durchgegangen wäre …“

„Schnellzauberkarte von meiner Hand: [Emergency Teleport]. Ich beschwöre als Spezialbeschwörung ein Psi-Monster mit maximal drei Stufensternen von meinem Deck, welches am Ende des Zuges verbannt wird. Dieses Monster ist [Mental Seeker].“

Erschrocken davon, dass neben der Kriegerin plötzlich aus einer Lichtsäule ein kleiner, grünhaariger Junge mit hellblauem Cape erschien, stieß Matt einen trotzigen Laut aus.

 

Mental Seeker [ATK/800 DEF/600 (3)]

 

Die Augen des Burschen wurden von einem Visor verdeckt und seine Beine waren durch jeweils ein Kabel mit seiner Hüfte verbunden. Er streckte den Arm aus, was Matt völlig überraschend traf, hatte er ganz vergessen, dass dieses Monster auch noch angreifen konnte.

„Gargh!“, schrie er, als er durch eine unsichtbare Kraft nach hinten auf den Boden geschleudert wurde.

 

[Matt: 2450LP → 1650LP / Jinn: 6100LP]

 

„Nun führe ich in meiner Main Phase 2 eine Synchrobeschwörung durch“, kündigte der Jinn an, „indem ich meinen Stufe 3-[Mental Seeker] auf meinen Stufe 5-[Magical Android] abstimme. Daraus entsteht der Stufe 8-[Thought Ruler Archfiend].“

Matt sprang panisch auf, als er mit ansah, wie der kleine Junge in drei grüne Ringe zersprang, die sich um seine Partnerin legten. Ein greller Blitz blendete ihn, ehe ihm die Kinnlade hinunter klappte.

Das neue Monster des Jinns war eindrucksvoller als alles, was dieser bisher gespielt hatte. Breite, ledrige Schwingen spreizten sich, als der mit einem Skelett überzogene Dämon in die Höhe stieg. Seine massiven Pranken und ein langer Schweif zeugten davon, dass er alles vernichtete, was sich ihm widersetzte.

„Das wird immer besser …“, brummte Matt frustriert.

 

Thought Ruler Archfiend [ATK/2700 DEF/2300 (8)]

 

„Damit ist mein Spielzug beendet“, sprach der Jinn und gab mit leerer Hand und Hinterreihe – abgesehen natürlich von [Soul Absorption] – an Matt ab.
 

Dieser griff unschlüssig, was er gegen so eine Kreatur unternehmen sollte, nach seinem Deck.

Einzig seine höheren Tributmonster konnten es mit der Stärke dieses Monstrums aufnehmen, aber auch wenn sich ein solches auf seiner Hand befand, mangelte es ihm an den nötigen Tributen auf dem Spielfeld.

Aufgeben war jedoch keine Option. Er hatte Anya in die Sache hineingezogen, nun würde er sie auch wieder da hinaus holen! Irgendwie!

 

 

Turn 23 – Last Wish

Während Matt weiterhin darum kämpft, dass Anya befreit wird, ist die dazu gezwungen sich ausgerechnet mit dem alten Mann zu unterhalten, den sie in der Lampe des Jinns getroffen hat. Im Verlaufe des Gesprächs öffnet sie ihm jedoch unerwartet ihr Herz und redet über ihre Sorgen. Doch obwohl Matt seinerseits alles versucht, scheint der Jinn einfach zu stark zu sein. Bis Matt sein mächtigstes Monster, [Steelswarm Hercules], beschwört …

Turn 23 - Last Wish

Turn 23 – Last Wish

 

 

„Wie lange bist du schon hier, Opa?“, fragte Anya missmutig, nachdem sie unerwartet schnell gelernt hatte, dass alte Männer sehr wohl im Schneidersitz schweben konnten. Sie wusste zwar noch nicht, wer dieser alte Kerl mit dem Wanderstock war, würde es aber gewiss jeden Moment herausfinden – leider.

 

Diese Welt war die Leere höchstpersönlich und so saßen sie sich nun beide im Schweben gegenüber. Auch hatte sich ihr Umfeld stark verdunkelt und einen tiefblauen Ton angenommen.

Der Alte hatte Anya erklärt, dass es völlig gleich war, wohin sie ging – es gab keinen Ausgang. Was sie jedoch nicht wirklich überraschte. Aber auch keinesfalls glücklich stimmte.

Anya verfluchte den Jinn für seinen miesen Trick. Er hatte sie hier eingesperrt! Wenn sie doch nur-!

 

„Die Hälfte meines Lebens, schätze ich“, erklärte er mit krächzender Stimme. „Anfangen hat es, ich war ein Archäologe besten Alters, in Indien. Da habe ich sie gefunden, die Lampe des Jinns, nachdem ich lange suchen musste.“

„Du wusstest also von ihm … ?“

Allein an Anyas unterschwellig genervten Tonfall konnte man erkennen, dass sie nicht in der Stimmung war, mit ihm zu reden. Sie wollte hier raus, verdammter Kackmist!

„Natürlich. Aber im Endeffekt war er nicht das Wesen, das wir aus den sagenhaften Geschichten kennen.“ Der alte Mann seufzte schwer. „Dass du hier bist heißt, dass du jene Erfahrung ebenfalls gemacht hast.“

Anya ballte eine Faust und schlug sie auf den Boden, welcher jedoch nicht existierte, wodurch die Blondine mit dem Pferdeschwanz wiederum ungewollt vorneüber kippte. „Argh! Jep. Und wenn ich hier raus bin, gibt’s Saures.“

Woraufhin sie die Faust stattdessen in ihre Handfläche schlug.

„Leider gibt es von hier aus kein Entkommen. Du musst wissen, dass wir hier in seiner Lampe sind.“

Daraufhin rümpfte Anya die Nase. „Mir doch egal. Und ich komme sehr wohl hier raus, du wirst schon sehen, Opa!“

„Schon einige haben das gesagt. Und sie alle sind irgendwann wahnsinnig geworden und haben ihrem Leben ein Ende bereitet. Ich bin der Einzige, der es all die Zeit über geschafft hat, meinen Verstand nicht zu verlieren.“ Wieder seufzte der Alte schwer. „Vielleicht gab es in der Welt da draußen nichts, was ich hätte vermissen können? Oder waren es am Ende meine Erinnerungen, die mich getröstet haben? Wer weiß das schon …“

„Ja, ja, sehr tragisch“, winkte Anya desinteressiert ab. Doch es gab etwas, was sie dennoch neugierig machte. Wohlgemerkt nicht auf positive Weise. „Wie viele waren hier?“

„Als ich hier angekommen bin, waren es zwei, doch beide waren bereits dem Wahn verfallen. Danach folgte noch ein weiterer.“ Der Mann zeigte ihr den erhobenen Zeigefinger. „Aber nur dieser Neuankömmling hat es länger als ein Jahr geschafft. Er war wirklich eine erstaunliche Person.“
 

Anya indes richtete den Blick auf ihren Schoß. Es war so ironisch, dass sie nicht einmal lachen konnte. Der Wunsch nach Freiheit hatte ihr ebendiese genommen. Und dieser Ort, die „Lampe“, sie war im Grunde das, was sie sich unter dem Limbus vorstellte. Eine leere Welt der Einsamkeit. Langweilig.

Mit dem Fossil ihr gegenüber konnte sie auch nichts anfangen, der kannte wahrscheinlich nicht einmal Duel Monsters. Und auch wenn sie jetzt ein paar coole neue Karten für ihr Gem-Knight Deck besaß, brachten die ihr ohne Gegner auch nichts.

Alles hing jetzt von Matt ab.
 

Plötzlich schreckte sie auf. Ohne dass sie es wollte, schoss der schreckliche Gedanke aus ihr heraus: „Und was ist, wenn er mich im Stich lässt?“

„Von wem sprichst du?“

Anya ließ den Kopf hängen. Eigentlich wollte sie etwas Schroffes in Richtung das ginge ihn gar nichts an erwidern, doch ihre Zukunftsaussichten waren alles andere als rosig. Vielleicht würde dieser Mann bald alles sein, was … nein, daran durfte sie nicht denken!

„Einem …“ Nein, er war kein Freund. „Er ist ein Dämonenjäger und war bei mir, als es passierte.“

 

Und was, wenn Matt wirklich daran dachte, sie hier zurückzulassen?

Sie war jetzt hier, im Limbus 2.0, fernab davon, ihr Schicksal als Schlüssel zu Edens Erweckung zu erfüllen. Alastair würde sicher sein, ebenso Redfield und potentiell Marc, Henry und dessen Schwester Melinda. Es würde allen gut gehen und es gab für niemanden von denen auch nur den geringsten Grund, sie hier heraus holen zu wollen. Selbst bei Abby war sie sich nicht sicher, ob die sich nicht am Ende damit abfinden würde. Und Nick war ohnehin zu dumm, um irgendetwas ausrichten zu können – wenn er es überhaupt wollte …

Der Einzige, dem überhaupt etwas daran gelegen war sie zu befreien, war Levrier. Und was dessen Verbleib anging, herrschte bei Anya große Ahnungslosigkeit. War er jetzt alleine? Oder gar tot?

 

„Vielleicht findet er einen Weg, die Wirkung des Wunsches aufzuheben“, versuchte der Mann sie nun aufzumuntern. „Dämonenjäger sind sehr gewiefte Menschen. Leider nicht immer gewieft genug, denn diese Menschen, die sich mit mir hier aufgehalten haben, waren ebenfalls Dämonenjäger. Ja, ja.“

„Selbst wenn er einen kennt, hätte er keinen Grund“, meinte Anya selbst überrascht von ihrer Niedergeschlagenheit und hielt dem Mann ihren Arm entgegen. Sie zog den Ärmel ihrer Lederjacke ein Stück hinauf und offenbarte das Kreuz im Dornenkranz. „Wegen dem hier.“

„Bist du dir sicher? Wenn er dein Freund ist, wird er es trotzdem versuchen.“

„Aber er ist es nicht. Wegen dem hier.“ Sie deutete auf dem Mal. „Bin sozusagen Staatsfeind Nummer 1.“

„Doch er hat dich zu dem Jinn geführt, nicht wahr? Er wollte, dass du von deiner Last befreit wirst.“

„Vielleicht hat er all das auch von Anfang an geplant“, erwiderte Anya wütend und schaute auf, „um mich loszuwerden. Er kann mich nicht töten, deswegen hat er mich in eine Falle gelockt.“

„Glaubst du das wirklich?“ Ihr Gegenüber fuhr sich mehrmals über den Bart. „Wenn du meinst. Dann ist er wirklich klug, dieser Dämonenjäger.“

 

~-~-~

 

[Matt: 1650LP / Jinn: 6100LP]

 

Stöhnend wischte sich Matt den Schweiß von der Stirn. Ihm war nicht aufgefallen, wie heiß es auf dem Bahnhof war, seit die Zeit für alle Menschen außer ihn und den Jinn angehalten hatte. Was aber daran lag, dass ebenjener brannte wie ein Öltanker in einem Vulkan. Pechschwarz waren die Flammen, die den Körper von Anya komplett verhüllten.

Matt vermutete, dass das die wahre Form des Jinns sein musste. Bloß war das nicht sein Problem. Jenes war der riesige Dämon, dem er in dieser grauen Welt gegenüber stand.

 

Thought Ruler Archfiend [ATK/2700 DEF/2300 (8)]

 

Seine mächtigen Schwingen weit ausspannend, starrte die mit einem Skelett bezogene Kreatur Matt angriffslustig an. Fast schlimmer noch war die permanente Zauberkarte des Jinns, [Soul Absorption], durch die er jedes Mal, wenn eine Karte verbannt wurde, 500 Lebenspunkte erhielt. Allein dadurch machte er Matt seither das Leben unsagbar schwer.

Dieser war jetzt zwar am Zug, saß dennoch mächtig in der Patsche. Sein Feld war leergeräumt und einzig seine drei Handkarten konnten ihn unter Umständen davor bewahren, den Wunsch zu verlieren.

Darum ging es hier schließlich, Anyas Hälfte des dritten Wunsches zu bekommen. Der Jinn, der Anya in diesem Duell vertrat, konnte sich selbst keine Wünsche erfüllen, obwohl auch er den missglückten zweiten Wunsch des Mädchens umkehren wollte. Deshalb musste er, Matt, der mit seinem Blut an der Lampe gerieben hatte, sich jetzt duellieren, damit er auch die andere Hälfte bekam. Erst dann konnte er Anya befreien.

„Dann lass uns mal loslegen“, murmelte der Dämonenjäger schließlich und griff nach seinem Deck.

 

~-~-~

 

„Mir ist langweilig“, brummte Anya genervt und bettete ihr Gesicht in ihre Hände, den Alten ungeduldig anstarrend.

Der ständige Farbwechsel ihrer Umgebung ging ihr mittlerweile ziemlich auf die Nerven. Jetzt stand alles in grellem Gelb, es blendete schon fast. Wenn sie tatsächlich den Rest ihres Lebens so verbringen musste, würde sie vermutlich allein deshalb nach spätestens einer Woche irre werden. Sofern sie nicht vorher an einem epileptischen Anfall starb, weil sie sich dabei auf die Zunge gebissen hatte. Es war zum Kotzen!
 

Seither hatten die beiden Gefangenen kein Wort mehr gewechselt, was der Hauptgrund war, warum Anya sich beklagte. Fast schien es, als würde der Opa darauf warten, dass sie von sich aus auf ihn zuging.

„Ich könnte dir ja ein paar Geschichten erzählen“, bot ihr Gegenüber nun an, „vielleicht lernst du ja noch etwas über Dämonenjäger? Die, die ich kannte, haben vieles erlebt.“

„Von mir aus.“ Resignierend verschränkte Anya ihre Arme. Immerhin bekam sie dann etwas Ablenkung.

 

„Auf meinen Reisen sind mir viele Dämonenjäger begegnet, nicht nur die, die die Macht der Wunderlampe gesucht haben“, begann der Bärtige seine Erzählung wie ein erstklassiger Märchenonkel. „Einer von ihnen war dieser besondere Mann, der hier mit mir eingesperrt war. Er suchte die Lampe, anders als all die anderen, nicht aus Eigennutz. Oder vielleicht doch? Ich glaube, das ist Interpretationssache.“

Anya horchte interessiert auf. Welcher Mensch wünschte sich schon etwas ohne Eigennutz?

„Was wollte er sich denn wünschen?“

„Das, was sich wohl die meisten von uns wünschen: er wollte die Menschen, die ihm lieb und teuer waren, wieder ins Leben zurückrufen. Doch nicht etwa, weil nur er sie vermisste. Nein, es gab da jemanden anderes, der diese zwei Menschen wesentlich dringender brauchte als er selbst.“

„Aber der Jinn kann keine Menschen wiederbeleben, hat er gesagt!“ Anya schnaubte. „Dein Kumpel war ein Trottel, wenn er sich das gewünscht hat, obwohl der Jinn ihn vorher aufgeklärt hat.“

„Oh? Nein nein nein, der Dämonenjäger hat sich etwas anderes gewünscht, als er die Regeln des Jinns erfuhr.“ Der Alte schenkte ihr eines seiner zahnlosen Lächeln und betrachtete anschließend seinen Stab. „Er wollte frei sein von dem Schmerz und der Verantwortung, den der Verlust dieser beiden mit sich brachte. Dieser Wunsch geschah aus Eigennutz. Und du musst wissen, die beiden, die er ins Leben zurückrufen wollte, waren ebenfalls Dämonenjäger. Gestorben durch die Hand ihrer Beute.“

„Das ist … Pech für die“, raunte Anya, die eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte.

„Mehr als nur Pech. Sie starben, weil sie sich überschätzt hatten. Aber ein Vater wird immer versuchen, seine Tochter zu retten, nicht wahr?“

Die Nase rümpfend, legte Anya wieder eine Hand auf ihre Wange und starrte bewusst zur Seite. „Nicht alle Väter, Opa …“

„Dieser hier schon. Sein Wunsch war es lediglich, sie wiederzusehen. Sie und ihren Ehemann, der ebenfalls starb. Damit sie sich um sein Enkelkind, ihren Sohn, kümmern konnten.“ Plötzlich klang der Fremde so unendlich traurig, dass Anya gar nicht anders konnte, als ihn anzusehen. „Aber indem er in seinem schwachen Moment die falschen Worte gewählt hatte … landete er hier.“

„Nicht losheulen“, motzte sie ihn unbeholfen an, „er ist doch jetzt tot und bei ihnen. Im Himmel oder sonst wo! Oder nicht?“

Aber unerwartet lächelte er sie wieder an und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Du bist ein gutes Kind.“

„N-nein! Garantiert nicht!“

Was allerdings auf taube Ohren stieß. „Warum erzählst du mir nicht etwas von dir? Was hat dich dazu gebracht, den Jinn aufzusuchen?“

 

Genau das, was sie eigentlich vermeiden wollte, dachte Anya frustriert und ließ den Kopf hängen. „Spielt doch keine Rolle mehr …“

„Wir werden bestimmt noch viel Zeit miteinander verbringen. Natürlich kannst du damit warten, bis du dich bereit fühlst, darüber zu reden“, sprach er einfühlsam auf sie ein, „aber ich sehe doch, dass dich schon die ganze Zeit etwas bedrückt.“

„Es ist-“

Aber nein, sie konnte nicht darüber reden! Doch als der Alte sie so gütig ansah, dass sie seinen Blick nicht länger ertragen konnte, löste sich ungewollt ihre Zunge. „Es ist, weil ich bald sterben werde! Aber ich will nicht sterben!“

„Ist es wegen deinem Mal?“, fragte ihr Gegenüber mit Blick auf Anyas Arm, wobei der Blick auf Levriers Paktsymbol durch die schwarze Lederjacke wieder verborgen lag.

„Ja …“, brummte Anya frustriert. „Ich war blöd genug, einen Pakt mit einem Gründer einzugehen. Was das ist, ist jetzt nicht weiter wichtig, kann ich dir auch später noch erzählen. Aber in neun Tagen wird etwas passieren, das mich entweder das Leben kostet und mich in die Hölle schickt … oder zu irgendetwas macht, von dem ich keine Ahnung habe, was es überhaupt ist.“

Der Alte zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Das klingt wirklich ernst. Welches Datum schreibt ihr denn? Ich habe leider schon lange den Überblick verloren.“

„Zurzeit den 02. November Zweitausend-…“ Den letzten Teil des Satzes hatte Anya nur leise genuschelt.

„So viel Zeit ist verstrichen? Dann bin ich bereits weit über 80 Jahre alt“, empörte sich ihr Gegenüber, jedoch durchaus belustigt über diese Tatsache. „Aber dann heißt das, dass dein Todesdatum auf den 11.11. festgelegt ist.“

 

Anya schwieg kurz, seufzte dann leise. „So sieht's aus.“

„Das ist ein sehr besonderes Datum. Ein Omen. Was hast du dir gewünscht, um deinem Schicksal zu entkommen?“

„Frei zu sein, von meinem Paktpartner getrennt zu werden. Dadurch bin ich aber hier gelandet.“

„Dann hat der Jinn deinen Wunsch fehlinterpretiert, genau wie damals bei jenem Dämonenjäger, der seinem Schmerz entkommen wollte. Wie traurig. Anscheinend versteht den Jinn nicht, was Freiheit bedeutet.“ Aber die Miene des Mannes hellte sich auf. „Aber was ist mit deinem Freund, dem Dämonenjäger? Wird er dir nicht helfen?“

„Niemals“, brummte Anya, die sich zwischenzeitlich aus dem Schneidersitz gelöst hatte und nun beide Arme um die Beine legte, als sie jene an sich heranzog. Es war, als wolle sie sich vor den Blicken ihres Gegenübers verstecken. „Denn der wäre genauso dran, wenn ich leben würde. Er ist sozusagen eines der Opfer, die benötigt werden, damit ich mein Schicksal erfülle. Nur deswegen hat er mir geholfen. Niemand … würde jemandem wie mir helfen …“

Der Opa lachte jedoch fröhlich. „So ein Quatsch. Es gibt immer jemanden, dem man etwas bedeutet, Kindchen!“

„Nicht in meinem Fall.“ Schließlich sah sie mit betrübter Mimik auf. „Ist nicht so, als ob ich nicht geahnt hätte, dass das hier schief geht. Aber dass ich jetzt weg bin heißt auch, dass keiner der anderen Malträger sterben muss. Und es bedeutet, dass meine Freunde … nicht mehr Gefahr laufen, so zu enden wie die anderen. Abby und Nick …“

Der Alte strahlte sie nun förmlich an. „Da bitte! Du hast Freunde. Und du sorgst dich um ihr Wohl, also werden sie sich auch um dich sorgen und dich hier heraus wünschen. Glaub daran!“

Doch Anya ließ wieder den Kopf auf ihre Kniescheiben sinken. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“

 

~-~-~

 

„Verdammt! Verdammt nochmal!“

Matt stand der Schweiß auf der Stirn. Seine gezogene Karte war nicht das, was er erhofft hatte. Damit konnte er lediglich etwas länger überleben.

Den Blick auf den beflügelten Dämon vor dem Jinn werfend, musste sich Matt eingestehen, dass letzterer ein ganz schön harter Brocken war. Doch noch war nicht alle Hoffnung verloren!

„Ich sehe mich gezwungen, diese Karte hier zu spielen: [One Day Of Peace]! Damit ziehen wir beide eine Karte, können aber bis zum Ende deines nächsten Zuges dem anderen keinen Schaden zufügen.“

Wortlos zogen sie beide eine Karte, womit der Jinn nun wieder ein Blatt besaß. Matts, welches aus vier Karten bestand, machte ihm jedoch wenig Hoffnung.

„Moment-!“, platzte es aus ihm heraus, als er es noch einmal genau betrachtete. Damit konnte er-!

Selbstbewusst verkündete er, als er ein Monster auf seine Duel Disk knallte: „Dieses Monster verdeckt und dazu noch eine gesetzte Karte! Das war's für diesen Zug!“

In horizontaler Lage tauchte der Kartenrücken des Monsters vor Matt auf, während direkt dahinter seine gesetzte Falle in vertikaler Position erschien.

Lass es klappen, betete Matt im Stillen.

 

„Ich beginne meinen Spielzug“, kündigte der Jinn jenen an und zog.

Matt indes ärgerte sich regelrecht über seinen teilnahmslosen Gegner. Selbst jetzt, da dieser einen beträchtlichen Vorsprung besaß, zeigte er keine Regung von der sonst so weit verbreiteten Überheblichkeit. Aber so war das wohl bei Jinns: sie kannten keine Gefühle. Nein, ganz stimmte das nicht. Die Neugier hatte ihn dazu getrieben, Anyas Körper zu übernehmen. Also war da vielleicht doch mehr?

„Ich beschwöre [Split Psychic Manipulator].“

Unter dem unheimlichen Dämon tauchte ein alter, rundlicher Mann auf, der zwei Spritzen in den Händen hielt, die mit Schläuchen an seinem Kopf verbunden waren. Sein grauer Bart reichte bis zum Boden.

 

Split Psychic Manipulator [ATK/400 DEF/100 (1)]

 

„Durch seinen Effekt reduziere ich die Stufe des [Thought Ruler Archfiends] um eins und erschaffe eine Spielmarke, die [Split Psychic Manipulator] gleicht.“

Laut gackernd warf der Alte eine seiner Spritzen hoch in die Luft, welche das linke Bein des Dämons traf. An dem Schlauch ziehend, entnahm er jenem eine grüne Flüssigkeit, die dadurch direkt in sein Gehirn floss. Bis dem Alten ein neuer Kopf wuchs, der eines Babys.

 

Spalt-Spielmarke [ATK/400 DEF/100 (1)]

Thought Ruler Archfiend [ATK/2700 DEF/2300 (8 → 7)]

 

„Nun benutze ich diese drei Monster, um eine Synchrobeschwörung durchzuführen.“

Matt entglitten die Züge. „Was!? Noch eine!?“

„Der Stufe 1 [Split Psychic Manipulator] stimmt sich nun auf die Stufe 1-Spielmarke und den Stufe 7 [Thought Ruler Archfiend] ab. Es erscheint daraufhin [Overmind Archfiend].“

Entsetzt verfolgte Matt, wie der Körper des alten Mannes zersprang und zu einem grünen Ring wurde, wobei der Kopf des Babys diesen zusammen mit dem Dämon passiert. Ein greller Lichtblitz blendete Matt, es folgte daraufhin ein grässliches Brüllen.

„Unmöglich!“, stammelte Matt, als er dieses neue Monster sah.

Äußerlich ähnelte es stark dem [Thought Ruler Archfiend], auch wenn der Skellettanteil an seinem Körper deutlich größer geworden war, wie die Bestie an sich, welche fast den halben Gang des Bahnhofs für sich in Anspruch nahm. Zudem glänzten die Knochen nun silbrig.

 

Overmind Archfiend [ATK/3300 DEF/3000 (9)]

 

„3300!? Das ist stärker als alles, was ich besitze!“

„Ich benutze nun den Effekt dieses Monsters und verbanne [Thought Ruler Archfiend] von meinem Friedhof.“

Aus dem Friedhof des Jinns tauchte eine blaue Sphäre auf, die umgehend von seiner permanenten Zauberkarte [Soul Absorption] aufgesaugt wurde.

 

[Matt: 1650LP / Jinn: 6100LP → 6600LP]

 

„Nun aktiviere ich [Miracle Synchro Fusion]. Indem ich ein Psi-Synchromonster und ein weiteres Psi-Monster von meinem Friedhof verbanne, ermöglicht es diese Zauberkarte, dass ich [Ultimate Axon Kicker] als Fusionsbeschwörung beschwöre.“

Matts Gegner schob [Magical Android] und [Split Psychic Manipulator] in das Unterfach der Duel Disk, welches alle seine aus dem Spiel entfernten Karten aufbewahrte. Zwei weitere Seelen stiegen daraufhin aus dem Friedhof auf und wurden sofort wieder von der permanenten Zauberkarte verschlungen, um deren Besitzer jeweils 500 Lebenspunkte zu schenken.

 

[Matt: 1650LP / Jinn: 6600LP → 7600LP]

 

„Will der mich verarschen!?“, hauchte Matt heiser, als vor dem [Overmind Archfiend] -noch- ein Monster derselben Größe auftauchte.

Auch dieses ähnelte stark dem [Thought Ruler Archfiend], mit dem Unterschied, dass diese Kreatur keine Beine mehr besaß, dafür aber sein dämonischer Schweif wesentlich länger war.

 

Ultimate Axon Kicker [ATK/2900 DEF/1700 (10)]

 

Matt runzelte ärgerlich die Stirn. „Ich glaube, jetzt kapiere ich es. Diese beiden Monster sind die zwei möglichen Pfade, die [Thought Ruler Archfiend] beschreiten kann. [Overmind Archfiend] stellt das Böse dar, und dieser hier das Licht.“

„Ich verstehe diese Interpretation nicht. Doch auch wenn deine Zauberkarte dich vor Kampfschaden beschützt, gilt dies nicht für deine Monster. Darum greift [Ultimate Axon Kicker] dein verdecktes Monster an.“

„Sicher …“

Der vordere Dämon konzentrierte in seinen Klauenhänden einen grünen Energieball, den er schließlich auf Matts gesetztes Monster abfeuerte. Unter einer tosenden Explosion wurde [Steelswarm Genome], eine formlose, schwarz geschuppte Gestalt, regelrecht zerfetzt. Selbst Matt, der den Schlag nicht abbekommen hatte, wurde von einer heftigen Druckwelle zurückgeworfen.

 

Steelswarm Genome [ATK/1000 DEF/0 (2)]

 

Der Jinn sah Matt teilnahmslos an, als dieser tief durchatmete. „Wenn [Ultimate Axon Kicker] ein Monster in Verteidigungsposition angreift, wird unter normalen Umständen Durchschlagschaden zugefügt. Da dies jedoch diese Runde nicht möglich war, sind deine Lebenspunkte sicher. Allerdings hat mein Monster ein anderes im Kampf zerstört, daher erhalte ich dessen Angriffspunkte, um mein Leben zu verlängern.“

„Das auch noch!?“

Grüne Lichter tanzten um den entflammten Jinn in Anyas Körper.

 

[Matt: 1650LP / Jinn: 7600LP → 8600LP]

 

„Damit ist mein Spielzug beendet.“

Matt aber starrte nur mit entglittenem Gesichtsausdruck seine Hände an. „Irgendjemand da oben muss mich wirklich hassen! Wie zum Teufel soll ich so viele Lebenspunkte auslöschen!?“

„Fahre mit deinem Zug fort, Meister“, forderte der Jinn jedoch nur, ohne ihm die Antwort für sein Problem zu geben.

 

Matt betrachtete sein Blatt, das aus seinem besten Monster und einem weiteren Artgenossen bestand. Und er hatte noch seine verdeckte Falle. Damit würde er sich zwar über Wasser halten können, aber wenn er dieses Spiel nicht bald beendete, würde er den Kampf verlieren.

Denn hier ging es nicht wirklich darum, das stärkere Monster zu beschwören. Es ging darum, wer am Ende zäher war, mit seinen Ressourcen besser umging. Und die Ressourcen des Jinns waren nicht etwa seine Karten, sondern seine Lebenspunkte, die durch seine Zauberkarte [Soul Absorption] schier unerschöpflich waren. Und nicht nur das, er besaß auch andere Wege, sie zu regenerieren, wie man anhand des [Ultimate Axon Kickers] sehen konnte. Lange würde das nicht mehr gut gehen.

„Für jemanden, der seit hunderten von Jahren in einer Lampe eingesperrt ist, bist du wirklich eine harte Nuss“, lobte Matt seinen Gegner respektvoll.

„Ich tue das, wozu ich erschaffen worden bin.“

„Keine Ahnung, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Aber ich muss dich besiegen, damit Anya zurückkommen kann!“

Der Jinn nickte. „Das ist korrekt. Um ihren Teil des Wunsches zu erlangen, musst du mich, ihren Vertreter, in diesem Duell schlagen. Wenn du verlierst, wird der Wunsch auf mich übertragen, doch aufgrund der Beschaffenheit eines Jinns ist es ihnen nicht möglich, ihre eigenen Wünsche zu erfüllen.“

Matt kratzte sich unsicher am Kopf. „Hast du denn einen?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich spüre den Drang, die alte Ordnung wieder herzustellen. Ist das ein Wunsch?“

„Ich glaube schon.“ Komischer Kauz, dachte sich Matt dabei. Wie aussah, wusste dieser Jinn gar nicht, was Wünsche überhaupt waren. Beziehungsweise verstand sie einfach nicht. Er lachte auf.

 

„Keine Sorge, ich helfe dir dabei schon irgendwie! Ich bin am Zug! Draw!“

Voller Schwung riss Matt die Karte von seinem Deck und brauchte nur einen kurzen Blick von der Seite auf sie zu werfen, um zu erkennen, dass -sein- Wunsch sich erfüllt hatte. „Perfekt!“

Er nahm vor seinem Gegner eine aufrechte Haltung an. „Gleich ist alles vorbei! Da ich keine Monster kontrolliere, beschwöre ich [Steelswarm Cell] als Spezialbeschwörung von meiner Hand!“

Sofort tauchte vor ihm ein kugelrunder Käfer auf, dessen kreisförmiger Schlund voller spitzer Zähne war.

 

Steelswarm Cell [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Sofort schwang Matt daraufhin seinen Arm aus. „Nun meine Falle: [Infestation Ripples]! Für 500 Lebenspunkte reanimiere ich jetzt [Steelswarm Genome]!“

 

[Matt: 1650LP → 1150LP / Jinn: 8600LP]

 

Kurz darauf gesellte sich zu dem dicken Käfer die unförmige, geschuppte Gestalt, die eher einer wabbeligen Masse ähnelte, denn einem Insekt.

 

Steelswarm Genome [ATK/1000 DEF/0 (2)]

 

Matt zückte nun eine seiner verbliebenen Handkarten und grinste verschlagen. „Damit ist der Weg für mein mächtigstes Monster geebnet! Gegen den hier hat niemand eine Chance! Ich biete meine beiden Monster als Tribut an, wobei ich Genomes Effekt nutze und ihn als zwei Tribute behandle! Befalle diese Welt wie eine Epidemie, vor der es kein Entkommen gibt! Herr der Seuchen, [Steelswarm Hercules]!“

Vor Matt erhob sich daraufhin ein Wesen, das es von der Größe her locker mit den Monstern des Jinns aufnehmen konnte. Wie ein Kriegsherr mutete dieser humanoide, pechschwarze Herkuleskäfer an, dessen Flügel einem Umhang gleich über dem breiten Kreuz des Monsters lagen. Gleich zwei Armpaare besaß diese Kreatur, beide übersät mit dicken, goldenen Hörnern. Das untere, kleinere verschränkte er in majestätischer Haltung, als wolle er seinen Feinden zeigen, dass es niemand mit ihm aufnehmen konnte.

 

Steelswarm Hercules [ATK/3200 DEF/0 (10)]

 

Und das konnten sie auch nicht, wie Matt im Begriff zu erklären war. „Dieses Monster kann nur durch drei erbrachte Tribute gerufen werden, hat es dafür aber in sich!“

Plötzlich packte der Herkuleskäfermann mit seinem zweiten Armpaar zwei violette Energielanzen, die er aus dem Nichts erschaffen hatte. Der Dämonenjäger sagte dazu: „Einmal pro Zug vernichtet Hercules für die Hälfte meiner Lebenspunkte absolut -alles- auf dem Spielfeld, außer sich selbst!“

 

[Matt: 1150LP → 575LP / Jinn: 8600LP]

 

Die erste Lanze warf der mächtige Krieger in die Richtung des Jinns, welcher sich jedoch nicht einmal einen Millimeter bewegte. Die zweite stemmte er vor Matt in den Boden.

„Sag Goodbye zu deinen Psychokreaturen!“, donnerte Matt siegessicher.

Dann explodierten die Lanzen, erst die geworfene, noch mitten in der Luft zwischen den beiden Monstern des Jinns, dann jene vor Matt. Der gesamte Gang des Bahnhofs wurde unter lautem Krachen in tiefen, violetten Nebel gehüllt.

Matt ballte eine Faust, als sich die Schwade um ihn herum zu lichten begann. „Das hat dich erwischt, huh?“

Als er aber zwei riesige Schatten vor sich erkannte, die sich aus dem Nebel abzuzeichnen begannen, verging ihm das Lachen. Und kaum war der Nebel ganz verschwunden, bestätigte sich seine Vermutung.

„Du bist echt nicht kleinzukriegen, was!?“

Der Jinn, welcher sich hinter seinen Monstern aufhielt, antwortete: „[Ultimate Axon Kicker] kann nicht durch Karteneffekte vernichtet werden. Außerdem beschwört [Overmind Archfiend] ein durch seinen Effekt verbanntes Monster auf meine Spielfeldseite, sollte er zerstört werden. Deswegen ist [Thought Ruler Archfiend] an seine Stelle getreten.“

 

Thought Ruler Archfiend [ATK/2700 DEF/2300 (8)]

 

„Ach so? Stimmt, jetzt seh ich den Unterschied.“

Dieser Dämon war etwas kleiner und hatte Beine. Aber Matt setzte daraufhin nur ein keckes Grinsen auf und zückte seine letzte Handkarte. „Tut mir leid, aber ich habe mir schon fast gedacht, dass deine beiden Monster nicht so leicht tot zu kriegen sein werden. Genau wie du. Deswegen war das eben nichts weiter ein Testlauf! Der wahre Spaß fängt hiermit an! Mit dem Zauber [Origins Of Infestation]!“

Plötzlich platzten aus der Brust seines Herkuleskäfers, welcher in der Zwischenzeit alles verärgert beobachtet hatte, violette Sporen hervor. Es ächzte unter Schmerzen und streckte beide Armpaare weit aus, genau wie auf Matts Karte abgebildet.

Dieser erklärte dazu: „Diese Zauberkarte funktioniert nur in Verbindung mit einem Steelswarm-Monster, das in diesem Zug als Tributbeschwörung gerufen wurde! Und sie hat es in sich! Jetzt erhält [Steelswarm Hercules] für alle seine Artgenossen und Infestation-Karten auf meinem Friedhof 200 Angriffspunkte, was insgesamt neun Stück sind!“

Der dämonische Käfermann stieß einen tiefen, kehligen Schrei aus.

 

Steelswarm Hercules [ATK/3200 → 5000 DEF/0 (10)]

 

„Und noch etwas!“, rief Matt plötzlich und fuhr sich dabei mit dem Handrücken über die blutverschmierte Nase, die er Anya zu verdanken hatte. „Dieses Monster kann zusätzlich zu seinem normalen Angriff für jedes Monster, das bei seiner Beschwörung geopfert wurde, noch einmal angreifen! Was zwei Zusatzangriffe für mich bedeutet! Das ist die volle Stärke meines Decks!“

Der Jinn nickte. „Ich verstehe. Demnach habe ich dieses Duell verloren.“

„Yeah …“ Matt schloss die Augen. „Tut mir leid für den Ärger, den Anya verursacht hat. Bald ist alles wieder so, wie es sein sollte.“

Dann riss er sie auf und streckte seinen Arm in die Höhe. „[Steelswarm Hercules], beende es! Greife die beiden Monster und anschließend den Jinn direkt an! Infestation's Solitude!“

Regelrecht kreischend reckte Matts Monster seine Brust nach vorn und schoss einen gewaltigen Laserstrahl daraus ab, der erst [Thought Ruler Archfiend], dann [Ultimate Axon Kicker] und schließlich den brennenden Jinn selbst erfasste.

Eine gewaltige Druckwelle, ausgelöst durch die Zerstörung der Monster, erfasste Matt und drohte ihn mit sich zu reißen. Aber es war nicht nur eine, nein, immer wieder entstanden neue, die sich im ganzen Bahnhof ausbreiteten.

 

[Matt: 575LP / Jinn: 8600LP → 0LP]

 

„Nenne deinen Wunsch, Meister“, drang die Stimme des Jinns trotz des Getöses glasklar an Matts Ohr.

Der, mit dem heftigen Wind kämpfend, wurde immer weiter nach hinten gedrückt. Ächzend rief er mit aller Kraft: „Ich wünsche mir, dass Anya Bauer in ihren Körper zurückkehrt! … zusammen mit allen anderen, denen durch deine Hand dieses Schicksal zuteil wurde!“

Erst gab es keine Antwort. Doch schließlich: „Dein Wunsch wurde erfüllt. Nun werde ich in meinen Schlaf zurückkehren.“

Die Druckwellen wurden zu stark für Matt. Schreiend wurde er mit ihnen gerissen, doch noch während er über den Boden flog, hörte er noch etwas.

„Mein Wunsch ist es, dass die Lampe zerstört wird.“

„Huh!?“

Dann prallte er mit voller Wucht auf dem Boden auf. Alles wurde schwarz vor seinen Augen …

 

~-~-~

 

„Was hast -du- dir eigentlich gewünscht, dass du hier gelandet bist, Opa?“, fragte Anya nach einer Weile neugierig und sah den Alten fragend an. „Die ganze Zeit hast du die Geschichten anderer erzählt und dir meine angehört. Aber warum du hier bist, weiß ich noch gar nicht.“

„Oh? Ich glaube doch.“

„Wie mein-“
 

Doch ein heftiges Beben erschütterte plötzlich die endlose Dimension. Anya kippte nach vorne, in die Arme des Mannes.

„Was ist das!?“, schrie sie und starrte mit ihm zusammen in den 'Himmel', in welchem sich plötzlich Risse bildeten, aus denen goldenes Licht drang.

„Wie es aussieht hast du doch Freunde, mein Kind!“, lachte er glücklich.

Fassungslos beobachteten beide, wie dieser befremdliche Ort in sich zusammenbrach. Und als das Licht die beiden endlich erreichte, lösten sie sich auf.

 

Anya sackte nach vorne und wusste nicht, ob sie gerade fiel oder auf dem Boden lag. Aber nein, das war …

Sie öffnete die Augen und lag auf der Brust des Mannes, welcher schwer atmete. Sofort schreckte sie auf und sah sich um.

„Huh!?“

Sie befanden sich in einer Art Lager, überall standen Kisten mit Aufschriften und auch ein Gabelstapler war hier zu finden.

„Ach so!“, schoss es aus ihr heraus, als sie schließlich verstand. Hier wurden die Briefe und Pakete gelagert und sortiert, damit sie später den Schließfächern zugeordnet werden konnten.

 

Sofort wandte sie sich an den alten Mann und packte ihn strahlend an den Schultern. „Wir sind frei! Opa, wir sind frei!“

„Ich fürchte … leider etwas zu spät …“

„Huh!?“

Der Mann öffnete keuchend seine Augen und sah sie mitleidig an. Seine Augen waren blutunterlaufen, ganz anders als noch vor wenigen Minuten. „Wie es aussieht … bin ich nicht mehr so jung wie du. In dieser Welt macht sich mein Alter bemerkbar.“

„Was redest du da!? Du siehst doch ganz fit aus für einen 80-Jährigen! Du kannst doch jetzt nicht einfach mir nichts, dir nichts krepieren!“

„Die Welt in der Lampe hat innerhalb der Jahre das Innere meines Körpers verändert. Ich musste nie essen, aber habe trotzdem so lange überlebt. Ich glaube, deshalb kann ich außerhalb der Lampe nicht mehr existieren.“

Doch Anya schüttelte ihn nur aufgeregt. „Rede nicht so'n Unsinn, das war doch alles nur Magie! Jetzt ist es vorbei!“

„Du hast Glück, dass du nicht lange dort warst.“ Der Mann lächelte glücklich, als ihn ein Hustenanfall mit blutigem Auswurf heimsuchte. Hilflos sah Anya sich um, doch es gab nichts, was sie tun konnte. Als der Anfall sich gelegt hatte, schloss er die Augen. „Du hast mich nach meinem Wunsch gefragt. Wahrscheinlich hast du es längst durchschaut, aber ich … war der Dämonenjäger, der versucht hat, seine Familie wiederzusehen.“

„Dann stirb jetzt nicht!“, schrie Anya aufgebracht. „Wir finden bestimmt einen Weg! Es gibt so vieles, was-“

„Du bist wie mein kleiner Enkel damals. Stur, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann, ein Mittel zu finden kann, wie du Edens grausamen Fluch loswirst.“

Anya schreckte zurück. „Du weißt-!?“

„Sag meinem Enkel, wenn du ihm jemals begegnest … sag A- …“ Doch der Kopf des Mannes kippte zur Seite, bis sein Körper sich in grellen, tanzenden Lichtern aufzulösen begann.

Anya fasste sich an die Wange, als sie realisierte, dass er tot war. Sie war nass. Die andere auch. Ihre Augen, warum weinte sie? Warum weinte sie!? Und wieso hörte es nicht auf!?

„Tut mir leid …“, schluchzte sie unter bitteren Tränen. „Es tut mir so leid …“

 

~-~-~

 

Matt schlug benommen die Augen auf.

„Oh Gott sei dank, er ist wach!“, hörte er eine fremde Stimme rufen.

Ein Mann, den er nicht kannte, beugte sich über ihn. „Junge, bist du okay? Auf einmal lagst du am Boden.“

„Mir ist nur etwas schwindlig“, log Matt, als er die Menschentraube um sich herum bemerkte. Tatsächlich war ihm aber -sehr- schwindlig.

„Na Dornröschen, endlich aus dem Prinzessinnenschlaf aufgewacht!?“

Der Dämonenjäger schreckte auf, als sich ein Teil der Traube auflöste. Mit verschränkten Armen stand Anya vor ihm. Sie wirkte unglaublich mitgenommen, aber ansonsten unversehrt. Keine Brandwunden.

Matt sprang auf und wollte ihr entgegen kommen, doch ein Faustschlag streckte ihn nieder und warf ihn direkt auf den Boden zurück. Sofort regten die umstehenden Leute sich auf, doch Matt gebot ihnen mit erhobener Hand Einhalt. Mit aufgerissenen Augen schrie er sie von unten herab an: „Ist das der Dank dafür, dass ich gerade deinen Arsch gerettet habe!?“

„Nein! Das ist die Strafe dafür, dass ich solange warten musste, Mistkerl!“

„Du undankbares Miststück!“

Plötzlich reichte Anya ihm mit abschätziger Miene die Hand. Es schien ihr geradezu größte Mühen abzuverlangen, die folgenden Worte auszusprechen: „Trotzdem danke.“

Einen Moment mit eisigem Blick verharrend, packte Matt schließlich mit wütendem Augenrollen ihre Hand und ließ sich von ihr aufhelfen. „Keine Ursache. Und sei froh, dass ich keine Mädchen schlage. Sonst würdest du jetzt durch jeden Türschlitz passen.“

Gott, jetzt redete er sogar schon wie sie! Einen schlechteren Einfluss als die Blondine konnte es gar nicht geben!

„Ja, nur treten“, brummte Anya und erinnerte sich an ihre letzte Begegnung.

Matt wirbelte um und wies die anderen Leute um sie herum mit scheuchender Handbewegung an, dass alles gut war und sie verschwinden konnten. „Abmarsch Leute, hier gibt es nichts zu sehen, alles ist gut!“

„Ja, zieht Leine!“, half ihm Anya und die, die sie erkannt hatten, entfernten sich eiligen Schrittes von den beiden. Was nicht gerade wenige Leute waren. Eben die letzten Nullnummern, die immer noch nicht geschnallt hatten, wer da vor ihnen stand.

„... hier hat es nicht gebrannt, wie man sieht!“, rief Matt denen zu, die immer noch davon überzeugt waren, dass kurz zuvor ein Feuer getobt hatte.

„Komm, lass uns schnell verschwinden“, meinte Anya schließlich, nachdem das Chaos sich etwas gelegt hatte, und schnappte sich kurzerhand die Lampe, die vor dem Postfach auf dem Boden lag. „Ehe die Cops kommen, weil jemand mich verpetzt hat.“

„Gut …“

 

~-~-~

 

„Wo warst du überhaupt die ganze Zeit, als der Jinn deinen Körper besetzt hat?“, fragte Matt sie neugierig, als die beiden schließlich im VW-Bus des Dämonenjägergespanns saßen.

Anya, mit der Wunderlampe auf dem Schoß, drehte sich verwirrt zu ihm um. Erst zögerte sie etwas, ehe sie antwortete: „Im Elysion, wo sonst? Levrier war auch da. Der Jinn hat ihn schon unterdrückt, als wir den Bahnhof betreten haben.“

Matt schüttelte genervt den Kopf. „Dasselbe bei meinem Exemplar. Aber das hätte verdammt nochmal echt ins Auge gehen können! Was hast du dir dabei gedacht, mir einfach eins reinzuwürgen!?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Wollte verhindern, dass du dich einmischt.“ Beschwichtigend, aber doch gleichzeitig mit ihrer typischen, unterschwelligen Boshaftigkeit, fügte sie noch hinzu: „Außerdem steht dir die Nase irgendwie gut zu Gesicht.“

Daraufhin schnaufte ihr Gegenüber wütend. „Hätte ich mich nicht eingemischt, wärst du jetzt nicht hier!“

„Ich hab mich doch schon bedankt!“

„Ja …“ Matt stöhnte und tupfte sich mit einem Taschentuch dabei die blutige Nase ab. „Auf jeden Fall sollten wir das Ding zerstören.“

Er deutete auf die blutbesudelte Messinglampe auf Anyas Schoß. „Daraus entspringt nichts Gutes! Außerdem war es der Wunsch des Jinns … glaub ich.“

„Oh, damit hab ich keine Probleme“, brummte Anya und schaute sich die Öllampe wütend an, drehte sie in ihren Händen. „Am Ende war alles nur falscher Zauber. Obwohl, die Karten hab ich noch …“

„Die was?“

„Nichts“, wich sie seiner Frage aus.

„Tch, was auch immer. Aber ich glaube“, Matt seufzte schließlich und warf das Taschentuch über seine Schulter, um sich ein neues aus dem Fach vor Anya zu holen, „dass der Jinn nicht böse war. Soweit ich es verstanden habe, liest er die Wünsche auch von unseren Herzen, nicht nur von den Lippen. Aber ein Jinn versteht weder, was Wünsche sind, noch die Emotionen, die mit ihnen gekoppelt sind. Deswegen hat er sie auch fehlinterpretiert.“

Er wandte sich neugierig an Anya. „Ich habe alle frei gewünscht, die er eingesperrt hat, vorsichtshalber. Waren denn da noch andere?“

Anya zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich habe niemanden gesehen. Wie auch, das Elysion ist doch nur dem Besitzer und irgendwelchen Geisterspackos zugänglich, oder nicht?“

Schließlich zückte Matt den Schlüssel und startete den Motor. „Egal, jetzt sind sie frei. Die Lampe wird die nächsten Jahrzehnte nicht zu gebrauchen sein, weil sie sich erst aufladen muss. Also können wir sie nicht noch einmal verwenden. Worum ich aber ehrlich gesagt nicht traurig bin …“

 

Hast du das vorhin gehört, Anya Bauer?

 

Anya schreckte beim Klang von Levriers Stimme auf. „Was?“

 

Vorhin. Es klang tatsächlich, als ob jemand laut geweint hat.
 

„Tch! Putz dir die Ohren, da war nichts!“ Und leise flüsternd fügte sie noch hinzu, damit Matt es nicht hörte: „Und was -da- passiert ist, geht niemanden etwas an, klar!?“
 

Du wirst dich nie ändern, oder?

 

„Scheint ja wieder alles beim Alten zu sein“, kommentierte Matt die Selbstgespräche des Mädchens belustigt. „Das war ein totaler Reinfall. Ich will jetzt einfach nur nachhause und ins Bett … und Alector wird sich was anhören können!“

„Ja …“

 

Ein totaler Reinfall. Anya war immer noch an Levrier gebunden. Selbst der Jinn hatte ihr am Ende nicht helfen können. Vielleicht gab es wirklich keinen Weg, von Levrier loszukommen? Es war wohl wirklich ihr Schicksal …

 

 

Turn 24 – The Collector

Am Folgetag entschließt sich Anya dazu, endlich die Orte zu untersuchen, an denen die verschiedenen Pakte geschlossen worden sind. Nachdem sie zu einer interessanten Schlussfolgerung gekommen ist, wird sie plötzlich von einem Mann angesprochen, der sich als derselbe Dämon herausstellt, welcher schon Marc ins Leben zurückgeholt hat – der Sammler. Und er macht Anya ein Angebot, das geradezu verführerisch gut klingt. Jedoch …

Turn 24 - The Collector

Turn 24 – The Collector

 

 

„Puh, nur noch ausdrucken und ich bin fertig damit“, sagte Abby, nachdem sie den letzten Satz ihres Aufsatzes über den Artikel 231 des Versailler Vertrags abgetippt hatte. „Du wirst wirklich danach suchen gehen?“

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um 180° und sah zu Anya herüber, die auf Abbys Bett lag und verschiedene CDs anschaute, die allesamt dem Hippiemädchen gehörten.

„Ja, nachher“, antwortete die Blondine beiläufig und zeigte eine rote CD, auf der ein Piano abgebildet war, in die Höhe. „Kann ich mir die ausleihen?“

„Klar. Aber seit wann hörst du Mozart? Ich dachte Chopin wäre jetzt bei dir in?“

„Das bleibt unser Geheimnis, klar!? Wenn du es weitererzählt, werde ich allen erzählen, dass das Pennerkind bei dir wohnt und mit dir rumhurt!“

 

Niemand durfte je erfahren, dass Anya Bauer … klassische Musik liebte. Außer Abby, die ihre Leidenschaft teilte. Bloß war die so langweilig, dass sich niemand daran störte. Bei Anya hingegen war das anders, sie hatte immerhin ihren schlechten Ruf zu verlieren.

Diese Art der Musik hörte sie nur, wenn absolut niemand zuhause war und sie davon ausgehen konnte, dass das auch so blieb. Sie verstand sowieso nicht, warum man nicht beides, Death Metal UND Klassik hören durfte, ohne gleich als vollkommen irre abgestempelt zu werden. Diese Auszeichnung wollte sie sich durch andere Dinge verdienen, nicht durch die Musik, die sie hörte.

 

„Ist ja gut“, erwiderte Abby beleidigt und rückte ihre getönte Brille zurecht. „Er ist ohnehin nur hier zum Schlafen und manchmal zum Essen. Dass er so aufopferungsvoll nach seiner Schwester sucht, ist irgendwie … romantisch. Ich beneide sie fast ein wenig.“

Keifend erwiderte Anya daraufhin: „Geh mit ihm aus und ich kill einen von euch! Vorzugsweise ihn!“

„Ich weiß es zu schätzen, dass du eifersüchtig bist“, stichelte Abby pikiert, „aber die Wahl meiner Freunde treffe ich immer noch selbst.“

„Rede ich hier neuerdings mit einem Redfieldklon?“ Anya blinzelte verdutzt. „Seit wann wehrst du dich?“

„Seit ich dir das Leben zur Hölle machen kann?“

Um das zu demonstrieren, warf Abby eine einzelne, auf ihrem Schreibtisch herumliegende Naturiakarte in Anyas Richtung, aus der plötzlich eine kleine Sonnenblume mit Augen, Armen und Beinen auftauchte, direkt vor Anyas Nase.

„Ach ja?“, erwiderte diese herausfordernd, schnappte sich die Blume kurzerhand und biss ihr in den Kopf.

Sofort sprang Abby kreischend auf. „Neeeeeein! Was machst du denn da!?“

Daraufhin verwandelte sich die Sonnenblume in die Karte [Naturia Sunflower] zurück, die nun durch Anyas Zahnabdrücke entstellt war. Beide Mädchen sahen sich einen Moment lang an, ehe sie laut zu lachen anfingen.

 

„Ich gehe dann mal“, meinte Anya schließlich und sprang von Abbys Bett auf. Die CD packte sie neben die Duel Disk in ihren Rucksack, welchen sie danach schulterte. „Muss noch halb Livington abklappern, was 'ne Weile dauern kann.“

„Ich hoffe, du findest irgendeinen Hinweis, der dir weiterhilft“, meinte Abby aufrichtig und sah Anya besorgt an. „Wenn ich irgendetwas tun kann, dann sag es.“

„Ne sorry, ich fürchte, das ist 'ne Gründer-only-Angelegenheit. Du spürst ja nicht mal etwas direkt vor unserer Haustür, da wo Matts Pakt geschlossen wurde.“

„Leider nein.“

Anya stöhnte aufgrund des bedrückten Tonfalls ihrer Freundin. „Mach dir nichts draus, ich auch nicht, nur Levrier. Wie gesagt, ist wohl allein sein Gebiet.“

„Aber er hat nichts herausgefunden?“

„Nein, deswegen wollen wir uns ja die anderen Orte ansehen.“ Anya kratzte sich mit zusammengekniffenen Augen hinter dem Ohr. „Auch wenn ich nicht glaube, dass wir was finden.“

Abby legte einen mitleidigen Blick auf. „Und dir geht es auch wirklich wieder gut? Ich meine, erst gestern …“

„Ja ja, klar. Das mit dem Jinn ist dumm gelaufen, aber ich habe eh nie viel erwartet.“

„Was ist aus der Lampe geworden?“

Frech grinsend fuhr sich Anya mit dem Daumen über die Kehle. „Matt hat sie gestern noch verschrottet. Aber der dämliche Jinn wollte es ja so.“

„Trotzdem ist das irgendwie traurig.“

„Ja ja, was auch immer. Also ich hau dann mal rein, bis morgen“, Anya steckte angeekelt die Zunge heraus, „in der Schule. Warum muss ich da hingehen, wenn ich sowieso bald weg vom Fenster bin!?“

Doch Abbys strenger Blick sagte Anya, dass sie von ihr keine Zustimmung erhalten würde. Also verabschiedeten sich die Mädchen voneinander, sodass die Blondine sich auf dem Weg machen konnte.
 

Von Abby aus am nächsten lag der Park, in dem Marc sich mit Isfanel verbündet hatte. Zwar war Anya nicht wohl bei dem Gedanken, ihn aufzusuchen, nach allem was zwischen ihr, Marc und Valerie geschehen war, doch ließ es sich nicht vermeiden. Umso schneller hatte sie es hinter sich, sagte sich das Mädchen immer wieder.

Danach stand die Schule auf dem Programm, wo sie selbst den Pakt mit Levrier geschmiedet hatte. Anschließend würde sie zu der Stelle gehen, an der angeblich Alastair sein Mal erhalten hatte. Dort, wo sie vor einigen Wochen Jonathans Leiche gefunden hatte. Von wo es immerhin nicht mehr weit bis nach Hause war. Victim's Sanctuary, Valeries 'Territorium', lag dummerweise auf der anderen Seite der Stadt, weshalb Anya es sich für morgen nach der Schule aufheben musste.

Trotzdem, ihre Motivation ließ zu wünschen übrig …

 

~-~-~

 

Energiereste, wie auch bei dir zuhause. Aber nichts deutet daraufhin, wie wir sie für unsere Zwecke gebrauchen sollen. Hier liegen die Scherben eines zerbrochenen Elysions, doch zugreifen kann ich nicht darauf. Was bedeutet das?

 

„Dass du nutzlos bist?“, antwortete Anya ihm gallig und sah sich voller Unwohlsein um.

Das ganze Gebiet war abgesperrt worden, damit niemand den Tatort betreten konnte, was Anya jedoch nicht daran störte, das vollkommen abgebrannte Gelände trotzdem unsicher zu machen.

Sie stand in diesem Moment womöglich auf der Stelle, von der aus sie den Todesschlag gegen Marc befohlen hatte. Doch heute war es helllichter, wenn auch kühler Tag.

Aber nicht die herbstlichen Temperaturen waren der Grund, warum Anya ihre schwarze Totenkopflederjacke enger an sich zog. Es war der Teufel auf ihrer Schulter, der auf den Namen 'schlechtes Gewissen' hörte.

„Können wir jetzt gehen?“, nörgelte sie unzufrieden. „Ich frier' mir hier den Arsch ab.“

 

Wie bedauerlich. Komm, wir gehen in eine wärmere Zone der Stadt. Oder gleich nach Jamaika?

 

„Hör' auf mich zu ärgern, du Geisterspacko! Wenn ich mich bewege, wird mir wenigstens warm.“
 

Lass mich raten: durch dieses Wissen hast du deinen erstes „Bestanden“ bei einem Physiktest bekommen?

 

„Nein! Das habe ich dafür bekommen, dass ich genau berechnen konnte, wie schnell ein Messer fliegen muss, um einen Schädel sauber zu spalten! Wenn du willst, führe ich es dir gerne vor!“

 

Wie dem auch sei, ich habe nicht gefunden, wonach ich gesucht habe. Lass uns deine Schule aufsuchen.

 

Anya schnaubte. Ausgerechnet an einem Sonntag ging sie -freiwillig- in die Schule. Wenn jemand sie dabei sah, würde sie den Rest ihres Lebens wegen Mordes hinter Gitter kommen. Andererseits: lange absitzen müsste sie eh nicht.

„Na endlich“, brummte das Mädchen und setzte sich in Bewegung.

 

~-~-~

 

Auf dem kreisrunden Campusgelände angekommen, sah Anya sich um. Keiner außer ihr war hier, gut. Weder bei den Sporthallen links, noch rechts vor dem Gebäude der Unterstufe rührte sich etwas.

Also blieb nur noch der Weg geradeaus: ins Oberstufengebäude, gemacht aus dem hässlichsten Backstein, den Anya je gesehen hatte.

„Dafür müsste ich dich eigentlich auf Schadensersatz verklagen!“, beschwerte sich Anya und reichte nach dem Türgriff aus. Aber die Tür öffnete sich nicht. Auch nicht durch schütteln. „Was zum-!?“

 

Du besitzt nicht zufällig einen Schlüssel?

 

„Nö. Nicht dass ich einen bräuchte, aber du kannst nicht zufällig durch Wände gehen?“

 

Sicher könnte ich das. Du aber nicht. Bedauerlicherweise muss ich mich in deinem Radius aufhalten, solange der Pakt gültig ist.

 

„Also hiermit“, brummte Anya, zog sich kurzerhand eine Büroklammer aus den Haaren nahe ihres Pferdeschwanzes und verbog sie so, dass sie in das Schlüsselloch passte. Unter größter Friemelei versuchte Anya, das Schloss zu knacken.

 

Ich werde nicht fragen, warum du das in deinen Haaren trägst. Aber wenn du dir von Abby schon CDs leihst, frage sie das nächste Mal doch bitte auch nach Modeaccessoires.

 

„Die habe ich immer mit dabei, eben wegen so- scheiße.“

Das Ding war einfach abgebrochen, wie sie feststellen durfte, nachdem sie den Rest davon hinauszog. Mit fassungsloser Miene betrachtete sie ihr 'Werkzeug'. „Seit wann brechen Büroklammern ab!?“

 

Bist du dir sicher, dass das überhaupt eine ist? Ich gehe nicht davon aus, dass du sonderlich oft Büroklammern benutzt?

 

Bei näherem Ansehen war Anya sich da tatsächlich nicht mehr so sicher. Das Ding wegwerfend, stöhnte sie laut. „Also dann eben auf die altmodische Tour.“

Sprachs und schritt kurzerhand ein paar Meter weiter zu einem etwas erhöht liegenden Fenster, das zu einem der Klassenräume gehörte und schlug es mit dem Ellbogen ein.

 

Dezent wie immer.

 

„Uns wird schon keiner sehen! Außerdem ist das nicht das erste Mal“, murmelte Anya, beseitigte die verbliebenen Scherben innerhalb des Fensters vorsichtig und zog sich schließlich in das Klassenzimmer hinauf. Dabei redete sie ächzend weiter.

„Vor drei Jahren – Oder waren es vier? – hab ich mal meine Akten geklaut und verbrannt. Aber die Idioten hatten sich vorher Kopien gemacht.“

Mit einem Satz landete sie in dem Raum, in dem unter anderem ihr Geschichtskurs stattfand. Eilends schritt sie auf die Tür zu-

 

Der arme Wald, der dafür herhalten musste …

 

-und trat die Tür mit einem gezielten Kick auf, um auf den Gang zu gelangen. Das Schloss war einfach herausgebrochen und hing lose an der Tür.

„Wow“, staunte Anya, „ich glaub, ich bewerbe mich demnächst mal bei Superwoman als Aushilfe.“
 

Ich habe etwas nachgeholfen, wenn es dir nichts ausmacht. Und versuch es gar nicht erst. Bei Harley Quinn hast du größere Chancen.

 

„Du kennst dich mit Comics aus?“ Anya pfiff anerkennend und hastete durch den Gang, der sie zur Aula führen sollte.

 

Wenn die überall bei dir herumliegen, komme ich nicht umher, einen Blick zu riskieren.

 

Doch Anya war bereits vor der großen Flügeltür angelangt und öffnete sie mit beiden Händen, wie schon zuvor, als Alastair ihre Freunde gekidnappt hatte.

Den langen Raum durchschreitend, sah sie sich überrascht um. Die Stühle waren fort, damit die Bauarbeiter ungestört das Loch in der Decke reparieren konnten, durch welches trübes Tageslicht drang. Auch der Schutt war weggeräumt worden, dafür stand im Gegenzug nun ein Baugerüst mitten im Saal.

„Und, spürst du irgendwas?“, fragte Anya neugierig, als sie direkt in der Mitte der Aula zum Stehen kam. Ihre Stimme hatte einen leichten Nachhall.

 

Dieser Ort … ist anders. Ganz anders.

 

„Sind das gute Nachrichten?“

 

Ich glaube weniger. Die Scherben deines vorherigen Elysions sind zwar voller Energie, doch nicht alle. Außerdem kann ich nicht tiefer in das Gefüge eindringen, obwohl es dein Elysion ist.

 

„Das ist bescheuert“, stöhnte Anya und fasste sich genervt an die Stirn. „Lass uns von hier verschwinden, ehe wir noch erwischt werden. Was Konstruktives kommt hier ohnehin nicht bei raus.“

 

Mit dir definitiv nicht. Ich bin unschlüssig, was das zu bedeuten hat. Vermutlich ist all das meinem Einfluss als Gründer zu verdanken, doch wieso kann ich dein zerbrochenes Elysion nicht betreten?

 

„Weil ich ein neues habe?“ Die Blondine blinzelte verdutzt und wickelte dabei ihren Pferdeschwanz um den Zeigefinger. „Habe ich überhaupt ein neues?“

 

Ja. Nach einem Pakt wird ein neues Elysion geboren, während das alte zerbricht. Das liegt daran, dass ich ein Teil deiner selbst bin und somit auch zu deinem Elysion gehöre. Das, was uns hier begegnet ist, dürfte nicht sein. Ein zerbrochenes Elysion dürfte unter normalen Umständen nicht mehr existieren.

 

Anya schnalzte mit der Zunge. „Das habe ich auch kapiert! Nur sind das hier keine normalen Umstände. Egal, wenn das Ding defekt ist, haben wir ein Problem. Wie wär's wenn wir uns erstmal das letzte für heute anschauen gehen und uns dann überlegen, wie wir dieses hier reparieren?“
 

Vielleicht ist das die Lösung? Um Eden zu erwecken muss dieses Elysion wieder zusammengesetzt werden. Manchmal ist deine Art zu denken gar nicht so abwegig.

 

„D-danke“, brummte Anya mit einer Spur Stolz in der Stimme. „Aber ich will jetzt wirklich hier weg. Normalerweise habe ich keinen Schiss vor Cops, aber wenn die mich jetzt einbuchten, können wir dieses Ding nicht reparieren. Also nichts wie weg.“
 

Du hast recht, wir sollten uns um das nächste Elysion kümmern. Dem von Alastair …

 

~-~-~

 

„Ich glaube hier hat er gelegen“, meinte Anya eine knappe halbe Stunde später und deutete mitten auf den Asphalt der schmalen Straße.

Die Häuser zu ihrer Linken befanden sich allesamt auf einer höher gelegenen Ebene, die durch eine paar Stufen unweit von Anya erreicht werden konnte. Gegenüber der hohen Steinfassade lag ein dichter Wald, die Stadtgrenze, doch das Mädchen hatte keine Blicke für ihn übrig.

Der Himmel war beinahe genauso erdrückend grau wie an jenem regnerischen Tag, als Anya die Leiche entdeckt hatte. Doch dieses Mal schüttete es nicht wie aus Eimern. Eher hatte man den Eindruck, dass es jeden Moment schneien könnte. Das hieß, wenn man nicht wusste, dass es in Livington nur sehr selten schneite.

 

Du stehst genau auf der Stelle. Geh aus dem Weg.

 

Anya, die sich das nicht zweimal sagen ließ, wich mit flauem Gefühl im Magen zurück. Was auch gut so war, als direkt neben ihr ein Auto in hohem Tempo vorbeifuhr.

„Pass doch auf!“, brüllte Anya diesem hinterher, ohne etwas damit zu bezwecken. Das Auto bog um die Ecke, woraufhin das Mädchen sich wieder dem Asphalt widmete.

„Irgendwas?“

 

Ja. Dieses Elysion … ist nicht zerbrochen.

 

„Häh!? Aber die waren doch alle kaputt. Die müssen doch über'n Jordan gehen, wenn wir Pakte schließen, oder nicht!?“

 

Präzise.

 

„Dann ist die Narbenfresse also ein Schwindler! Das Mal an seinem Arm ist eine Fälschung!“

 

Nein, es ist echt. Denn sonst würde es hier kein verlassenes Elysion geben. Ich denke, das hat mit der Tatsache zu tun, dass Alastairs Paktpartner Refiel ein Engel ist. Womöglich unterscheidet sich der Prozess der Wiedergeburt eines Elysions im Falle eines Engels von dem, wenn meinesgleichen einen Pakt schließt. Aber einen Reim kann ich mir auch hieraus nicht machen.

 

Anyas Schlussfolgerung: „Warum zerscheppern wir es dann nicht? Problem gelöst.“
 

Wenn du es betreten kannst? Ich vermag das nicht. Wir werden Alastair fragen müssen, ob er das für uns erledigt, sofern es nötig ist. Aber ich frage mich dennoch, warum ausgerechnet dieses Elysion unbeschädigt ist. Es strahlt dieselbe Restmenge an Energie wie die anderen aus, was nicht besonders viel ist.

 

Die Blondine fasste sich ans Kinn und gab einen nachdenklichen Laut von sich. Nebenbei kickte sie einen kleinen Stein mit dem Fuß von sich fort. Irgendwas stimmte hier nicht. Vielleicht lag es daran, weil sie von diesem Hokuspokus keine Ahnung hatte – was ihrer Meinung nach auch so bleiben könnte. Dennoch passte irgendwie kein Elysion zum anderen, abgesehen von Matts und Marcs, die dieselben Merkmale besaßen. Sie verstand ohnehin nicht, warum überall in der Stadt verteilt diese Dinger …

„Levrier“, sprach sie leise, als sie etwas Interessantes realisierte, „ich glaube, diese Teile sind nicht zufällig da, wo sie sind. Und soll ich dir was sagen? Uns fehlt eins, womit ich nicht Victim's Sanctuary meine.“

 

Was bringt dich ausgerechnet zu dieser Annahme?

 

„Keine Ahnung, ob du den Stadtplan kennst, aber überleg' doch mal, du Schlauhirn. Von der Schule aus gesehen sind alle Orte, die wir besucht haben, ungefähr gleich weit weg. Wenn wir die jetzt mal als Mittelpunkt nehmen, könnte man um sie herum einen fünfzackigen Stern mit den anderen fünf Punkten zeichnen.“

 

Du machst Witze. Aber warte … womöglich ist da sogar etwas Wahres dran.

 

„Klar ist es das!“ Anya haute die Faust auf ihre flache Hand. „In den Filmen ist das auch immer so.“

 

Dass jeder Punkt den gleichen Abstand zum Zentrum, deinem Elysion, besitzt ist in der Tat sehr ungewöhnlich. Fast als wäre es Schicksal. Wenn deine Theorie stimmt, sollte sich der Aufenthaltsort des letzten Elysions eingrenzen lassen.

 

„Im Südwesten der Stadt … gibt es den Bahnhof und das Einkaufszentrum!“ Anya drehte sich auf der Stelle um, ging ein paar Schritte nach vorn, nur um wieder zur alten Stelle zurückzukehren. „Fragt sich nur, wessen Elysion das ist.“

 

Höchstwahrscheinlich Melinda Fords, da sie erst vor Kurzem in diese Stadt gekommen und von Isfanel befallen worden ist.

 

„Aber warte“, sagte Anya und ihre Stimme wurde schlagartig sehr leise, „heißt das nicht, dass Marcs Pakt … noch besteht?“

 

Das kann ich weder bestätigen, noch abstreiten. Solange wir nicht mehr wissen, sollten wir uns in der von dir beschriebenen Gegend umsehen. Wenn du tatsächlich recht hast, könnte das ein großer Durchbruch für uns sein.

 

„Für dich meinst du wohl. Diese ganze Elysionkacke-“

 

Anya Bauer, hinter dir!

 

Das Mädchen wirbelte sofort um und erschrak zutiefst, als ein Mann in einem schwarzen Anzug direkt vor ihr stand. Das Haar tiefrot, die Augen fest auf sie gerichtet, wirkte seine Gestalt seltsam fehl am Platz. Doch warum konnte Anya beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht wegen der Narbe auf der linken Wange?

Aber auch so stach er einfach heraus.

 

Er hat keine Präsenz! Als existiere er gar nicht! Ich konnte ihn nicht einmal sehen, bis zu diesem Augenblick! Sei vorsichtig, dieses Wesen ist nicht von dieser Welt!

 

Er streckte mit verträumter Mimik die Hand in den Himmel. „Ah ja, das Elysion. Unsere Seelenzuflucht, der Ort, der allen anderen vorenthalten bleibt.“

„Was willst du, du Schickimickifreak!?“, fauchte Anya ihn an und wich zurück. Aber weniger wegen seinem plötzlichen Auftauchen, sondern eher dem britischen Akzent, den er besaß. Anya hasste Briten, seit jene ihr vor vielen Jahren bei einer Auslandsreise ihres Vaters, auf welcher sie ihn begleitet hatte, den Eintritt in einen Pub verweigert hatten.

„Die Splitter eines verlassenen Elysions besitzen geheimnisvolle Kräfte. In der Sekunde, in der ein Pakt geschlossen wird, zerbricht es. Natürlich regeneriert es sich augenblicklich und wird neugeboren, doch was bleibt sind die Scherben einer vergangenen Realität, eines alten Pfads.“

Nun sah er sie wieder direkt an und lächelte wissend. „Verbindet man all diese verlassenen Pfade zu einem Netz, das sich um den Turm von Neo Babylon erstreckt, könnte man Eden womöglich finden. Aber wer weiß das schon mit Gewissheit? Du sicher nicht, Anya Bauer. Jene, die nach Eden strebt …“

„Woher weißt du-!?“

Er hob beschwichtigend die Hand. „Nur mit der Ruhe. Ich weiß vieles über dich. Womöglich mehr als du selbst.“

„Und woher!? Wer bist du!?“

Seine Stimme gewann etwas Einzigartiges, unendlich Geschmeidiges, Allwissendes an sich, als er mit großer Betonung antwortete: „Der Sammler.“
 

Könnte er der Collectordämon sein!? Der, der mit Seelen handelt!?

 

„Meine Karten kriegst du nicht!“ Anya zeigte ungeniert mit dem Finger auf ihn. „Und ich kaufe nichts von Pennern … und allen anderen Idioten, die ich nicht leiden kann!“

„Oh nein. Ich bin hier, um zu kaufen. Und wonach ich gelüste ist das Anrecht auf deine Seele.“

 

Ich wusste es! Anya, hör ihm nicht zu! Du musst flüchten!

 

„Vor dem habe ich keine Angst!“, tönte das Mädchen aufbrausend und stampfte mit dem Fuß auf.

„Wie lästig. Wenn ich Geschäfte treibe, dann für gewöhnlich unter vier Augen“, sprach der rothaarige Edelmann und schnippte mit dem Finger.

Anya stieß einen kurzen Schrei aus, als ihr Mal nur für den Bruchteil einer Sekunde schmerzhaft brannte. Es war so schlimm, dass sie in die Knie gehen und sich den Arm halten musste.

„Nun sind wir ungestört. Solange ich anwesend bin, ist Levrier in deinem Elysion gefangen.“

Dass das die Wahrheit war, wusste Anya schon deshalb, weil ihr Paktpartner ihr nicht mehr in den Ohren lag, sie solle abhauen. Sie erhob sich langsam. Dreckig grinsend erwiderte sie dabei: „Seine Stimme hat mich sowieso nur genervt. Aber du hast immer noch nicht meine Fragen beantwortet.“

Der Brite lächelte zufrieden. „Ich bin hier, da deine Not mit jeder Stunde wächst. Und ich besitze das Wissen, das du brauchst, um dein Schicksal zu erfüllen. Ebenso das Wissen, das dir helfen wird, es -nicht- zu erfüllen.“

 

Die Haltung des Mädchens lockerte sich schlagartig, ein Teil ihrer Anspannung verschwand und wich der Neugier. „Soll das heißen, du weißt, wie ich … weiterleben kann?“

„Richtig, das tu ich. Aber der Preis und meine Assistenz für dieses Unterfangen muss“, er streckte ihr den Arm aus und machte mit seinen Fingern eine greifende Geste, „kann nur deine Seele sein.“

Anya schaute ihm tief in die braunen Augen, dann lachte sie hysterisch auf. „Vergiss es, das kaufe ich dir nicht ab!“

„Wenn du kein Interesse hast, werde ich gehen. Doch ob ich deine Seele besitze, oder sie durch Eden verloren geht, sollte für dich keine Rolle spielen. Aber wenn du nicht handeln willst.“

Er machte Anstalten, sich umzudrehen, doch Anya rief ihn zurück. „Warte gefälligst!“

Über seine Schulter sehend, warf er ihr einen abwartenden Blick zu.

 

„Kannst du das wirklich? Mich retten?“

„Retten kann ich dich nicht in dem Maße, welches du dir vorstellst. Den Pakt kann ich ohne Konsequenzen für dich brechen, doch nicht ohne den bereits von mir genannten Preis.“ Er drehte sich wieder zu ihr um. „Ich bin imstande, dir nahezu jeden Wunsch zu erfüllen. Selbst die, die das Leben eines geliebten Menschen wiederherstellen. Du hast es anhand von Marc Butcher gesehen, das war mein Werk.“

Anya klappte die Kinnlade herunter. „Du warst das!?“

„Deine Freundin hat dafür ihren Namen an mich weitergeben. Mit ihm war ich imstande, dich zu beobachten. Du befindest dich zwar auf einem richtigen Weg, was die Erfüllung deines Schicksals angeht, doch ohne meine Hilfe stehen die Chancen gut, dass du letztlich scheiterst.“

Er warf ihr wieder dieses geschäftsmännische Lächeln zu. „Und das wollen wir beide nicht, nicht wahr?“

„Du willst meine Seele haben, damit ich ein paar Jahre länger leben kann?“ Anya schwang den Arm aus. „Vergiss es, Kumpel! So dämlich bin ich nicht! Wenn du kein besseres Angebot hast, verschwinde und lass mich in Frieden! Sonst säg' ich dir nämlich den Kopf ab, tüte ihn schön ein und spiele erstmal 'ne Runde Basketball damit! Wollen doch mal sehen, wie viel deine Rübe verträgt, wenn -ich- Körbe werfe!“

Unnötig zu erwähnen, dass sie eigentlich vorgehabt hatte, Valerie Redfield diesen Spruch an die Stirn zu klatschen. Manchmal sogar wortwörtlich.

Der Collector jedoch machte sich scheinbar nichts aus ihren Drohungen, sondern zeigte mit dem Finger auf sie. „Du verlangst ein besseres Angebot? Ist es nicht besser, wenn ich deine Seele verwalte, anstatt sie im Limbus verrotten zu lassen? Aber ich denke, ich habe da eins. Es wird dir sicherlich mehr zusagen.“

„Lass hören!“

„Wir duellieren uns um die Wahrheit. Freikaufen kann ich dich nur durch deine Seele. Aber Informationen, wie du Eden werden kannst, sind hingegen etwas, das ich dir auf andere Weise geben kann.“

„Und wie!?“, verlangte Anya aufgebracht zu wissen.

Der Sammlerdämon lächelte nun wieder geheimnisvoll. „Finde es heraus, indem du dich mit mir duellierst. Du wirst merken, dass ich dir in vielerlei Hinsicht nützlich sein kann.“

 

Dieser Typ hatte eindeutig eins an der Waffel, dachte Anya skeptisch und betrachtete ihn genau. Von außen sah er 'nur' wie ein stinkreicher Angeber aus. Das Problem mit diesem Kerl war jedoch, dass er von Dingen redete, über die nur die wenigsten Bescheid zu wissen schienen. Allein was er über das Elysion gesagt hatte. Zeugte das nicht davon, dass er ihr wirklich helfen könnte? Auch nicht zu vergessen: er hatte auch Marc ins Leben geholt.

Trotzdem, sie traute diesem Bastard nicht über den Weg. Wenn er glaubte, sie in irgendein dubioses Seelengeschäft herein reden zu können, war er aber ganz schief gewickelt! Bloß wenn sie ihn jetzt gehen ließ, könnte sie die einzige Chance verlieren, die Wahrheit über Eden zu erfahren. Und auch wenn Levrier sie eine Opportunistin nannte … sie hatte ihr Versprechen ihm gegenüber nicht vergessen. Wenn er dieses Mal nicht Eden würde, dann nie mehr. Aber warum auf ihre Kosten!?

 

„Tch, von mir aus, ein kleines Duell am Nachmittag hat noch niemandem geschadet“, brummte Anya und setzte dabei ihren Rucksack ab.

Der Brite schien zufrieden. „Eine kluge Wahl.“

„Aber ich mache nur mit, wenn es in diesem Duell nicht um meine Seele geht, klar!?“

„Ohne deine Einstimmung kann ich sie nicht einfordern. Sei unbesorgt. Nicht der Ausgang des Duells wird dir die Antworten bringen. Deine eigenen Entscheidungen werden es sein.“

Seine Art so hochintellektuell zu reden störte Anya zutiefst. Sie nahm ihre Duel Disk aus dem Rucksack und legte sie sich an. Wollten doch mal sehen, ob er genauso gut mit seinen Karten umgehen konnte wie mit Worten.

Wieder schnippte der Collector mit dem Finger, woraufhin eine Battle City Duel Disk an seinem Arm erschien.

„Pass bloß auf, dass dein teurer Anzug nicht schmutzig wird“, zischte Anya gallig, „denn mit mir geht’s dreckig zur Sache!“

„Wenn du damit deine kleinen Tricksereien meinst, wie etwa Fehlaktivierungen von Karten? Nur zu.“ Er schwang gönnerhaft den Arm aus. „Aber falls du vorhast, dem Schicksal eine neue Wendung zu geben – sofern du dich überhaupt der Fähigkeiten Levriers bedienen kannst – werde ich einschreiten müssen. Aber wir beide wissen, dass du das nicht ohne ihn schaffst.“

Woher wusste der Kerl all das, fragte sich Anya ärgerlich und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Der war doch gar nicht beim Duell gegen Henry dabei gewesen! Aber wenn er davon wusste, dann vielleicht auch von Eden? Sie musste es herausfinden!

„Ich brauch den Quatsch nicht, um zu gewinnen!“

„Wie ich sagte, hier geht es nicht um den Ausgang des Duells, sondern um seinen Verlauf.“

Anya schnaufte und rief schließlich: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Collector: 4000LP]

 

„Ich beginne!“, verkündete Anya und zog zu ihrem Startblatt gleich eine sechste Karte, ehe ihr Gegenüber widersprechen konnte.

Es war ohnehin verrückt! Sie duellierte sich mitten auf der Straße mit einem Freak, der mehr wusste als ihr lieb war. Genau dort, wo sie Jonathans Leiche gefunden hatte, made by Alastair. Sie konnte förmlich die Stimme des Narbengesichts hören, wenn er jetzt hier wäre. Blöde Dämonenbrut, bla bla, töte ihn, bla bla. Aber der würde sich noch wundern, wenn sie am Ende mit der Lösung ankam!

Behände griff Anya ein gelb umrandetes Monster aus ihrem Blatt. „Sag hallo zu einem meiner Lieblingsdrachen! Los, [Alexandrite Dragon]!“

Funkelnde, farblose Edelsteine überzogen die Haut des mannshohen Drachens, welcher mit einem Satz vor Anya landete und niederkniete. Als er sich auf zwei Beinen erhob, spannte er seine Schwingen an und stieß ein majestätisches Gebrüll aus. Anya grinste keck. „Er ist eines der stärksten Monster, die kein Tribut brauchen, um beschworen zu werden!“

 

Alexandrite Dragon [ATK/2000 DEF/100 (4)]

 

„Aber er gehört nicht zu den Karten, die du dir von dem Jinn gewünscht hast.“

Nach Luft schnappend, starrte die Blondine den Sammlerdämon irritiert an. Selbst das wusste er!? Aber sie hatte doch niemandem davon erzählt, nicht mal Abby!

„Alter, besorg' dir'n Privatleben und spionier' nicht das anderer Leute aus!“, fauchte sie anschließend und schnappte sich eine Karte aus ihrem Blatt. „Die verdeckt! Was heißt: Ende im Gelände. Vorerst!“

 

„Die Dinge zu beobachten ist sehr wichtig für mein Tun. Nur wer über das nötige Wissen verfügt, wird das bekommen, was er will. Du solltest das von allen am besten wissen“, schmetterte der Collector Anyas anklagenden Tonfall ab und zog seinerseits eine Karte. „Aber du wirst herausfinden, dass ich nicht nur über Wissen verfüge. Sieh her und lerne. Normalbeschwörung: das Empfänger-Monster [Fabled Kushano]!“

Aus einer blauen Lichtsäule tauchte ein geflügelter Mann auf, dessen ebenfalls blaues Haar wie ein Schleier um sein Gesicht lag. Mit dem Zeigefinger schob er die Brille auf der Nase nach oben und begann dann, in einem alten Buch zu lesen, das er in den Händen hielt.

 

Fabled Kushano [ATK/1100 DEF/800 (3)]

 

Anschließend zeigte der rothaarige Mann ein weiteres Monster von seiner Hand vor. „Nun, da ich ein Fabled-Monster kontrolliere, kann ich [Fabled Grimro] abwerfen, um mir ein Fabled-Monster von meinem Deck auf das Blatt zu nehmen.“

Nachdem er seine Wahl getroffen hatte, zeigte er die Karte mit dem Namen [Fabled Krus] vor. Nur um dann eine Zauberkarte zu zücken. „Anschließend aktiviere ich [Graceful Charity], die es mir gestattet, drei Karten zu ziehen, um danach zwei von meinem Blatt wieder abzuwerfen.“

Anya knirschte wütend mit den Zähnen, während sie zusah, wie er der Reihe nach drei Karten von seinem Deck zog. Was sollte das werden!? Besonders überrascht war sie, als er zwei Monsterkarten ablegte, worunter auch [Fabled Krus] war. Doch ehe sie ihn darauf ansprechen konnte, begann er bereits von sich aus zu erklären.

„Die von mir abgeworfenen Monster waren [Fabled Dyf] und [Fabled Krus]. Sollte Letztere auf den Friedhof abgeworfen werden, vermag sie, einen Namensvetter von ebendort als Spezialbeschwörung zu beschwören. Drum erscheint jetzt [Fabled Dyf].“

Aus einer weiteren blauen Lichtsäule materialisierte sich neben dem Gelehrten Kushano ein dämonischer, älterer Herr. In grüner Robe gekleidet, waren seine Schwingen ledrig und mit Schuppen besetzt.

 

Fabled Dyf [ATK/1400 DEF/1700 (3)]

 

„Wird das jetzt eine Synchrobeschwörung? Oder … etwa eine Xyz-Beschwörung!?“, stammelte Anya irritiert. Sie kannte diese Monster nicht.

„Was wäre dir denn lieber? Aber nein, ich muss dich enttäuschen, nach Synchrobeschwörungen ist mir heute nicht. Daher erschaffe ich das Overlay Network.“

Seine Monster verwandelten sich in gelbe Lichtstrahlen, die von dem sich öffnenden, pechschwarzen Schlund verschluckt wurden, welcher sich in der Mitte des Spielfelds öffnete.

„Xyz-Summon! Bringe verdrängte Erinnerungen zurück, [Lavalval Ignis]!“

„Was!?“, keuchte Anya beim Klang jenes Namens.

Aus der Düsternis entstieg eine einzelne Flamme. Doch diese stellte sich als der Kopf eines Kriegers heraus, welcher sich in dunkler Rüstung und wehendem, zerschlissenem Umhang des blutigsten Rots, das Anya je gesehen hatte, vor seinem Besitzer aufbaute. Selbst seine Fäuste brannten.

 

Lavalval Ignis [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

„Nein …“, murmelte Anya fassungslos im Angesicht des großen Kriegers, um den zwei Lichtssphären kreisten. „Das kann nicht sein!“

„Du meinst, weil diese Karte aus dem Pakt zwischen Isfanel und Marc Butcher geboren wurde? Du liegst richtig, natürlich ist sie einzigartig. Aber aus Gründen der Demonstration habe ich eine Kopie erschaffen, die dem Original in Nichts nachsteht.“ Der Sammler streckte den Arm aus. „Sieh selbst. Ich greife dein Monster an.“

Sofort bündelte sein Ghost Rider-Abklatsch, wie Anya ihn insgeheim nannte, eine Feuerkugel zwischen seinen Händen, die er wie einen Torpedo auf ihren Drachen abfeuerte. Mitten im Flug wuchs sie plötzlich, als eine der Sphären ihr folgte und in ihr verschwand. Der Collector hatte [Fabled Kushano], welcher unter der schwarzen Karte auf seiner Duel Disk lag, entfernt. Und Anya wusste genau warum.

 

Lavalval Ignis [ATK/1800 → 2300 DEF/1400 {3}]

 

Ihr Drache wurde von der Flamme getroffen und konnte ihrer Macht nicht standhalten. Kreischend ging er in einer Explosion unter.

„Dargh!“ Anya schützte sich mit erhobenem Arm vor der daraus entstandenen Schockwelle, die fürchterlich auf der Haut brannte. Genauso heiß wie damals!

 

[Anya: 4000LP → 3700LP / Collector: 4000LP]

 

„Wie du siehst, habe ich ganze Arbeit geleistet, als ich die Kopie erstellt habe. Wie beim Original kann ich ein Xyz-Material entfernen, um [Lavalval Ignis] temporär um 500 Angriffspunkte zu stärken.“

 

Lavalval Ignis [ATK/2300 → 1800 DEF/1400 {3}]

 

Der Sammler lächelte zufrieden mit sich selbst. „Aber wer weiß das besser als du, die du gegen den Mann gekämpft hast, welchen du einst mehr als alles andere begehrtest?“

„Ich wiederhole mich“, zischte Anya ihm voller Verachtung zu, „schaff dir ein Privatleben an, Bastard!“

„Wieso? Die Leben der anderen sind viel interessanter. Und nützlicher.“ Er blickte auf sein Blatt und zog drei Karten daraus hervor. „Man kann keinen Handel treiben, wenn man keinen Überblick über den Markt hat. Ich setze zwei Karten verdeckt und aktiviere nun die dauerhafte Zauberkarte [Scales Of Wisdom].“

Während sich vor seinen Füßen die gesetzten Karten materialisierten, tauchte hinter ihm eine riesige, goldene Waage aus, wie sie auch die Justitia in der Hand hielt – nur dass ebenjene durch Abwesenheit glänzte. Beide Schalen der Waage, gehalten von Seilen aus purer Energie, befanden sich auf gleicher Höhe.

„Das ist die Karte, die dir jede Antwort liefern wird“, sprach der Sammler geheimnisvoll, „solange du den Preis bezahlst, heißt es.“

„Was ist das für ein Mist!?“ Anya war nicht wohl bei der Sache.

„Das Beste, das dir passieren konnte.“ Der Sammler streckte beide Arme weit aus. „Durch [Scales Of Wisdom] wirst du dieses Duell nicht verlieren können. Du brauchst dich also nicht vor meinen Angriffen zu fürchten, solange du unter dem Schutz dieser Karte stehst.“

Unmöglich, dachte sich Anya dabei erschrocken. Nie im Leben würde jemand freiwillig so eine Karte ausspielen wollen, ohne Hintergedanken zu haben!

„Und was ist der Haken!?“

„Es gibt keinen. Du triffst die Entscheidungen, bestimmst selbst … den Haken. Denn diese Waage erlaubt es dir einmal während unser beider Züge eine Frage zu stellen. Im Gegenzug gestattet sie mir, den entsprechenden Preis einzufordern. Zahlst du diesen, erhältst du deine Antwort.“

„Und was für ein Preis soll das sein!?“

„Der Abwurf einer Handkarte? Das Zerstören eines deiner Monster? Lass dich überraschen.“ Er lächelte wissend. „Du bist schließlich zu nichts verpflichtet. Mein Spielzug ist damit beendet.“

 

Für Anya klang das alles mehr als dubios. Was sollte diese Karte, wenn sie durch sie ohnehin nicht mehr verlieren konnte? Dieser Spinner plante doch etwas, so viel stand fest!

„Draw!“, rief sie aus voller Kehle und zog schwungvoll.

„Warum probierst du es nicht gleich aus? Was willst du wissen?“

Die Blondine runzelte die Stirn. Sollte sie es wagen oder nicht? Es war definitiv ein Risiko, sich auf diesen schleimigen Typen einzulassen. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

„Fein! Fangen wir halt mit etwas Kleinem an! Wer bist du? … und was muss ich zahlen, um das zu erfahren?“

Der Sammler fasste sich ans Kinn und überlegte kurz, ehe er wieder aufsah. „Diese Information ist nicht allzu kostbar. Für 600 deiner Lebenspunkte wirst du es erfahren?“

„Nur 600!? Das ist ja spottbillig! Von mir aus!“

 

[Anya: 3700LP → 3100LP / Collector: 4000LP]

 

„Wie du willst“, erwiderte der rothaarige Brite. Er verschränkte die Arme und begann zu erklären. „Ich bin ein Dämon, der seit Jahrtausenden mit Seelen, 'Namen' und anderen Gütern handelt und dafür im Austausch alles Mögliche erhält. Hauptsächlich sind andere Dämonen und übernatürlichen Wesenheiten mein Klientel. Aufgrund meines hohen Alters gibt es kaum einen Ort dieser Welt, den ich noch nicht gesehen habe. Normalerweise gehen die Kunden auf mich zu, es ist selten, dass ich einen 'Hausbesuch' mache. Aber bei dir ist das etwas anderes. Dein erbitterter Kampf gegen das Schicksal hat mein Interesse geweckt.“

Er warf ihr eines seiner schmierigen Lächeln zu. „Zufrieden mit dem, was du gehört hast?“

Die Zornesfalten auf Anyas Stirn hätten ihm jedoch schon Antwort genug sein müssen. „Und für das habe ich gerade Lebenspunkte bezahlt!? Was soll der Scheiß!? Die eine Hälfte davon wusst' ich schon und die andere war mir piepegal!“

Allerdings ließ sich der Collector davon nicht erweichen. Er rechtfertigte sich folgendermaßen: „Du hast gefragt wer ich bin, also habe ich dir einen Überblick über meine Historie verschafft.“

„Gar nichts hast du! Nichtmal deinen Namen hast du genannt!“

„Meinen Namen hast du nicht verlangt. Und selbst wenn du es tätest, würdest du den Preis dafür nicht zahlen können.“ Er zuckte lachend mit den Schultern, schnappte sich plötzlich eine Schachtel Zigaretten aus dem Sakko und zündete sich eine davon mit einem offenbar sehr alten Feuerzeug an. Den Rauch aus der Nase blasend, fragte er: „Und was sind schon Namen?“

Erstaunt sah Anya mit an, wie er die eben erst angezündete Zigarette vor sich auf den Boden schmiss und austrat. Er lächelte sie besserwisserisch an. „Ist nicht gut für die Lunge. Und schmutzig. Ja, schmutzig in der Tat.“

Anya schnaufte nur wütend. Das war das erste und letzte Mal, dass sie mit diesem Spinner verhandelte. Seine blöde Zauberkarte konnte er sich sonstwo hinsteck-

 

Erstaunt stellte Anya fest, dass eine Schale der riesigen Waage nun etwas tiefer stand, während die andere durch jenes Gewicht auf der gegenüberliegenden Seite nach oben gehievt wurde.

„Mit dir treibe ich keine Geschäfte mehr“, raunte sie davon leicht verunsichert und griff nach einer Zauberkarte aus ihrem Blatt. Dabei murmelte sie leise zu sich selbst: „Wollen doch mal sehen, ob Matts kleines Bestechungsgeschenk etwas taugt.“

Anschließend verkündete sie laut: „Ich aktiviere jetzt [Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich [Gem-Knight Sardonyx] und [Gem-Knight Emerald] von meiner Hand! Emerald, du bist das Element, Sardonyx, du der Ursprung! Werdet jetzt zu [Gem-Knight Zirconia]!“

Der Boden vor Anya brach unter lautem Krachen auf, als sich ein massiver Ritter vor ihr aufbaute. Er war fast so hoch, wie er breit war, was vor allem daran lag, dass man seine Arme als richtige Pfeiler bezeichnen konnte. An ihren Enden befanden sich pizzagroße Edelsteine, die namensgebenden Zirkone. Der blaue Umhang des silbernen Ritters wehte still daher.

 

Gem-Knight Zirconia [ATK/2900 DEF/2500 (8)]

 

„Der Sucker hat zwar keinen Effekt, aber dafür ordentlich Muckis!“, tönte Anya. Bevor sie die Karten des Jinns ausprobierte, wollte sie zunächst sehen, ob es auch mit ihrem derzeitigen Bestand klappte. Zumal es doch 'unhöflich' wäre, das Geschenk eines Fre- Bekannten nicht wenigstens 'auszupacken'.

„Interessante Wahl.“

„Worauf du einen ablassen kannst! Los, greif dieses Mistvieh von Ghost Rider an!“ Sie konnte den Anblick dieser Kreatur ohnehin nicht länger ertragen, da es sie an die Geschehnisse von damals erinnerte. „Zirconia Smasher!“

„Dann lass uns sehen, ob du aus deinem letzten Kampf mit dieser Kreatur gelernt hast. Ich rekonstruiere das Overlay Network!“

Anya stieß einen spitzen Schrei aus, als sich der schwarze Wirbel öffnete und den aus ihm geborenen [Lavalval Ignis] nun wieder verschluckte. „Das kann nicht sein! Wie kannst du-!? Und vor allem in meinem Zug-!?“

„Ich kann noch vieles, von dem du nichts weißt. Wenn du neugierig bist, frag einfach. Aus dem Rang 3-Monster wird nun ein neues Rang 3-Monster. Erscheine nun, [Lavalval Master – Ignis Aither]!“

Eine blaue Stichflamme schoss zusammen mit roten und schwarzen Blitzen aus dem Galaxienwirbel. Empor stieg dieselbe Kreatur, die Anya damals um ein Haar das Leben gekostet hätte. Blaue Feuerschwingen und ein in selbiger Farbe brennender Kopf, schwarze Rüstung sowie eine unheilverkündende Sense in den Händen – das war [Lavalval Master – Ignis Aither]. Zwei goldene Energiekugeln umkreisten seinen Kopf.

 

Lavalval Master – Ignis Aither [ATK/1800 DEF/1400 {3}]

 

Anyas massiver Ritter holte mit der Faust zum Schlag gegen den fliegenden Engel aus, doch jener parierte die Attacke mühelos mit seiner Sense und warf Zirconia spielend leicht zurück.

„Tch!“

Natürlich war Anya im Moment der Beschwörung des schwarzen, flammenden Engels klar gewesen, dass ihr Angriff scheitern würde. Nur Xyz-Monster konnten diese Incarnation Mode-Dinger, oder was auch immer, besiegen.

„Das ist echt blöd gelaufen“, musste sie zornig zugeben, reichte dabei nach ihrem Friedhof aus. „Aber dieses Mal bin ich vorbereitet! Ich verbanne [Gem-Knight Sardonyx] von meinem Friedhof, um meine [Gem-Knight Fusion] von dort zurück auf die Hand zu erhalten! Dann setze ich eine weitere Karte verdeckt und gebe ab!“

Neben ihrer in der letzten Runde gesetzten Karte erschien kurzerhand eine weitere.

Dem Mädchen stand der Schweiß auf der Stirn. Sie musste dieses Ding schnellstmöglich loswerden, sonst würde sie am Ende wieder aussehen, als wäre sie von den Toten auferstanden. Und dieses Mal war kein Levrier da, der ihre Wunden heilen und den Schmerz unterdrücken konnte.

„So eine Scheiße!“

 

„Aber hast du wirklich Grund zur Sorge?“, fragte der Sammler, während er sein Blatt um eine neue, dritte Karte erweiterte. „[Scales Of Wisdom] verhindert deine Niederlage. Meine Kreatur kann dir im Grunde nichts anhaben.“

Unter jene legte er [Fabled Kushano], woraufhin nun drei Lichtsphären um [Lavalval Master – Ignis Aither] kreisten. Anya wusste, dass dieses Biest während jeder Standby Phase sein Xyz-Material auf drei Stück aufstocken konnte. Dadurch war seine Macht nahezu unerschöpflich, wie Marc … nein, Isfanel ihr schmerzhaft bewiesen hatte.

„Tch! Ist das nicht der Sinn eines Duells!? Dass man den Gegner fertig macht?“

Anya sah sich beiläufig um. Nirgendwo waren Menschen. Es war eine verhältnismäßig kleine Straße, aber dennoch war duellieren hier verboten. Wo waren die Petzen, die einem sonst immer sofort im Nacken lagen? Machte der Kerl sich keine Sorgen, dass man sie sehen könnte?

Der Collector schüttelte den Kopf. „Nein, nicht im Falle dieses Duells. Aber wenn deine Lebenspunkte auf 0 fallen, kannst du das natürlich als Niederlage werten. Schließlich wäre dies der Fall, wäre nicht ich dein Gegner.“

„Ach ne!?“

„Lässt du es darauf ankommen und willst den Effekt von [Scales Of Wisdom] erneut aktivieren?“

Sofort schwang Anya daraufhin wütend den Arm aus. „Vergiss es! Nochmal lasse ich mich nicht von dir verarschen!“

„Auch dann nicht, wenn ich dir das komplette Wissen über die Incarnation Mode-Monster überlasse?“ Er schloss lächelnd die Augen. „Du weißt noch längst nicht alles über sie.“

Anya stockte. Wo er recht hatte, hatte er recht. Allein, dass er dieses Vieh in ihrem Zug gerufen hatte, war völlig unerwartet für sie gekommen. Und wenn Isfanel tatsächlich wieder angreifen würde, dann …

„Okay, was soll es diesmal kosten?“

„Der Preis für dieses exklusive Wissen“, sprach der rothaarige Anzugträger geradezu ölig geheimnisvoll, „sind 500 deiner Lebenspunkte. Wirst du zahlen?“

„500!?“ Das konnte sie nicht! Nicht, wenn [Lavalval Master – Ignis Aither] ihr Gegner war. „Gibt es keine Alternative?“

„Nein. Das ist der Preis.“

 

Nachdenklich wischte sich Anya mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Zahlte sie, würde sie nur noch 2600 Lebenspunkte besitzen und damit unweigerlich dem Field of Agony zum Opfer fallen. Dieses kostete sie 3000 Lebenspunkte, wenn der Sammler drei Xyz-Materialien von Ignis Aither abkoppelte, um es zu aktivieren.

 

„Kay, ich zahle. Aber wehe, du verarscht mich wieder!“

Kaum hatte sie das gesagt, verspürte Anya ein befremdliches Ziehen in der Brust. Gleichzeitig veränderte sich das Gleichgewicht der Waagschalen wieder, sodass die eine abermals aufstieg, während die andere absank.

 

[Anya: 3100LP → 2600LP / Collector: 4000LP]

 

„Wie du wünscht. Hinaus über das Wissen, das du bereits verfügst, existieren drei Regeln für Incarnation Mode-Monster, die dich, wenn du sie berücksichtigst, zum Sieg führen werden.“

Anya hielt sich die Brust verwundert, nachdem der Schmerz verschwunden war und sah auf. „Ach ja? Dann fang' mal an zu singen!“

„Die erste beschreibt ihre Beschwörung. Sie kann jederzeit während des gesamten Duells erfolgen, wie du bereits gemerkt hast. Aber niemals in dem Zug, in dem das ursprüngliche Monster beschworen wurde.“

Anya zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Deshalb hat Marc es nicht sofort eingesetzt … aber heißt das nicht, dass ich diese Dinger sofort beseitigen muss, wenn ich nicht ihrer Superform gegenüber stehen will?“

„Du hast es erfasst“, bestätigte der Sammler dies nickend. „Ferner besagt die zweite Regel, dass nur die Xyz-Materialien wiederkehren dürfen, die für die Beschwörung des Originals verwendet wurden. Als einzige Ausnahme gilt das Original selbst, in unserem Fall [Lavalval Ignis], auf welchem jede Inkarnation schließlich basiert. Auch dies ist eine Schwäche, die richtig ausgenutzt, zum Erfolg führen kann.“

Was er damit meinte, verstand Anya zwar nicht, aber sie würde es definitiv im Hinterkopf behalten. „Und die dritte Regel?“

„Sie können nur beschworen werden, wenn der Paktpartner es erlaubt. Sollte dieser blockiert oder unterdrückt werden, ist es unmöglich, zu inkarnieren. Und noch etwas, das dir helfen könnte: der letzte, mächtigste ihrer Effekte kann ebenfalls nicht in dem Zug aktiviert werden, in dem die Inkarnationen beschworen werden.“ Der Sammler verschränkte nun die Arme abwartend. „Das ist das Wissen, welches ich dir vermitteln sollte. Bist du zufrieden?“

 

Grübelnd kratzte sich Anya an der Schläfe und starrte den Asphalt unter ihren Füßen an. Eventuell könnte das alles wirklich nochmal nützlich werden. Zumindest war es gut, dass sie nun Bescheid wusste. Unsicher brummte sie, als sie aufblickte: „Ich glaube schon.“

„Stelle die richtigen Fragen und du wirst die richtigen Antworten erhalten. Aber nun setze ich meinen Zug fort. Wie du es sicher erwartet hast, werde ich nun die drei Xyz-Materialien von [Lavalval Master – Ignis Aither] abhängen, um seinen gefährlichsten Effekt zu aktivieren: Field Of Agony. Dies wird dir ohne Umschweife 3000 Punkte Schaden zufügen. Was wirst du jetzt tun, Anya Bauer?“

Der schwarze Flammenengel streckte seine Sense hoch in die Luft und ließ sie die drei goldenen Sphären absorbieren, ehe er sie mit aller Kraft schwang. Womit er eine endlos erscheinende Welle aus Flammen in Anyas Richtung aussendete, die erschrocken zurückwich.

„Also doch!“, keuchte sie.

„Es ist bereits ein Zug vergangen, seit dieses Monster inkarniert wurde. Deswegen konnte ich diesen Effekt nun aktivieren.“

Als die Flammen bedrohlich näher kamen, schwang Anya entschlossen den Arm aus. „Ach ja!? Dann friss das, Laberbacke! Meine Falle [Hallowed Life Barrier] wird den Schaden abfangen. Dafür muss ich nur eine Karte abwerfen.“

Woraufhin sie sich ihrer, einzig für diesen Zweck geborgenen [Gem-Knight Fusion] entledigte.

Sofort schloss sich ein Kraftfeld in Form einer Kuppel um Anya und ihren [Gem-Knight Zirconia] und fing gerade noch rechtzeitig die Flammen ab, welche ihrerseits die hohe Steinmauer und den Asphalt hinter dem Mädchen heimsuchten, glücklicherweise aber nicht bis zum Wohngebiet reichten.

Der Sammler klatschte anerkennend. „Gut taktiert. Aber das funktioniert nur einmal.“

„Das reicht auch!“, erwiderte Anya garstig.

Die Flammen um sie herum lösten sich zusammen mit dem Kraftfeld auf. Allerdings hinterließen sie pechschwarzen Ruß an Asphalt und der Fassade.

„Da ich nicht mehr angreifen kann aufgrund des Effektes von [Lavalval Master – Ignis Aither], werde ich nun in meine Main Phase 2 wechseln und ein Monster beschwören. Es hört auf den Namen [Fabled Raven].“

Ganz in dunklem Grau gewandt, erschien vor dem Sammler ein dämonischer Mann, dessen Augen rot leuchteten. Besonders auffällig waren pechschwarzen Schwingen an seinen Armen und auf dem Rücken, die ihn umso düsterer wirken ließen.

 

Fabled Raven [ATK/1300 DEF/1000 (2)]
 

„Was will denn dieser Grufti hier!?“

„Ich aktiviere nun meine Fallenkarte [Limit Reverse], womit ich ein Monster mit maximal 1000 Angriffspunkten auferstehen lassen kann. Das wird [Fabled Krus] sein.“

Noch während seine Falle aufklappte, begann Raven fies zu kichern. Neben ihm tauchte ein kleines Mädchen in einem schwarzen Nachthemd auf. Mit ihren winzigen Fledermausschwingen hielt sie sich gerade so in der Luft und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
 

Fabled Krus [ATK/1000 DEF/800 (2)]

 

Eine seiner beiden verbliebene Handkarten in einen der Zauber- und Fallenkartenslots schiebend, sprach der Collector seelenruhig weiter. „Mit ihnen erschaffe ich nun das Overlay Network. Xyz-Summon: [Daigusto Phoenix].“

„Was!? Noch so eins von der Sorte!?“

„Gewiss“, entgegnete ihr der rothaarige Brite lächelnd, während sich gleichzeitig seine gesetzte Karte materialisierte, als auch das schwarze Loch des Overlay Networks sich öffnete.

Seine beiden Monster wurden in gelben Strahlen hineingezogen und machten einem federlosen, unproportionierten Vogel Platz, dessen Schwingen und Schopf von smaragdgrünem Feuer eingedeckt worden waren. Um ihn kreisten seine zwei Xyz-Materialien.

 

Daigusto Phoenix [ATK/1500 DEF/1100 {2}]

 

„Damit beende ich diesen Zug. Und nun, da du wieder am Zug bist, kannst du mir deine nächste Frage stellen.“

„Alles klar! Die lautet: hältst du auch mal den Rand und lässt mich in Ruhe meinen Zug planen!?“

Der Sammler grinste verschmitzt. „Für 50 Lebenspunkte weißt du es.“

„Fuck you!“ Passend dazu zeigte Anya ihm den Mittelfinger. Gleichzeitig zog sie mit der anderen Hand die nächste Karte von ihrem Deck. Einen prüfenden Blick später stand ihre Strategie schließlich fest.

„Hmm, das ist eine zu wenig“, murmelte sie daher, „da muss ich wohl nachhelfen!“

„Wirst du keine Frage stellen?“

„Schnauze auf den billigen Plätzen! Sieh lieber zu und staune, bevor du am Ende noch heulend in der Ecke liegst!“ Anya griff nach ihrem Friedhofsschacht und erklärte dazu: „Ich verbanne den [Gem-Knight Emerald] von vorhin und bekomme [Gem-Knight Fusion] zurück!“

Kaum hatte sie das verkündet, fügte sie ihre wichtigste Zauberkarte schon ihrem Blatt hinzu.

„Selbst dann nicht, wenn ich dir etwas über Eden verrate? Zum Beispiel, wie man es erweckt?“

Sofort wurde Anya hellhörig und ließ vom Blick auf ihre Karten ab. „Im Ernst!?“

„Aber so ein Wissen ist keinesfalls billig. Du wirst mir ganze 1000 Lebenspunkte zahlen müssen, wenn du erfahren möchtest, wie du dein Schicksal erfüllen kannst.“

 

Ungläubig starrte Anya auf ihre Duel Disk. Sie hatte schon so viele Lebenspunkte gezahlt, um an Infos zu kommen. Wenn sie das jetzt schon wieder tat, würde sie auf 1600 fallen – viel war das nicht. Und sie durfte nicht vergessen, dass sie es gleich mit zwei Paktmonstern zu tun hatte. Eines von ihnen kannte sie nicht einmal und schlimmer noch, es befand sich noch in seiner Ursprungsform.

Andererseits … sie konnte doch sowieso nicht verlieren, oder? Zumindest, solange sie die [Scales Of Wisdom] nicht anrührte. Außerdem, selbst -wenn- der Sammler sie zerstören würde, hätte sie ja immer noch ein paar Lebenspunkte. Und wehrlos war sie auch nicht.

Was waren 1000 jämmerliche Lebenspunkte schon im Vergleich zur Gewissheit?

„Deal“, brummte sie leise.

 

[Anya: 2600LP → 1600LP / Collector: 4000LP]

 

„Und jetzt rede dir den Mund fusselig!“, gab ihm Anya diese, für ihre Verhältnisse, großzügige Erlaubnis. Nur um wieder von einem stechenden Schmerz geplagt zu werden, während sich das Verhältnis der Waagschalen abermals veränderte.

Ihr Gegner lächelte zufrieden. „Du weißt, worauf es ankommt. Eden … wie ich schon vorhin sagte, befindest du dich auf dem richtigen Weg. Dein Elysion, es muss mit den anderen fünf verbunden werden.“

„Also gibt es wirklich fünf!?“

„Ja und nein. Es gibt viele, doch nur diese fünf erfüllen die Vorgaben. Das heißt, eigentlich nur vier von ihnen. Das, welches sich hier befindet“, er machte eine Kunstpause, die Anya wie eine Ewigkeit erschien, „schläft. In künstlicher Starre. Wie du es daraus löst … weiß nicht einmal ich. Aber ich bin mir sicher, dass du es rechtzeitig schaffen wirst.“

Anya atmete tief durch und versuchte, das Kribbeln unter ihrer Haut zu ignorieren. Genau wie den trommelnden Herzschlag. Trotzdem bekam sie ihre unterschwellig vor Aufregung bebende Stimme nicht unter Kontrolle. „Und wie verbinde ich diese Dinger mit meinem!?“

„Nimm die Scherben deines Elysions und lade sie mit der Energie der fünf anderen auf, für jedes von ihnen genau eine. Dann bring sie zurück und lasse Levrier ein neues Elysion erschaffen. Warte damit jedoch nicht zu lange. Es muss passieren, bevor der Turm von Neo Babylon auftaucht. Gelingt es dir, wird sich dir der wahre Pfad zu Eden eröffnen. Wenn du es aber bis dahin nicht schaffst … ist alles zu spät.“

„Und das ist alles!?“

Der Sammler schloss die Augen. „Nein. Eine Sache noch. Nimm die fünf dazugehörigen Individuen mit in den Turm. … du weißt warum.“

„Also werden sie sterben?“, fragte Anya atemlos. „Matt, Alastair, Redfield, Marc und …“

Die Lider aufschlagend, entgegnete ihr der Sammler: „So ist es. Nun weißt du, was du innerhalb der nächsten sieben Tage tun musst. Bist du mit der Antwort zufrieden?“

Anya ließ den Arm, mit dem sie ihre Karten hielt, plötzlich hängen. „Nein. Aber das liegt nicht an dir …“

„Wenn du Eden geworden bist, wirst du keine Schuld mehr fühlen. Aber vergiss nicht: mein Angebot steht noch. Ich könnte dich von deinem Elend befreien und damit auch die anderen. Alles was du mir versprechen musst ist deine Seele.“

Sofort festigte Anya ihren Blick und gewann ihre kämpferische Haltung zurück. „Niemals!“

„Dann sei es so.“

 

Tief durchatmend, rang Anya um ihre Fassung. Sie durfte jetzt nicht über das Erfahrene nachdenken, nicht jetzt! Später ja, aber nicht jetzt! Dann konnte sie entscheiden, was sie tun sollte. Doch zunächst: „Weiter im Text! Ich aktiviere [D.D.R. – Reincarnation From A Different Dimension]! Ich werfe eine Karte ab und beschwöre eines meiner verbannten Monster aufs Spielfeld, welches mit dieser Zauberkarte ausgerüstet wird und damit an sie gebunden ist.“

Anya entschied sich für [Gem-Knight Fusion] und knallte anschließend das Monster ihrer Wahl auf die Duel Disk. „[Gem-Knight Sardonyx]!“

Vor ihr tat sich ein gekrümmter Spalt ins Nichts auf, aus dem ein breiter Krieger stieg. Seine Rüstung spiegelte den Edelstein wieder, auf dem seine Existenz basierte: rote und weiße Linien, ineinander verlaufen – der Sardonyx. An einer Kette schwang er einen ebenfalls aus rotem Sardonyx bestehenden Morgenstern.

 

Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]

 

Heftig atmend, die erschreckenden Gedanken mit aller Macht verdrängend, knallte Anya ihre letzte Handkarte auf die Duel Disk. „Hinzu kommt [Gem-Armadillo]!“

Neben ihrem Ritter gesellte sich ein Gürteltier mit Raketen auf dem Rücken, das keine Beine besaß, sondern einen rattenschwanzförmigen Unterleib.

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Wenn der beschworen wird“, erklärte Anya, nahm ihr Deck aus der Halterung und fächerte es auf, einen prüfenden Blick auf die Karten werfend, „schenkt er mir einen Gem-Knight. So wie [Gem-Knight Garnet]!“

Sie zeigte die normale Monsterkarte vor, die ihre einzige Handkarte darstellen sollte, und ließ anschließend ihr Deck von der Duel Disk durchmischen.

„Dann bedeutet das, dass du eine Xyz-Beschwörung planst.“

„Bingo! Overlay Network, go!“

In braunen Lichtstrahlen verschwanden Anyas Monster in dem sich öffnenden, schwarzen Loch, welches im Gegenzug einen mit Kristallen überzogenen Drachen freigab.

„Xyz-Summon! [Kachi Kochi Dragon]!“

Brüllend spannte Anyas neues Monster seine ebenfalls mit Kristallen überzogenen Schwingen.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4}]

 

„Eine kluge Wahl“, kommentierte der Sammler dies anerkennend, „viel besser als [Gem-Knight Pearl].“

„Was du aber laut sagen kannst! Und jetzt gibt’s Kloppe!“ Anya streckte den Arm aus und zeigte auf [Lavalval Master – Ignis Aither], welcher sofort daraufhin seine flammenden Flügel um den Leib schlug, da er sich immer noch im Verteidigungsmodus befand. „Mach-es-kalt! Primo Sciopero!“

Wie ein Düsenjet hob der Drache ab und schoss schnurstracks auf seinen Gegner zu. Anya erklärte lauthals: „Da [Kachi Kochi Dragon] ein Xyz-Monster ist und ihn zerstören kann, hat dein dämlicher Ignis Aither mit seinen jämmerlichen 1400 Verteidigungspunkten keine Chance!“

„Korrekt!“

Vor dem schwarzen Engel angekommen, schlug der Drache mit seinen edelsteinbesetzten Klauen zu und zerteilte seinen Gegner unter einer heftigen Explosion.

„Na bitte!“, jubelte Anya und war wieder voll in ihrem Element. „Und als Krönung entferne ich jetzt ein Xyz-Material und lasse [Kachi Kochi Dragon] gleich nochmal angreifen! Los, Secondo Sciopero!“

Der Drache drehte den Kopf zur Seite, fraß eines seiner beiden Xyz-Materialien und nahm den federlosen Phönix ins Visier, als jener plötzlich in ein sich öffnendes, schwarzes Loch unter ihm gezogen wurde. „Incarnation Mode, ich rekonstruiere das Overlay Network.“

„Wusst' ich's doch!“

Aus dem Overlay Network schossen rote, grüne und schwarze Blitze, als ein völlig in smaragdfarbenden Flammen gehüllter, riesiger Vogel daraus hervortrat und weit über den beiden Duellanten seine Kreise zog. Der Sammler nannte ihn: „[Eternal Daigusto – Jade Phoenix]!“

 

Eternal Daigusto – Jade Phoenix [ATK/1500 DEF/1100 {2}]

 

„Der sieht zwar nicht übel aus, ist aber noch lange kein Match für [Kachi Kochi Dragon]! Den hättest du dir sparen können!“, gab Anya sich siegesgewiss und befahl: „Los, setze deinen Angriff fort!“

„Ich entferne eines der Xyz-Materialien und mache mein Monster einmal pro Zug unzerstörbar für Kämpfe. Ferner werden mir nun die Lebenspunkte gutgeschrieben, die ich sonst verlieren würde. Reverse Of Life!“

Anya erschrak zutiefst, als der Phönix einen Lichtstrahl aus seinem Schnabel auf ihren Drachen schoss, welcher direkt in die Brust getroffen wurde, quer über das Spielfeld flog und direkt vor seiner Besitzerin unter einem dröhnenden Schmerzensschrei auf den Boden knallte.

 

[Anya: 1600LP / Collector: 4000LP → 4600LP]

 

Zischend wischte sich Anya den Schweiß von der Stirn, als sich ihr Monster zum Glück wieder aufrichtete.

„Dämliches Mistvieh!“, beschimpfte sie den am Himmel verharrenden Flammenphönix. „Aber bilde dir nicht ein, dass du so einfach davon kommst! Vielleicht kann ich dich nicht ins Jenseits befördern, aber ein bisschen Prügel hat noch niemandem geschadet!“ Mit ehrgeizigem Blick wandte sie sich an [Gem-Knight Zirconia], der alles abwartend mit angesehen hatte. „Los, immer feste drauf! Zirconia Smash!“

Sofort sprang der massive Ritter in die Luft und holte mit seinem linken Pfeilerarm zum Schlag aus. Dieser saß, als er den Phönix erreicht hatte, denn jener wurde ein ganzes Stück durch die Luft geschleudert, obschon er den Angriff überlebte.

 

[Anya: 1600LP / Collector: 4600LP → 3200LP]

 

Als Anyas Krieger mit einem Satz wieder neben dem Drachen landete, verkündete diese schlecht gelaunt: „Zug beendet!“

 

Und kaum hatte der Collectordämon seine nächste Karte gezogen, schob er [Fabled Krus], die er zuvor als Aktivierungskosten für Reverse Of Life entfernt hatte, wieder unter das Xyz-Monster auf seiner Duel Disk. Dieses war nun wieder von drei goldenen Sphären umgeben.

„Wie wäre es mit einer Frage? Was möchtest du wissen?“

Anya biss sich auf die Lippen. Sollte sie oder nicht? Vermutlich würde sie das wieder viele Lebenspunkte kosten, aber … sie wollte es wissen! Wissen- „-was ist Eden!?“

„Die Antwort würde deine gesamten restlichen Lebenspunkte kosten.“ Der Sammler sah sie fragend an. „Ist es das wert?“

Die Blondine geriet ins Stocken. „Alle!?“

„Ja.“

„Dann vergiss es!“

Auf keinen Fall durfte sie ihre verbliebenen Lebenspunkte aufgeben. Denn wenn die [Scales Of Wisdom] danach zerstört werden würde, hieße das zu verlieren. Was im Falle ihres Gegners wohl alles andere als gut war!

„Dann lasse mich dir ein Gegenangebot machen. Eine kleine Information über Eden, für nur 500 Lebenspunkte.“

Anya stöhnte. Wenn es ihr half … „Meinetwegen, 500 sind entbehrlich.“

Sofort tauchte der stechende Schmerz in ihrer Brust wieder auf, die Waagschalen bewegten sich, sodass eine nun fast ganz oben lag, während die andere von einem unsichtbaren Gewicht belastet beinahe den Boden berührte.

 

[Anya: 1600LP → 1100LP / Collector: 3200LP]

 

„Eden“, sprach der Sammler leise und sah Anya dabei tief in die meeresblauen Augen, „wurde bereits einmal erweckt. Und anschließend wieder versiegelt.“

„Und weiter?“

Ihr Gegner lachte. „Das war alles.“

„Was!? Für den Mist habe ich meine wertvollen Lebenspunkte ausgegeben!?“

„Ich dachte, sie seien entbehrlich? Ich sagte 'eine kleine Information'. Wenn du mehr willst, musst du auch mehr zahlen.“

Dafür kassierte er glatt noch einen Stinkefinger von Anya. „Vergiss es, du Dreckskerl!“

„Wie du meinst. Nun werde ich meinen Zug fortsetzen.“ Er legte eine seiner beiden Handkarte auf die Duel Disk. „Beschwörung: [Fabled Gallabas]. Mit anschließender Fallenaktivierung: [Call Of The Haunted], womit ich [Fabled Grimro] vom Friedhof erwachen lasse.“

Vor ihm materialisierten sich ein dämonischer Krieger, welcher mit seinen schuppenbesetzten Armen einen riesigen Morgenstern schwang und eine pechschwarz gefederte, junge Frau, welcher Rabenflügel aus dem Rücken wuchsen.

 

Fabled Gallabas [ATK/1500 DEF/800 (4)]

Fabled Grimro [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

 

„Ich erschaffe das Overlay Network“, rief der Sammler unter Anyas genervtem Stöhnen, „Xyz-Summon! Erscheine, [Evigishki Merrowgeist].“

Kaum erklang der Name von Valerie Redfields Paktkarte, horchte die Blondine mit gespitzten Ohren auf. Mürrisch brummte sie eher zu sich, als ihrem Gegner: „Alles, bloß nicht dieses Teil!“

Als das schwarze Loch sich in der Mitte des Spielfelds öffnete und die beiden gelben Lichtstrahlen, die transformierten Monster des Sammlers absorbierte, schnaufte Anya laut. Denn als die mit einem Zauberstab bewaffnete, rothaarige Meerjungfrau die Bühne betrat, fühlt das Mädchen sich sofort an die Zeit zurückerinnert, als Valerie sie vor den Angriffen der Verrückten aus Victim's Sanctury beschützt hatte – eine glatte Demütigung.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

„Nun“, rief der Sammler und streckte seinen Arm nach dem Phönix am Himmel aus, „entferne ich zwei Xyz-Materialien, um den Effekt von [Eternal Daigusto – Jade Phoenix] zu aktivieren. Somit schicke ich zwei Karten auf dem Spielfeld auf deine Hand zurück. Deine Monster. Wind Scars Of Life!“

Anya glotzte wie ein Mondkalb, als sie sich völlig sicher war, richtig verstanden zu haben. „Was!?“

Doch schon sendete der Phönix am Himmel per Flügelschlag etliche gebogene, grün leuchtende Energieklingen, die auf Anyas Monster wie ein Hagelschauer niedergingen. Sowohl der Drache, als auch Zirconia schrien, bevor sie sich letztlich auflösten und in Anyas Extradeck verfrachtet wurden, da sie sie nicht einfach ihrem Blatt hinzufügen konnte.

„Das getan, werde ich nun deine Lebenspunkte direkt angreifen. Doch keine Sorge, du wirst nicht verlieren. [Evigishki Merrowgeist], Sceptre Of Foresight!“

Behände ließ die schwebende Meerjungfrau den Zauberstab in ihren Händen wirbeln und richtete ihn schließlich auf Anya. Welche es sich nehmen ließ, mal wieder den Mittelfinger zu zücken.

„Verpiss dich, Miststück! Als ob ich mich von so'ner Wischiwaschi-Tante wie dir angreifen lasse! Meine Falle wird genau das verhindern: [Fragment Fusion]! Sie verbannt Sardonyx und [Gem-Armadillo] von meinem Friedhof, um mich eine Fusionsbeschwörung durchführen zu lassen. Das gerufene Monster stirbt zwar am Ende des Zuges, stellt aber einen super Schild gegen die Angriffe von ollen Möchtegernschicksen dar! Komm zurück, [Gem-Knight Zirconia]!“

Überall tanzten plötzlich Edelsteine in der Luft, als einige vor Anya ein Pentagramm durch Energielinien zeichneten, aus dem letztlich Zirconia hervortrat.

Dieser streckte die Arme vor Anya aus, um sie vor den Angriffen ihrer Feinde zu schützen.

 

Gem-Knight Zirconia [ATK/2900 DEF/2500 (8)]

 

Unverrichteter Dinge brach die Meerjungfrau ihren Angriff ab und zog sich ein Stück Richtung des Collectordämons zurück. Dieser meinte unbekümmert: „Wenn das der Fall ist, beende ich meinen Zug hiermit.“

Wodurch Zirconia in tausend Teile zersprang.

 

„Mein Zug!“, schrie Anya hitzig und riss die nächste Karte von ihrem Deck. Bevor ihr Gegner etwas sagen konnte, blaffte sie ihn an. „Und vergiss es, ich will keine Fragen mehr stellen.“

„Aber du hast doch noch gar nicht gefragt, wie die andere Möglichkeit aussieht. Die, dich von Levrier loszulösen.“

Anya schnappte nach Luft. Verwirrt entgegnete sie: „A-aber du sagtest doch-“

„Damit meinte ich nur, wenn ich -es- für dich erledigen soll. In dem Fall verlange ich nach wie vor deine Seele. Aber wenn -du- es tun willst, nun ja, kostet es dich lediglich …“ Er machte eine seiner Kunstpausen. „Den Rest deiner Lebenspunkte.“

„Unmöglich! Mach's billiger und wir können drüber reden!“

„Sicher? Dieses Wissen ist wertvoll. Nicht nur für dich, sondern für alle deine“, das letzte Wort betonte er besonders stark, „Bekannten. Mit ihm könntest du sie alle retten, inklusive dich selbst. Wenn du bereit bist, ein großes Wagnis einzugehen.“
 

In Anya schrie es laut 'Was gibt es da schon groß zu überlegen, sag ja!', doch gleichwohl war ihr das einfach zu gefährlich. Was, wenn das alles doch nur eine Falle war? Sie wusste ja nicht einmal, ob überhaupt etwas von dem stimmte, was er ihr erzählte! Und dieser Schmerz, den sie immer wieder spürte, was hatte der zu bedeuten?

Aber dem gegenüber stand die Freiheit. Nein, das Leben. Was hieße es denn schon, wenn jetzt etwas Unvorhergesehenes geschähe? Wenn sie zu Eden wird, wäre sowieso alles aus. Und wenn sie dabei versagt, landete sie im Limbus, dem Ort ohne Wiederkehr. Was könnte schon schlimmer sein als das!? Sie wäre frei, wenn sie jetzt zustimmte!

 

„Ich werde nicht verlieren?“, vergewisserte sie sich mit leiser Stimme.

Der Sammler nickte nur knapp.

„Dann … meinetwegen.“

Sofort ließ ein grässlicher Schmerz sie aufschreien und sie glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben.

Die Waagschalen hinter dem Sammler bewegten sich wieder ein Stück, während Anya keuchend in die Knie ging und sich die Brust hielt. Nun standen beide Schalen am jeweiligen Zenit ihrer Möglichkeiten. Noch mehr Gewicht würde das Gebilde gewiss nicht verkraften.

 

[Anya: 1100LP → 0LP / Collector: 3200LP]

 

„Ich weiß, dass du bereits von dem jungen Ford gehört hast“, der Sammler lächelte wissend, „dass er den Tod überlebt hat, um den Pakt zu brechen. Er irrt. Und liegt doch richtig.“

„Sprich Klartext“, presste Anya schwer atmend hervor. Sie war insgeheim erstaunt, tatsächlich noch zu leben. Hielt der Sammler sich am Ende tatsächlich an die Vereinbarung?

„Zu sterben ist der Weg, sich eines Paktes zu entledigen. Der Tod ist das Ende, aber ist er nicht immer endgültig. Doch was im Leben miteinander verbunden ist, muss im Tode auseinander gehen.“

Langsam erhob sich Anya, als der Schmerz nachließ. „Ich verstehe immer noch nicht.“

Der Sammler nickte. „Wenn du stirbst, muss der Dämon ebenfalls sterben. Sollte dies nicht geschehen, besteht die Möglichkeit, dass die alte Verbindung – der Pakt – wieder 'zusammenwächst'. Bist du mit dieser Information zufrieden?“

„Aber wie soll ich das anstellen!?“, begehrte Anya auf.

Allerdings wurde sie nur vor einem erhobenen Zeigefinger gestellt. „Diese Frage wirst du nicht mehr stellen können. Das Limit ist erreicht. Von nun an musst du das gewünschte Wissen selbst zusammentragen. … Oder du machst mir ein Angebot.“
 

Mit einem Mal stampfte Anya auf. „Vergiss es! Diese dubiosen Geschäfte gehen mir langsam auf die Eierstöcke! Und deswegen werde ich das jetzt beenden!“

„Ach so?“

„Ich verbanne von meinem Friedhof [Gem-Knight Zirconia], um meine [Gem-Knight Fusion] zu bergen“, rief Anya und tat genau dies, knallte anschließend ihre nachgezogene Karte auf die Duel Disk. „Jetzt rufe ich [Gem-Armadillo] und suche mir durch seinen Effekt [Gem-Knight Obsidian] auf die Hand!“

Auf Anyas Spielfeldseite tauchte wieder das altbekannte Gürteltier auf, oder besser gesagt die zweite Kopie, die das Mädchen davon in ihrem Deck spielte.

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

Kaum hatte Anya die Karte mit dem Bild eines pechschwarzen Ritters, welcher eine Kette aus Perlen als Waffe benutzte, ihrem Blatt hinzugefügt, streckte sie schon ihre Hand mit [Gem-Knight Fusion] zwischen Mittel- und Zeigefinger in die Luft. „Und nun verschmelze ich Obsidian und Garnet von meiner Hand und beschwöre [Gem-Knight Ruby]! Scheiß auf den Beschwörungsspruch, hau einfach rein!“

Als die Abbilder der beiden zu verschmelzenden Monster über Anya erschienen und ineinander übergingen, wurden die verschiedensten Edelsteine mit in den Fusionssog gezogen. Aus dem sprang kurze Zeit später ein eleganter Krieger in roter Rüstung, dessen blauer Umhang auf magische Weise wehte. Die Lanze auf den Sammler gerichtet, stieß der Ritter einen stolzen Schrei aus.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Doch neben ihm tauchte plötzlich noch ein Ritter auf, dieser trug eine bronzene Rüstung und bündelte einen Schwall Flammen in seinen Händen.
 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Na, überrascht?“, lachte Anya gehässig. „Doof, was? Dass Obsidian, wenn er von meiner Hand auf den Friedhof wandert, ein normales Monster auf meine Spielfeldseite vom Friedhof beschwört! Also [Gem-Knight Garnet]!“

Sie setzte ein noch widerlicheres, siegessicheres Grinsen auf. „Aber keine Sorge, Kumpel, der verschwindet gleich wieder. Zusammen mit [Gem-Armadillo].“

„Dessen bin ich mir bewusst“, antwortete der Sammler unbekümmert.

„Umso besser, denn dann weißt du, dass du längst verloren hast! Ich opfere meine beiden Monster, um ihre Angriffskraft auf Ruby dank dessen besonderer Fähigkeit zu übertragen!“

Garnet und das Gürteltier lösten sich in helle Lichter auf, die von der Lanze ihres Kameraden absorbiert wurde. Um den explodierte nun förmlich eine rote Aura.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 6100 DEF/1300 (6)]

 

Der Sammler klatschte anerkennend in die Hände. „Wirklich gut. Dein Kampfstil wird immer besser.“

„Klappe! Von dir brauche ich kein Lob! Beende das jetzt, Ruby! Greif die olle Sumpfkuh mit Sparkling Lance Thrust an!“ Schließlich fügte sie noch hinzu: „Und versuch gar nicht erst, dieses Miststück zu transformieren, Bastard! Auch wenn du ihre Weiterentwicklung im Verteidigungsmodus rufen würdest, wäre das egal, denn Ruby fügt Durchschlagschaden zu! Nun jetzt mach-ihn-alle!“

„Sehr gut erkannt“, sprach der Sammler und schloss seine Augen.

Wie ein Pfeil schoss Anyas Ritter auf die Meerjungfrau zu und stieß ihr seine Lanze in die Brust. Einen jämmerlichen, hilfesuchenden Schrei von sich gebend, zersprang jene schließlich in tausend Teile …

 

[Anya: 0LP / Collector: 3200LP → 0LP]

 

… und hinterließ Anya damit, geschützt vom Effekt der [Scales Of Wisdom], als Siegerin.

 

Schwer atmend ging das Mädchen in die Knie, als sie begriff, dass es tatsächlich vorbei war und sie gewonnen hatte.

„Gut gespielt“, lobte der Sammler sie, welcher plötzlich direkt vor ihr auf der Straße stand.

Anya sah mit grimmiger Miene auf. „Klaro! Und jetzt hau ab!“

„Für deinen grandiosen Sieg verrate ich dir noch etwas. Sieh es als Dreingabe für deinen Einsatz im Duell an“, sagte er geheimnisvoll. „Das letzte Elysion befindet sich in der Kanalisation unterhalb der Stadt, zwischen Bahnhof und Einkaufszentrum. Wo genau es ist musst du selbst herausfinden.“

Dann drehte er ihr den Rücken zu. „Das Schicksal ist kein festgelegter Weg, sondern ein Netz aus vielen Pfaden, die man beschreiten kann und deren Zahl je nach der eigenen Situation variiert. Dabei ist es so umfangreich, dass kein Sterblicher es je begreifen könnte und retrospektiv betrachtet, zeichnet sich in diesem Netz der eine Weg ab, den man hinter sich zurückgelegt hat. Das ist Leben.“

„Huh!?“

Als er sich von ihr entfernte, sprach er in seiner kryptischen Art und Weise weiter. „Deshalb ist es aber auch nicht möglich, die Zukunft mit Gewissheit vorherzusehen. Doch all diese Pfade enden letztlich mit dem Tod. Und von dort erstreckt sich ein ganz neues Netz aus Pfaden.“

Er blieb stehen. „Aber es ist möglich, dem Netz des Schicksals neue Pfade hinzuzufügen, Pfade, die nie vorgesehen waren. Dies ist meine Aufgabe als Sammler. Um auf die zu deiner Unzufriedenheit beantwortete Frage zurückzukommen.“

Der Rothaarige sah sich noch einmal nach Anya um, die ihn völlig irritiert betrachtete. „Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden. Denn unser beider Pfade laufen aufeinander zu wie eine Kreuzung. Bis dahin, Anya Bauer … stirb nicht.“

Und einen Herzschlag später, Anya hatte nur geblinzelt, war er fort.

 

Was hast du dir dabei gedacht!?

 

Anya hielt sich die Ohren, als es plötzlich laut in ihrem Kopf hallte.
 

Habe ich dich nicht vor ihm gewarnt!? Dieser Dämon hätte dich töten können! Oder gar Schlimmeres! Hast du übersehen, dass er noch über eine verdeckte Karte verfügt hatte? Was hättest du getan, wenn er damit [Scales Of Wisdom] zerstört hätte!?

 

„Krieg dich wieder ein“, raunte Anya und erhob sich langsam.

Den hatte sie in all der Aufregung ganz vergessen. Seinen Worten nach zu schließen hatte er jedoch alles aus dem Elysion miterlebt.

 

Wenn du gestorben wärst-

 

„Bin ich aber nicht, 'kay!? Und solltest du nicht etwas dankbarer sein, Sackgesicht!? Immerhin weißt du jetzt alles, was du wissen musst! Und das hast du nur mir zu verdanken! Mir und meinem Mut, etwas zu riskieren!“

 

Du meinst wohl deinem tollkühnen Egoismus!

 

Anya sah sich derweil um. Die Brandspuren an der Fassade unterhalb der Wohnhäuser und auf der Straße waren ganz schön groß. Wenn jemand sie hier bemerkte, würde das eine Menge Ärger geben, welchen sie sich im Moment nicht leisten konnte.

„Egal! Ende gut, alles gut!“

 

Wie dem auch sei. Du hast recht, ich danke dir. Mit dem Wissen des Collectors können wir endlich unsere Bestimmung erfüllen. Aber was wirst du jetzt tun? Es sollte kein Problem sein, dein Elysion mit anderen zu verbinden, abseits dem von Alastair, welches wir erst erwecken müssen. Doch die Frage ist: wie bekommen wir die Zeugen der Konzeption dazu, den Turm zu betreten?

 

Plötzlich ließ Anya den Kopf hängen und begann, sich dem anliegenden Wald zu nähern. Ohne Levriers Frage zu beantworten.

 

 

Turn 25 – Inevitable Decisions

Am nächsten Tag versammelt Anya die gesamte Truppe, bestehend aus Matt, Alastair, Valerie, Marc, Orion, Henry, Abby und Nick in der Küche der Familie Redfield, um ihnen von ihrer Begegnung mit dem Sammler zu berichten. Doch anstatt ihnen die Wahrheit über das Geschehe zu sagen, tischt Anya ihnen eine folgenschwere Lüge auf. Zudem versucht sie Alastair dazu zu bringen, sein zurückgelassenes Elysion zu zerstören. Doch der misstraut dem Mädchen. Ausgerechnet Marc ist es, der sich für Anya einsetzt und …

 

Turn 25 - Inevitable Decisions

Turn 25 – Inevitable Decisions

 

 

„Ich komme mir vor wie 'ne beschissene Sekretärin“, beklagte sich Anya, die nun seit Stunden am Telefon saß und korrespondierte, was das Zeug hielt. Ungeduldig schritt sie von einer Ecke zur anderen in ihrem unaufgeräumten Zimmer, wo sich Comichefte, Videospielhüllen, durchgehend schwarze Klamotten und Duel Monsters-Karten einen erbitterten Kampf um die besten Plätze lieferten.

„Und wo ist das?“, fragte Matt auf der anderen Seite des Hörers.

„Such im Telefonbuch oder sonst wo, Herrgott! Es gibt nur eine Familie Redfield in der Stadt!“

Und wären es mehrere, hätte sie die vermutlich längst ausgelöscht, fügte Anya noch im Gedanken hinzu. Eine Schnöselfamilie war schlimm genug.

„Also in einer Stunde? Okay, ich sag Alastair Bescheid.“

„Ja“, raunte Anya in den Hörer. „Der soll unbedingt kommen, denn mit dem hab' ich noch was zu klären.“

Matt klang verwundert. „Was denn?“

„Erfährst du dann! Genau wie alles andere, was ich gestern so erfahren habe. Also dann, wir sehen uns, kthanxbye!“

Schon hatte sie aufgelegt und warf den Hörer achtlos beiseite, ließ sich in ihr Bett fallen und schloss die Augen. „Phew, das waren alle, glaub ich. Jetzt müssen sie nur noch kommen.“

 

Und was wirst du ihnen sagen? Die Wahrheit? In dem Fall müsste ich deinen Körper übernehmen, um zu verhindern, dass sie wie aufgescheuchte Hühner die Stadt verlassen. Keiner von ihnen wird freiwillig den Turm von Neo Babylon betreten.

 

Alles, was Anya dazu zu sagen hatte, war ein tiefes: „Hmpf!“

Von ihrem Schreibtisch aus hallte Abbys Stimme herüber: „Anya, wäre es nicht fair, Valerie vorher Bescheid zu sagen?“

Mit einem Ruck saß die Blondine wieder aufrecht, welche ihr Haar heute ausnahmsweise einmal offen trug – was ihr aber alles andere als gut zu Gesicht stand, wenn man bedachte, dass sie dadurch fast 'mädchenhaft' aussah. „Wieso? Ich dachte, Redfield liebt Partys? Und sie wird die besten Gäste haben, die sie jemals gesehen hat!“

Abby stieß einen resignierenden Seufzer aus. „Du kennst Valerie kein bisschen, oder?“

„Besser als du das Pennerkind.“ Anya verzog ihre Augen zu Schlitzen. „Ist da was zwischen euch gelaufen?“

„N-nein!“, protestierte Abby, welcher die Schamesröte ins Gesicht stieg.

 

Ihre Worte sagen nein, die Körperfarbe ja.

 

„Was hat er mit dir angestellt!?“

„Nichts!“, kreischte Abby förmlich und drehte sich auf dem Drehstuhl um, damit Anya bloß nicht ihr Gesicht sah.

Doch die war längst aufgesprungen, drehte Abby wieder zu sich und verfrachtete sich mit dämonischem Gesichtsausdruck auf ihrem Schoß. Die Finger knacken lassend, fragte sie: „Sicher?“

„Ganz sicher! Ganz, ganz, ganz sicher! … leider!“

„Was!?“

Abby quiekte panisch: „Nichts!“

Woraufhin Anyas Gesicht wieder menschliche Züge annahmen. „Ist auch besser so!“

„Was ist es denn eigentlich, was du uns erzählen willst?“, fragte das brünette Mädchen eilig, um bloß das Thema zu wechseln. „Was ist gestern passiert, dass du alle bei Valerie versammelst?“

„Wirst du schon noch erfahren“, meinte Anya mit ihrer typischen Endgültigkeit und warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Wir sollten uns sowieso bald fertig machen. Ich will dabei sein, wenn Redfields Kinnlade den Boden schrubbt, weil ihre Geburtstagsparty vorgezogen wurde!“

„Du hast es voll mit Absicht gemacht, huh?“

„Klaro“, brüstete Anya sich stolz, doch ihre Mimik wurde wieder zu einer dämonischen Fratze. „Wehe, dein neuer Mitbewohner kommt nicht! Und wenn ihr heimlich Händchen haltet, reiß ich euch den ganzen Arm ab, verbrenne ihn und füttere euch mit der Asche!“

Abby schluckte ängstlich. „Schon gut, er hat versprochen zu kommen!“

 

~-~-~

 

„Redfield?“, tönte es eine halbe Stunde später ahnungslos aus dem Lautsprecher neben dem großen Tor, welches den Eingang zu Valeries Domizil darstellte. Als keine Reaktion folgte, sagte Valeries Stimme streng: „Anya, du kannst die Klingel jetzt loslassen, ich bin hier.“

„Whoops, muss ich doch glatt überhört haben“, log die Blondine und nahm dem Finger nur widerwillig von der Taste.

„Was willst du?“

„Die klingt nicht gerade begeistert“, flüsterte Abby im Hintergrund zu Nick, welchen sie auf dem Weg hierher entgegen Anyas ursprünglichem Plan abgeholt hatten.

„Hehe, wenn sie mich sieht, wird sich das bestimmt ändern.“

Abby stöhnte leise. „Das wag' ich zu bezweifeln.“

Indes antwortete Anya missmutig auf die Frage ihrer Erzfeindin. „Ganz einfach, Redfield! Lass mich rein und ich erkläre es dir. Vielleicht.“

„Abby, hat sie Waffen dabei?“

Das Hippiemädchen schreckte beim Klang ihres Namens glatt auf. „Ähm, n-nein, ich glaube nicht. Hi Valerie!“

Ein resignierender Seufzer erklang. „Meinetwegen, kommt rein.“

Woraufhin sich das Tor von selbst öffnete.

 

Wie ein Feldmarschall schritt Anya den Weg hinauf zur Villa der Redfields, flankiert von ihren Generälen Nick Harper und Abigail Masters, die sich eher an dem prachtvollen Blumengarten erfreuten, denn daran dachten, Anyas Tempo zu halten.

„Jetzt ist nicht die Zeit zum Glotzen“, herrschte jene die beiden daraufhin an, griff ihre Arme und zog sie hinter sich her.

Kaum waren sie vor der Tür angelangt, öffnete jene sich und Valeries Kopf lugte misstrauisch hervor. Ihr schwarzes Haar war dieses Mal zu einer Turmfigur hochgesteckt. Was Anya selbstredend nicht unkommentiert lassen konnte. „Was suchen denn die Essstäbchen in deiner Frisur, Redfield? Kannst du dir neuerdings keine Haarspangen mehr leisten?“

„Was willst du?“, erwiderte die nur ebenso feindselig. Es war deutlich, dass ihre Worte ernst gemeint waren, als sie sagte, sie würde Anya nie für ihre Taten verzeihen.

„Ab in die Küche“, befahl der Marschall bereits seinen Unterlingen, die es jedoch nicht wagten, sich an Valerie vorbei ins Haus zu stehlen.

Plötzlich sprang etwas Schwarzes hinter Valerie hervor, direkt auf Anyas Oberkörper zu. „Kawaii, Tsundere ist wieder da!“

Doch der kleine Schattengeist Orion wurde mit einer saftigen Rechten rechtzeitig abgefangen und stattdessen mit voller Wucht gegen Nicks Schädel geknallt, welcher daraufhin glatt aus den Socken gehauen wurde. Mit schmerzerfüllten Blicken lagen dieser und Orion am Boden, wobei Letzterer krächzte: „Sie ist immer noch nur Tsun, kein bisschen Dere …“

„Die hässliche Knolle war aber nicht eingeladen“, brummte Anya beim Anblick des KO gegangenen Schattengeists.

„Was?“ Valerie schien wirklich ahnungslos.

Doch Anya schnappte sich Abby, bat sich ungeniert selbst herein und ließ ihre Erzfeindin verwirrt zurück, die sich genervt stöhnend um die beiden Verwundeten bemühte.

 

Kaum hatte sie es geschafft, Nick aufzurichten und ins Haus zu bitten, fand sie Anya bereits in ihrer altmodischen Küche aus dem 18. Jahrhundert wieder, wie sie einfach so auf dem langen Esstisch saß und abwartend die Arme verschränkt hielt.

„Was soll das!? Wieso platzt du einfach in mein Haus herein!?“

„Weil ich's kann, Redfield, deshalb!“

Abby, die zurückhaltend neben Anya stand, fasste sich ein Herz und klärte die aufgebrachte Valerie schließlich auf. „Anya hat alle zusammengetrommelt, die irgendetwas mit Eden und einem Pakt zu tun haben.“

Woraufhin Valeries wütende Mimik einer überraschten wich. „Und wozu?“

„Weil ich den Jackpot abgestaubt habe“, raunte Anya zynisch. „Jetzt setz dich auf deinen Schickimickiarsch und warte, bis der Rest hier ist!“

„Ich kann das Kissen sein!“, gluckste Nick wolllüstig, doch bekam von Orion, der auf seinem Kopf hockte, eins auf die Zwölf mit dessen kleiner Faust. „Vergiss es! Du bist nur mein Sklave und hast daher kein Recht, eine solch anspruchsvolle Aufgabe zu übernehmen! Ich mach das! Nicht wahr, Valval?“

Deren zusammengekniffene Augen waren Antwort genug, um die beiden zum Verstummen zu bringen. Abermals stöhnend ob Anyas Frechheiten, ließ sich Valerie schließlich ein wenig weiter weg von den anderen auf einem der Stühle am Essenstisch nieder und wartete geduldig.

 

~-~-~

 

Und fauchte Anya eine halbe Stunde später an, als die Küche voller Menschen war, die sie nicht kannte. „Ich dachte, es kommen 'ein paar' Leute!? Nicht eine halbe Footballmannschaft!“

„Sind doch nur'n paar“, zuckte Anya neben ihr mit den Schultern und sah die versammelte Gruppe an.

Da war Matt, der gegen einen Küchenschrank lehnte und die Hand zum Gruß hob. Ihm gegenüber auf einem Stuhl saß sein Partner Alastair, das Narbengesicht, welches wie immer schaute, als würde er jeden Moment Amok laufen. Dann natürlich Marc, der Valerie beruhigend die Hände auf die Schultern gelegt hatte – Valerie hatte ihn persönlich auf Anyas 'Bitten' hierher beordert. Und zwischen Abby und Nick saß nun das Schnöselkind Henry, welcher ziemlich ungeduldig wirkte.

„Sieht aus, als wären alle hier“, stellte Abby fest, wobei ihr Augenmerk komischerweise nur auf Henry gerichtet war – ganz zu Anyas Ärgernis.

Die hatte aber keine Zeit für Kindereien und kam deshalb umgehend zur Sache. „So Leute … was sollte ich nochmal sagen, Abby?“

„Du sollst dich bedanken, dass alle gekommen sind“, flüsterte die ihr leise vom Tisch aus zu.

„Ja ja, also, nett dass ihr vorbei geschaut habt. Kuchen gibt’s später.“ Anya neigte sich herüber zu Valerie, zischte spitzzüngig, aber immer noch gut hörbar: „Los, geh backen Redfield, das könnte jetzt etwas länger dauern.“

„Nicht nötig, ich habe gestern erst ein neues Rezept für eine Schokolade-Vanille-Torte ausprobiert“, erwiderte Valerie auf die Stichelei der Blondine unbeeindruckt. „Jeder, der nachher Hunger hat, kann gerne ein Stück bekommen.“

„Mhmmmm, ich liebe Ku-“

„Klappe, Harper!“, befahl Anya Nick wütend und richtete ihren Blick auf die ganze Gruppe. Irgendwie war ihr unwohl, zu so vielen Leuten zu sprechen. Besonders wenn … aber sie wusste, dass es keine Alternative gab.

„Dürfen wir jetzt erfahren was du herausgefunden hast?“, fragte Matt ungeduldig. Ihm fiel nebenbei auf, dass das Mädchen, Abby, welches er vor einiger Zeit erpresst hatte, konsequent seinen Blick mied. Seine Mimik trübte sich. „Wir haben nicht ewig Zeit, verstehst du?“
 

Du weißt, dass du keine Wahl hast. Du musst sie anlügen, Anya Bauer. Entweder du oder ich.

 

„Ich weiß“, gab Anya beiden grimmig zu verstehen, leitete damit aber auch gleichzeitig ihre Erklärung ein.

Es war so schwer. Sonst war ihr Lügen immer leicht gefallen, doch dieses Mal? Man könnte meinen, ihr Brustkorb implodierte jeden Moment. Dennoch hatte sie sich eins geschworen. Wenn es hieß, entweder die oder ich … würde es immer nur 'ich' geben. Sie würden dasselbe an ihrer Stelle tun. „Ich weiß, wie wir Eden vernichten können.“

 

Sofort ging ein aufgeregtes Raunen durch die Küche der Redfields. Alastair war der Erste, der Worte dafür fand. Und sie waren wenig schmeichelhaft. „Du lügst, Schlangenzunge! Wie könntest du-“

„Ich habe einen Mann getroffen, der mir alles verraten hat, was ich wissen wollte.“ Anya drehte sich mit verschwörerischer Mimik zu Valerie um. „Den Sammlerdämon.“

Jene zuckte merklich zusammen, als sie das vernahm und den Wink verstand. Doch anstatt etwas darauf zu antworten, erwiderte sie Anyas Blick nur unschlüssig. Die Worte, die sie beide austauschten, waren stumm. Zu dumm nur, dass Anya nicht imstande war, die ihres Gegenüber zu verstehen.

Deswegen wunderte es auch nicht, dass Matt sich als Erster einmischte. „Was!? Den hast du getroffen!? Bist du lebensmüde!?“

„Der Collector ist einer der gefährlichsten Dämonen auf diesem Planeten! Kein Jäger hat es je geschafft, ihn zu töten!“, polterte auch Alastair. „Und du hast ihn aufgesucht!?“

„Nicht ich ihn, er mich“, stellte Anya mit kühler Stimme klar. Sie schloss die Augen. „Er wollte unlautere Geschäfte mit mir treiben, meine Seele stehlen, weil er Interesse an mir zu haben scheint. Eine andere 'Kundin' von ihm hat ihn wohl auf mich aufmerksam gemacht.“

Dieses Mal entglitt Valerie glatt ein erschrockener Seufzer, doch Anya ignorierte sie. Wenn sie noch näher darauf einging, würde sie die Schwanenprinzessin verraten, was momentan nicht in ihrem Interesse war. Denn eigentlich musste sie Valerie dafür dankbar sein, die Aufmerksamkeit des Sammlers erregt zu haben.

„Wir haben uns um die Wahrheit duelliert, nachdem ich sein Angebot ausgeschlagen habe. Und wie ihr seht, habe ich gewonnen. Es war knapp, aber ich habe erfahren, wie Eden getötet werden kann.“

„Was musstest du als Preis dafür zahlen!?“, verlangte Alastair zu wissen. „Niemand erhält etwas von dem Sammlerdämon ohne Gegenleistung!“

Nun stampfte Anya wütend auf. „Meine Seele hätte er bekommen, wenn ich das Duell verloren hätte, 'kay!? Aber ich habe gewonnen! Er ist leer ausgegangen! Außerdem hat er sich nicht abwimmeln lassen, was hätte ich tun sollen!? Wegrennen!? Pah, als ob er mich hätte gehen lassen! Ist doch nicht mein Problem, wenn er sich am Ende auf sowas einlässt und dann verliert!“

Matt, der seine Ruhe wiedergefunden hatte, blieb nichtsdestotrotz ziemlich skeptisch. „Und er hat sich an die Abmachung gehalten?“

 

Plötzlich schaltete Marc sich an, der Valerie dicht an sich gezogen hatte. Deren Blick war auf befremdliche Weise abwesend, regelrecht leer. „Anstatt Anya mit Fragen zu bombardieren, solltet ihr sie erstmal ausreden lassen. Denkt ihr denn, sie lügt euch an, wenn die Sache für sie am allerwichtigsten ist?“

Der jüngere der Dämonenjäger nickte. „Da hat er recht. Aber bist du dir absolut sicher, dass er dich nicht reingelegt hat?“

„Weiß nicht“, Anya zuckte dazu unterstreichend mit den Schultern, „ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube er hat nichts angestellt. Egal. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass Eden eine physische Form besitzt. Allerdings … wartet die im Turm von Neo Babylon.“

„Das habe ich mir schon fast gedacht“, reagierte Matt daraufhin und übertönte das Geflüster von Abby und Henry, die ganz zu Anyas Ärgernis verdächtig unbeteiligt wirkten. Müssten die nicht längst auf dem Tisch Salza tanzen?

Indes sprach er weiter: „Und was ist die schlechte?“

„Der letzte Raum, da wo Edens Herz liegt“, Anya machte eine Pause und atmete tief durch.

Noch konnte sie einen Rückzieher machen. Aber das hieße, elendig zu verrecken und im Limbus enden. Da sie aber sowieso starb, egal was geschah, war ein schlechtes Gewissen ohnehin bedeutungslos. Die letzten Tage … würde sie damit leben müssen.

Sie schloss ihren Satz ab: „wird sich nur öffnen, wenn mich fünf Zeugen der Konzeption dahin begleiten.“

„Sie lügt!“, polterte Alastair und sprang auf, mit dem Finger auf Anya zeigend. „Das ist eine Falle, um uns in den Turm zu locken und zu opfern!“

Anya zuckte erschrocken zusammen.

 

Hast du ernsthaft erwartet, dass er dir das abkaufen würde? Anya Bauer, das war keine sonderlich kluge Lüge. Du hättest auf mich hören und warten sollen, bis uns etwas Besseres eingefallen wäre.

 

Aber ihr war nichts 'Besseres' eingefallen, dachte Anya verzweifelt. Außerdem war es stimmig! Der Turm von Neo Babylon musste betreten werden, wenn man Eden finden wollte. Warum sollte sich der Pfad also nicht erst öffnen, wenn alles Nötige 'zusammengesammelt' war?

„Anya würde so etwas nie tun!“, ergriff Abby nun eifrig das Wort und sprang ebenfalls auf, direkt Alastair in die Augen sehend. Es waren Blicke voller Verachtung. „Sie ist nicht so wie ihr, feige und hinterhältig! Für Anya geht es hier um Leben und Tod! Sie wäre die Letzte, die ein Interesse daran hätte, euch zu opfern, wenn sie davon sowieso nichts hätte!“

„Danke, Abby“, murmelte Anya leise und ließ den Kopf hängen.

Kannte ihre Freundin sie nicht lange genug, um zu wissen, dass das Quatsch war? Oder hatte sie es am Ende sogar durchschaut und … spielte trotzdem mit?

„Ich denke auch, dass Anya lügt“, erklang plötzlich Valeries Stimme zögerlich.

Sofort wich Anya von ihr zurück und zeigte ihr den berühmten Mittelfinger. „Redfield, du Miststück! Dass du das glaubst, war mir sowieso klar! Fuck off, Bitch!“

Doch mehr hatte Valerie Anya nicht zu sagen und wandte den Blick ab. Für einen Augenblick jedoch glaubte die Blondine, Zweifel in den Augen ihrer Widersacherin erkannt zu haben. Oder war es nur das schlechte Gewissen, weil sie ihr ungewollt den Sammler auf den Hals gehetzt hatte?

 

„Ich bin auf ihrer Seite“, meinte Matt kühl und nickte zu Abby herüber, die sich sofort von ihm abwandte. „Ich habe genug mit Anya erlebt, um zu wissen, wie sehr sie darum kämpft, frei zu sein.“

„Du glaubst ihr tatsächlich!?“, schoss es aus dem entsetzten Alastair heraus, der seinen Freund daraufhin an den Schultern packte. „Obwohl sie dich erst neulich hinterhältig hintergangen hat!?“

„An ihrer Stelle hätte ich vielleicht genauso gehandelt, es war eine Panikreaktion!“, erwiderte Matt stur und riss sich von Alastair los. „Außerdem wäre ich an deiner Stelle nicht so vorlaut, du bist an allem Schuld! Du hast Anya in die Arme Levriers getrieben! Du bist der Allerletzte, der hier etwas zu sagen haben sollte!“

Getroffen von Matts Worten schritt Alastair zurück. In seinem vernarbten Gesicht stand ein regelrechter Schock geschrieben, schien er nie damit gerechnet zu haben, jemals von Matt so strikt abgewiesen zu werden.

„Ich glaube auch an Anya.“

Jene wirbelte schockiert um, genau wie Valerie, als Marc die Blondine freundlich ansah.

„Aus eigener Hand weiß ich, was für schreckliche Dinge man zu fühlen beginnt, wenn man keinen Gedanken mehr fassen kann, ohne einen Dämon im Nacken zu haben.“ Marc hob seine rechte Hand an und betrachtete sie betrübt, ehe er eine Faust ballte. „Nichts ist schwerer als die, die man liebt, zurückzulassen. Aber sie zu opfern? Ein Mensch wie Anya, die ihren Freunden immer beigestanden hat, könnte das bestimmt nicht. Und jeder, der etwas anderes sagt, wird wohl oder übel mit mir aneinander geraten.“

Sowohl aus Anyas, als auch Valeries Mund schoss es: „Marc!“

Jener richtete seinen gütigen Blick auf Anya. „Keine Sorge, wir helfen dir schon irgendwie.“

„D-danke“, antwortete das blonde Mädchen und wich dem Blick des hochgewachsenen, dunkelhaarigen Footballspielers beschämt aus. Dass der Mann, den sie einst geliebt und aus verletztem Stolz getötet hatte, jetzt für sie sprach, trieb sie an die Grenzen ihres Gewissens. Wie konnte sie das jetzt noch durchziehen!?

 

Deine Worte spalten wirklich die Lager, Anya Bauer. Wäre der Hintergrund nicht so ernst, würde ich mich tatsächlich amüsieren. Denke ich.

 

„Fragen wir doch unsere Paktpartner, was sie davon halten!“, gab sich Alastair derweil noch nicht geschlagen.

„Meiner hat kein Problem damit“, zuckte Matt mit den Schultern, „Eden interessiert ihn nicht, aber er meint, dass er ebenfalls so eine Falle stellen würde, wenn er Anya wäre.“

Alastair richtete sich mit finsterem Blick an Valerie. „Und was sagt die Heilige Johanna von Orléans?“

Valerie stammelte verdutzt: „Woher wissen Sie-!?“

„Antworte einfach!“

Geschlagen blickte das schwarzhaarige Mädchen auf das Parkett unter ihren Füßen. „Sie sagt, wir sollen Anya vertrauen.“

„Tch, sie ist kein bisschen besser als Refiel!“, fluchte Alastair empört und verriet sich damit ungewollt.

Matt grinste keck und verschränkte die Arme. „Sieh an, ist sich das Traumpaar neuerdings uneins?“

„Ich habe dir bereits mehrmals gesagt, dass ich keine Marionette des Himmels bin!“

„Ich wünschte, ich könnte meinen fragen“, murmelte Marc dabei zu Valerie und Anya. Erstere streichelte ihrem Verlobten jedoch beruhigend über den Oberarm. „Sei froh, dass du es nicht kannst. Isfanel ist ein Monster. Und wie seine Meinung ausfallen dürfte, ist sowieso kein Geheimnis.“

 

„Hey, Pennerkind“, donnerte Anya plötzlich und sah herüber zu Henry, der zwischen Abby und Nick saß.

„Ja?“, schaltete sich jedoch Orion auf Nicks Kopf ein. „Was gibt’s, meine süße Tsundere? Lust auf ein kleines Spiel mit dem Chickachecker?“

„Nicht du, der da!“ Anya zeigte ungeniert auf den brünetten, jungen Mann. „Du hast die ganze Zeit noch nichts gesagt. Was ist, traust du dich nicht?“

„Mich geht das nichts an“, erwiderte der tonlos.

„Dir ist aber klar, dass deine Schwester Marisa gebraucht wird, oder!? Immerhin ist sie eine der fünf Zeugen!“

Sie sah ihn herausfordernd an. Innerlich erschrak Anya allerdings. Beinahe hätte sie Opfer statt Zeuge gesagt, auch wenn sie noch nicht wusste, ob seine Schwester wirklich das letzte Zahnrad im Edengetriebe darstellte. Die Wahrscheinlichkeit war jedoch sehr groß.

„Das war mir schon klar, seit Melinda sich mit deinem Freund duelliert hat.“ Plötzlich erhob sich Henry und schritt an Anya vorbei. Mit gesenkter Stimme sagte er zu ihr: „Wenn du Eden wirklich stoppen willst, werde ich dir helfen. Ich und Melinda werden zum versprochenen Zeitpunkt da sein. Ich verlasse mich auf dich … und deinen Egoismus.“

Mit diesen merkwürdigen Worten verließ Henry ohne Verabschiedung die Küche und hinterließ eine Schar verdutzter junger Menschen.

 

„Melinda ist eine Zeugin der Konzeption?“, brach es aus Abby heraus, kaum war Henry verschwunden.

Anya nickte grimmig. „Jep. Jemand anderes kommt nicht infrage.“

„Wie furchtbar“, stammelte ihre Freundin und schlug die Hände vor den Mund.

„Aber warum will er der Dämonenbrut dann helfen!?“, verstand Alastair nicht.

Sein Partner erklärte es. „Ganz einfach: Isfanel will Edens Zerstörung. Wenn er das erreicht, wird er Melinda sicherlich freigeben. Henry hat keine andere Wahl, als Anya zu vertrauen, denn er selber ist nicht imstande ihr zu schaden.“

„Genau wie ich“, murmelte Valerie, „weil Joan ein Engel ist. Ansonsten …“

„Tch! Sie ist ein gefallener Engel und dazu Verräterin!“, stellte sich Alastair völlig unerwartet gegen die unfreiwillige Gastgeberin. „Sie ist-“

„Du weißt gar nichts!“, ließ jene das nicht auf sich sitzen. „Sie wurde-“

„Auszeit!“, polterte Matt aufgebracht dazwischen, dem klar geworden war, dass eine kollektive Entscheidung hier nicht getroffen werden konnte. „Diesen Himmelskram könnt ihr unter euch regeln!“

 

Stöhnend schwang er sich vom Schrank aus herüber zu Anya und stellte sich neben sie. Dabei hielt er die Arme weiterhin verschränkt und sah jeden aus der Runde streng an.

„Ob Anya lügt oder nicht muss jeder für sich selbst entscheiden. In genau einer Woche wird der Turm von Neo Babylon auf eurem Schulgelände erscheinen, das ist Fakt. Wenn dieser Tag gekommen ist …“ Plötzlich wandte Matt sich mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck an Anya. „... wirst du wissen, wer deine wahren Freunde sind.“

Das Mädchen vermied direkten Blickkontakt. „Yeah …“

Matt richtete sich wieder an die anderen. „Wer Angst hat, ist nicht gezwungen zu kommen. Aber denkt alle daran, dass ihr Anya auf dem Gewissen haben werdet, wenn sie ohne uns den Turm betritt. Sie ist die Letzte, die sterben will. Was passieren wird, wenn sie zu Eden wird. Denkt darüber nach, wenn ihr am 11. November entscheiden müsst, ob ihr mit ihr zusammen den Turm betretet oder nicht.“

Betroffenes Schweigen erfüllte daraufhin die Küche.

„Danke“, brachte Anya unter größten Mühen ihre Gefühle Matt gegenüber zum Ausdruck.

Der aber winkte ab. „Keine Ursache. Auf mich kannst du zählen. Weißt du, wie Eden getötet werden kann?“

„Nein … aber ich denke, dein alter Plan dürfte aufgehen …“

„Also Sprengstoff“, überlegte Matt und griff sich ans Kinn. „Gut, ich werde das Zeug besorgen.“

Die Blondine atmete tief durch, ehe sie zweimal in die Hände klatschte. „Also schön, die Pressekonferenz ist vorbei! Ihr habt den Mann gehört! Und wehe, auch nur eine von euch Napfsülzen lässt mich hängen! Denjenigen werde ich persönlich abholen und in den Turm schleifen, kapische!?“

 

Du warst zwar nicht sonderlich glaubwürdig, aber ich denke, Matt Summers Einsatz könnte sich ausgezahlt haben. Tu nur nie wieder so etwas Dummes, Anya Bauer. Das nächste Mal werde ich nicht zusehen, wie sich die Dinge entwickeln.

 

In Wirklichkeit hatte Levrier nur Angst, dass er sie nicht gut imitieren konnte, dachte dessen Gefäß daraufhin wütend, sah sich jedoch gezwungen, den Ärger in Anwesenheit der anderen herunterzuschlucken.

Stühlerücken ertönte. Abby und Nick waren aufgestanden und gingen jetzt auf Anya zu. Das brünette Hippiemädchen nahm sich Anyas Hand und drückte jene fest mit den ihren. „Kopf hoch, alles wird gut werden. Das hast du prima gemacht.“

„Huh?“

Abby lächelte sie aufmunternd an. „Den Mut zu haben, sich so offen ins Kreuzfeuer zu stellen … dafür hast du meinen Respekt. Wir alle wissen insgeheim, dass du uns nicht verraten würdest. Du bist zwar, entschuldige, etwas gewöhnungsbedürftig, aber bestimmt nicht das Monster, für das Alastair dich hält.“

„D-danke.“ Also schien sie doch nichts zu ahnen.

„Ich gehe nachhause und werde mit Henry reden. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er braucht wohl jetzt jemanden, mit dem er reden kann.“

Anya nickte knapp. „'kay, mach das.“

„Ich gehe auch. Spongebob läuft gleich“, gluckste Nick unbekümmert wie eh und je.

So verabschiedete Anya die beiden schlechten Gewissens. Wie konnte sie Abby jetzt noch in die Augen sehen? Und wieso kümmerte sie das neuerdings überhaupt?

 

Doch als Alastair wie ein Sommergewitter an ihr vorbeirauschte, packte Anya diesen fest am Arm. „Du bleibst schön hier, Freundchen! Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen!“

Aber der Dämonenjäger riss sich sofort los. „Denk nicht, dass ich deinen Worten Glauben schenke, Schlangenzunge.“

„Hey“, schritt Marc ein und stellte sich zwischen die beiden. „Lass Anya zufrieden, klar?“

„Marc, ich bin oben. Ich hab Kopfschmerzen“, murmelte Valerie und schritt hinter Anyas Rücken an jener vorbei. Als sie auf gleicher Höhe waren, flüsterte sie dieser kaum merklich etwas zu: „Kein Wort darüber.“

Anya, sich verblüfft umdrehend, sah nur wie Valerie von der Tür aus um die Ecke bog.

 

Was hat sie damit gemeint?

 

Wenn sie das mal wüsste, dachte Anya ärgerlich. Aber Redfield konnte ihr in diesem Moment nicht gleichgültiger sein. Sie hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen.

„Wir gehen dann auch“, meinte Matt und klopfte Anya auf die Schulter. „Zieh nicht so'n Gesicht, das steht dir nicht. Wenn jemand wie du versucht, nachdenklich auszusehen, geht das meist in die Hose.“

„Was, soll das heißen, du-!?“ Allerdings war das der falsche Zeitpunkt für so etwas. „Warte gefälligst! Könntet ihr mich mitnehmen?“

Erstaunt blinzelte Matt. „Wohin denn?“

„Dorthin, wo Alastair mit Refiel seinen Pakt geschlossen hat.“

Der Hüne wurde sofort hellhörig. „Was willst du dort!?“

„Wirst du sehen, wenn wir da sind! Oder soll ich allen von deinem kleinen Geheimnis erzählen? Du weißt schon, Victim's Sanctuary, Gewitter …“

Und nicht zu vergessen Jonathans Leiche. Alastair wusste sofort, worauf sie hinaus wollte. „Du dreckige-!“

„Kann ich auch mitkommen? Ich denke, ich sollte Valerie jetzt lieber etwas Zeit für sich gönnen“, schaltete sich Marc ein. „Außerdem ist mir nicht wohl dabei, dich mit denen allein zu lassen, Anya.“

„V-von mir aus!“

Auch das noch! Wieso war der Kerl plötzlich so nett zu ihr, seit er wieder am Leben war!? Jetzt, wo sie kein Interesse mehr an ihm hatte!?

„Wenn es dich glücklich macht“, meinte Matt mit ahnungslosem Schulterzucken. „Dann bringen wir euch beide eben dahin.“

 

~-~-~

 

Kaum hatte Alastair den VW-Bus am Waldrand geparkt, stiegen Anya und Marc von der Ladefläche aus. Einige Meter weiter auf der Straße war irgendwo die Stelle, an der Jonathan durch Alastairs Hand gestorben war.
 

Wie wirst du Alastair darauf ansprechen? Sein Misstrauen ist ohnehin groß genug und wenn du jetzt etwas Falsches sagst, wird er Matt am Ende nur damit anstecken.

 

„Lass das mal meine Sorge sein.“

„Was?“

Anya bemerkte Marcs verwirrten Gesichtsausdruck, als sie schon mal zu der Stelle vorgingen. „Nichts. Levrier wollte nur was von mir.“

„Oh … irgendwie beneide ich dich.“

Das Mädchen blieb abrupt stehen, woraufhin Marc es ihr gleichtat. „Wieso das denn!? Was gibt es denn an mir zu beneiden bitteschön!?“

„Nun“, sagte er und ließ den Kopf hängen, „du hast jemanden an deiner Seite, der dich führt. Alle haben diese Geister, denen sie vertrauen. Aber ich habe meinen verloren.“ Er sah wieder auf und lächelte gequält. „Versteh mich nicht falsch, Isfanel ist ein kaltblütiges Monster. Und ich würde sicher auch nicht mit dir tauschen wollen. Es muss schwer sein, Levrier zu unterdrücken, oder?“

„J-ja. Sehr schwer.“

„Aber dennoch. Er würde alles tun, um dich zu beschützen. Die Dinge sind nicht so einfach, wenn man auf sich gestellt ist.“

Anya blinzelte verdutzt. War das, was Marc fühlte? Fühlte er sich einsam, weil Isfanel nicht mehr da war? Oder ging es ihm am Ende nur darum, dass ihm jemand den Weg wies, damit er selbst nicht nachdenken musste?

„Pff! Sei froh, dass du ungestört deine eigenen Entscheidungen treffen kannst! Außerdem hast du Valerie. Was brauchst du mehr?“

Marc lachte. „Da hast du recht. Danke, Anya.“

 

Indes hatten Alastair und Matt zu ihnen aufgeschlossen, sodass sie zusammen die letzten Meter zu der Stelle nahmen.

„Hier habe ich mich mit dem Sammler duelliert“, meinte Anya, zeigte vor ihnen auf die Brandflecken überall auf dem Asphalt und der Steinmauer, die zu der höher gelegenen Ebene gehörte, auf der sich die Wohnhäuser befanden. Alles war durch die Polizei mit einem Absperrzaun gesichert worden.

„Verdammt“, staunte Matt, „das sieht ja nach 'nem heftigen Kampf aus.“

„Pah! Und das wolltest du uns zeigen?“, herrschte Alastair Anya an.

Die drehte sich mit grimmiger Miene zu ihm um.

„Nein, Narbengesicht! Hier irgendwo liegt dein verdammtes, abgetragenes Elysion! Und solange das nicht in tausend Teile zerscheppert, wird die Tür zum Turm sich nicht öffnen.“ Sie machte eine scheuchende Handbewegung. „Also husch husch, mach das Drecksteil kaputt, damit ich nachhause kann!“

„Wovon redest du da, Dämonenbrut!?“

„Sie hat recht“, meinte Matt nachdenklich und fasste sich ans Kinn, „mein Dämon hat genau das gerade gesagt. Das Elysion, welches du vor dem Pakt besessen hattest, ist in der Nähe. Aber vollkommen intakt, obwohl du bereits ein Neues besitzt.“

„Und warum sollte ich auf sie hören!?“

„Weil sie es besser weiß als du!“, stellte sich Marc wieder beschützend vor Anya. „Sei kein Idiot!“

Alastair verzog grimmig das Gesicht. „Und wer bist du, dich hier einzumischen? Immerhin hat dieses Mädchen dich-“
 

Doch Anyas gezielter Faustschlag auf Alastairs breiten Kiefer ließ diesen verstummen, ehe er aussprechen konnte, was Marc niemals erfahren durfte. Sich die Wange haltend, starrte der schwarzhaarige Dämonenjäger im roten Mantel das Mädchen hasserfüllt an. Dabei spuckte er zur Seite, ehe er zischte: „Wie kannst du es wagen!?“

„Hey, lasst den Mist!“, schritt nun Matt zwischen die Streithähne. An Anya gewandt, fragte er: „Was soll er tun, damit das Elysion zerbricht?“

 

Er vertraut dir wirklich, trotz der Sache mit dem Jinn. Er ist wahrlich naiv.

 

„Ich habe keine Ahnung“, brummte Anya und verfluchte Levrier innerlich, welcher ihr ohnehin schon schlechtes Gewissen mit aller Macht noch mehr reizen wollte, wie es schien.

„Als ob ich der Dämonenbrut helfen werde!“

„Das wirst du!“, schrie Marc nun aufgebracht. „Du hast den Albtraum angefangen, also wirst du alles tun, um ihn wieder zu beenden!“

Alastair grinste finster und lachte abfällig auf. „Zwing mich doch!“

Daraufhin griff Marc nach etwas hinter seinem Rücken und zog ein Deck hervor. „Wenn du darauf bestehst!“

„Ein Duell?“, wunderte sich Anya beim Anblick der Karten.

„Sicher.“ Marc hielt den Blick starr auf seinen potentiellen Gegner gerichtet. „Oder soll ich lieber die Fäuste sprechen lassen? Damit hätte ich zwar auch kein Problem, aber Gewalt war noch nie die Lösung.“

Anya lachte auf. Was für eine Verschwendung. Ein Kerl wie er passte doch gar nicht zu Redfield. Die verstand nichts vom Stolz eines Sportlers, obwohl sie selbst im Eishockeyteam war. Marc wollte für sein Team gewinnen, völlig gleich, ob es nun Duel Monsters oder Hockey oder ein Kampf Mann gegen Mann war. In dem Fall war sie sein Team. Aber Anya wusste, dass sie die Schlacht um ihn längst verloren hatte.

Sie zuckte genervt mit den Schultern. „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber sei vorsichtig, der Typ ist nicht ohne.“

Matt seinerseits fasste sich stöhnend an den Kopf. „Junge, wieso werde ich immer in die Streitigkeiten anderer reingezogen?“

„Du hast einfach die falschen Freunde“, erwiderte Anya neckisch. Und erkannte, dass sie damit auch sich selbst meinte. Woraufhin sie etwas auf Abstand ging, als sich Marc und Alastair bereit zum Duell machten.

Der jüngere Dämonenjäger gesellte sich neben sie.

„Eher habe ich meine Freunde schlecht erzogen“, meinte er scherzhaft. „Aber bei dir ist sowieso Hopfen und Malz verloren.“

„Was dachtest du denn?“ Anya sah dabei bewusst in den Himmel, der bereits in tiefem Rot stand. Ja, bei ihr war wirklich alles verloren … verdammt, langsam war es doch mal gut!

 

Alastairs weißes D-Pad klappte inzwischen aus, als er und sein Gegner sich auf der Straße gegenüber standen. „Von so einem Grünschnabel wie dir lasse ich mich nicht herumkommandieren. Ich frage mich, was dein Dämon wohl hierzu sagen würde, wenn er noch hier wäre?“

„Dass ich dir in den Arsch treten soll!“

Marc aktivierte seine Duel Disk und schob sein Deck in den dafür vorgesehenen Schacht.

Derweil betrachtete Alastair ihn missmutig. Es war unmöglich, dass dieser Bursche überhaupt vor ihm stand. Anya hatte ihn getötet, der Blutzoll der kämpfenden Dämonen hatte sein Leben eingefordert. Wie konnte er jetzt wieder leben? Anya Bauer wusste die Antwort, dessen war sich Alastair sicher. Hatte sie mit dem Sammler gehandelt, um ihn zu reanimieren? Törichtes Gör! Sie brachte nichts als Unglück mit sich. Mit einer Dämonenbrut wie ihr würde er niemals zusammenarbeiten!

„Duell!“, riefen beide schließlich.

 

[Marc: 4000LP / Alastair: 4000LP]

 

„Ich übernehme den ersten Zug“, stellte Alastair klar und zog gleich sechs Karten auf einmal. Sein Gegner fuhr sich über den Spitzbart und nickte mit entschlossener Mimik. „Nur zu. Die Ersten werden die Letzten sein.“

„Tch!“ Mit seinen albernen Pseudoweisheiten konnte er vielleicht eine Anya Bauer beeindrucken, nicht aber einen gestandenen Dämonenjäger wie ihn! „Sieh dich vor! Ich rufe [Vylon Cube]!“

Unter einem lauten Surren tauchte ein würfelartiges, schwebendes Objekt vor Alastair auf. Zwei Arme schossen aus seinen Seiten, als er Marc mit einem Laserstrahl zu scannen begann.

 

Vylon Cube [ATK/800 DEF/800 (3)]

 

„Kein Grund zur Sorge“, gab dieser daraufhin von sich.

„Dann sieh zweimal hin! Ich aktiviere die Magie [Celestial Transformation], um ein Feen-Monster von meiner Hand zu beschwören! Es verliert dabei die Hälfte seiner Offensivstärke und wird am Ende des Zuges vernichtet.“ Alastair lächelte jedoch finster, als er das Monster auf sein D-Pad legte. „Nicht, dass es etwas bedeuten würde, bei dem was ich vorhabe. Erscheine, [Vylon Hept]!“

Noch eine dieser befremdlichen Kreaturen erschien neben dem Würfel. Diese hier ähnelte jedoch vielmehr einem mechanischen Engel mit seinen goldenen Schwingen und dem Körper aus Stahl, der sich besonders durch die massiven Arme und fehlenden Beine des Wesens hervor tat.

 

Vylon Hept [ATK/1800 → 900 DEF/800 (4)]

 

Alastair ballte eine Faust, die er in den Himmel streckte. „Mach dich bereit …“
 

Dabei fragte Anya Matt unauffällig: „Seit wann benutzt ihr Duel Disks? Ihr habt doch diese komischen Hokuspokus-Karten dafür?“

Der lachte aber nur amüsiert. „Glaubst du, die benutzen wir jedes Mal, wenn wir uns duellieren? Manchmal gibt es Situationen, in denen wir nicht gleich allen an den Kragen wollen. Dann nehmen wie diese D-Pads.“

Matt holte aus der Innentasche seines Mantels einen schwarzen, schmalen Apparat, der eher einem Tablet-Computer mit Schnalle ähnelte, denn einer Duel Disk. „Die sind extrem teuer im Laden, aber auf dem Schwarzmarkt kann man sie sich recht günstig besorgen.“

„Tch, ich brauche so'n Scheiß nicht. Ich bleib bei meiner Battle City-Duel Disk.“

„Das verlodderte Ding?“

Anya stampfte wütend auf. „Hey, das ist'n Erinnerungsstück meines Vaters! Mach dich drüber lustig und ich zeig dir, wie stabil das Ding ist! Und zwar, wenn ich dir damit die Rübe glattbügle!“

Mit erhobenen Händen wich Matt von ihr. „Schon gut, tut mir leid. Da hab ich wohl glatt 'nen Nerv getroffen …“

 

„Ich stimme meinen Empfänger [Vylon Cube] Level 3 auf [Vylon Hept] Level 4 ab!“, rief Alastair aus voller, tiefer Kehle. „Infinite potential lies within the heart of steel. Cover this infected world with your sacred wings! Synchro Summon! [Vylon Delta]!“

Der Würfel stieg hoch in die Luft und zersprang in drei grüne Ringe, welche der mechanische Engel durchquerte. Ein greller Lichtblitz erhellte die gesamte Straße.

Marc zeigte sich jedoch nicht gerade überwältigt von Alastairs Synchromonster. Hinter den gewaltigen, silbernen Stahlschwingen, die dieser neue Maschinenengel schützend um seinen Körper hielt, erblickte er gewaltige Fäuste. Der Leib des Wesens endete in einer rot glühenden Spitze, um die drei goldene Ringe schwebten. Elegant stieg es aus der Luft hinab und breitete sich in seiner massiven Größe vor Alastair aus.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/2800 (7)]

 

„Dadurch, dass [Vylon Cube] für die Synchrobeschwörung eines Licht-Monsters als Empfänger benutzt wurde, erhalte ich eine Ausrüstungsmagie von meinem Deck“, erklärte Alastair angespannt und zeigte [Vylon Material] vor. Diese tauschte er mit einer Falle von seinem Blatt aus, welche er im Anschluss auf sein D-Pad legte, um sie einscannen zu lassen. „Diese Karte verdeckt. Damit beende ich meinen Zug und erhalte durch [Vylon Deltas] Effekt noch eine Ausrüstungsmagie während meiner End Phase von meinem Deck.“

Noch während sich seine Falle vor ihm materialisierte, zückte Alastair eine zweite Kopie von [Vylon Material] und fügte sie seinen drei anderen Karten hinzu.

Marc nahm es gelassen und fragte herausfordernd: „Was ist? Ich habe noch nicht einen Zug hinter mir und du gehst schon in die Defensive?“

„Rede nicht von Dingen, die du nicht verstehst, Fehlschlag.“

 

„Fehlschlag!?“, wiederholte Anya erschrocken Alastairs Beleidigung. Sie wusste genau, warum er das tat – weil Marc daran gescheitert war, sie umzubringen. „Dieser Dreckskerl!“

Doch der schwarzhaarige Footballspieler warf Anya nur einen selbstsicheren Blick zu. „Keine Sorge, so etwas verletzt mich nicht.“

Wieder an seinen Gegner gerichtet rief er: „Mein Zug!“

Schwungvoll riss Marc eine Karte von seinem Deck und grinste.

„Prima, noch ein Monster! Dann wird das ja funktionieren!“ Er griff nach einer anderen Karte aus seinem Blatt. „Los, ich schicke [Laval Magma Cannoneer] in den Ring!“

Vor ihm materialisierte sich ein Soldat aus blauem Gestein. Geschultert hatte er zwei große Kanonen, die mit jeweils einem Schlauch mit seinem Rückgrat verbunden waren.

 

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 DEF/200 (4)]

 

Kaum war sein Monster auf dem Feld, schob Marc schon zwei Karten in seinen Friedhofsschacht, darunter auch seine soeben gezogene. „Zweimal pro Zug nimmt [Laval Magma Cannoneer] meinen Gegner unter Beschuss, wenn ich ihm die passende Munition liefere. Laval-Monster! Das kostet dich pro Treffer 500 Lebenspunkte!“

Je ein Abbild der Karten von [Laval Enchanter] und [Laval Lakeside Lady] tauchten vor Marcs Monster auf, verwandelten sich in rote Kugeln und verschwanden dann in den Kanonenrohren. Nur um dann in Form von mächtigen Lavastrahlen auf Alastair abgefeuert zu werden.

Dieser hob zum Schutz seinen Arm, obwohl er von Marcs Angriffen nichts zu befürchten hatte. Zwei explosive Einschläge erschütterten sein Spielfeld.

 

[Marc: 4000LP / Alastair: 4000LP → 3000LP]

 

„Wow, er geht richtig zur Sache! Los Marc, weiter so!“, feuerte Anya ihn begeistert an.

 

Wirst du rückfällig, was die Schwärmerei für ihn angeht, Anya Bauer?

 

„Nein“, murmelte die leise, „dieses Mal ist es anders, als du denkst …“

Gleichzeitig zückte Marc eine Fallenkarte von seiner Hand zeigte sie vor. „Die hier aktiviere ich jetzt, [Dustflame Blast]!“

„Narr!“, erwiderte Alastair und schwang, als sich der Rauch lichtete, den Arm aus. „Fallenkarten müssen einen Zug vor ihrer Benutzung gesetzt werden!“

„Und du denkst, das weiß ich nicht!? Dann schau dir doch mal den Effekt meines [Laval Enchanters] an.“

Der Aufforderung mürrisch folgend, tippte Alastair auf seinem D-Pad das Icon des Friedhofs seines Gegners an, wählte besagtes Monster aus und weitete die Augen, als er dessen Effekt durchlas. „Unmöglich!“

„Und wie das möglich ist! Da er durch eine Laval-Karte auf den Friedhof geschickt wurde, kann [Laval Enchanter] für diese Runde eine Falle von meiner Hand aktivieren.“

Hinter Marc tauchte das Abbild einer wunderschönen Frau mit flammendem, blauem Haar auf, die ein enges, schwarzes Kostüm am Leib trug und ihre Hände in denselben blauen Flammen aufgehen ließ. Ihr Besitzer zeigte seine Falle vor: „[Dustflame Blast] verbannt alle Laval-Monster aus meinem Friedhof, um dieselbe Anzahl an Karten auf dem Spielfeld zu vernichten. Unnötig zu erwähnen, wer bei nur zwei Monstern der Hauptleidtragende ist!“

Alastair stieß einen widerspenstigen Schrei aus, als zwei flammende Kugeln aus dem Himmel auf ihn herab schossen und eine gleißende Explosion auslösten. Derweil schob Marc die zuvor abgeworfenen Monster in seine Hosentasche. „Dumm gelaufen, was?“

Als der Rauch sich lichtete, war Alastairs Feld vollkommen leer. Jener ballte wütend eine Faust, konnte jedoch seine Abscheu Marc gegenüber gar nicht zum Ausdruck bringen und fluchte deshalb nur laut.

 

Er mag zwar nicht mehr mit Isfanel verbunden sein, aber seinem Duellstil hat das scheinbar nicht geschadet. Marc Butcher ist noch genauso gefährlich, wie damals in deinem Tag Duell gegen ihn und Valerie Redfield oder als wir gegen ihn gekämpft haben.

 

„Yeah“, war alles, was Anya dazu zu sagen hatte.

Marc schien aber noch nicht fertig mit seinem Zug zu sein. „Ich aktiviere jetzt von meiner Hand die Zauberkarte [Molten Conduction Field], um gleich zwei Laval-Monster von meinem Deck auf den Friedhof zu legen.“

Er trennte sich von [Laval Miller] und [Laval Volcano Handmaiden]. Kaum hatte er dies getan, ertönte eine schrille Lache, und unter Funken kam vor ihm eine flammende Gestalt eines jungen Mädchens zum Vorschein.

„Das ist [Laval Volcano Handmaidens] Effekt!“, erklärte Marc dazu voller Eifer. „Wird sie auf den Friedhof gelegt, sofern noch andere Laval-Monster wie der Miller dort liegen, schickt sie noch einen Artgenossen dorthin. Was eine Handmaiden sein wird, die ihrerseits noch eine Handmaiden abwirft, welche zum Schluss [Laval Forest Sprite] mit ins Unglück stürzt!“

So schob Marc schließlich dank nur einer Karte gleich fünf Monster in den Friedhofsschlitz seiner Duel Disk. Seine letzte Handkarte zückend, rief er bestimmend: „Letztere wird jetzt vom Friedhof auferstehen! Ich aktiviere [Monster Reborn]!“

Eine kleine Gestalt tauchte neben dem Kanonier auf. Arme und Beine des rothaarigen Mädchens, welches eine Kapuze trug, glühten rot auf.

 

Laval Forest Sprite [ATK/300 DEF/200 (2)]

 

Marc streckte nun den Arm weit aus.

„Und jetzt stimme ich meinen Stufe 2-Empfänger [Laval Forest Sprite] auf meinen Stufe 4-[Laval Magma Cannoneer] ab!“ Zeitgleich flogen seine Monster in die Luft, wobei sich das Mädchen in zwei grüne Ringe aufspaltete. „A spark lights the otherworldly flame of destruction! An inferno of tragedy unfolds! Synchro Summon! Ignite, [Laval The Greater]!“

Kaum hatte der Kanonier diese Ringe passiert, blendete ein heller Lichtblitz die Duellanten. Rote und blaue Flammen kreisten um Marc, zischten dann nach vorn und verschmolzen zu einer Flamme, aus der eine humanoide Gestalt entstand. Deren Körper bestand aus blauem Gestein, das von jeweils rotem und blauem Feuer von den Armen ausgehend umhüllt wurde.

 

Laval The Greater [ATK/2400 DEF/800 (6)]

 

„Wenn [Laval The Greater] als Synchrobeschwörung gerufen wird, müsste ich normalerweise eine Handkarte abwerfen.“ Marc lächelte zufrieden. „Nur habe ich schon alle verbraucht. Also überspringen wir das einfach und kommen zu [Laval Forest Sprite], die, wenn sie vom Feld auf dem Friedhof landet, allen offenen Laval-Monstern einen netten Angriffsschub verpasst. 200 für alle Artgenossen auf dem Friedhof, worin sie selbst ebenfalls mit inbegriffen ist. Was bei immerhin sechs Laval-Monstern ganze 1200 Punkte macht!“

Die Flammen, die um Marcs Monster schlugen, explodierten förmlich und breiteten sich zischend über die ganze Straße aus.

 

Laval The Greater [ATK/2400 → 3600 DEF/800 (6)]

 

Anya stieß einen zufriedenen Schrei aus. „Das war's, Narbenfresse!“

„Ganz richtig!“ Marc streckte den Arm aus. „[Laval The Greater], direkter Angriff! Otherworld Flame!“

Der Dämonenjäger seinerseits weitete die Augen, als er zusah, wie das Monster eine Flamme zwischen seinen Händen bündelte, die aus blauem und rotem Feuer bestand. Feuer, wie damals, als er seine Familie durch Anothers Hand verloren hatte!

[Laval The Greater] schoss die Flamme wie eine Kanonenkugel auf Alastair ab, welcher einen unmenschlichen Schrei ausstieß. Sein ganzes Feld wurde durch die Attacke in Brand gesetzt. Kurz bevor die Flamme ihn jedoch berührte, prallte sie an einem unsichtbaren Kraftfeld ab, erzeugt von drei kleinen Maschinen, wurde gespalten und versengte stattdessen die umliegenden Bäume des anliegenden Waldes und die Straße – natürlich nur im Maße einer Hologrammsimulation.

„Was!?“, stieß Marc einen entsetzten Schrei aus. „Der Angriff ist verpufft!?“

Schwer atmend stand ihm Alastair gegenüber, sein Gesicht gezeichnet durch die Erinnerungen seiner Kindheit und den damit verbundenen, unbändigen Hass. „Solche wie du werden mich niemals zu Fall bringen!“

„[Delta Shield]“, sprach Matt weiter, um zu erklären, was geschehen war. „Ich habe es gesehen, Alastair hat sie kurz vor der Explosion, die sein Spielfeld vernichtet hat, angekettet. Das hat er schon bei mir getan und sich damit vor einem Angriff gerettet. Das siehst du auch daran, dass er eine Karte mehr auf der Hand hat, als noch vorhin. Einer der Effekte von [Delta Shield] besagt, dass er, wenn er ein Stufe 5 oder höher-Monster als Ziel für die Aktivierung auswählt, eine Karte ziehen kann.“

Als Anya und Marc erschrocken nachzählten, stellten sie fest, dass Alastair tatsächlich nun fünf Karten besaß.

„Zug beendet“, knurrte der Footballspieler, dem es leider an Handkarten mangelte, um sich auf Alastairs nächsten Zug vorzubereiten. Welchen es gar nicht hätte geben dürfen!

 

„Einem wie dir werde ich mich niemals beugen, Dämonenfreund!“, schrie Alastair förmlich und riss seine Karte vom Deck. „Und ich werde nicht einmal die Macht des Heiligen Refiels brauchen, um dir eine Lektion zu erteilen!“

„Heißt, er schummelt nicht“, rief Anya böswillig in Marcs Richtung.

Doch dessen Aufmerksamkeit war ganz auf seinen Gegner gerichtet, der außer sich schien vor Wut. Dabei hatte er diesem doch gar nichts getan. Oder etwa doch?

Alastair knallte ein Monster auf sein D-Pad. „Erscheine, [Vylon Pentachloro]! Und verdreifache dich dank der Magie [Machine Duplication]!“

Vor ihm formte sich ein metallisches Wesen langsam zu einer Gestalt. Erst war da der fünfeckige Körper aus dunklem Stahl, dann die zwei Arme und letztlich ein goldener, radähnlicher Kopf. Aus ihm schossen zwei Abbilder seiner selbst und nahmen rechts und links neben ihm feste Form an.

 

Vylon Pentachloro x3 [ATK/500 DEF/400 (4)]

 

„Ich erschaffe das Overlay Network! Xyz-Summon“, schrie Alastair und streckte den Arm in die Höhe. Seine drei Monster verwandelten sich in gelbe Lichtstrahlen. Ein schwarzes Loch tat sich inmitten des Spielfelds auf und sog jene Strahlen ein. Dafür trat eine gar grausige Gestalt daraus hervor, um welche drei Lichtsphären tanzten.

Es war, als wäre diese Kreatur aus den Tiefen der Finsternis selbst entsprungen. Dunkel und bösartig war die Grimasse des Wesens, dessen überdimensional großer Kopf auf zwei miteinander verbundenen, quadratischen Plattformen lag. Aus den langen Armen, die aus seinem Kopf ragten, schoss ein ganzes Bataillon an schwarzen Klingen.

„Vernichte meine Feinde, [Vylon Disigma]“, brüllte Alastair aufgebracht.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

„Wieso ist er plötzlich so wütend?“, fragte Anya irritiert.

Unter diesen Umständen könnte es passieren, dass Alastair etwas sehr Dummes tat. Zum Beispiel sein Monster zu einer noch grauenvolleren Kreatur zu inkarnieren. Aber konnte er das mithilfe eines Engels überhaupt?

Matt seufzte. „Ich denke, Marcs Angriff erinnert ihn an den Tag, an dem er seine Eltern verlor. Du musst wissen, ein Dämon namens Another hat sie, als Alastair noch ein Kind war, grausam in ihrem eigenen Haus verbrannt. Daher hat er auch all die Narben.“

„Oh …“ Anya erinnerte sich, bemerkte dabei nicht den Blick voller Schuld des Dämonenjägers.

Es war ihre erste Begegnung mit Alastair und dem Duell, das sie letztlich nur durch eine List gewann, indem sie genau jene Schwachstelle, den Namen Another, ausgenutzt hatte. Durch dieses Duell war die halbe Aula eingestürzt.

Nachdenklich rief sie Marc schließlich zu: „Sei bloß vorsichtig! Das Narbengesicht dreht jetzt vollkommen am Rad!“

Voller Eifer riss Alastair eine der Kopien von [Vylon Pentachloro] unterhalb seines Xyz-Monsters hervor. „Effekt von [Vylon Disigma]! Es absorbiert ein beliebiges offenes Monster meines Gegners und kann fortan nie wieder durch Kreaturen derselben Elementklasse besiegt werden!“

Disigma öffnete sein schreckliches Maul und sog alle Flammen auf, die sich in der Umgebung ausgebreitet hatten. Auch [Laval The Greater] selbst konnte sich des starken Soges nicht erwehren und endete letztlich im Schlund der grauenhaften Kreatur, verschwand einfach. Als Folge verfärbte sich einer der Lichtsphären um Disigma rot.

„Mein Monster“, stieß Marc erschrocken hervor. Das Blatt hatte sich unerwartet für ihn gewendet und nun war er es, der ohne Karten auf Spielfeld und Hand dastand.

„Ich bin noch nicht fertig!“, rief Alastair weiterhin und hielt drei Zauberkarten mit demselben Bild in die Höhe. „Diese Karten werden Disigmas Offensivmacht um jeweils 600 erhöhen! [Vylon Material]!“

Anyas Augen weiteten sich. „Gleich drei auf einmal!?“

Um Disigma entflammte eine weiße Aura, die regelrecht blendete.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 → 4300 DEF/2100 {4}]

 

„Das ist … genug, um mich …“, brach Marc brockenhaft hervor.

Doch schon hatte er Alastairs Finger auf sich zeigend. Jener starrte ihn voller Missgunst an, schien sich jedoch wieder beruhigt zu haben. „Merke dir eines für die Zukunft, Freund der Dämonin. Ich werde mich euch niemals unterwerfen. Und nun erfahre die Kraft Gottes! [Vylon Disigma], Sacred Black Obliteration!“

Seine Kreatur erschuf zwischen ihren Händen einen schwarzen Energiespeer, welchen sie ergriff und mit aller Kraft in Marcs Richtung schleuderte. Der konnte nicht einmal einen Schrei ausstoßen, da wurde er schon direkt in die Brust getroffen. Wodurch der Speer in einer schwarz-violetten Energiekuppel explodierte.

 

[Marc: 4000LP → 0LP / Alastair: 3000LP]

 

Disigma verschwand in schwarzen Partikeln, während sich die Kuppel allmählich aufzulösen begann.

Entsetzt schrie Anya: „Marc!“

Doch Matt legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Ihm ist nichts passiert. Alastair würde keinen Unschuldigen töten. … denke ich zumindest.“

Denn für einen Moment hatte es tatsächlich nach dem Gegenteil ausgesehen.

Als die Auswirkungen der Explosion endgültig nachgelassen hatten, stand Marc immer noch und fasste sich an die Stelle, durch die der Speer in seinen Leib gedrungen war. Die Hand betrachtet, murmelte er unzufrieden. „Ich habe verloren …“

Alastair schritt erhobenen Hauptes an ihm vorbei. „Was für eine Zeitverschwendung. Matt, wir gehen!“

„Sorry, ich beeile mich jetzt besser, ehe ich den ganzen Abend seiner schlechten Laune ausgesetzt bin, weil er mich als neues Opfer auserkoren hat“, verabschiedete Matt sich eilig von Anya und rannte seinem Partner hinterher. „Bye!“

Jene beobachtete still, wie die beiden in den VW-Bus stiegen und fortfuhren. Ihr tat Marc leid, wie er da mit vergrämter Miene auf der Straße stand und sich selbst bedauerte.

 

Anya Bauer! Das Elysion, es ist zersplittert!

 

Sofort schreckte sie auf. „Was!? Aber wie-!?“

 

Es ist in dem Moment geschehen, als er sein Paktmonster beschworen hat! Das muss der Grund sein, warum all die anderen Elysions zerstört waren, nur seines nicht. Damals, als er diesen Jungen getötet hat, muss er diese Karte nicht in dem Duell verwendet haben.

 

„Daran soll es gelegen haben!?“

Anya konnte das nicht glauben. Alastair hatte diese Karte sicher schon öfters eingesetzt, sie selbst hatte ihr doch gegenüber gestanden!

 

Eine andere Erklärung habe ich nicht hierfür. Aber es spielt keine Rolle, das letzte Elysion ist somit zerbrochen. Wir können jetzt tun, was der Sammler uns geraten hat und die Scherben deines Elysions mit der Energie der anderen aufladen!

 

Anya nickte zögerlich. „Vielleicht. Noch wissen wir nicht, wie das letzte Elysion aussieht. Redfields ist ja offensichtlich wie es sein sollte, im Arsch. Aber wenn das letzte auch noch nicht zerbrochen ist, stehen wir vor einem fetten Problem.“

 

Das finden wir nur heraus, wenn wir uns in die Kanalisation begeben.

 

„Anya?“

Das Mädchen schreckte auf, als Marc ihr mit deprimiertem Gesichtsausdruck entgegen kam. Er versuchte zu lächeln, aber als Sportler schien er sich mit dem Gedanken an eine Niederlage nicht so leicht anfreunden zu können.

„Entschuldige, dass ich verloren habe. Es muss peinlich für dich gewesen sein. Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen damit, aber-“

Anya winkte ab und stöhnte augenrollend. „Ist doch egal. Ich bin froh, dass dieser Mistkerl endlich weg ist.“

„Aber ist das okay?“

Sie wich seinem Blick aus. „Klar. Mir fällt schon was ein. Levrier hat noch 'ne Idee, wie wir das Ding auch ohne Alastairs Hilfe kaputt kriegen.“

Wieso log sie ihn deshalb überhaupt an, fragte sie sich nebenbei verwirrt.

„Verstehe. Dann viel Glück. Und …“ Er zögerte, senkte den Blick. „Und wünsch mir Glück. Ich werde ab morgen nämlich wieder zur Schule gehen. Das wird ein echter Spießrutenlauf, nach dem Tag Turnier neulich.“

„D-du packst das schon.“ Anya schlug ihm kumpelhaft und doch ungeschickt zugleich mit der Faust gegen die Schulter. „Du bist immerhin der Star-Quarterback. Die werden sich schon einkriegen. Immer schön auf depri machen und sich überall entschuldigen. Im Nu ist alles wieder vergessen.“

„Ich hoffe es. Dann werde ich mal los, ehe Val sich Sorgen macht.“

„Ja, also dann. Bye …“

„Bye.“

Sie sahen sich noch kurz in die Augen, ehe Marc auf dem Absatz Kehrt machte und davon rannte.

 

Anya sah ihm mit betrübter Miene hinterher. Die Tatsache bedauernd, dass er niemals mehr für sie empfinden würde als jetzt in diesem Augenblick. Im Gegenteil. Wenn er erkannte, dass sie ihn und alle anderen betrogen hatte, würde er sie hassen. Er und alle anderen auch. Aber nur für einen kurzen Moment. Der vielleicht mehr wiegen würde als ihr ganzes Leben.

 

~-~-~

 

Kaum war Nick in seinem äußerst unordentlichen Zimmer angekommen, schritt er herüber zu einem Haufen alter Wäsche und holte unter dem Berg ein schwarzes Schnurlostelefon hervor.

„Das Genie behält selbst im Chaos den Überblick“, murmelte er abgelenkt, wählte eine Nummer und legte den Apparat ans Ohr.

Kurz darauf hob eine Dame mit schriller Stimme ab. „Ja bitte?“

„Nina, ich bin es.“

„D-d-du!?“

Nicks Augen verengten sich zu Schlitzen. „Haben Sie die Adresse, die ich von Ihnen wollte?“

„Ich habe doch gesagt, dass das nicht so einfach ist! Der Autor konnte mir keine Adresse geben!“

„Und wie haben Sie das Problem gelöst?“, fragte Nick scharf.

„Also, was das angeht …“ Die Frau lachte heiser, schien sie doch regelrecht in Panik zu geraten und plapperte plötzlich wie wild drauf los. „Ich habe ihn gebeten, ein Treffen für morgen zu arrangieren! Um halb Eins in einem kleinen Café im Einkaufszentrum!“

„Ich glaube ich weiß, welches Sie meinen“, murmelte Nick und betonte seine nächsten Worte mit aller Schärfe, „danke, Nina.“

„N-nicht doch! Ich habe doch versprochen, mich ein wenig umzuhören.“

„Aber erst, als ich Sie freundlich daran erinnert habe“, stellte Nick klar. „Dennoch haben Sie mir womöglich geholfen, eine Katastrophe zu verhindern.“

Sofort wurde die Frau am Ende der Leitung hellhörig, von Angst keine Spur mehr. „Wie meinen?“

„Nichts.“ Nina musste nicht wissen, was Anya im Begriff war zu tun. „Und er wird definitiv kommen? Der Verstoßene 'Edens'?“

„So sicher wie das Amen in der Kirche. Aber du solltest ein bisschen Geld mitbringen, das musste ich leider versprechen.“

„Wie viel?“

„30.000$“, nuschelte sie so leise und kleinlaut in den Hörer, als fürchte sie eine große Explosion als Antwort. Die blieb allerdings aus.

„Sollte kein Problem sein. Ich hoffe, er kann uns weiterhelfen. Auch in Ihrem Interesse, Nina.“

Damit legte Nick auf und warf den Hörer auf den Wäschehaufen. So viel Geld würde einiges an Arbeit in Anspruch nehmen. Was eine schlaflose Nacht für ihn bedeutete.

 

 

Turn 26 – The Children Of Eden

Nina Placatelli, welche nach der Sache mit Abby Nick noch einen Gefallen schuldete, hat für ihn am nächsten Tag ein Treffen arrangiert. Und zwar mit einem geheimnisvollen Mann namens Drazen, der laut dem Buch 'Thirty Legends – The Whole Truth' jener Verbannte aus der Stadt der Allerheiligsten, Eden, ist. Da Nick es jedoch nicht geschafft hat, die von Drazen für das Treffen angeforderten 30.000$ so kurzfristig als Bargeld zu beschaffen, besteht Drazen auf einen Deal. Wenn Nick gewinnt, erfährt er mehr über jene Stadt, die denselben Namen wie Anyas mysteriöses „Eden“ trägt. Verliert er, muss er ganze 100.000$ für Drazen besorgen. Was diesen Umstand noch erschwert ist die Tatsache, dass Nick nicht alleine gegen Drazen antreten kann, da …

Turn 26 - The Children Of Eden

Turn 26 – The Children Of Eden

 

 

„Nick!“, drang eine schrille, sich überschlagende Stimme an das Ohr des jungen Mannes.

Doch ehe der überhaupt die Augen öffnen konnte, wurde er am Schopf gepackt und sein Kopf hoch gerissen.

„Ich dachte, du wärst längst in der Schule!“, donnerte seine Mutter. „Nicht, dass es einen Unterschied macht, ob du anwesend bist, oder nicht …“

„Hi, Mum“, grinste Nick und winkte ihr vors Gesicht.

Die Frau im besten Alter, welches das komplette Gegenteil von Nick war – klein, mürrisch und ordentlich, was man besonders an den braunen, kurzen Haaren erkennen konnte, die im Vergleich zu Nicks wilder Mähne anständig frisiert waren – ließ den Kopf des jungen Mannes wieder auf seinen Schreibtisch fallen, sodass Nicks Schädel mit voller Wucht auf die Tastatur seines Laptops knallte.

„Mach dich fertig!“, befahl sie in einem Tonfall, der verdächtig an eine gewisse Blondine erinnerte.

„Ja, Mum …“, murmelte Nick, wobei seine Stimme von der Tastatur gedämpft wurde. „Mum? Wie spät ist es eigentlich?“

„Kurz nach zwölf. Deswegen beeil' dich gefälligst! Und mach dich gefälligst an Anya heran, damit ihr heiraten und nach Asien oder sonstwohin auswandern könnt!“

Das Knallen einer Tür verriet, dass der Weckdienst seiner Mutter hiermit beendet war.

Nicks Augen fielen wieder zu. Noch bis ein Uhr konnte er schlafen, dann-

„Ein Uhr!?“, stieß er erschrocken hervor und schreckte auf. Die Zeitanzeige seines Laptops verriet ihm, dass es bereits 12:14 war. Er hatte noch eine dreiviertel Stunde, um im Einkaufszentrum zu sein.

„Das Geld!“

Er war gestern Nacht mitten in der Arbeit eingeschlafen!

Sofort rief Nick von der Internetseite seiner Bank seinen Kontostand auf. Doch nicht alles der 30.000$, die er zuvor durch gewisse Transaktionen errungen hatte, waren schon auf sein Konto überwiesen worden. Aber das war die Summe, die die Person, welche er unbedingt treffen wollte, laut Nina verlangt hatte!

„Dann muss er sich mit einer Anzahlung zufriedengeben“, murmelte Nick ärgerlich, klappte seinen Rechner zu und erhob sich. Wenn er sich beeilte, konnte er noch schnell etwas Geld abheben, ehe er im Café „Bikini Fruit“ hoffentlich den Mann traf, der Anyas grausamen Plänen Einhalt gebieten konnte.

 

~-~-~

 

So schnell er konnte, rannte Nick völlig zerzaust durch das riesige Einkaufszentrum. Praktisch alles hier bestand aus glänzenden Flächen. Der Boden im edlen, wenn auch gewöhnungsbedürftigen Metalllook, das Dach und die verschiedensten Geschäfte teilweise sogar komplett aus Glasplatten.

Ziemlich viele Leute waren heute, am 5. November, unterwegs und nicht wenige wurden von Nick angerempelt. Sie saßen auf den Bänken, die sich in der Mitte der Einkaufsstraße befanden, betrachteten Kleider, Schmuck und andere Waren, die vor den Geschäften ausgestellt waren oder aßen im Schlendergang ein Eis. Das Sonnenlicht erhellte das blaue Kolosseum, wie das Einkaufszentrum auch genannt wurde, mit warmen Strahlen, wenn es nicht gerade von grauen Wolken behindert wurde.

 

Es erschien Nick wie eine Ewigkeit, bis er einen der riesigen Seiteneingänge erreicht hatte. Gleich nebenan befand sich, ebenfalls durch eine Glaswand getrennt, ein kleines Café. In Neonlettern stand über dem Eingang „Bikini Fruit“ und schon von außen sah Nick, dass fast alle Tische besetzt waren.

Außer Atem stürmte er in das Café und schritt an der riesigen Bar vorbei, hektisch nach einem einzelnen Mann suchend, der wahrscheinlich schon auf ihn wartete. Doch bevor er überhaupt einmal den Blick durch das Café hatte kreisen lassen, wurde er am Arm gezogen, mitgeschleift und auf einen Stuhl in der hintersten Ecke des Cafés gezwängt.

„Hey, was-! Nina!?“

Eine rothaarige, blasse Frau setzte sich ihm gegenüber und legte ihre überdimensionale Krokodilslederhandtasche auf den runden Glastisch, der sie beide trennte. Ihre Frisur war ein einziges Chaos aus Haarspangen. Die dicke Hornbrille auf Nina Placatellis Nase tat ihr Übriges, um aus der grünäugigen Frau einen Geier zu machen, der nur auf die nächste große Story wartete.

„Hallöchen, Nick. Lange nicht gesehen“, zwinkerte sie ihm verführerisch zu.

„Was wollen Sie hier?“, verlangte Nick mit unterdrückter Wut zu wissen. „Ich dachte, ich treffe mich mit -ihm-.“

Nebenbei setzte er den Rucksack von seinen Schultern ab.

„Tust du doch auch“, meinte sie schulterzuckend, „mit mir zusammen.“

„Warum-!?“

Sie kicherte spitz. „Ach tu doch nicht so, du Dummchen. Denkst du, ich lasse mir eine so interessante Story entgehen?“

Theatralisch seufzend fügte sie hinzu: „Der verlorene Sohn der heiligen Stadt Edens gibt sein erstes Interview, wie romantisch. Wenn ich das abdrucken lasse, werden mir die Leser zu Füßen liegen. Außerdem wird dann keiner mehr glauben, dass 'Thirty Legends – The Whole Truth' von meinem lieben Cousin nur erfundener Quatsch ist!“

 

Wenn er nicht so verzweifelt wäre, so dachte Nick wütend, würde er persönlich dafür sorgen, dass dieser liebe Cousin von seinem Verlag auf die Straße gesetzt wurde. Aber es war wirklich interessant herauszufinden, dass dieses Buch tatsächlich von einem Verwandten Ninas geschrieben worden war. Was vermutlich auch erklärte, warum sie so besessen von allem Übernatürlichen schien – es lag in der Familie.

Normalerweise glaubte Nick ja nicht an Zufälle, aber das hier konnte anders gar nicht bezeichnet werden. Das absurde Buch, das Abby sich damals in der Bibliothek ausgeliehen hatte, stand mit Nina Placatelli, der örtlichen Quatschkolumnistin, in Verbindung.

All dies hatte Nick erfahren, als er Nina eines für sie unschönen Tages anrief, um nachzufragen, was für Informationen sie denn inzwischen für Anya und Abby bereit hielt, nachdem Letztere ihr eine Lektion erteilt hatte. Die Antwort fiel jedoch ernüchternd aus: nichts. Darum hatte Nick damit gedroht, ihr Abby auf den Hals zu hetzen, wenn sie nicht bald etwas Vorzeigbares zu ihm brachte. Woraufhin Nina von ihrem Cousin und dem Buch 'Thirty Legends – The Whole Truth' zu erzählen begann, welches er selbst teilweise gelesen hatte, bevor er es frustriert zurück in die Bibliothek brachte.

Es war ironisch, denn eigentlich hatte Nick Nina nur als Mittel zum Zweck benutzt, um Abbys Angst vor Duellen zu bekämpfen. Dass sie nun tatsächlich noch einen Nutzen besaß, der darüber hinaus ging, konnte schon glatt als Wunder bezeichnet werden.

Und was Wunder anging: wenn dieser ominöse Fremde, den Nina nur unter größten Mühen hierher eingeladen hatte, eine Niete war – und die Chancen standen gut, dass dem so war – würde sie ihr ganz persönliches, blaues Wunder erleben. Denn die Transaktionen, die Nick durchgeführt hatte, um an die 30.000$ zu gelangen, wurden unter anderem von ihrem Konto getätigt. Aber ihr Geld hatte er absichtlich nicht mit abgehoben, um die Sache gegebenenfalls rückgängig zu machen, wenn er bekam, was er wollte. Doch im Moment war sie, ohne etwas zu ahnen, pleite.

 

„Würden Sie bitte gehen?“, fragte Nick unhöflich.

„Nein, nichts da!“ Sie schüttete demonstrativ den Kopf. „Hast du auch an das Geld gedacht? Mein Cousin sagt, dieser Typ ist nicht sonderlich sesshaft und hat auch keine Arbeit. Er reist durch die Lande, deswegen war es auch so schwer, ihn zu kontaktieren.“

„Um das Geld brauchen Sie sich keine Sorgen machen“, erwiderte Nick kühl, „eher mache ich mir Sorgen um Sie.“

Sofort weitete die rothaarige Frau im besten Alter ihre giftgrünen Augen. „W-wie meinen!?“

„Wenn ich erfahre, dass das nur ein Trick ist, um sich durch mich zu bereichern …“ Nick sprach absichtlich nicht weiter, damit Ninas gut ausgeprägte Fantasie den Rest übernehmen konnte.

Die hob panisch die Hände. „Nicht doch! So etwas Niederes würde ich nie tun!“

Nick schloss die Augen. „Ich hoffe es. Für Sie, Nina.“

„S-sicher.“ Nebenbei sah sie auf die Uhr an ihrem Arm. „Der ist aber ganz schön spät …“

„Wieso? Ich bin doch hier?“

 

Beide schreckten auf, hatten sie den Mann nicht bemerkt, der direkt neben ihnen an einem der Stühle saß und ein freundliches Lächeln aufsetzte.

Nick betrachtete ihn fassungslos. Das war unmöglich, von seiner Position aus hätte er jeden sofort bemerkt, der sich ihrem Tisch genähert, geschweige denn Platz genommen hätte. Aber dieser Kerl, er war einfach aus dem Nichts aufgetaucht!

„Huuuuh!“, atmete Nina tief durch und fächerte sich mit der flachen Hand Luft zu. „Das nenne ich einen gelungenen Auftritt.“

„Ich hoffe, ich habe die Dame nicht erschreckt“, meinte der Fremde amüsiert.

Nina zwinkerte ihm becircend zu. „Ach Unsinn, mein Lieber, ich habe schon ganz andere Sachen erlebt. Als Reporterin kennt man keine Gefahr.“

 

Derweil musterte Nick den Mann skeptisch. Er war schon ziemlich alt, bestimmt über 60 Jahre, was man schon an dem weißen Haar erkannte, welches zu einem losen Pferdeschwanz gebunden auf seinem Rücken lag. Dazu trug er eine Brille mit kreisrunden Gläsern, aus deren Mitte seine grauen Augen regelrecht strahlten. Markant machte ihn aber der braune Poncho mit schwarzen Streifen, den er über seinem Leib trug.
 

„Was ist? Störe ich?“, richtete der Mann sein Wort an Nick.

„Nein“, erwiderte der zögerlich. „Ich bin nur etwas überrascht. Wir haben Sie nicht bemerkt.“

Der Alte winkte lachend ab. „Das sagen sie alle. Ich bin mal hier, mal da, aber nirgendwo auf Dauer. Nennt mich Drazen.“

„Drazen also“, murmelte Nick und sah aus den Augenwinkeln zu Nina herüber, die bereits Stift und Notizblock gezückt hatte, um sich alles aufzuschreiben.

Ihr Gast lehnte sich zurück und breitete die Arme aus. „Warum wolltet ihr mich sehen? Ich war sehr überrascht, als der neugierige, junge Autor von damals mich kontaktiert hat.“

Bevor jedoch einer von ihnen beiden antworten konnte, kam eine rothaarige Kellnerin in weiß-schwarzem Kostüm an. „Möchten Sie etwas bestellen?“

„Einen Kirschsaft“, bat Drazen.

„Ich will ein Stück Ihrer-“

Doch Nick unterbrach Nina harsch: „Für uns beide bitte nichts.“

„W-wie Sie wünschen“, stammelte die Kellnerin erstaunt von Nicks endgültigem Tonfall und zog unzufrieden von dannen. Woraufhin Nina giftige Blicke um sich warf. Die Nick mit seinen eigenen auffing und mit doppelter Wucht zurückwarf.

„Ihr seid ja ein lustiges Gespann“, lachte Drazen bärbeißig. „Seid ihr ein Paar? Ist ja ein ganz schöner Altersunterschied zwischen euch beiden.“

„Als ob!“, empörte sich Nina. „Ich stehe auf richtige Männer! Will sagen: reiche Männer, die eine Frau so behandeln, wie sie es verdient hat!“

Nick entgegnete daraufhin gallig an Drazen gewandt: „Sie sollte froh sein, dass sie -nicht- bekommt, was sie verdient hat.“

„Oh?“ Drazen lachte daraufhin so laut, dass einige Gäste sich empört zu ihm umdrehten.

Geschäftsmännisch legte Nick seine Hände aufeinander und schloss nachdenklich die Augen. „Was mein Anliegen angeht, würde ich das gerne unter vier Augen klären. Nina, Sie können jetzt gehen.“

„Nichts da, ich bleibe!“

„Bitte, Nina.“ Doch es klang eher nach einer Drohung.

„Vergiss es, Burschi! Sei nicht so übermütig! … tch, als Idiot hast du mir bedeutend besser gefallen!“ Die Frau kritzelte sofort etwas auf ihren Notizblock und murmelte leise: „Nötigte mich zum Bleiben, hat mit Gewalt gedroht.“

Jedoch wurden sie wieder von der Kellnerin gestört, die Drazen auf einem Tablett seinen Kirschsaft reichte, welchen er dankend entgegen nahm.
 

Nachdem er einen Schluck genommen und das Glas abgesetzt hatte, richtete er sich mit einem erwartungsvollen Lächeln an Nick. „Und? Hast du das Geld?“

Daraufhin zog dieser aus seinem Rucksack einen weißen Umschlag hervor, der schon von außen den Eindruck machte, gut gefüllt zu sein. „Das hier sind 15.000$. Die kriegen Sie als Anzahlung.“

„Wir hatten aber das Doppelte ausgemacht.“ Drazen zwinkerte. „Als Anzahlung.“

„Sie bekommen gar nichts, wenn Sie mir nicht vorher beweisen, dass Sie mehr über 'Eden' wissen.“

„Welches Eden denn? Meine geliebte Heimat oder das Eden, das bald hier aufkreuzen wird?“

Nick lachte wenig überzeugt auf und blieb hart. „Soll das Ihr Beweis sein? Das können Sie genauso gut von ihr erfahren haben.“

Mit dem Daumen zeigte er auf Nina, welcher er damals versehentlich etwas zu viel verraten hatte.

„Wie viele Opfer hat deine Freundin denn schon beisammen? Alle fünf?“

 

Es kam so plötzlich, dass Nick beinahe der Umschlag aus der Hand fiel. Das konnte Drazen nicht ohne Weiteres wissen! Nina wusste von den Opfern, die für Edens Erwachen benötigt wurden, überhaupt nichts! Und auch sonst niemand außer denen, die gestern in Valeries Küche anwesend gewesen waren.

„Volltreffer“, lachte Drazen und schnappte sich einfach den Umschlag aus Nicks Hand. Er blätterte durch die Scheine, die sich darin befanden und seufzte. „Aber das ist zu wenig. Ein alter Mann wie ich wird mit ein paar Almosen nicht lange über die Runden kommen.“

Mit einer beiläufigen Geste warf er den Umschlag zurück auf den Tisch. „Komm wieder, wenn du mehr dabei hast.“

„Opfer? Was für Opfer? Ein grausames Ritual, um den bösen König der Unterwelt wiederzuerwecken?“, mischte sich Nina ein und kritzelte eifrig auf ihrem Notizblock herum.

„Mehr Geld konnte ich in so einem kurzen Zeitraum nicht beschaffen“, sagte Nick unbeeindruckt von Drazens Geste und verstaute den Umschlag wieder in seinem Rucksack. „Außerdem reicht mir das noch nicht als Beweis für Ihre Glaubwürdigkeit.“

„So misstrauisch, hmm?“ Der Weißhaarige lachte amüsiert. „Gefällt mir! Aber ich weiß leider nicht, was ich dir sagen kann, um dein Vertrauen zu gewinnen.“

Nick nahm ihn fest ins Visier. „Wie wäre es zur Abwechslung mit etwas, was ich noch nicht weiß? Deswegen sind wir doch hier.“

Grinsend nahm Drazen noch einen Schluck Kirschsaft. „Ahhh! Etwas Neues also? Hmm … wie wäre es damit. Dein Eden und mein Eden … zwischen ihnen besteht eine Verbindung.“

„Welche soll das sein?“

Drazen schmunzelte amüsiert. „Du bist noch nicht darauf gekommen? Schande über dich, Junge. Meine geliebte Stadt wurde nach deinem Eden benannt.“

Überrascht starrte Nick den fremden Mann an, wie er ganz seelenruhig am Tisch saß und ihn abwartend ansah. „Dann sind die beiden Eden … nicht ein und dasselbe!?“

„Natürlich nicht. Aber wenn du mehr hören möchtest, lass es klingeln. Ansonsten bin ich weg. Und mich rechtzeitig ausfindig zu machen, bevor deine Freundin in den Turm geht, wird ziemlich schwierig.“ Drazen grinste vergnügt. „Wenn ich nicht gefunden werden will, dann findet mich auch keiner.“

„So viel Geld zu beschaffen dauert aber eine Weile!“

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Lass dir etwas einfallen. Du bist doch kein dummes Kerlchen.“

 

Nick überlegte fieberhaft.

Seine Zweifel waren zwar noch nicht ganz ausgeräumt, aber zumindest waren Drazens Worte rund um die beiden 'Eden' ein Anfang. Er war fest davon ausgegangen, dass, wenn dieser Mann wirklich kein Schwindler war, die geheimnisvolle Stadt der Allerheiligsten das Eden war, das Anya so fest im Griff hielt.

Aber was bedeutete das? Dass sie am Ende nur den Namen von Anyas Eden trug? Hatte das etwas mit den Gründern zu tun? Jenen, die als Einzige die Prozesse rund um Eden in Gang setzen konnten?

Er musste es wissen. Noch heute!

 

„Wir duellieren uns“, verlangte Nick plötzlich, „und Sie werden mir alles sagen, was ich wissen will.“

Drazen sah ihn aus den Augenwinkeln interessiert an. „Und was bekomme ich, wenn ich gewinne?“

„100.000$ in bar.“

Sein Gegenüber lachte amüsiert. „Ich dachte, so viel Geld wäre unmöglich in einem Tag aufzutreiben.“

Selbst Nina schüttelte erstaunt den Kopf. „Er hat recht. Du bist vielleicht nicht der Idiot, für den du dich ausgibst, aber überschätzt du dich da nicht ein kleines bisschen?“

Nick aber ließ sich nicht davon beeinflussen. „Ich schaffe das schon. Ihr könnt gerne zusehen, wenn ihr wollt.“

„In dir steckt eine Menge krimineller Energie. Ich mag das“, lachte Drazen wieder so laut, dass die anderen Gäste sich genervt zu ihm umdrehten. „Und mir gefällt dein Angebot.“

Unter seinem Poncho hob er einen Arm hervor, an dem eine Duel Disk angebracht war. Dazu reichte er Nick seine andere Hand. „Dann ist es ein Deal.“

Der brünette, hochgewachsene Mann schüttelte sie. „Ja. Aber nicht im Einkaufszentrum. Irgendwo, wo uns niemand beobachtet.“

„Das ist wirklich sehr interessant“, murmelte Nina und notierte sich jedes Detail mit Zunge an der Oberlippe. „Bestechungsgelder, Betrug, Verrat. Ich sollte darüber nachdenken, daraus einen Roman zu machen …“

 

~-~-~

 

Kurz darauf fanden sich die Drei in einer Seitengasse wieder. Es stank hier fürchterlich, was an den vollkommen überfüllten Mülltonnen lag, die überall herumstanden.

Nick hatte diesen Ort bewusst gewählt. Hier würde niemand sie beobachten … und hoffentlich auch niemand Drazens Schmerzensschreie hören. Mit einem Blick auf seine Duel Disk schmunzelte der brünette, junge Mann. Er hatte die Sicherheitssperre für die Hologrammdronen noch nicht wieder eingeschaltet, sodass seine Monster nach wie vor echte Verletzungen zufügen würden. Und das war auch sein wahrer Plan. Wenn Drazen erst realisierte, worauf er sich eingelassen hatte, würde er freiwillig reden. Ansonsten musste er damit rechnen, dieses Duell nicht zu überleben.

Natürlich würde Nick es niemals so weit kommen lassen, er würde Drazen rechtzeitig anbieten, das Duell zu unterbrechen, wenn jener kooperierte. Aber zumindest eine Kostprobe seiner Fähigkeiten sollte der alte Mann erhalten.

 

Nina stellte sich kämpferisch mit einer Duel Disk am Arm neben Nick. „Ich bin berei-heit!“

„Was!?“

Sie rückte ihre Brille zurecht und legte ihre riesige Krokodilsledertasche ab, aus der sie den Apparat anscheinend geholt hatte. „Aber sicher, du Dummchen! Denkst du, ich lasse mir so etwas entgehen?“

„Ich duelliere mich lieber alleine. Also verschwinden Sie, Nina. Oder treten Sie zumindest beiseite.“

Drazen, der ihnen gegenüber stand, mischte sich lachend ein. „Man sollte einer Dame nie einen Wunsch abschlagen. Außerdem sehne ich mich schon lange nach einer Herausforderung. Da kommt mir das nur recht. Und du hast den Vorteil, nicht alleine kämpfen zu müssen.“

Nick schüttelte wortlos den Kopf. Der Typ hatte keine Ahnung, wie qualitativ mangelhaft Ninas Duellstil war. Die war eher eine Behinderung, denn eine Bereicherung für ihn.

Allerdings ließ sich die rothaarige Journalistin nicht erweichen. „Da hörst du es! Der Mann hat gesprochen. Also lass uns ab-he-ben, Partner!“

Sie schlug ihm so hart auf den Rücken, dass Nick glatt vorne über stolperte.

„Das kann noch heiter werden“, murmelte er genervt und aktivierte seine Duel Disk.

Synchron hallten drei Stimmen durch die Gasse: „Duell!“

 

[Nick: 4000LP Nina: 4000LP //// Drazen: 4000LP]

 

„Als Solospieler beginne ich“, stellte Drazen voller Vorfreude klar und zog sein Startblatt plus eine Karte, was zusammen sechs Stück machte.

Nebeneinander warteten Nick und Nina gespannt auf seinen ersten Zug.

Der mit einer Zauberkarte begann. „[Foolish Burial]. Mit ihr schicke ich ein beliebiges Monster vom Deck auf den Friedhof.“

Zwischen seinen Fingern hielt der Weißhaarige dabei eine Karte namens [Scrap Chimera], ehe er sie in den Friedhofsschlitz schob. Dann wählte er ein Monster von seiner Hand und legte es auf die Duel Disk. „[Scrap Goblin], komm hervor!“

Lauter verschiedene Schrottteile flogen durch die Luft und formten eine kleine Gestalt, die aufrecht stand und entfernt an einen Maulwurf erinnerte. Mit einem Arm, der lediglich aus einer alten Gabel bestand, machte der Goblin keinen gefährlichen Eindruck.

 

Scrap Goblin [ATK/0 DEF/500 (3)]

 

Hysterisch gackernd zeigte Nina mit dem Finger auf das harmlos anmutende Monster. „Wer ist so dumm und ruft ein derart schwaches Monster im Angriffsmodus!? Kyahahaha!“

„Ich werde mich hüten, einer Dame zu widersprechen“, sagte Drazen mit einem verschmitzten Lächeln und schob eine Karte in den mittleren der Zauber- und Fallenkartenslots. „Mit dieser Karte als Abschluss überlasse ich meinen Gegnern das Feld.“

Vor seinen Füßen materialisierte sich die gesetzte Karte.
 

„Wurde auch Zeit“, rief Nina laut, „mein Zu- Hey!“

Nick hatte noch vor ihr gezogen und damit die Zug-Reihenfolge festgelegt. Die Journalistin ballte wütend eine Faust. „Das ist unhöflich! Es heißt Ladies first!“

„Interessiert mich nicht“, erwiderte Nick gleichgültig und betrachtete sein Blatt, das fast nur aus Monstern bestand. Was nicht sonderlich gut für ihn war. Dennoch griff er entschlossen nach einem von ihnen und rief: „Los, [Wind-Up Knight]!“

Sofort tauchte vor ihm ein knapp ein Meter großer, weißer Spielzeugritter auf, mit Schild und Schwert bewaffnet. Wie bei all seinen Artgenossen ragte auch aus seinem Rücken ein Aufziehschlüssel.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Zug beendet“, sprach Nick und sah zu Nina herüber. „Geben Sie sich Mühe!“

„Ja doch!“, fauchte die zurück und riss ihrerseits eine Karte von ihrem Blatt. „Du wirst dich noch umgucken, Burschi, wenn Nina Placatelli als strahlende Siegerin aus diesem Duell hervor geht!“

Drazen lachte bärbeißig. „Selbstbewusst ist sie ja.“

Nick war eher dazu geneigt, es Selbstüberschätzung nennen.

 

„Okay“, rief Nina kampfbereit. „Starten wir durch mit [XX-Saber Boggart Knight]!“

Mit wehendem, rotem Umhang stellte sich eine schlanke, menschenähnliche Kreatur vor seine Besitzerin. Die überdimensional langen Fingernägel schnippen lassend, kicherte die Gestalt und zückte einen Säbel, dessen Klinge aus blauer Energie bestand.
 

XX-Saber Boggart Knight [ATK/1900 DEF/1000 (4)]

 

Nina schnappte sich eine weitere Karte von ihrem Blatt. „Wenn er gerufen wird, beordert er ein weiteres X-Saber-Monster von meiner Hand aufs Spielfeld! Der Name: [X-Saber Pashuul]!“

Noch einmal schnippte der Koboldritter mit dem Finger, da ging schon neben ihm eine in blauer Panzerung gehüllte Person in die Hocke. Das schwarze Haar lag dem Mann, dessen rechtes Auge durch ein mechanisches Implantat ersetzt worden war, über dem Rücken. Mit einer großen Breitklinge gedachte er sich vor Angreifern zu schützen.

 

X-Saber Pashuul [ATK/100 DEF/0 (2)]

 

„Selbst der ist stärker als dieser Schrotthaufen“, tönte Nina selbstherrlich und streckte den Arm aus. „Aber ich habe ihn nicht gerufen, um zu kämpfen, sondern damit er sich auf meinen Boggart Knight einstimmt! Zeit für Feintuning, Stufe 2 und Stufe 4!“

Pashuul zersprang in zwei grüne Ringe, die vor Nina durch die Luft glitten, gefolgt von ihrem Koboldritter. „Crossing swords form a sign of resistance! Hear the name of the X²! Synchro Summon! [XX-Saber Hyunlei]!“

Aus einem Lichtblitz erschien eine wild durch die Luft wirbelnde Kriegerin, die mit nur einer Zehenspitze auf dem Boden stehen blieb und ihre gebogene Klinge mit Mittel- und Zeigefinger berührte. Dabei trug sie einen Helm und ein rotes Cape, das ihr bis zu den Hüften reichte.

 

XX-Saber Hyunlei [ATK/2300 DEF/1300 (6)]

 

„So sehen die -guten- Monster aus!“, lachte Nina hysterisch und zeigte auf Drazen. „Die -gute- Hyunlei wird jetzt bis zu drei Zauber- beziehungsweise Fallenkarten auf dem Spielfeld zerstören. Ich zähle zwar nur eine, aber leider – und ich reime – ist das deine, ha ha! Und anschließend greife ich dein Monster an, Großväterchen!“

Nick streckte erschrocken den Arm nach ihr aus. „Nicht, Nina-!“

Wusste sie denn nicht, dass in einem Duell mit mehr als zwei Person immer erst angegriffen werden konnte, nachdem jeder Spieler mindestens einmal am Zug war!?

Doch es war bereits zu spät, um eine Warnung auszusprechen. Ninas Synchrokriegerin zückte ein Wurfmesser hinter ihrem Gürtel hervor und schleuderte dieses in Richtung von Drazens gesetzter Karte. Die, wie konnte es auch anders sein, als Reaktion darauf aufsprang.

„Schade, ich dachte, ich könnte mir die hier noch ein wenig aufheben“, lachte der Weißhaarige unbekümmert. „Meine [Scrap Burst Salvo].“

Auf dem Artwork war ein Drache abgebildet, der komplett aus verschiedensten Schrottteilen zusammengesetzt war und aus seinem Maul Raketen abfeuerte, die ebenfalls notdürftig aus altem Abfall erschaffen worden waren. Jene Raketen schossen plötzlich aus der Karte hinaus.

Drazen erklärte dazu: „Mit ihr vernichte ich eine meiner Karten und eine meines Gegners. Tut mir leid, aber diese kleine Amazone ist mir nicht geheuer.“

Schon schlugen die Raketen bei Nina ein, vernichteten ihre Hyunlei, genau wie den Schrottgoblin, der bei der Explosion in seine Einzelteile zersprang. Plötzlich reichte Drazen nach seinem Friedhof aus. „Wenn der kleine [Scrap Goblin], solange er offen liegt, durch eine Scrap-Karte zerstört wird, erhalte ich vom Friedhof ein Scrap-Monster zurück. Das darf allerdings kein Empfänger sein.“

Zwischen seinen Fingern zeigte er die zuvor abgelegte [Scrap Chimera] vor.

Nick schnappte nach Luft, als er erkannte, dass Drazen dies alles von Anfang an so geplant hatte. Und Nina war ihm direkt in die Falle gelaufen!

„Ich beende meinen Zug“, gab diese empört von sich. „So was aber auch!“

„Sie können doch nicht mit leerem Feld abgeben!?“, polterte Nick fassungslos.

Nina zuckte jedoch nur unbedarft mit den Schultern. „Was soll ich sonst tun? Meine normale Beschwörung ist aufgebraucht.“

Woraufhin sich Nick genervt an die Stirn fasste. Langsam bekam er eine Ahnung, was Anya damals alles durchgemacht haben musste, als er in seiner Idiotenrolle ihren Tag-Partner auf dem Schulturnier gemimt hatte.

 

„Ein gutes Team lässt sich von so einem kleinen Rückschlag doch nicht unterkriegen, oder?“, fragte Drazen und zog derweil seine Karte.

Nick stellte klar: „Wenn es nach mir ginge, gäbe es gar kein Team!“

„Püh! Ich könnte das auch alleine gewinnen“, zeigte sich Nina nicht weniger abgeneigt.

„Oh man, ihr habt beide noch eine Menge zu lernen“, murmelte Drazen leise und legte eine Monsterkarte auf seine Duel Disk. „Komm hervor, [Scrap Chimera]!“

Aus umherfliegenden Schrottteilen setzte sich eine mechanische Schimäre zusammen, deren Kopf der eines Löwen sowie der Schweif eine elektrische Schlange war. Zudem besaß sie die Schwingen eines Vogels.
 

Scrap Chimera [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Wenn sie als Normalbeschwörung beschworen wird, ruft sie einen Scrap-Empfänger von meinem Friedhof zurück“, erklärte Drazen und legte den zuvor zerstörten [Scrap Goblin] zurück auf seine Duel Disk.

Jener tauchte auch sofort neben der Sagengestalt auf.

 

Scrap Goblin [ATK/0 DEF/500 (3)]

 

Dann ballte Drazen eine Faust, die er geradeaus streckte. „Los meine Kinder! Ich stimmte den Stufe 3-Goblin auf die Stufe 4-Chimera ab! Born from a pile of junk, the discarded gather once more! A combined force awakens! Synchro Summon!“

Der Goblin explodierte, seine Teile flogen durch die Luft und formten drei grüne Ringe, welche die Schimäre durchflog und dabei ebenfalls nach und nach in ihre Einzelteile zerfiel. Ein greller Blitz erhellte das Spielfeld. „Arise, [Scrap Archfiend]!“

Kaum waren die Schrottteile auf den Boden gefallen, erhob sich aus ihnen eine große Gestalt, ganz aus dunklem Metall. Geboren von den Überresten seiner Artgenossen, besaß dieser beflügelte Maschinendämon zwei spitze Hörner. Seine Augen leuchteten rot auf, als würde ihm Leben eingehaucht werden.

 

Scrap Archfiend [ATK/2700 DEF/1800 (7)]

 

„So viele Angriffspunkte!?“, staunte Nina und wich instinktiv zurück. „Wen von uns er wohl damit angreifen will!?“

Sie zeigte prompt auf ihren Partner. „Nimm den da!“

Selbst Nick war beeindruckt davon, dass ein Stufe 7-Synchromonster so stark sein konnte.

„Habe ich gesagt, dass ich fertig bin?“, fragte Drazen amüsiert und legte noch eine Monsterkarte auf seine Duel Disk. „Wenn ein Scrap-Synchromonster beschworen wurde, kann ich diese hier von meiner Hand spezialbeschwören: [Scrap Dummy]!“

Neben seinem Dämon tauchte ein alter Crashdummy auf, der mit allerlei Gerümpel ausgebessert worden war. Da er seinen Unterkörper verloren hatte, bewegte er sich nun dank eines alten Autoreifens fort.

 

Scrap Dummy [ATK/800 DEF/2000 (4)]

 

„Und wenn einer meiner Gegner ein Monster kontrolliert, kann ich auch [Scrap Breaker] von meiner Hand als Spezialbeschwörung rufen!“

Gleich neben dem Dummy tauchte noch eine gefährliche Kreatur auf. Sie besaß weder Kopf noch Unterleib, schien sie doch lediglich der Oberkörper eines riesigen Roboters zu sein. Einer seiner Arme endete in einem Sägeblatt, das zu kreisen begann.

 

Scrap Breaker [ATK/2100 DEF/700 (6)]

 

Mit diesem griff er plötzlich den Dummy an, der daraufhin in tausend Stücke zersprang. Und Drazen griff daraufhin nach seinem Deck. „Wenn [Scrap Breaker] auf diese Weise gerufen wurde, zerstört er ein offenes Scrap-Monster, das ich kontrolliere. Den Dummy. Und wenn der durch den Effekt einer Scrap-Karte vernichtet wird, erhalte ich ein Scrap-Nicht-Empfängermonster von meinem Deck.“

Er strahlte zufrieden, als er eine weitere Kopie der [Scrap Chimera] gefunden hatte und schob sein Deck anschließend in die dafür vorgesehene Halterung zurück.

Nick stieß einen angespannten Seufzer aus. Dieser Mann mochte von außen sehr unscheinbar wirken, doch war er definitiv ein sehr geschickter Duellant. Dank der neuen [Scrap Chimera] würde er nächste Runde wieder eine Synchrobeschwörung aus dem Stehgreif durchführen können. Dabei hatten sie es jetzt schon mit zwei Monstern mit über 2000 Angriffspunkten zu tun!

„Tut mir leid, meine Liebe“, entschuldigte sich Drazen aufrichtig bei Nina, die sich daraufhin glatt hinter Nick versteckte. „Aber leider muss ich Sie jetzt direkt angreifen.“

„Warum nicht sein Monster!?“, beklagte sich Nina wütend, wurde daraufhin von Nick genervt weg geschubst.

Drazen lächelte nur geheimnisvoll und zeigte auf die Frau. „[Scrap Archfiend], Squall of Scrap!“

Der Dämon öffnete sein Maul und brach einen ganzen Schwall an Schrott daraus hervor. Ob alte Radios, Glühbirnen und halbe Fahrräder, alles war dabei.

 

Nick runzelte ärgerlich die Stirn. Er hatte längst durchschaut, was Drazen wirklich wollte: dass er den Effekt seines [Wind-Up Knights] aktivierte. Mit dem konnte er nur einmal einen Angriff aufhalten. Und somit Nina beschützen.

Er verengte die Augen und starrte die ganz aufgelöste Journalistin an, die jeden Moment von Drazens Angriff getroffen werden würde. Das wäre die ideale Chance, um sie loszuwerden. Allerdings gab es einen guten Grund, warum er haderte: sein eigenes Blatt war unerwartet schlecht ausgefallen und Ninas Deck definitiv stark. Unter diesen Umständen hätten sie als Team eine größere Chance auf den Sieg. Wenn sie doch nur nicht so grottenschlecht wäre …
 

Aber es half nichts, er musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. „Los, [Wind-Up Knight], beschütze ihre Lebenspunkte!“

Sofort stellte sich sein weißer Spielzeugritter in den Weg und schirmte Nina vor dem herannahenden Schrott ab. Doch kaum war der Schwall verebbt, tauchte [Scrap Breaker] vor Nicks Ritter auf.

„Das ist ein wahrer Gentleman“, lobte Drazen seinen Gegner aufrichtig.

Was aber nichts dran änderte, dass Nicks Ritter dem Sägeblatt seines Gegners zum Opfer fiel und explodierte.

 

[Nick: 4000LP → 3700LP Nina: 4000LP //// Drazen: 4000LP]

 

„Das wurde ja auch Zeit!“, beklagte sich Nina verärgert.

„Denken Sie bloß nicht, dass ich das für Sie getan habe …“

Drazen hob den Zeigefinger. „Aber nicht doch. Bitte nicht streiten. So eine noble Geste sollte nicht durch Worte beschmutzt werden.“

Er nahm eine Falle aus seinem Blatt hervor und setzte sie. „Mit diesem kleinen Schätzchen gebe ich an dich ab, Junge.“

 

Kaum hatte sich die verdeckte Karte vor Drazen materialisiert, fügte Nick seinem Blatt schon eine neue Karte hinzu. Nur brachte die ihm überhaupt nichts.

Er fluchte innerlich. Nichts würde ihm im Kampf gegen den mächtigen Schrottdämon helfen. Das Einzige, was er tun konnte, war seinen Artgenossen zu vernichten. Der Rest würde von Nina abhängen.

„Ich beschwöre [Wind-Up Soldier] und aktiviere seinen Effekt. Dadurch steigen bis zur End Phase seine Stufe und seine Angriffskraft um 1 beziehungsweise 400 an!“

Vor Nick tauchte ein etwa ein Meter großer, grüner Spielzeugroboter auf, dessen Kopfform stark an einen Magneten erinnerte. Die Schraube auf seinem Rücken begann sich rapide zu drehen.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]
 

Nick streckte den Arm aus. „Vernichte [Scrap Breaker]!“

Sofort sprang der Roboter nach vorne und schlug mit seiner Zangenhand mitten in die Brust des halbzerstörten, größeren Roboters. Dieser explodierte in einem großen Knall, seine Bestandteile flogen wild durch die Luft.

Etwas Metallisches schoss dabei an Drazen vorbei und hinterließ eine blutige Schramme an seiner Wange.

 

[Nick: 3700LP Nina: 4000LP //// Drazen: 4000LP → 3900LP]

 

„Oh?“, murmelte der erstaunt und strich sich über die Wunde. „Da hat wohl jemand mit dem Sicherheitssystem gespielt.“

„Sie hätten sich eben-“, begann Nick, doch brach erschrocken ab. „Was!?“

Dort, wo eben noch Blut die Wange benetzte, war nun wieder gesundes Gewebe. Als hätte es die Schramme nie gegeben.

„Nicht auf das Duell einlassen sollen?“ Drazen nickte. „Aber dann würde mir eine Menge Spaß entgehen. Lass mich raten, du wolltest mich erpressen, indem du mir nach und nach größere Wunden zufügst?“

Nina wirbelte um. „Stimmt das!? … und kannst du meine Duel Disk auch umbauen, wenn es geht? Das wäre bei Recherchen sicher nützlich, kyahahaha!“

Doch Nick ignorierte seine unfreiwillig gewonnene Partnerin. „Sieht so aus, als hätten Sie mich durchschaut.“

„Ich nehme es dir nicht übel. Aber wisse, dass die Kinder Edens unsterblich sind.“ Plötzlich senkte Drazen seinen Blick. „Deswegen bin ich schließlich ein Verbannter …“

„Heißt das, Sie sind mit einem Dämon liiert!?“, fragte Nick aufgebracht.

Aufgeschreckt hob sein Gegenüber die Arme. „

Nein nein, wo denkst du hin?“ Zu sich selbst murmelte der alte Mann: „Ich und mein loses Mundwerk …“

„Dann sagen Sie mir, was das zu bedeuten hat!“

„Hast du das Duell schon gewonnen? Ich glaube nicht“, mahnte ihn Drazen. „Setze deinen Zug fort, statt einen alten Racker wie mir unangenehme Fragen zu stellen.“

Nick schnaufte wütend. Aber wenn es ihm nichts ausmachte verletzt zu werden, sei es drum. Er würde schon noch reden. „Okay, wie Sie wollen. Ich aktiviere jetzt den Schnellzauber [Legendary Wind-Up Key] von meiner Hand. Er zieht meinen Soldaten wieder auf und zwar, indem er ihn in verdeckte Verteidigungsposition setzt.“

Ein goldener Aufziehschlüssel ersetzte plötzlich den alten auf dem Rücken des Soldaten und drehte sich. Dabei ging der Soldat in die Knie, bis er plötzlich zu einem horizontal liegenden Kartenrücken wurde.

 

Wind-Up Soldier [ATK/2200 → 1800 DEF/1200 (5 → 4)]
 

„Zug beendet“, sprach Nick verärgert, da es ihm an Optionen mangelte.

 

„Die allwissende Reporterin macht ihren Zug und verteilt mächtige Schläge“, flötete Nina daraufhin und zog. Sie zückte eine Zauberkarte aus ihrem Blatt und sah zu Nick herüber. „Ich leihe mir mal eben dein Monster aus. Du gestattest?“

„W-was!?“

„[Mind Control]! Damit erlange ich die Kontrolle über ein gegnerisches Monster für einen Zug, mit dem ich aber leider weder angreifen, noch dieses Monster opfern kann.“

Nicks gesetzte Karte löste sich auf und erschien stattdessen nun vor Nina. Der Besitzer des [Wind-Up Soldiers] warf ihr das Monster mit zornigem Blick zu. Doch anstatt es zu fangen, klatschte es einfach gegen Ninas Stirn und segelte auf den Boden.

„Au“, murmelte diese und hob es auf, legte es gleich im Angriffsmodus auf ihre Duel Disk.

„Ich flippe dich und nutze deinen Effekt, [Wind-Up Soldier]!“

Vor ihr erhob sich aus der gesetzten Karte der grüne Spielzeugsoldat, dessen Aufziehschlüssel sich wild zu drehen begann.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]
 

„Nun beschwöre ich einen von meinen süßen, kleinen Darlings! [XX-Saber Fulhelmknight]!“

Vor ihr tauchte ein blonder Krieger in rotem Cape auf, der ein Schwert schwang, das sich in eine Kette bestehend aus vielen kleinen Klingen verwandelte.
 

XX-Saber Fulhelmknight [ATK/1300 DEF/1000 (3)]

 

„Und nun von meiner Hand die Zauberkarte [Star Changer]! Sie ändert die Stufe eines meiner Monster um eins! Fullhelmknight, Level Up!“

 

XX-Saber Fulhelmknight [ATK/1300 DEF/1000 (3 → 4)]
 

„Und jetzt das große Finale“, kündigte Nina großmäulig an. „Abstimmung! Stufe 4, Fulhelmknight auf Stufe 5, [Wind-Up Soldier]! Mighty warrior of the gentle sword, return to this wicked world! We await your command! Synchro Summon! Break free, [XX-Saber Gottoms]!“

Synchroringe entstanden, Nicks Soldat durchquerte sie und schon blitzte es wieder grünlich in der Seitenstraße, als vor Nina ein mächtiger Krieger erschien.

Dieser trug eine Rüstung aus Stahl, die sogar sein Gesicht verdeckte und schwang eine enorm lange, zweiblättrige Klinge über seinem Kopf. Unruhig flatterte der rote Umhang im Wind, welcher auf seinen Schultern lag.
 

XX-Saber Gottoms [ATK/3100 DEF/2600 (9)]

 

Nick war fassungslos. Ohne seine Erlaubnis hatte dieses Weib sein Monster genommen, um damit ihres zu beschwören. Wo sie doch-!

„Was sollte das!?“, beklagte er sich aufgebracht. „Warum haben Sie nicht die Kontrolle über [Scrap Archfiend] übernommen, um diese Kombo durchzuführen!?“

„Kannst du nicht zählen, Burschi!? Der ist Stufe 7, das ist zu hoch gewesen, ich brauchte dein Monster!“ Sie rümpfte arrogant die Nase. „Amateur!“

Aber Nick wollte das nicht glauben. Mit [Star Changer] hätte sie die Stufe des Dämons auf 6 reduzieren, dann den Stufe 3-Fulhelmknight beschwören und daraus den Stufe 9-Gottoms entstehen lassen können. Diese Frau war ein Albtraum auf zwei Beinen! Ein ziemlich dämlicher Albtraum! Nun stand er ohne Monster da!

Besagter rothaariger Albtraum hatte sich jedoch längst Drazen zugewannt. „Tut mir leid mein Hübscher, aber ich will gewinnen! Also los, Gottoms, vernihiiiichte [Scrap Archfiend]! Geronimoooooooo!“

Unbekümmert verfolgte Drazen mit einem spitzbübischen Grinsen, wie ein Schwerthieb des großen Kriegers reichte, um sein Monster zu enthaupten. Da aber Nina den Angriff durchgeführt hatte, erlitt er dabei keine Verletzungen.

 

[Nick: 3700LP Nina: 4000LP //// Drazen: 3900LP → 3500LP]

 

„Zug be-en-det“, trällerte Nina gut gelaunt.

Anders als Nick, dessen Augen gefährlich nahe dran waren, aus ihren Höhlen zu flüchten. „Und sie setzt nicht einmal eine Karte, um mich zu beschützen …“

Seine Partnerin winkte ab. „Du wirst schon klar kommen, Kleiner. Kannst dich schließlich nicht hinter einer wehrlosen Frau wie mir verstecken, kyahahaha!“

Nein, dachte Nick heimtückisch, aber er konnte immer noch ihr Konto plündern. So oft er wollte!

 

„Nicht streiten, meine Lieben“, versuchte Drazen zu schlichten, „ich bin auch noch da! Draw!“

Zwar besaß er kein Monster mehr auf dem Spielfeld, doch das sollte sich gleich ändern. „Na, kennt ihr sie noch? Die [Scrap Chimera]?“

Schon tauchte die aus verschiedenen Schrottteilen zusammen gewürfelte Kreatur aus der griechischen Mythologie wieder auf.

 

Scrap Chimera [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

Und sie brachte Freunde mit. Zumindest einen, nämlich den Crashdummy auf dem Autoreifen, der im Kreis um sie fuhr.

„Ihr müsst wissen“, erklärte Drazen dabei, als er die beiden Karten auf die Duel Disk legte, „dass [Scrap Dummy] auch ein Empfänger ist und somit von [Scrap Chimera] reanimiert werden kann.“

„Auch das noch …“, war alles, was Nick dazu zu sagen hatte.

 

Scrap Dummy [ATK/800 DEF/2000 (4)]

 

„Du hast es dir sicher schon gedacht“, sprach Drazen und streckte den Arm aus. „Aber hier kommt noch eine Synchrobeschwörung! Ich stimme meine beiden Stufe 4-Monster aufeinander ab! From within a pile of junk a heart of steel is born! The embodiment of the discarded! Synchro Summon! Tear them appart, [Scrap Dragon]!“

Nach dem grünen Lichtblitz, der den Abschluss der Prozedur einleitete, ertönte mächtiges, aber verzerrtes Gebrüll über Drazen. Und Nick erkannte das Monster sofort wieder, welches anmutig hinab stieg: es war die Kreatur, die auf der [Scrap Burst Salvo]-Falle abgebildet war.

Aus blauen Blechen und anderen Materialien zusammengeschweißt, war dieser Drache elegant wie gleichzeitig furchteinflößend. Die roten Augen leuchteten, als es aus zwei Düsen an seinen Schwingen Dampf abließ.

 

Scrap Dragon [ATK/2800 DEF/2000 (8)]

 

„Was!?“, tönte Nina laut und verfiel in abfälliges Gelächter. „Der ist ja schwächer als mein Gottoms! Wie erbärmlich, gar vollkommen lächerlich!“

Drazen nahm still eine Zauberkarte namens [Guts Of Steel] von seinem Blatt und setzte sie, sodass sie sich neben der bereits eine Runde zuvor von ihm gesetzten Karte materialisierte. Dann erklärte er seelenruhig: „Mein Monster kann einmal pro Zug eine meiner Karten vernichten, um im Gegenzug auch eine Karte meines Gegners zu zerstören. Von diesem Effekt rührt auch der Name meiner Falle. Los, [Scrap Dragon], Scrap Burst Salvo!“

Die von Drazen gesetzte Zauberkarte zersprang in tausend Teile, deren Partikel von dem Drachen über ihm mit dem Maul aufgesogen wurden. Nur, damit dieser im Anschluss aus besagtem Maul Schrottraketen auf Gottoms abschießen konnte. Doch selbst Ninas grässlicher Entsetzensschrei konnte nicht verhindern, dass ihr Monster in einer gewaltigen Explosion unterging.

Womit nun beide Teammitglieder ohne Karten auf dem Feld dastanden.

Der Weißhaarige streckte den Arm aus und zeigte auf Nick. „Nimm es mir nicht übel, aber ersparen wir der Dame doch eine unschöne Erinnerung. [Scrap Dragon], Scrap Burst Stream!“

Der Schrottdrache lud einen blauen Energiestrahl in seinem Maul auf, den er umgehend auf Nick abfeuerte. Dieser hielt sich geblendet von der Attacke den Arm vors Gesicht und wurde voll erfasst.

 

[Nick: 3700LP → 900LP Nina: 4000LP //// Drazen: 3500LP]

 

„Was!?“, staunte Nick, als er unverletzt aus dem Angriff hervorging.

„Oh? Dachtest du etwa, ich würde dir wehtun wollen?“, fragte Drazen erstaunt und brach in bärbeißiges Gelächter aus. „Warum sollte ich?“

Doch Nick antwortete nicht, sondern betrachtete den mechanischen Drachen. Wenn es ihm nicht gelang, dieses Ding auszuschalten, war er spätestens nächste Runde besiegt. Das hieß, wenn Nina nicht schon vorher wieder irgendeinen Unsinn veranstaltete.

„Ich beendete damit meinen Zug“, verlautete Drazen gelassen.

 

„Draw!“, rief Nick eifrig und riss regelrecht seine nächste Karte vom Deck.

Und als er sie erblickte, hellte sich seine Miene auf. Sofort zeigte er die Karte vor. „[Monster Reborn]. Was sie bewirkt, sollte jeder fähige Duellant wissen.“

„Was denn?“, wunderte sich Nina und drehte sich zu ihm. Und das, obwohl sie die Karte selbst einst gegen Abby eingesetzt hatte.

Vor Nick tauchte schließlich der blonde Krieger mit dem Kettenschwert wieder auf.

 

XX-Saber Fulhelmknight [ATK/1300 DEF/1000 (3)]

 

„Was hast du mit meinem Monster vor!?“, kreischte Nina aufgebracht und starrte Nick wütend an.

„Wenn Sie das dürfen, dann ich auch“, entgegnete dieser nur kühl und legte ein Monster auf seine Duel Disk. „Erscheine, [Wind-Up Hunter]!“

 

Wind-Up Hunter [ATK/1600 DEF/500 (3)]

 

Doch das Monster war nur für einen Sekundenbruchteil auf dem Feld, da verwandelte es sich schon in einen braunen Lichtstrahl, ebenso wie [XX-Saber Fulhelmknight].

„Ich erschaffe das Overlay Network!“, rief Nick und ließ einen schwarzen Wirbel mitten in der Seitengasse erscheinen, welcher die zwei Strahlen in sich aufnahm. „Xyz-Summon! Erscheine, [Wind-Up Carrier Zenmaity]!“

Aus dem Loch trat ein Spielzeugflugzeugträger, der immerhin noch so groß war, dass er sich schützend vor Nick und Nina stellten konnte. Um das Schiff kreisten zwei Lichtsphären.

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3}]
 

„Ich aktiviere den Effekt von Zenmaity!“, verkündete Nick. „Durch das Abkoppeln einer Xyz-Einheit kann ich-“

„Ich weiß genau, was du tun willst“, sprach Drazen amüsiert dazwischen, „ich kenne die gnadenlose Kombo bestehend aus [Wind-Up Rat] und [Wind-Up Hunter], die mir alle Handkarten nehmen soll. Und danach wirst du dich sicher hinter [Wind-Up Zenmaines] verstecken wollen, den mein [Scrap Dragon] nicht antasten kann, habe ich recht?“

Nicks Augen weiteten sich. „Wie haben Sie das durchschaut!?“

„Ich bin ein alter Knacker, ich kenne da schon die ein oder andere Kombo.“ Drazen lachte auf. „Bloß das hindert mich nicht daran, ihnen hin und wieder einen Strich durch die Rechnung zu machen. Konterfalle, [Scrapped]!“

Die purpurne Karte sprang vor Drazen auf und zeigte seinen [Scrap Dragon], wie dieser in einer Explosion unterging.

Plötzlich richteten sich die Abschussrampen des Flugzeugträgers auf den Drachen am Himmel aus.

„Was geschieht hier!?“ Nick war fassungslos. Es war, als würde Drazen in die Zukunft sehen können!

„[Scrapped] kann nur aktiviert werden, wenn ich ein Scrap-Synchromonster kontrolliere. Dann greift er in einen beliebigen deiner Effekte ein und ändert ihn so um, dass eines meiner Scrap-Synchromonster vernichtet wird.“

Nina stammelte daraufhin: „Damit ist uns doch nur geholfen!?“

Ihr Gegenüber lachte amüsiert. „Kann schon sein.“

Schon hatte Nicks Schiff zwei Haitorpedos abgefeuert, die direkt in die Brust des mechanischen Drachen am Himmel einschlugen. Jener schrie gequält in seiner verzerrten Stimme auf, ehe er explodierte und in einem Schrottregen niederging. Doch ganz unerwartet explodierte auch Nicks [Wind-Up Carrier Zenmaity].

„Oh, ja, das muss wohl das Alter sein“, murmelte Drazen und strich sich über den Kopf hin bis zum Pferdeschwanz, welcher von seinem Poncho aus immerhin bis zu den Hüften reichte. „Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, dass [Scrapped] danach die Karte zerstört, die mein Monster vernichtet hat.“

Fassungslos betrachtete Nick sein leeres Spielfeld. Dieser Drazen war einfach unglaublich, er hatte alles durchschaut und dementsprechend reagiert.

Plötzlich schoss aus dem niedergehenden Schrotthaufen eine dunkle Gestalt.

„Ah, und wenn [Scrap Dragon] durch einen gegnerischen Einfluss zerstört wird, beschwört er ein Scrap-Monster von meinem Friedhof. Das darf nur kein Synchromonster sein, ansonsten gibt es keine Beschränkung.“

Schon schwebte wieder der kaputte Oberkörper eines alten Roboters vor Drazen.

 

Scrap Breaker [ATK/2100 DEF/700 (6)]

 

Es war nicht zum Aushalten, dachte Nick krampfhaft. Jede Maßnahme gegen Drazen endete letztlich in einem Desaster. Nun konnte er nicht einmal mehr ein Monster zu seinem Schutz beschwören. Alles, was er überhaupt tun konnte, war zu bluffen.

Daher nahm er die Zauberkarte [Weights & Zenmaisures] und setzte sie als Falle getarnt verdeckt. Während sie vor seinen Füßen erschien, bezweifelte der große, junge Mann jedoch, dass Drazen sich davon aufhalten ließ. Vermutlich wusste er genau, dass das nur ein Placebo war. Gesetzt aus Verzweiflung.

„Ich beende meinen Zug“, sagte Nick leise. Ohne die Reporterin anzusehen, flüsterte er ihr zu: „Alles hängt jetzt von Ihnen ab, Nina.“

„Verstanden. Ich schaukel' den Stuhl schon irgendwie.“

Nick seufzte innerlich. Nicht einmal Sprichwörter bekam diese Person auf die Reihe. Sie hatten praktisch schon verloren …
 

„Draw!“, rief Nina derweil und zog schwungvoll. Ihre drei Handkarten nachdenklich betrachtend, schnippte sie schließlich mit dem Finger. „Ich passe!“

„Was!?“, polterte Nick verstört, packte kurzerhand ihren Arm und sah sich entgegen der Regeln des Spiels ihr Blatt völlig aufgebracht an.

„I-ich habe nur Monster hoher Stufe auf der Hand!“, rechtfertigte der Rotschopf sich erschrocken.

Entgeistert betrachtete Nick die Karten. Es waren [XX-Saber Faultroll] der Stufe 6, [Commander Gottoms, Swordmaster], ebenfalls Stufe 6 und [XX-Saber Gardestrike], Stufe 5.

Nicks Gesichtszüge entglitten ihm, als er Letzteren bemerkte.

Kaum verständlich murmelte er: „Nina … dieses Monster kann von der Hand als Spezialbeschwörung gerufen werden, wenn sich zwei X-Saber auf ihrem Friedhof befinden. Nina … es befinden sich dort mindestens zwei. Und Nina … dieses Monster hätte genug Angriffspunkte gehabt, um sich zusammen mit [Scrap Breaker] zu zerstören. Nina!“

„Yieks!“ Sofort wich sie von ihm und fauchte verärgert: „Wie ich meine Karten einsetze, entscheide immer noch ich! Ich kenne sie schließlich am besten!

Nick brüllte nicht weniger laut. „Ich wusste, es war ein Fehler Sie zu beschützen!“

„Ich habe bisher mehr Schaden angerichtet als du, Burschi! 400 zu 100 steht es!“

 

Und während die beiden sich heftig stritten, zog Drazen seufzend eine Karte und begann damit seinen Zug.

„Ich sollte das wohl jetzt beenden“, murmelte er mit einem Hauch von Enttäuschung. „Also aktiviere ich [Monster Reincarnation], um von meiner Hand eine Karte abzuwerfen. Als Ersatz erhalte ich ein Monster von meinem Friedhof.“

Drazen verzichtete auf sein Monster [Scrap Hunter] und nahm sich dafür die [Scrap Chimera] auf seine Hand. Doch die beiden Zankenden nahmen gar keine Notiz davon.

Resignierend seufzend legte Drazen seine Schimäre auf die Duel Disk, welche daraufhin vor ihm erschien.

 

Scrap Chimera [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

Erst als das mythische Wesen brüllte, wurden die beiden Streithähne aufmerksam und glotzen den Schrottlöwen mit Schwingen und Schlangenschwanz verwirrt an.

„Dank ihres Effekts kehrt [Scrap Dummy] zurück“, führte Drazen seinen Zug fort.

Zwischen Breaker und Schimäre tauchte der auf einem Autoreifen fahrende Crashdummy auf.

 

Scrap Dummy [ATK/800 DEF/2000 (4)]

 

„Was?“, murmelte Nick leise, der völlig verdrängt hatte, dass sein Gegner nun am Zuge war.

„Machen wir dem ein schnelles Ende, okay?“, fragte Drazen, doch es klang eher nach einer Feststellung, denn einer Bitte. „Ich stimme den Stufe 4-[Scrap Dummy] auf den Stufe 6-[Scrap Breaker] ein! A heart of iron rests within the void of time and space! One beat, powerful enough to reverse the laws of nature! Synchro Summon! Break loose, [Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T]!“

Ein heftiger Wind peitschte plötzlich durch die Seitengasse. Nick und Nina wurden regelrecht fort gedrückt, als der Dummy in vier grüne Ringe zersprang und der Breaker diese passierte. Ein greller Blitz blendete die beiden, als die Erde erzitterte.

Nick öffnete seine Augen nur einen Spalt weit, doch erschrak so sehr, dass glatt ein kalter Schauder über seinen Rücken lief.

Mülltonnen und Container, alte Bierdosen, Colaflaschen, alles was nicht am Boden festgenagelt war, schwebte in der Luft. Und hinter Drazen, da war er, der Schatten von etwas, das Nick am ehesten als 'Titan' bezeichnen würde. Doch das Licht, welches von diesem Monster ausging, war zu grell um Näheres zu erkennen.

„Wenn Heavy T als Synchrobeschwörung gerufen wird“, erklärte Drazen, als wäre es nichts Besonderes, dass die Schwerkraft um sie herum ausgesetzt hatte, „erhält er bis zur End Phase für jedes verwendete Synchromaterial 500 Angriffspunkte.“

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 → 4000 DEF/0 (10)]

 

„Das war wirklich ein lustiges Duell. Aber euer Teamwork lässt noch sehr zu wünschen übrig. Wenn ihr jedoch an euch arbeitet, werdet ihr irgendwann sehr gute Duellanten sein“, sagte Drazen warmherzig. „Und nun entschuldigt, dass das jetzt etwas heftig wird. Heavy T, greif bitte die Dame an, aber sei behutsam. [Scrap Chimera], übernimm du den jungen Mann. Los!“

Ehe Nick sich versah, fiel die Schimäre über ihn her – und durch ihn hindurch. Gleichzeitig wurde die Erde erneut so heftig erschüttert, dass er und Nina zu schreien anfingen und umkippten. Ein lautes Poltern und alles war vorbei.

 

[Nick: 900LP → 0LP Nina: 4000LP → 0LP //// Drazen: 3500LP]

 

Nick lag auf dem Rücken, öffnete die Augen und bemerkte eine Hand, die nach ihm ausreichte. Drazens graue Augen glänzten regelrecht vor Freude, als er niederkniete, um dem jungen Mann aufzuhelfen.

„Danke“, murmelte Nick, immer noch geschockt von den Ereignissen und ließ sich auf die Beine ziehen.

Hinter Drazen stand Nina bereits wieder und klopfte sich wütend das weiße Kleid sauber. „Was für ein schlechter Witz! Wegen so einem unreifen-“

Sie sah auf und bemerkte Nicks stechenden Blick, verstummte erschrocken.

Erst jetzt bemerkte jener, dass die Mülltonnen und auch die anderen Gegenstände wieder auf dem Boden der Tatsachen zurückkehrt waren. Allerdings kopfüber. Es war ihm unbegreiflich. „Was … war das?“

„Nichts“, antwortete Drazen unbekümmert und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, „da mir das Duell so großen Spaß gemacht hat, erlasse ich dir die Schuld.“

„D-das Geld“, erinnerte sich Nick.
 

Er wirbelte hektisch um und sah, wie Drazen langsam die Seitengasse Richtung Straße verließ. „Warten Sie! Bitte!“

Tatsächlich hielt der alte Mann an. „Es tut mir leid, mein Junge. Ich kann dir nicht mehr sagen, als du vermutlich sowieso schon weißt.“

„Aber was ist mit den beiden Eden!? Wieso-“

Drazen drehte sich zu ihm und Nina um und versuchte zu lächeln, doch dieses Mal gelang es ihm nur kläglich. „Eden ist die Stadt der Unsterblichkeit. Vor vielen, vielen Jahren wurde sie erschaffen, um einigen wenigen Menschen eine Zuflucht zu sein.“

Nick schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber was hat das mit unserem Eden zu tun? Und wieso sind Sie überhaupt ein Verbannter?“

„Ja“, stimmte Nina mit ein, „das will ich auch wissen. Ohne das ist mein Artikel nicht komplett!“

Den Kopf in den Nacken legend, sah Drazen voller Melancholie in den wolkenverhangenen Himmel. „Unsterblichkeit ist Stillstand. Und irgendwann, wenn es nichts mehr gibt, das man in dem sich selbst auferlegten Gefängnis noch entdecken kann, wird das Leben langweilig. Der Körper eines Kindes, beseelt von dem Geiste eines Greises. So etwas darf nicht Leben genannt werden. Aber daran ändern wollte außer mir niemand etwas. Und so bin ich ins Exil gegangen, zurück in die Welt, aus der ich vor Jahrhunderten gekommen bin. Fort von der Heimat, die ich mit eigenen Händen aufgebaut habe.“

 

Er brauchte nicht mehr sagen, damit Nick verstand. „Und die beiden Eden?“

Drazen richtete seinen Blick wieder auf den jungen Mann. „Lass deine Freundin gehen und Eden werden. Alles andere würde sie nur vollkommen ins Unglück stürzen. Glaube mir, ich habe den Limbus gesehen.“

„Aber-!“

„Das ist nun mal der Fluch des Tores 'Eden'.“

Nick verstummte. Er sollte aufgeben!? Einfach so!? Zulassen, dass Anya starb und mit sich die Leben von fünf Menschen nahm? Wie konnte der das so einfach sagen!?

„Dies hier nehme ich aber trotzdem mit“, meinte Drazen zwinkernd und zückte unter seinem Poncho einen weißen Umschlag hervor. „Immerhin habe ich dir ja am Ende doch etwas verraten. Ich wünschte, es wäre mehr gewesen. Du bist ein guter Junge.“

Mit diesen Worten wirbelte der alte Mann um und verschwand aus der Seitenstraße wie ein Schatten, der im Licht verblasste. Und hinterließ einen jungen Mann mit großen Zweifeln an seinem Tun.

Doch plötzlich hallte es durch die Gasse: „Aber wenn ich mich richtig erinnere, können Verträge doch aufgehoben werden, wenn beide Parteien zustimmen. Oder liege ich da falsch?“

 

 

Turn 27 – Friends

Am Tag nach dem Treffen mit Drazen nimmt Nick Abby nach der Schule beiseite und besucht mit ihr den Spielplatz. Dort haben er, sie und Anya früher immer gespielt. Seine wahre Persönlichkeit preisgebend, konfrontiert er Abby mit Anyas schrecklichem Vorhaben, die dies jedoch nicht wahrhaben will. Ein Streit zwischen den beiden Freunden entfacht, welcher in einem Duell zweier im wahrsten Sinne ebenbürtiger Gegner endet. Anderenorts ist Anya darum bemüht, die letzten Vorkehrungen für den 11. November zu treffen, an dem ihr Schicksal entschieden wird …

Turn 27 - Friends

Turn 27 – Friends

 

 

„Der Test war heute ziemlich schwer“, sprach Abby abgespannt, als sie, Anya und Nick zusammen das große Backsteingebäude ihrer Schule verließen. „Aber ich denke, ich habe fast alles richtig beantwortet.“

Die Blondine an ihrer Seite, mit hinter dem Kopf verschränken Armen, starrte missmutig zu ihrer Freundin herüber. „Fang bloß nicht an zu heulen, wenn du nicht die volle Punktzahl bekommst!“

„Ich heule wegen so etwas nicht!“, brüskierte sich das Hippiemädchen daraufhin.

Zusammen gingen sie über das kreisrunde Campusgelände hin zum Tor, um endlich der Folteranstalt Schule zu entkommen und den wohlverdienten, freien Nachmittag genießen zu können.

„Hehe … ich habe dieses Mal meinen Namen richtig geschrieben“, gluckste Nick stolz, „in Spiegelschrift.“

Und wurde glatt von den beiden Mädchen ignoriert.

„Was machst du heute noch?“, fragte Abby, als sie vor dem Tor angekommen waren, an Anya gewandt.

Die stöhnte genervt. „Nichts Besonderes. Ein paar Erledigungen.“

 

Zwei Scherben haben wir bereits aufgeladen, Anya Bauer. Doch wir sollten uns sputen, es fehlen noch drei weitere. Es wäre gut, wenn wir für heute zumindest eine weitere mit Marcs Elysion aus dem Park aufladen können. Damit blieben danach nur noch Victim's Sanctuary und die Kanalisation.

 

„Nichts Wichtiges“, log Anya ihre Freunde daraufhin an.

„Hehe, ich und Abby gehen heute aus“, gluckste Nick daraufhin amüsiert.

Nur, dass Erstere davon scheinbar nichts wusste und sich pikiert umdrehte. „Wie bitte!?“

Doch schon hatte sich Nick unter ihrem Arm eingehakt. „Wird ganz romantisch. Wünsch' mir Glück, vielleicht zeigt sie mir ihre Brüste.“

„Waaaaaas!?“, fauchte Abby knallrot, konnte sich aber nicht dagegen wehren, von dem großen jungen Mann davon geschleift zu werden.

„Was ist denn mit dem los!?“, wunderte sich Anya verwirrt, die den beiden nachsah, wie sie über die Straße rannten und anfingen sich zu streiten.

 

Vielleicht ist er eifersüchtig, jetzt da Benjamin Hendrik Ford bei Abby wohnt.

 

Anya winkte abfällig ab. „Ich glaube, damit will ich nichts zu tun haben. Wir haben andere Sorgen.“

Noch fünf Tage, dann war es soweit. Dann würde sie im Turm von Neo Babylon Eden werden …

 

~-~-~

 

„Lass mich endlich los!“, beklagte sich Abby, die hinter Nick her geschleift wurde. Nur aufgrund ihrer pazifistischen Einstellung sah sie davon ab, ihm einen Tritt in sein schwaches Geschlecht zu verpassen.

„Wir sind da“, meinte er plötzlich ernst.

Abby blinzelte verdutzt und folgte seinem Blick. „Oh!“
 

Auf der anderen Straßenseite erstrecke sich ihnen ein großer Spielplatz. Buddelkästen, Schaukeln, Rutschen, alles was ein Kinderherz begehrte war hier eigens für die junge Generation erbaut worden. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und tränkte diesen in melancholisches Rot.

„Was wollen wir denn hier?“, fragte Abby verwirrt und folgte Nick über die Straße. „Sag bloß nicht, dass du mich hier daten willst!?“

„Das habe ich nur als Vorwand genommen, um von Anya loszukommen“, erhielt sie jedoch stattdessen als Antwort.

Überrascht schloss das Mädchen daraufhin zu ihrem Freund auf und sah ihn nun vollkommen verwirrt an. „W-wieso das?“

„Wir müssen uns unterhalten. Über Anya und wie es weitergehen soll.“

 

Kurz darauf betraten sie den Spielplatz. Abby löste sich von ihm und stellte sich nachdenklich vor eine der Schaukeln. Erinnerungen wurden wach.

„Hier haben wir drei immer gespielt“, murmelte sie. „Anya, du und ich.“

Nick stellte sich hinter sie. „Ja. Das ist jetzt schon so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Aber auch wenn wir jetzt schon längst aus dem Alter raus sind, ist es schön, ab und zu wieder hierher zu kommen.“

Er schritt an ihr vorbei und setzte sich auf eine der Schaukeln, ohne jedoch die Anstalt zu machen, Anlauf zu nehmen.

Abby tat es ihm gleich und sah ihn von der Seite verdutzt an. „Ich wusste gar nicht, dass du so feinfühlig sein kannst. Irgendwie bist du heute komisch!“

„Ich bin schon mein ganzes Leben komisch“, antwortete Nick und ließ den Kopf hängen, „fragt sich nur, welcher Nick komischer ist.“

„Du meinst, der Nick, der dümmer als das ganze Footballteam zusammen ist, oder der Nick, der so schlau ist, dass er eine ganze Klasse überspringen könnte?“

Überrascht blickte Nick auf. „Du-du weißt, dass ich-“

Nun war es an Abby, den Blick zu senken. Sie nahm etwas Anlauf und begann zu schaukeln. „Weißt du, niemand kann so dumm sein, wie du es uns weiß machen wolltest. Ich habe immer gedacht, dass hinter dir mehr steckt. Spätestens seit deinem Duell mit Melinda …“

„Du hast mich also die ganze Zeit durchschaut?“

Abby schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte nur manchmal einen Verdacht, aber nie konkrete Beweise. Bis eben zumindest. Aber wirklich überraschen tut es mich nicht, nein.“

„Und Anya?“

Nun kicherte das Mädchen. „Ich glaube, die ahnt nichts davon. Solange ich keine Beweise hatte, wollte ich sie nicht darauf ansprechen.“

Nick sah in den roten Himmel. „Verstehe … würdest du sie in dem Glauben lassen, dass ich minderbemittelt bin?“

Überrascht blickte Abby zu ihm herüber. „Wieso? Ich meine, natürlich, wenn du es möchtest. Aber ich verstehe nicht ganz, warum du überhaupt … ?“

Mit einem Lächeln erwiderte er ihr: „Nicht so wichtig. Sagen wir einfach, es macht mir Spaß.“

„Du bist wirklich komisch“, brummte Abby schmunzelnd, ehe beide anfingen zu lachen.

 

Eine Weile betrachteten sie zusammen den Sonnenuntergang, ehe Nick wieder das Wort ergriff. „Es ihr jetzt noch zu sagen, würde ihr vermutlich nicht bekommen.“

„Anya?“ Abby stieß einen traurigen Seufzer aus. „Oh … ja. Sie wird …“

„Sie wird sie alle töten.“

„Huh!?“

Abby fiel vor Schreck von der Pritsche und landete im Sand, die getönte Brille fiel ihr von der Nase. Sofort sprang Nick von der Schaukel, sammelte die Brille auf und gab sie seiner Freundin, die ihn aus verwirrten Augen anstarrte, während sie aufstand. „W-was meinst du damit?“

„Anya. Sie hat uns angelogen. Sie kennt keinen Ausweg aus ihrer Situation und hat sich offensichtlich damit abgefunden, Eden zu werden. Um die anderen in den Turm zu locken, hat sie sich die Geschichte ausgedacht, die sie uns vorgestern erzählt hat.“

Sofort wich Abby von ihm zurück. „Anya würde so etwas nie tun! Sie kämpft bis zum Schluss!“

„Hast du es nicht gesehen?“, fragte Nick, der mit so einer Reaktion gerechnet hatte. „Ihre Körpersprache hat sie verraten. Sie hat niemandem von uns in die Augen gesehen.“

„Wieso erzählst du mir das überhaupt!?“

„Weil du ihre beste Freundin bist und dazu die Einzige … die sie davon abhalten kann.“

Abby starrte Nick fassungslos an. „S-selbst wenn das stimmt, was du sagst – und das tut es nicht! Das würde doch bedeuten, dass sie im Limbus endet! Weißt du überhaupt, was das ist!?“

„Nein, aber ich kann es mir denken“, erwiderte Nick und mied Abbys aufgewühlten Blick. „Ich habe selbst alles versucht, um einen Ausweg für sie zu finden. Aber alles, was ich herausgefunden habe, hat sich als falsch oder zwecklos herausgestellt. Und dass du dich immer noch nicht traust, Anya auf die Sache mit dem Betrüger und diesem Necronomicon anzusprechen, heißt nur, dass es dir nicht anders geht.“

„Was meinst du damit!? Nick, erklär' dich!“

Nun sah Nick das Mädchen wieder mit festem Blick an. „Gestern habe ich einen Mann namens Drazen getroffen. Wer das ist, erzähle ich dir später. Aber laut ihm könnte der Pakt aufgelöst werden, wenn Anya und Levrier sich dazu einigen.“

„Aber das wird nie geschehen!“

Mit einem Nicken stimmte er ihr zu. „Exakt. Und genau deshalb möchte ich verhindern, dass in fünf Tagen, vielleicht um diese Zeit, fünf unschuldige Menschen ihr Leben verlieren werden.“
 

Abby wich noch weiter von ihm zurück. Der Sand unter ihren Füßen knirschte leise, als sie sich Schritt für Schritt von Nick entfernte. Sie schüttelte den Kopf vehement. „Du glaubst das also wirklich? Dass Anya so etwas Schreckliches tun will?“

„Ja“, erwiderte der große, junge Mann daraufhin entschlossen, „aber ich glaube, dass nicht nur sie das will.“

Was dazu führte, dass Abby einen erschrockenen Seufzer ausstieß.

Nun streckte Nick ihr energisch die Hand entgegen. „Verstehst du nicht? Hier geht es nicht nur um Anya! Irgendetwas oder irgendwer zieht hier die Fäden! Immer wenn Not am Mann ist, wird ein Pakt geschlossen, der rein zufällig ein Opfer für Edens Erwachen bereitstellt. Das kann doch kein Zufall sein!“

Verwirrt stolperte das brünette Mädchen noch weiter zurück. „Aber wie kommst du auf so etwas? Wer sollte denn-!?“

„Ich weiß es nicht! Aber niemand konnte uns bisher mit Gewissheit sagen, was Eden nun wirklich ist!“

 

Er wusste, dass dies eine Lüge war. Drazen hatte es ihm gesagt: Eden war ein Tor. Wohin, das hatte er ihm zwar verschwiegen, aber Nick ahnte Fürchterliches. Sollte Eden geöffnet werden, könnte etwas Schreckliches geschehen. Denn wer wusste schon, was hinter diesem Tor lag?

Nur jemand, der Interesse daran hatte, es zu öffnen. Und dafür Anya missbrauchte. Jemand wie Levrier …

Dieses Tor durfte nicht geöffnet werden. Das hatte er gestern nach langem Grübeln und einer schlaflosen Nacht erkannt. Auch wenn das bedeutete, dass Anya … leiden musste.

 

„Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“, beklagte sich Abby nun aufgebracht. „Wer außer Levrier sollte wollen, dass Eden erwacht? Und Levrier weiß nicht, was Eden ist, wie du schon sagtest!“

„Es gibt aber noch andere von Levriers Sorte!“

„Aber keiner von denen scheint bemüht zu sein, Anya wirklich zu helfen! Die Engel zählen nicht, Matts Paktdämon ist neutral und Isfanel eindeutig dagegen, dass Eden erwacht!“
 

Die Engel, dachte Nick insgeheim. Was sie im Schilde führten wusste keiner. Auch sie könnten diejenigen sein, die hinterrücks die Fäden in der Hand hielten.

 

„Und außerdem“, beklagte Abby sich weiter über Nicks Worte, „selbst wenn alles, was du sagst stimmen würde … würdest du Anya einfach so im Stich lassen? Du hast keine Ahnung, was der Limbus ist!“

„Wäre dir eine Katastrophe lieber!? Denkst du, dass ich Anya so einfach loslassen kann!?“ Nick stampfte auf. „Sie ist genauso meine Freundin!“

„Was du sagst, ist einfach nur hinterhältig!“ Tränen standen in den Augen des Mädchens, welches die Brille abnahm, um sie sich mit dem Handrücken abzuwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass du so grausam bist …“

„Ich liebe Anya! Mein ganzes Leben habe ich eine Rolle für sie gespielt!“ Auch Nick war so aufgebracht, dass seine Wangen langsam benetzt wurden. „Dass sie meine Liebe nie erwidern wird ist okay, damit habe ich mich schon lange abgefunden! Mein Plan war es, erst wieder 'Nick' zu sein, wenn sie glücklich ist! Aber sie wird nie glücklich sein, Abby! Nie! Egal, was wir tun!“

„Wie kannst du … wie kannst du so etwas nur Liebe nennen!?“ Abby keuchte regelrecht vor Wut, ihre Augen verfärbten sich rosa. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf Nick. „Dass du sie einfach so über die Klinge springen willst, weil du Gespenster siehst … das kann ich nicht zulassen! Nick! Wir sind jetzt Feinde!“

 

Der brünette Junge wich fassungslos zurück, erwiderte nicht minder aufgebracht: „Das kann nicht dein Ernst sein!“

Doch als Antwort schlug ihm ein heftiger Wind entgegen, der von Abby ausging. Ihr Haar wuchs auf beträchtliche Länge an, schwebte in der Luft, doch schien ihre Verwandlung in eine Sirene unvollständig.

Das Mädchen ließ ihre Umhängetasche aus zusammengenähtem Stoff sinken und holte daraus eine kleine Actionfigur hervor, nahm ihr die Duel Disk an ihrem Arm ab und ließ sie durch ihre Kräfte anwachsen, ehe sie von einem Original nicht mehr zu unterscheiden war.

„Tut mir leid, Nick“, sprach Abby schluchzend, „aber du bist wirklich ein riesengroßer Idiot!“

Damit legte sie sich den Apparat an den Arm an und wartete darauf, dass er es ihr gleich tat.

Aber Nick weigerte sich. „Worum kämpfen wir hier überhaupt!?“

Er erhielt eine Antwort purer Verzweiflung. „Ich weiß es nicht! Aber was soll ich sonst tun!?“

„Gute Frage.“ Nick schluckte und ließ seinen Rucksack sinken, holte ebenfalls eine Duel Disk hervor. In ihrem jetzigen Zustand würde sie sich nicht dazu breit schlagen lassen, die Dinge anders zu klären. Selbst eine Abigail Masters konnte dickköpfig sein.

Nick seufzte. „Aber wenn ich du wäre, würde ich vermutlich nicht anders handeln. Manchmal ist es ein Fluch … ich zu sein.“

Damit legte auch er seine Duel Disk an. Beide schrien synchron: „Duell!“

 

[Abby: 4000LP / Nick: 4000LP]

 

Nick wusste, dass dieses Duell keinen Sinn besaß. Es war nichts weiter als der Ausdruck von Abbys Verzweiflung. Wie konnte sich eine so friedliebende Seele wie sie auch mit dem Gedanken anfreunden, dass Anya zu etwas derart Schrecklichem fähig sein könnte? Fünf Menschen zu töten.

Wenn von Eden nicht diese unbegreifliche Gefahr ausging, die außer ihm niemand zu sehen schien, würde Nick es zulassen. Gehen lassen musste er Anya sowieso. Aber dann sollte es wenigstens auf die für sie angenehmste Weise geschehen.

Aber sollte er das zulassen, sie zusammen mit Levrier Eden werden lassen, könnte das wie ein Bumerang auf sie alle zurückfallen. Eden, das verfluchte Tor.

„Wohin führst du?“, murmelte er zu sich selbst und zog sein Startblatt. „Ich beginne, schließlich bin ich Ursache für das alles. Draw.“

Er musste die Ruhe bewahren. Abby, sie versuchte mit aller Kraft, sich zu beherrschen und ihr Blut unter Kontrolle zu halten. Aber diese Verbitterung in ihrem Blick. Lag das wirklich nur an der Wahrheit hinter Anyas Absichten? Oder gab es da noch etwas anderes?

Bevor er jedoch eine Karte ausspielte, betätigte er ein Knopf unterhalb seiner Duel Disk. Das Sicherheitssystem war nach wie vor deaktiviert, weswegen er es zunächst einschalten musste. Schließlich wollte er Abby nicht verletzten.

Das getan, rief er schließlich: „Den Auftakt macht [Wind-Up Knight]!“

Vor Nick erschien ein weißer Spielzeugritter, kaum mehr als einen Meter groß und hielt schützend Schild und Schwert bereit. Aus seinem Rücken ragte ein Aufziehschlüssel.

Nick schob eine Karte in die Backrow seiner Duel Disk. „Diese hier verdeckt. Du bist dran.“

Die Karte materialisierte sich in liegender Position vor ihm.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Oh Nick, was denkst du dir bloß?“, jammerte Abby und zog. „So etwas zu sagen … Anya ist unsere Freundin!“

„Aber selbst Freunde muss man irgendwann loslassen können.“

„Ach ja!? Dafür, dass du sie angeblich liebst, kannst du ja ziemlich leicht loslassen!“ Abby biss sich auf die Lippe, ihr Haar verfärbte sich an einigen Stellen weiß. „Wer Freunde wie dich hat, braucht keine Feinde mehr!“

Aufgeregt griff sie nach einem Monster in ihrer Hand. „Los, [Naturia Pumpkin]! Und wenn der beschworen wird, ruft er, solltest du ein Monster kontrollieren, ein weiteres Naturia-Monster von meinem Blatt! [Naturia Tulip]!“

Gleich zwei Monster auf einmal tauchten vor Abby auf. Das erste war ein grüner Kürbis mit Gesicht, der auf zwei Beinen lief. Daneben wuchs eine kleine, rote Tulpe, deren Kopf größer war als ihr ganzer Körper. Ihre blauen Augen strahlten regelrecht vor Freude, von Abby eingesetzt zu werden.
 

Naturia Pumpkin [ATK/1400 DEF/800 (4)]

Naturia Tulip [ATK/600 DEF/1500 (2)]

 

Abby streckte den Arm weit aus. Ihre Monster stiegen in die Luft auf, die Tulpe zersprang in zwei grüne Ringe. „Ich stimme meine Stufe 2-[Naturia Tulip] auf den Stufe 4-[Naturia Pumpkin] ein! Oh great god of the east! Scare my enemies with your mighty presence! Synchro Summon! Descent down, [Naturia Barkion]!“

Ein greller Lichtblitz schoss durch die zwei Ringe, aus dem daraufhin ein gewaltiger, schlangenhafter Drache flog. Sein grauer Leib war bedeckt von Rinde, die als Schuppenschicht zum Schutze des Drachen diente. Sich vor Abby ausbreitend, brüllte er stolz.
 

Naturia Barkion [ATK/2500 DEF/1800 (6)]

 

Das war ein guter Schachzug, dachte Nick insgeheim. Mit Barkion konnte sie jede Falle annullieren, solange sie zwei Karten von ihrem Friedhof entfernte. Damit hatte sie seine verdeckte Karte [Overwind] lahm gelegt.

„Los Barkion, greif seinen Ritter an!“, befahl Abby entschlossen und doch klang deutlich ihr verletztes Gemüt daraus hervor.

Der Drache glitt in seinem Flug direkt auf den weißen Ritter zu, der schützend seinen Schild erhob.

„Effekt von [Wind-Up Knight] aktivieren! Nur einmal, solange er offen auf dem Feld liegt, annulliert er einen deiner Angriffe!“

Mit einem Schweifschlag versuchte Barkion, seinen Erzrivalen niederzustrecken, doch scheiterte an dem robusten Rundschild des Kriegers.

Nick lachte zufrieden. „Ritter sind dazu geboren, um Drachen zu bekämpfen.“

„Aber noch lebt mein Drache!“, stellte Abby klar. „Noch einmal gelingt dir das nicht! Ich setze eine Karte verdeckt und beende meinen Zug!“

Vor Abby materialisierte sich mit dem Bild nach unten gerichtet eine grün umrandete Karte.

 

Schon hatte Nick sein Blatt aufgestockt, besaß jetzt fünf Handkarten. Dass sie nicht zwei Fallen gelegt hatte, kam ziemlich ungünstig. Sein Assmonster, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh], konnte pro Zug zwei gesetzte Karten auf dem Spielfeld vernichten. Nur eine mehr und er hätte Abbys Verteidigungsreihe spielend leicht durchbrechen können. Aber vermutlich war auch sie sich dessen bewusst.

„Du bist wirklich nicht schlecht“, meinte Nick anerkennend und nahm eine dauerhafte Zauberkarte aus seinem Blatt hervor, „ehrlich gesagt finde ich es toll, dass wir uns das erste Mal ernsthaft miteinander duellieren können.“

„Ach ja?“ Abby lachte bitter. „Stimmt ja, ich weiß ja jetzt um dein Lügengeflecht. Und auf so etwas bist du ernsthaft stolz!?“

„Es gibt Schlimmeres als das“, erwiderte Nick. Gerade Abby sollte das am besten wissen. „Ich aktiviere [Weights & Zenmaisures]! Danach beschwöre ich [Wind-Up Dog] und aktiviere auch gleich seinen Effekt, um seine Angriffskraft um 600 und seine Stufe um 2 ansteigen zu lassen.“

Hinter Nick baute sich eine riesige Metallwaage auf, deren Schalen durch ein Pendel unterhalb des Gebildes miteinander verbunden waren. Und während sein Ritter auf die linke Waagschale sprang, tauchte auf der rechten ein kleiner, blauer Mechanikhund auf. Der Aufziehschlüssel auf seinem Rücken begann sich zu drehen, sein zunächst unscheinbares Gewicht drückte die Schale des Ritters tatsächlich nach oben.

 

Wind-Up Dog [ATK/1200 → 1800 DEF/900 (3 → 5)]
 

„Und nun wähle“, forderte Nick und breitete beide Arme aus. „[Weights & Zenmaisures] nimmt sich pro Zug zwei Wind-Ups und vergleicht ihre Stufen miteinander. Mein Gegner bestimmt dann eines der beiden Monster, das die Stufe des anderen erhält. Solltest du hierbei einem Monster die niedrige der beiden zu vergleichenden Stufen geben, darf ich als Ausgleich eine Karte ziehen.“

„Aber wenn ich die höhere wähle“, sprach Abby unbekümmert weiter, „ist es für dich leichter, ein starkes Xyz-Monster zu beschwören. Aber davor habe ich keine Angst, tu es ruhig. Dein [Wind-Up Knight] erhält die Stufe 5 des [Wind-Up Dogs].“

Nick schmunzelte. „Wenn du wütend bist, kannst du richtig süß sein.“

„W-was!? Mach dich nicht über mich lustig! Das ist ernst!“ Doch obwohl Abby regelrecht vor Zorn spuckte, stieg ihr trotzdem die Röte ins Gesicht.

Die Waagschalen bewegten sich auf dieselbe Höhe.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4 → 5)]
 

„Aber okay, du wolltest es so“, sprach Nick und streckte den Arm aus. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

Während sich sein Ritter in einen gelben Lichtstrahl verwandelte, nahm der Hund stattdessen die Form eines braunen an. Doch sie beide wurden von dem schwarzen Loch absorbiert, das sich mitten im Spielfeld auftat. „Gib mir die Stärke, meine Feinde zu besiegen! [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Aus dem Galaxienwirbel entstieg ein gewaltiger Roboter. Seine rote Lackierung glänzte im Licht der untergehenden Sonne. Einer seiner Arme war mit einem Bohrer bestückt, wohingegen der andere eine raketenartige Faust war, welcher abgekoppelt vom Körper frei neben seinem Besitzer schwebte. Um den Mech kreisten zwei Lichtsphären.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5}]

 

„Sorry, aber der ist wohl deinem Drachen überlegen“, sprach Nick zuversichtlich und griff sich eine weitere Zauberkarte aus seinem Blatt. „Damit das auch so bleibt, rüste ich Zenmaioh mit [Xyz Gauntlet] aus. Er erhält pro Rang 100 Angriffspunkte und kann einmal pro Zug nicht durch Karteneffekte zerstört werden. Das ist doch, was du planst, oder?“

Abby kniff verärgert die Augen zusammen und warf einen Blick hinab zu ihrer gesetzten Karte. Um die Raketenfaust des Roboters erschien ein goldener Schlagring, von dem gelbe Blitze ausgingen.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 → 3100 DEF/1900 {5}]

 

„Damit wäre das auch erledigt. Los, Zenmaioh, greife [Naturia Barkion] an! Wind-Up Power Punch!“ Nick zeigte seinem Monster mit ausgestrecktem Arm das Ziel.

Dieser schoss umgehend seinen Raketenarm auf den grauen Drachen ab. Woraufhin Abbys verdeckte Karte aufsprang. „Nicht so hastig! Ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden! Der Schnellzauber [Battle Tuned] verbannt einen Empfänger von meinem Friedhof und gibt dessen Angriffspunkte an Barkion weiter!“

Abby zeigte [Naturia Tulip] vor, ehe sie sie in eine Tasche ihres khakifarbenen Kleides steckte.

 

Naturia Barkion [ATK/2500 → 3100 DEF/1800 (6)]

 

„Gleichstark!?“, schoss es aus dem verblüfften Nick heraus.

Abby stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben, als sie zu ihrem Monster sagte: „Verzeih mir, Barkion, dass ich nicht mehr für dich tun kann! Bitte, leite dennoch einen Gegenangriff ein!“

Als würde der Drache sie verstehen, nickte er und nutzte seinen massiven Schweif, um die Raketenfaust mit voller Wucht zurück zu ihrem Besitzer zu schleudern. Doch das führte dazu, dass der Drache verletzt wurde und unter einem Schrei in tausend Teile zersprang, während Nicks Monster in einer Explosion unterging.

„Sieh, was du getan hast!“, beklagte sich Abby bitter.

Nick hingegen schüttelte den Kopf erstaunt. Die schenkte einem echt gar nichts, wenn sie Ernst machte. Und da wollte sie behaupten, er wäre als Feind schlimm?

Nichtsdestotrotz griff er nach seinem Deck. „Wenn [Xyz-Gauntlet] vom Feld auf den Friedhof gelegt wird, ziehe ich eine Karte.“

Was er auch umgehend tat. „Man, du hast mir meine ganze Strategie kaputt gemacht. Aber Zenmaioh wird wiederauferstehen, und zwar hiermit! Der Zauberkarte [Zenmailfunction], die ihn in den Verteidigungsmodus vom Friedhof beschwört! Turn End.“

In kniender Position stieg der rote Roboter vor Nick in die Höhe. Immerhin konnte er jetzt wieder Fallenkarten einsetzen, nun da Barkion fort war, dachte Nick erleichtert.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5}]

 

Vor Wut blähte Abby die Wangen auf und wollte nach einem Stein im Sand treten, doch machte sich letztlich nur die Schuhe damit schmutzig, ohne den Stein getroffen zu haben.

„Solche Gesten passen nicht zu dir“, kommentierte Nick das Bild belustigt.

Das dachte anscheinend auch Abby, die rot anlief und beschämt ihr Gesicht in ihre Hände vergrub. Innerhalb eines Herzschlags war auch ihre Haarfarbe zumindest wieder braun. „Wie peinlich! Guck weg!“

„Und ich dachte, ich befände mich hier in einem Todeskampf …“

Sofort schnappte Abby nach Luft. „D-das tust du auch, d-du Verräter unserer Sandkastenfreundschaft, du, du, du Depp du! Mein Zug, Draw!“

 

~-~-~

 

„Warum haben die jetzt eigentlich eine feste Form?“, fragte Anya verwirrt und betrachtete die rote Scherbe in ihrer Hand. Sie leuchtete regelrecht von Innen. Genau wie die anderen, die Anya mit der Energie aus Matts und Alastairs Elysion aufgeladen hatte.

 

Höchstwahrscheinlich weil ich ihr eine Form gegeben habe. Ein Elysion liegt zwischen der Grenze des Materiellen und Immateriellen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie unter Einfluss meiner Kräfte eine feste Form annimmt.

 

Das Mädchen drehte das Stück Mosaik neugierig in ihren Händen und schaute nebenbei immer wieder um sich. Dieser Teil des Livington Parks war immer noch Sperrgebiet, all die Brandspuren wucherten nach wie vor wie eine schreckliche Krankheit auf dem grünen Gelände. Zwar war niemand hier, aber Anya fühlte sich dennoch unwohl.

Aber vielleicht lag das weniger daran, dass sie in diesem Moment etwas Verbotenes tat, sondern eher daran, was sie noch gedachte zu tun. Den Gedanken daran musste sie verdrängen, sagte sie sich streng. Keiner von diesen Fünf war ihr Freund! Wen interessierte es schon, ob es zwei Dämonenjäger, zwei reiche Schnösel und einen Footballspieler weniger auf der Welt gab? Sie definitiv nicht!

„Levrier … kannst du nicht etwas gegen das Glockengeläute machten? Das nervt langsam!“, versuchte sie sich abzulenken.

Denn seit sie damit begonnen hatte, die Scherben aufzuladen, hörte sie immer in der Nähe eines Ortes, an dem ein Pakt geschlossen wurde, ein Läuten aus der Ferne. Was besonders nervig war, da es dank Matt ununterbrochen vor ihrer Gartentür rumorte und sie dadurch Probleme beim Einschlafen hatte.
 

Das sind die Glocken des Turms von Neo Babylon. Der Zeitpunkt von Edens Erwachen rückt näher. Nun, da du sie selbst aus der immateriellen Welt hören kannst, bedeutet dies, dass wir unserem Ziel immer näher kommen. Zumindest vermute ich das, da dein Vorgänger sie nicht vernommen hatte. Demnach sprach der Sammlerdämon tatsächlich die Wahrheit.

 

„Hurra“, brummte Anya. „Mach einfach, dass es auf-!“

 

Anya Bauer, irgendetwas ist merkwürdig. Ich spüre Abbys Sirenenkräfte. Sie sind zwar nicht vollkommen erwacht, aber ich frage mich, warum sie sie benutzt.

 

Sofort schreckte das Mädchen auf. „Was sagst du da!? Abby benutzt ihre Kräfte?“

Konnte sie etwa in einen Kampf verwickelt sein? Doch nicht etwa mit-!?

„Isfanel!“, schoss es aus Anya heraus.

Das durfte nicht wahr sein! Was könnte der ausgerechnet von Abby wollen? Sicherlich keine Tipps in Sachen Haarpflege!

„Wo ist sie jetzt!?“

 

Westlich von hier. Aber ich spüre keinen Dämonen in ihrer Nähe.

 

„Vielleicht unterdrückt er seine Kräfte! Und seit wann bist du verlässlich!?“

Anya begann zu rennen. Hoffentlich würde sie Abby rechtzeitig finden, ehe ihr etwas geschah. Sie würde Isfanel bis ans Ende der Welt verfolgen, wenn der Abby auch nur ein Haar krümmte!

 

~-~-~

 

Mit trauriger Miene sah Abby zu den Schaukeln herüber.

Einmal hatten sie und Anya hier um die Wette geschaukelt mit dem Ergebnis, dass sie beide gleichzeitig von der Sitzpritsche in den Sand gefallen waren. Dabei hatte sie selbst bitterlich geweint, doch Anya hatte trotz blutendem Knie Nick, der darüber gelacht hatte, verprügelt, um sie aufzuheitern.

Auch wenn sie Gewalt hasste war es dieses Mal an ihr, Nick zu verprügeln.

 

Sie studierte die Spielsituation. Ihr Feld war leer und sie am Zug mit vier Karten in der Hand. Nick kontrollierte seinen Zenmaioh im Verteidigungsmodus, besaß eine verdeckte Karte, seinen Zauber [Weights & Zenmaisures] sowie zwei weitere Handkarten.

Aber sie wusste schon, wie sie Nick aus der Reserve locken konnte. Sie nahm ein Monster und legte es auf ihre Duel Disk. „Ich beschwöre [Naturia Marron]! Wenn sie gerufen wird, schickt sie ein Naturia-Monster von meinem Deck auf den Friedhof!“

Abby suchte aus ihrem Deck [Naturia Beetle] und legte ihn in den Friedhof. Gleichzeitig tauchte vor ihr eine kleine, stachelige Kastanie mit Augen auf.

„Wie süß“, kommentierte Nick das, ohne dabei Preis zu geben, ob es nur Sarkasmus oder ernst gemeint war.

 

Naturia Marron [ATK/1200 DEF/700 (3)]

 

„Indem ich einmal pro Zug zwei Naturia-Monster vom Friedhof ins Deck mische, ziehe ich eine Karte“, erklärte sie den Rest des Effekts ihres Monsters, legte [Naturia Beetle] und [Naturia Pumpkin] auf ihr Deck und ließ jenes automatisch von der Duel Disk mischen. Dann zog sie hastig.

Als Nächstes zückte sie eine Zauberkarte. „Und jetzt [Leodrake's Mane]! Zwar annulliert sie für diesen Zug den Effekt meiner Marron, lässt ihre Angriffskraft dafür aber zu 3000 werden!“

Nick zog erstaunt eine Augenbraue hoch, als der kleinen Kastanie lauter rote Blätter wuchsen, die sich wie eine Mähne um sie legten.

 

Naturia Marron [ATK/1200 → 3000 DEF/700 (3)]

 

„Ich setze noch eine Karte verdeckt“, verlautete Abby und ließ ebenjene vor ihren Füßen erscheinen, „und greife danach deinen Zenmaioh an! Selbst ein kleines, süßes Monster wie Marron sollte nicht unterschätzt werden!“

Mit einem quitschiegen Kampfschrei flog die Kastanie auf den vergleichsweise gigantischen Roboter zu.

Nicks Finger schwebte über der Taste zur Aktivierung seiner Falle. Doch er zog ihn wieder zurück, denn er wusste, dass er [Overwind] noch später brauchen würde. Zwar konnte er mit der die Verteidigung seines Monsters verdoppeln, aber es würde dafür in der End Phase auf seine Hand, also im Falle eines Xyz-Monsters in sein Extradeck gehen. Verlieren würde er [Wind-Up Arsenal Zenmaioh] demnach so oder so.

Mit voller Wucht rammte [Naturia Marron] den knienden Roboter, welcher daraufhin umkippte und explodierte. Abby verzog die rosafarbenen Augen hinter ihren getönten Brillengläsern. „Beurteile niemanden nach seinem Erscheinungsbild. Etwas, was man sich bei dir besonders zu Herzen nehmen sollte, Nick! Zug beendet!“

Als die Kastanie zu Abby zurückkehrte, fielen ihr die roten Blätter vom Leib.

 

Naturia Marron [ATK/3000 → 1200 DEF/700 (3)]

 

„Ich hätte nie gedacht, dass man den Idioten-Nick mehr mögen würde als mein wahres Ich“, gestand Nick und zog beiläufig.

Abby schnaufte wütend. „Woran wird das wohl liegen? Du bist kaltherzig, Nick! Der andere Nick war zwar dumm, aber er war …“

Sie konnte es offensichtlich nicht in Worte fassen.

„Der alte Nick ist aber eine Lüge“, erwiderte dieser hart.

Während Nick eine Zauberkarte zückte, seufzte er innerlich. Zwar hatte er geahnt, dass Abby das alles nicht gut aufnehmen würde, aber sie jetzt so verletzt zu sehen? Er hätte einfach die Klappe halten und weiterhin auf eigene Faust versuchen sollen, eine Lösung für das Edenproblem zu finden!

„Ich aktiviere den permanenten Zauber [Wind-Up Factory]!“, rief er laut. Hinter ihm baute sich ein langes Fließband auf, das vor seiner gigantischen Waage verlief. „Einmal pro Zug, wenn ein Wind-Up seinen Effekt aktiviert, erhalte ich einen seiner Kumpel vom Deck aufs Blatt. Und nun beschwöre ich [Wind-Up Soldier]! Und dazu, weil ich ein Wind-Up beschworen habe, kommt gleich noch [Wind-Up Shark] als Spezialbeschwörung!“

Seine letzten beiden Handkarten auf die Duel Disk legend, tauchten vor ihm ein grüner Spielzeugroboter mit magnetförmigem Kopf und ein blauer Spielzeughai auf – aus beiden ragte ein Aufziehschlüssel.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

Wind-Up Shark [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

 

Nick streckte den Arm aus. „Und nun aktiviere ich Soldiers Effekt, wodurch seine Stufe und Angriffskraft für einen Zug ansteigt. Zumal Sharks Beschwörungseffekt meine [Wind-Up Factory] in Gang gesetzt hat, wodurch ich mir [Wind-Up Rat] ins Blatt nehmen kann.“

Aus Nicks Duel Disk schoss eine einzelne Karte heraus, die dieser mit den Fingern hinauszog. Gleichzeitig bewegte sich hinter ihm das Fließband, auf dem ein Paket erschien, aus dem eine blaue Spielzeugratte sprang und im Nichts verschwand. Ebenfalls analog dazu begann der Aufziehschlüssel des Soldaten in dessen Rücken sich rapide zu drehen.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]

 

„Und jetzt, [Wind-Up Soldier], Angriff auf [Naturia Marron]!“, befahl Nick. Das sollte reichen, dachte er zufrieden mit Blick auf seine gesetzte Karte. Dann betätigte er den Knopf an seiner Duel Disk, um sie aufspringen zu lassen. „Falle: [Overwind]! Sie verdoppelt die Werte meines Soldaten, aber er muss in der End Phase auf meine Hand zurück!“

„Ah!“, stieß Abby erschrocken hervor, als sich der Aufziehschlüssel am Rücken des ein Meter großen Roboters noch wilder zu drehen begann. „Das wären ganze 4400 Angriffspunkte!“

„So ist es.“

„Nein, ist es nicht!“, widersprach Abby und ließ nun ihre gesetzte Karte aufspringen. „Los, [Exterio's Fang]! Wenn ich ein Naturia-Monster kontrolliere, kann ich damit eine Zauber- oder Fallenaktivierung annullieren. Danach werfe ich eine Karte ab!“

Aus Abbys Konterfalle schoss ein weißer Fangzahn, der Nicks [Overwind]-Karte aufspießte. Sofort verharrte der Aufziehschlüssel auf [Wind-Up Soldiers] Rücken daraufhin in Bewegungslosigkeit, als dieser mit seiner Zangenhand die Kastanie zerquetschte.

 

[Abby: 4000LP → 3000LP / Nick: 4000LP]

 

„Man“, murmelte Nick und kratzte sich nachdenklich am Kopf, „ich hätte nie gedacht, dass ich so lange brauchen würde, um dir Schaden zuzufügen. Du bist wirklich gut!“

Abby, die sich einer ihrer beiden Handkarten entledigte, schüttelte nur mit bitterer Miene den Kopf. „Du nimmst das hier gar nicht ernst! Dir ist es offensichtlich egal, wie andere fühlen!“

„Ich denke nur, dass dieser Kampf sinnlos ist“, erwiderte Nick, „wir beide wissen schließlich, dass du mir nie etwas tun würdest. Egal, ob ich dich enttäuscht habe oder nicht.“

Abby ballte eine Faust und biss sich auf die Lippen. Ihr langes Haar begann durch die Luft zu schweben und verfärbte sich an einigen Stellen wieder weiß. „Sei dir da nicht so sicher, Nick. Ich bin gewissermaßen auch eine gespaltene Persönlichkeit. Die Sirenenabby ist anders, als der Streber, den du in mir siehst.“

Nick atmete tief durch. „Dann werde ich dir keine Angriffsfläche bieten, so einfach ist das. Los, [Wind-Up Shark], direkter Angriff!“

Unter lautem Gekrächze flog sein Spielzeughai auf Abby zu und biss ihr in die Schulter, doch sie schüttelte ihnen spielend leicht von sich ab.

 

[Abby: 3000LP → 1500LP / Nick: 4000LP]

 

Sie ist wirklich hart, musste Nick insgeheim anerkennen. Obwohl er sie nach und nach in die Enge trieb, blieb sie standhaft. Ihr war wirklich etwas daran gelegen, Anyas Namen zu verteidigen. Aber sie verdrängte damit nur die Wahrheit. Es war besser, diese jetzt zu akzeptieren, als später, wenn Anya ihr Vertrauen mit Verrat bestrafte. Aber dann war sie fort und Abby würde ewig mit gebrochenem Herzen zurückbleiben, ohne sich je mit Anya aussprechen zu können.

Nein, was er tat, war schon richtig.

„Ich benutze nun den Effekt von [Weights & Zenmaisures]!“ Seine beiden Monster sprangen je auf eine Waagschale hinter ihm, wobei der Soldat den Hai mit seinem Gewicht nach oben hievte. „Du wählst eine der beiden Stufen meines Monsters aus, die dann beide erhalten. Nimmst du die niedrigere, darf ich eine Karte ziehen. Wähle die höhere, und ich kann problemlos ein weiteres Rang 5-Monster beschwören.“

Die Frage war nur, woher er dieses nehmen sollte. Zenmaioh war sein einziges gewesen und der lag nun auf dem Friedhof. Zumal er mit Sharks Effekt dessen Stufe ohnehin auf 5 hätte erhöhen können. Nein, er -wollte-, dass Abby dieses Mal die niedrigere Stufe wählte.

Man sah ihr an, dass sie sich bei der Entscheidung schwer tat. Besonders weil sie keine Ahnung hatte, was Nick noch in petto haben könnte. Sie wusste praktisch nichts über seine Art zu duellieren. Das Mädchen schluckte, ehe sie mit fester Stimme verlauten ließ: „Stufe 4.“

Schon glichen sich die Waagschalen wieder aneinander an.

 

Wind-Up Soldier [ATK/2200 DEF/1200 (5 → 4)]

 

„Das kleinere Übel, hmm?“, fragte Nick und zog eine Karte. „Ob das so klug war?“

„Du machst mir keine Angst! Wenn jemand Angst haben müsste, dann du vor mir!“, fauchte Abby aufgebracht. Weitere Teile ihres langen Haares verfärbten sich und auch ihre Stimme gewann einen tiefen, melodischen und zugleich doch rauchigen Klang. „Du weißt, was ich bin …“

„Eine überreagierende Mutter Teresa“, erwiderte Nick lachend, „vor dir kann man keine Angst haben, selbst wenn du es wirklich ernst meinen würdest.“

Abby lief abermals rot an, biss sich mit fast heraus ploppenden Augen auf die Lippen. Mit in seine Richtung erhobener Faust rief sie wieder in ihrer alten Stimme: „Ich-mein-es-ernst!“

Nick putzte sich aber nur mit dem kleinen Finger das Ohr. „Erzähl das jemandem, der dich nicht schon sein ganzes Leben lang kennt … Ich erschaffe das Overlay Network.“

Zunächst wollte Abby widersprechen, doch verstummte, als sich ein schwarzes Loch mitten im Spielfeld auftat. Nicks Monster wurden in blauen und braunen Lichtstrahlen dort hineingezogen und durch einen großen, grünen Kampfroboter ersetzt.

„Los, [Wind-Up Zenmaister].“ Nick klang dabei derart gelangweilt, dass Abby vor lauter Wut begann, merkwürdige Schimpfgeräusche von sich zu geben.
 

Wind-Up Zenmaister [ATK/1900 → 2500 DEF/1500 {4}]

 

Als die zwei um Zenmaister kreisenden Lichtsphären begannen, ihn durch Stromstöße mit Energie zu versorgen, erklärte Nick: „Zenmaister bekommt pro Xyz-Material an ihm 300 Angriffspunkte. Zug beendet.“

 

„Dir werde ich eine Lektion in Sachen wahrer Freundschaft erteilen“, verlautete Abby mit aufgeblasenen Wangen, „und darin, mich zu unterschätzen! Draw!“

Vor sich dahin murmelnd, huschte der Anflug eines Lächelns über Nicks Gesicht. „Na bitte, immerhin beruhigst du dich schon ein wenig.“

Ihre gezogene Zauberkarte in die Luft haltend, rief Abby: „Komm zurück, [Wind-Up Soldier]! [Monster Reborn]!“

Vor ihr tauchte daraufhin Nicks kleinerer, grüner Spielzeugroboter mit dem Magnetkopf auf. Der Aufziehschlüssel an seinem Rücken begann sich zu drehen.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]

 

„Ich aktiviere seinen Effekt!“

Nick erwiderte unbekümmert. „Und damit auch den meiner [Wind-Up Factory].“

Hinter ihm setzte sich das Laufband wieder in Bewegung. Er griff nach seinem Deck und zeigte sein Monster vor. „Ich füge meiner Hand [Wind-Up Hunter] hinzu.“

„Ach ja?“ Abby schnaufte aufgebracht. „Und -ich- aktiviere [Glow-Up Bulbs] Effekt von meinem Friedhof! Ich lege die oberste Karte von meinem Deck ab und kann sie nur einmal während des Duells wiederbeleben!“

Die halbverwandelte Sirene nahm von ihrem Deck [Naturia Hydrangea], schickte sie auf den Friedhof und ließ stattdessen eine Blumenzwiebel mit Auge auf dem Spielfeld erscheinen.

 

Glow-Up Bulb [ATK/100 DEF/100 (1)]

 

„Bevor du mir irgendetwas unterstellst: ich habe die Karte vorhin bei der Aktivierung von [Exterio's Fang] abgeworfen!“, stellte Abby wütend klar. „Und jetzt rufe ich noch als Normalbeschwörung [Naturia Beans]!“

 

Naturia Beans [ATK/100 DEF/1200 (2)]

 

Und während vor ihr eine kleine Hülse mit drei Bohnen darin erschien, welche allesamt Augen besaßen, kratzte sich Nick überrascht an den Kopf. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie empfindlich Abby sein konnte. „Nimmst du mir irgendetwas übel?“

„Ja! Dass du Anya nicht vertraust! Und schlimmer noch, dass es dir vollkommen egal ist, was mit ihr passiert!“

Stöhnend faste sich der große, junge Mann an die Stirn. „Prima, Nick. Nun sind wir wieder ganz am Anfang gelandet …“

Hätte er doch nur seinen Mund gehalten. Trotzdem entgegnete er ihr: „Dann hast du aber nicht gut zugehört. Es ist mir nicht egal-“

„Ich will das gar nicht hören!“, klagte Abby nun wieder mit Tränen in den Augen. „Wegen dir geht unsere Freundschaft kaputt! Wegen dir weiß ich nicht mehr, was richtig noch falsch ist!“

„A-“

Abby stampfte schluchzend auf. „Genug davon!“

Sie wischte sich das Nass aus den pinken Augen und streckte den Arm in die Höhe. „Ich stimme meine Stufe 1-[Glow-Up Bulb] auf meine Stufe 2-[Naturia Beans] und deinen Stufe 5-[Wind-Up Soldier] ein! Da sie alle vom Element Erde sind, kann ich das tun! Oh great god of the south, protect the weak under your mighty wings! Synchro Summon! Arise, [Naturia Vermilion]!“

Ihre Blumenzwiebel zersprang in einen grünen Ring, den die anderen beiden Monster passierten. Jene beiden verformten sich zusammen zu einem gewaltigen roten Vogel, der in die Lüfte stieg und um das Spielfeld zu kreisen begann. Von feuerroter Farbe, war sein Federkleid aus etlichen Laubblättern gemacht, während sein langer Schweif aus ineinander verflochtenen Ranken bestand. Majestätisch bezog er über Abby Stellung und wirbelte mit seinem Flügelschlag den Sand des Spielplatzes unter ihnen auf.

 

Naturia Vermilion [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Zhū Què, der rote Vogel des Südens aus der chinesischen Mythologie. Den setzt du äußerst selten ein“, merkte Nick beim Anblick des eindrucksvollen Wesens erstaunt an. „Warum eigentlich?“

„Weil er-“ Doch Abby brach ab. Auch ihr Blick lag auf dem Vogel, doch in ihm spiegelte sich tatsächlich Abneigung und kein Stolz wieder. Und das hatte nichts mit seiner Person zu tun, erkannte Nick. Allerdings wollte er sie nicht schon wieder aufregen, indem er weiter nachbohrte.

Abby ließ von dem Vogel ab und sah Nick an. Hin und her gerissen von ihrer Wut auf ihn und der Angst um die Freundschaft zwischen ihm, ihr und Anya.

„Du interessierst dich für chinesische Mythologie?“, fragte sie tonlos.

„Ein bisschen.“

„Dann“, ihre Stimme veränderte sich so schnell, dass selbst Nick erschrocken zusammenzuckte, „nimm eine Kostprobe! Zerstöre [Wind-Up Zenmaister]!“

Den Arm ausgestreckt, zeigte Abby mit wütender Fratze auf den Roboter.

Der karmesinrote Vogel über ihr setzte zum Sturzflug an und fegte über das Feld wie ein Düsenjet. Dabei griff er mit den Klauenfüßen seinen Feind, riss ihn mit sich und schleuderte ihn noch im Flug in Nicks Richtung. Jener erkannte die Gefahr, in der er schwebte und machte einen Hechtsprung zur Seite, sodass das Wurfgeschoss sein Ziel verfehlte und stattdessen in eine der Rutschen hinter Nick krachte, die unter lautem Getöse umkippte. Daraufhin zersprang Zenmaister in tausend Stücke.

 

[Abby: 1500LP / Nick: 4000LP → 3800LP]

 

„Zug beendet“, hauchte Abby ihm verführerisch zu.

Erschrocken musste Nick feststellen, dass ihr Haar nun gänzlich weiß geworden war. Sofort wandte er den Blick ab, aus Angst, ihrer betörenden Ausstrahlung zu verfallen. Sie hatte tatsächlich die Kontrolle über ihre Kräfte verloren!

Zögerlich erhob sich Nick, bewusst zu den Schaukeln herüber starrend. „Verwandle dich bitte zurück, bevor dich noch jemand so sieht!“

„Und wenn schon, sie würden alles tun, was ich sage.“

„Abby, das bist nicht du!“, polterte Nick. „Das ist die Sirene in dir!“

Das Mädchen lachte amüsiert. „Aber die ist genauso ein Teil von mir. Sie ist ich. Ich bin ich, immer schon.“

„Nein, das stimmt nicht!“

Das war alles seine Schuld, dachte Nick dabei wütend auf sich selbst. Er hatte sie so durcheinander gebracht, dass sie früher oder später die Kontrolle verlieren musste! Von Anfang an hätte er das alles ernst nehmen müssen und nun!?

Mit leiser Stimme sagte er: „Ich bitte dich, Abby. Verwandle dich zurück und lass uns reden.“

„Hast du Angst bekommen? Dann lass dir gesagt sein, dass alles Reden nichts bringt, wenn sich dadurch nichts verändert. Deine Meinung wird sich nicht ändern, nicht über Eden und nicht über Anya.“

Am liebsten wollte Nick ihr in die Augen sehen, doch es war zu gefährlich. Eindringlich erwiderte er: „Nein, daran ändert sich nichts, das ist richtig! Um mich geht es doch auch gar nicht, sondern um dich!“

„Ich bin unwichtig“, erwiderte Abby kühl und sah nun ebenfalls zur Seite.

„Bist du nicht!“

Die Sirene lachte auf. „Ach wirklich? Dann beweise es.“

 

Sie war ganz anders, dachte Nick verzweifelt. Das da war nicht Abby, es waren lediglich ihre Zweifel an sich selbst, der Welt und ihren Bewohnern. So war Abby aber nicht! Jemandem wie ihr durfte der Glaube an das Gute im Menschen nicht genommen werden. … aber er hatte genau das versucht und irgendwie war ihm das letztlich gelungen. Das hier war seine Schuld.

„Das tue ich“, versprach er, „und zwar, indem ich mich dir stelle und nicht davon laufe! Ich habe genau wie du Dinge, an die ich glaube! Mein Zug, Draw!“

Energisch riss er von seinem Deck eine Karte, womit er ganze vier Stück besaß. Abbys Hand war leer, wenn er richtig gezählt hatte. Doch er wagte es nicht, zu ihr herüber zu sehen, um es nachzuprüfen.

Behände legte er eine seiner Karten auf die Duel Disk. „Los, [Wind-Up Rat]! Effekt: nur einmal kann sie in die Verteidigungsposition wechseln, um ein Monster aus meinem Friedhof in selbiger Position zu reanimieren! Komm, [Wind-Up Dog]!“

Vor ihm tauchten eine blaue Spielzeugratte auf, deren Beine durch zwei Räder ersetzt worden waren und ein gleichfarbiger Spielzeughund auf. Auf dem Rücken der Ratte drehte sich der Aufziehschlüssel wild, bis sie auf ihren Rädern nach vorn kippte und regungslos verharrte.

 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

Wind-Up Dog [ATK/1200 DEF/900 (3)]

 

Das Laufband hinter Nick setzte sich mit einem Paket darauf in Bewegung. Zwischen seinen Fingern zeigte er ein weiteres Wind-Up-Monster vor, dabei weiterhin den Blick von Abby abgewendet. „Da ich wieder den Effekt eines meiner Monster verwendet habe, erhalte ich [Wind-Up Juggler].“

Diesen fügte er seinem Blatt hinzu, ehe er seine Hand in die Höhe riss.

„Und jetzt erschaffe ich das Overlay Network!“ Ein schwarzer Wirbel tauchte mitten im Spielfeld auf. Nicks Monster wurden als braune Lichtstrahlen in ihn hineingezogen, wobei dieser gleichzeitig rief: „Aus meinen zwei Stufe 3-Monstern wird jetzt ein Rang 3-Monster! Xyz-Summon! Los, [Wind-Up Carrier Zenmaity]!“

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3}]

 

Aus dem Loch tauchte ein gewaltiger Schiffsträger auf, welcher durch zwei separate Startrampen in der Mitte geteilt war. Um ihn kreisten zwei Lichtsphären – doch ihr Strahlen verflog umgehend.

Der Schrei von Abbys Vogelmonster nahm ihnen das Licht.

„Anscheinend weißt du nicht genug über [Naturia Vermilion]“, stellte Abby amüsiert und gleichwohl ungewohnt hochnäsig fest, „sonst hättest du dich nicht zu so einer Dummheit hinreißen lassen! [Naturia Vermilion] kann sich als Opfer anbieten, um eine Spezialbeschwörung zu annullieren!“

Erschrocken sah Nick in die Höhe, überschattet von der gewaltigen Gestalt des Wesens. Die Ranken von deren Schweif schossen nach unten und umwickelten so den Schiffsträger. Mit ungeahnter Kraft hob [Naturia Vermilion] ihn an und flog mit ihm von dannen.

Nick war fassungslos. „Du hast diesen Effekt noch nie benutzt! Zumindest nicht, dass ich mich erinnern könnte!“

„Diese Karte ist eine Schande“, entgegnete ihm Abby bitter, „ein Fleck auf meiner Seele! Und mehr als wegwerfen kann man sie nicht, genau wie mich!“

Der junge, hochgewachsene Mann verstand seinerseits die Welt nicht mehr. Diese Karte war doch-

„Nun verfügen wir beide über kein Monster mehr. Aber wie ich dich kenne, wird das allein dich nicht einschüchtern, oder, Nick?“

Wie sie seinen Namen aussprach, voller Verachtung!

Er schüttelte den Kopf. „Nicht halb so sehr wie eine aufgewühlte Sirene. Du weißt, dass ich dich nicht verletzten wollte mit dem, was ich gesagt habe! Aber daran halte ich fest: die Wahrheit ist nicht immer angenehm! Würde ich meine Worte zurücknehmen, müsste ich lügen und das wäre falsch.“

„Ein gutes Argument. Dagegen kann ich nichts einwenden.“ Abby seufzte schwer, sagte dann aber nichts weiter.

„Ich setze eine verdeckte Karte! Zug beendet!“

Vor ihrem Gegner tauchte die gesetzte Falle auf – aber das war nicht alles. Unter schrillem Gekreische tauchte der rote Vogel wieder aus dem Nichts auf – jedoch ohne seine Beute – und kreiste wieder um das Spielfeld.
 

Naturia Vermilion [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Abby kicherte amüsiert in ihrer rauchigen Stimme. „Ich hatte vergessen, es zu erwähnen: Vermilion kehrt am Ende des Zuges auf mein Spielfeld zurück, wenn ich seinen Effekt genutzt habe!“

„Dann ist er kein Wegwerfartikel“, widersprach Nick auf Abbys vorherige Aussage, „genau wie du! Ihr beide kommt immer wieder! Und ihr seid stark! Hör auf, dich runter zu machen!“

„Und das von jemandem, der auf meinen Gefühlen herum trampelt?“ Abby gab einen verächtlichen Zischlaut von sich und griff nach ihrem Deck. „Das ich nicht lache! Draw!“

Kaum hatte sie die Karte gezogen, knallte sie sie schon auf ihre Duel Disk. „Kämpfe für mich, [Naturia Mantis]!“

Mit einem Satz landete vor ihr eine grüne Gottesanbeterin, nicht größer als ein Grashalm. Dabei bestanden die Klingen an ihren Vorderarmen aus je einem Blatt.

 

Naturia Mantis [ATK/1700 DEF/1500 (4)]

 

Aus den Augenwinkeln riskierte Nick einen Blick und stöhnte beim Anblick des kleinen Monsters im Sand. Abby wollte es beenden!

Als wäre das das Stichwort, streckte die den Arm bis zum Anschlag aus.

„Los meine Monster, die ihr mir als Einzige treu geblieben seid! Tut …“, sie stockte plötzlich und schloss die Augen, „tut einfach eure Pflicht …“

Unter schrillem Gekreische ging der Vogel in den Sturzflug über, mit Nick als offensichtliches Ziel. Doch der schwang tapfer den Arm aus. „So leicht mache ich es dir nicht! [Xyz Reborn]!“

Seine Fallenkarte klappte auf. „Damit reanimiere ich ein Xyz-Monster von meinem Friedhof und verwende diese Karte dann als Xyz Material! Komm zurück, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

„Hast du schon vergessen, dass [Naturia Vermilion] Spezialbeschwörungen unterbinden kann?“, erwiderte Abby ebenso aufgeregt. „Das funktioniert bei allen Karten, die das können, nicht nur bei simplen Spezialbeschwörungen vom Extradeck oder der Hand!“

Mit einem entsetzten Schrei wich Nick zurück, als sich der Rankenschweif von Abbys Monster durch seine Falle bohrte und sie zerspringen ließ. Dafür löste sich der Vogel aber auch anschließend auf.

„Viel gebracht hat es mir nicht, aber zumindest ist mein Überleben gesichert“, meinte Nick und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dass er jemals in eine derart verzweifelte Lage gerät, hätte er nie gedacht. Dagegen war Isfanel ein Waisenknabe! Ein Jammer, dass Abby nicht realisierte, wie stark sie doch war.

„Deswegen bekommst du dennoch den direkten Angriff von [Naturia Mantis] ab“, widersprach ihm diese engstirnig.

Die kleine, grüne Gottesanbeterin sprang mit einem weiteren Satz auf Nick zu – und wuchs! Auch ihre Klingen waren plötzlich keine Blätter mehr, sondern geriffelte, scharfe Werkzeuge. Die erbarmungslos zuschlugen.

„Garghhh!“, hallte es über den Spielplatz.

 

[Abby: 1500LP / Nick: 3800LP → 2100LP]

 

Die Mantis sprang zurück zu Abby. Von ihrer Sichel tropfte Blut in den Sand, wie ein undichter Wasserhahn, bis sie schließlich schrumpfte und sich harmlos, gar verwirrt umsah.

Die fast vollständig transformierte Sirene blickte unbarmherzig auf Nick herab, wie er vor ihr in die Knie ging. „Tut es weh?“

„Mir geht’s gut“, antwortete Nick und sah mit schweißnasser Stirn zu ihr auf. Er hielt sich seinen rechten Arm, mit dem er den Angriff abgewehrt hatte. Seine beigefarbene Jacke war bis zum Ellbogen aufgerissen, ein Rinnsal von Blut lief bis zu seinem Handgelenk hinab, besudelte seine Jeans. Nun hatte sie es getan, sich tatsächlich dazu hinreißen lassen, einen Freund körperlich zu verletzen …

„Mir nicht“, erwiderte Abby kühl. „Wegen dir. Zug beendet. Und damit kehrt [Naturia Vermilion] auf mein Feld zurück.“

 

Naturia Vermilion [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Kaum hatte sie das gesagt, kreiste wieder der bedrohliche Schatten des zinnoberroten Vogels um das Spielfeld.

„Draw“, verkündete Nick gequält und zog mit seiner blutigen Hand eine Karte. Als er sie betrachtete, weitete er die Augen. „Das ist-!“

Damit konnte er das Spiel …

 

Aber was würde er damit erreichen, fragte er sich plötzlich? Er hatte diesem Duell mit dem Vorhaben zugestimmt, Abby zu beruhigen. Doch alles, was er getan hatte, war die Lage zu verschlimmern. Wenn er damit weitermachte, würde er das Duell gewinnen, aber nicht Abbys Seelenfrieden.

Und außerdem … war sie die bessere Duellantin. Es schmerzte ihm zwar, das zuzugeben, aber nur aufgrund einer glücklichen Fügung könnte er jetzt das Blatt wenden. Das gehörte zwar zum Spiel, aber war für ihn doch inakzeptabel. Abby war so gut, dass er nicht einmal vorausplanen konnte, anders als beim Kampf gegen Isfanel – und dessen Deck hatte er nicht gekannt.

Wie konnte der Bessere ein Duell gewinnen, wenn er gar nicht der Bessere war!?

Verbittert biss Nick sich auf die Lippen. Es gab keinen Zweifel, dass sein Duellstil dem von Abby unterlegen war – ja gar dem von Anya in gewisser Hinsicht. Das war auch der Grund, warum er gestern gegen Drazen verloren hatte. Was ihm fehlte, war etwas im Duell zu fühlen. Nur gewinnen zu wollen reichte nicht. Vielleicht, wenn er sich mehr auf Nina eingelassen hätte, dann …

Er war ein Holzkopf.

 

Und wie konnte er Abby jetzt noch von der Stimme erzählen, die ihn einst verführen wollte, einen Pakt einzugehen?

Sie war einfach da gewesen, als er im Unterricht eingeschlafen war. Krank hatte sie ihn und einige andere Schüler gemacht. Hatte ihn eine Zeitlang regelrecht verfolgt, bis zu jenem Tag in Victim's Sanctuary, als sie ihn vor den besessenen Patienten gewarnt hatte.

„Dies ist deine letzte Chance. Forme einen Pakt mit mir. Wenn du es nicht tust, werden du und deine Freunde diese Anstalt nicht lebend verlassen.“ Das hatte sie gesagt.

Aber er? Lachte und schlug das Angebot aus. Wenn Anya und Abby damals geahnt hätten, aus welchem Grund sie ihm genervte Blicke zugeworfen hatten …

Doch dieses Wesen, es hatte dasselbe Gefühl ausgestrahlt wie die besessene Caroline. Es gab keinen Zweifel für ihn, dieses Ding selbst hatte Anya die Falle gestellt. Was immer seine Absichten waren, für Nick war dieses Ding der Feind, der im Verborgenen die Fäden in der Hand hielt!

Oder was sonst hatten die letzten Worte dieses Dämons zu bedeuten, kurz nachdem Anya während Valeries Duell wieder zu Bewusstsein gekommen war?

Immer wieder rezitierte er diese Worte im Kopf. „Jetzt erkenne ich es. Du bist es also, Isfanel. Oder? Nein, nein, du bist anders. Bist du etwa … ? Endlich!“

Wenn er nur wüsste, wovon dieses Ding gesprochen hat! Levrier? Oder doch etwas anderes? Was immer auch zutreffen mochte, es war ihr Feind, da war Nick sich sicher!

Doch das hatte nichts mit Abby zu tun. Es ihr jetzt zu erzählen, würde sie nur noch mehr aufwühlen und das konnte Nick nicht verantworten.

 

„Danke“, murmelte er schließlich, „durch dieses Duell habe ich ein paar Dinge gelernt. Du hattest recht, Abby. An das, was ich glaube … sollte ich nicht festhalten.“

Erstaunt erwiderte Abby mit ihrer normalen Stimme: „Was sagst du da?“

„Vielleicht sehe ich wirklich Gespenster. Aber … ganz egal, was Anya wirklich vorhat, sie … ich weiß nicht, wie wir verhindern können, dass wir sie verlieren.“ Plötzlich schlug er mit der Faust in den Sand, brüllte: „Ich weiß es einfach nicht!“

„N-Nick …“

„Aber dich damit zu belasten war falsch. Bitte vergib mir“, bat er und kniete auf allen Vieren vor ihr nieder. Doch bat er weniger darum, dass sie ihm seine harschen Worte über Anya und ihre Lage verzieh, sondern viel mehr die Lüge, die er ihr damit auftischte. Denn tatsächlich hatte sich an seiner Meinung nichts geändert. Aber das zu sagen würde die Dinge nur schlimmer machen, und Abby sollte nicht noch mehr leiden.

„Ich gebe auf“, sagte Nick leise und legte seinen blutigen Arm auf das Deck in seiner Duel Disk.

 

[Abby: 1500LP / Nick: 2100LP → 0LP]

 

Die Hologramme von Abbys Monstern verschwanden.

„Und nun mach mit mir, was du willst …“

Vorsichtig sah er auf und erblickte eine Abby, die ihm perplex gegenüberstand und sich nicht rührte. Ihr Haar hatte zwar den üblichen Braunton angenommen, doch sie schien so verwirrt von seinen Worten, dass sie die Sprache verloren hatte.

 

„Wo ist er!? Wo ist der Dreckskerl!?“

Beide schreckten bei dem Gebrüll auf. Die Stimme war unverwechselbar.

Wie ein Tornado fegte Anya über den Spielplatz zu ihnen und hielt direkt hinter Nick an, keuchte erschöpft, gewann aber nur eine Sekunde später wieder die Fassung und ballte ihre Fäuste.

„Wo ist der Bastard, der dich angegriffen hat, Abby!?“, fauchte die Blondine, die vor Erschöpfung ganz rot im Gesicht war.

Die machte nur große Augen und blinzelte mehrmals, ehe sie den Zeigefinger erhob und wortlos auf Nick zeigte. Anya klappte die Kinnlade herunter. Sie sah zu ihm herab und erkannte, dass Nick am Arm blutete.

„... du?“, knurrte sie und zählte eins und eins zusammen.

Wie ein stampfender Stier trat sie von hinten auf ihn zu, Nick wandte sich nicht einmal um. Mit dem Fuß auf der Zauberkarte [Dark Hole] packte sie ihren Freund am Kragen, hievte ihn hoch und drehte ihn zu sich um.

„Bist du jetzt endgültig zum Staatsspinner #1 mutiert?“, fragte sie drohend und packte ihn am Kinn, holte mit der Faust aus. „Jetzt sag bloß, du bist irgendsoein fieser Oberfutzi, der sich als Mastermind hinter allem entpuppt! Ich schwöre dir, wenn-“

„Er hat nur geschauspielert.“ Überrascht sah Anya über Nicks Schulter zu Abby, die betreten ihren Blick mied.

„Huh?“

„Er hat nur so getan, als wäre er besessen. Aber er war so gut, dass ich es ihm abgekauft habe. Und dann hab ich …“, sie brach ab. Tränen standen in ihren Augen.

 

Tick, tick, tick.

 

Und dann explodierte Anya.

„Seid ihr eigentlich völlig plemplem!? Sind eure Gehirnzellen beim letzten Solariumsbesuch mit Redfield weggebrutzelt worden, dass ihr so einen Bullshit abzieht!?“

 

Als Randnote: deine Freunde sehen nicht so aus, als würden sie sich regelmäßig bräunen, Anya Bauer. Schon gar nicht mit Valerie Redfield. Dazu hängen sie zu sehr an ihrem Leben.

 

„Schnauze, Levrier!“

Anya stampfte mit dem Fuß auf. Das konnte doch nicht wahr sein! All die So-so, die So-so-sor-! Diese Dinge, die man sich macht, wenn seine Freunde in Schwierigkeiten stecken und alles für die Katz!

„Ihr Idioten! Seit wann habt ihr von mir die Erlaubnis, euch gegenseitig abzumurksen!? Ich kann gar nicht sagen, was mich mehr aufregt!“ Sofort hatte Nick Anyas Zeigefinger unter der Nase. Sie atmete tief durch, wurde mit einem Mal ganz ruhig. „Nick. auf einer Skala von eins bis zehn, wo eins pure Dummheit und zehn kompletter Wahnsinn ist …“

„... bin ich?“, fragte er belustigt und kratzte sich an der Stirn, neigte den Kopf zur Seite.

„Gar nichts, weil du tot sein wirst, bevor ich überhaupt 'ne beschissene Wertung vornehmen kann, du wandelndes Down-Syndrom!“

Und damit bekam Nick einen Faustschlag verpasst, von dem man hätte meinen können, dass er ihn bis zum Nordpol zu schicken vermochte. Allerdings lag er am Ende doch nur knapp einen Meter von Anya entfernt, die nun auf Abby zu stampfte. Ihre Augen funkelten.

„Und du!“

„Hye!“, kreischte das Hippiemädchen und wich panisch zurück.

„Dass du tatsächlich auf die Schauspielkünste von Nick, von NICK, hereingefallen bist, ihn sogar kopflos angegriffen hast-!“

 

Ich glaube, dein Schlag war viel verheerender, Anya Bauer. Sicher bin ich mir aber nicht.

 

„Dafür gibt es auch für dich eine Bestrafung im Anya-Stil!“, drohte die Blondine und schlug mit der Faust in die flache Hand. „Und ich weiß auch schon genau, wie die aussehen wird …“

 

~-~-~

 

Kaum zehn Minuten später saßen Anya und Nick auf einer Bank unweit des Spielplatzes. Letzterer hielt sich mit weinerlicher Mimik den blutenden Arm.

„Nun komm, Harper, das ist doch nur'n kleiner Kratzer!“, schnaufte die Blondine voller Unverständnis. „Abby hat sich wirklich zurückgehalten! Mit ihrer Kraft hätte sie viel mehr erreichen können.“

„Aber es tut weh“, jammerte Nick.

„Mit deinen Selbstheilungskräften sagt sich das so leicht“, fügte die stehende Abby mit Tränchen in den Augenwinkeln zu. Sofort fing sie sich einen derart bösen Blick von Anya ein, dass sie einen Schritt zurücksprang. „Bitte nicht schon wieder!“

Anya verzog keine Mimik, als sie die flache Hand erhob. „Du bist schuld daran, Masters! Noch so'n Spruch von dir und dein Hintern wird so heiß laufen, dass man damit Wäsche bügeln kann!“

Sofort hielt Abby sich die Pobacken. „Nicht schon wieder!“

„Ich will auch mal dran sein!“, gluckste Nick, sprang auf und war schon im Begriff, sich die Hose herunterzuziehen, als zwei Fußspitzen sich aus beiden Seiten in seine private Zone vertieften.

„Kein Bedarf!“, fauchte Anya den jungen Mann an, der sich seine Weichteile weinend hielt.

„Ich hänge an meiner Sehkraft!“, stimmte Abby zu. „Außerdem habe ich dir immer noch nicht verziehen!“

Erstaunt stellte Anya fest, dass die beiden nur für einen kurzen Moment einen Blick austauschten … den sie unmöglich interpretieren konnte. Aber entgegen Abbys Worten schien er am ehesten versöhnlich.

Doch dann brach der Blickkontakt ab, als Nick vom Schmerz in seiner Lendenregion überwältigt wurde und zusammenbrach.

„Immer ich …“, jammerte er dabei, bevor er das Bewusstsein verlor.

 

„Was hast du eigentlich vorhin zu erledigen gehabt?“, fragte Abby schließlich neugierig.

Anya verschränkte daraufhin die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. „Nichts Besonderes. Ein paar Karten gekauft.“

„Anya, das Einkaufszentrum liegt aber genau in der entgegengesetzten Richtung, aus der du gekommen bist“, merkte Abby trocken an.

„W-wer hat gesagt, dass ich da eingekauft habe!? Der Laden dort ist sowieso scheiße!“

Aber die Blondine wusste genau, dass ihre Freundin ihr nicht glauben würde. Damit es nicht zu weiteren Fragen kam, erhob sie sich hastig und zeigte auf Nick. „Statt mich zu nerven, solltest du mir lieber helfen, den da ins Krankenhaus zu bringen. Ehe er noch verblutet.“

„O-oh ja, das habe ich ganz vergessen!“

Beide nahmen jeweils einen Arm des am Boden liegenden Nicks und schulterten ihn. Dabei warf Abby ihrer Freundin noch einen misstrauischen Blick zu, ehe sie von dannen schlenderten.

 

 

Turn 28 – Family

Während Anya weiterhin damit beschäftigt ist, die verbliebenen Scherben ihres zerbrochenen Elysions aufzuladen, hat Henry nur einen Gedanken: seine Schwester zu finden. Um dieses Ziel zu erreichen, ersucht er die beiden Dämonenjäger um Rat, denen er zuvor in Valeries Villa begegnet war. Doch auch sie können ihm nicht bei der Suche helfen. Allerdings, entgegen Alastairs Willen, führen Matt und Henry als Notlösung ein Ritual zur Dämonenbeschwörung durch. Denn es gibt einen Dämon, der womöglich die Antworten auf Henrys Fragen kennt …

Turn 28 - Family

Turn 28 – Family

 

 

„Ich bin ein nutzloser Bruder, nicht wahr?“

Immer wieder stellte er Abby diese Frage, und egal wie oft sie es verneinte, selber daran glauben konnte er nicht.

„Weiter kann ich dich nicht begleiten“, meinte das brünette Mädchen und deutete auf das Motel auf der anderen Straßenseite am Waldrand. „Laut Anya wohnen sie in Zimmer 7.“

Henry sah seine Begleiterin an. Schon seit gestern, als sie spätnachts aus dem Krankenhaus gekommen war, verhielt sie sich seltsam. Irgendetwas mit ihrem Freund Nick, so hatte sie gesagt, war aber weiteren Fragen ausgewichen.

 

Schon länger hatte er sie auf die Dämonenjäger ansprechen wollen, doch nun begriff der junge Mann, dass er einen schlechten Zeitpunkt gewählt zu haben schien. Aber es war bereits der 7. November, Edens Erwachen stand kurz vor der Tür. Er musste Melinda finden!

Wenn er aber jetzt Abby ansah, wie sie verkrampft und voller Abscheu das Motel anstarrte, fragte er sich, ob es wirklich nur der Unfall ihres Freundes war, der ihr zu schaffen machte.

„Stimmt etwas nicht?“

„M-mir geht’s gut“, wich sie aus, „aber wenn du mich fragst, solltest du dich von diesen Leuten fern halten. Sie sind … abscheuliche Menschen!“

„Sie sind meine letzte Chance“, gestand Henry betrübt, „wo immer sich Isfanel versteckt, auf normalem Wege kann ich ihn nicht finden. Als Dämonenjäger müssen sie einfach eine Möglichkeit kennen, Isfanel aufzuspüren!“

Abby nickte. „Es muss furchtbar sein, seine Schwester in der Hand eines Dämons zu wissen …“

Sie zuckte zusammen, dann sprach sie angespannt weiter: „Aber manche Dämonen wandeln in Menschengestalt unter uns. Ich hoffe, sie können dir weiterhelfen.“

 

Damit verabschiedete sie sich kurz angebunden von Henry und ließ ihn stehen.

Kurz sah er dem Mädchen hinterher, wie es eiligen Schrittes davon rannte. Warum hatte sie ihn überhaupt begleitet? Er hätte den Weg schon alleine gefunden.

Mit dem Blick auf das Motel gerichtet, ging er letztlich über die Straße. Abby wusste, dass sie ihm ihr Herz ausschütten konnte. Wann dieser Zeitpunkt war, musste sie selbst entscheiden.

 

Und wie er über den Sand des Vorhofes des Motels lief, fiel sein Blick auf den Parkplatz links neben dem ebendiesem. Bis auf zwei PKWs und ein VW-Bus standen dort keine Autos. Er schätzte, dass der VW-Bus den Dämonenjägern gehören musste, damit sie ihre Ausrüstung transportieren konnten – andererseits wusste er nicht, was ein Dämonenjäger überhaupt an Ausrüstung besaß.

Das Motel war so aufgebaut, dass es zwei Stockwerke gab. Das obere wurde durch eine Stahltreppe erreicht, die sich ebenfalls auf der linken Seite befand. Alle Zimmer waren so ausgerichtet, dass die Eingänge zur Straße hin lagen. Und Henry fand Zimmer Nummer 7 recht schnell, denn es war am äußersten linken Rand, auf der unteren Ebene angesiedelt.

 

Ohne zu zögern klopfte er dreimal laut gegen die Tür und wartete ab. Von dem, was er vor ein paar Tagen im Haus dieser Valerie erlebt hatte, waren sie nicht so übel. Der Entstellte schien relativ verbohrt zu sein in seiner Weltanschauung, aber der etwas Jüngere machte einen halbwegs vernünftigen Eindruck.

Allerdings fragte sich Henry dadurch abermals, was für ein Problem Abby mit ihnen hatte. Vermutlich war Anya darin involviert, da besonders dieser Alastair nicht gut zu sprechen auf sie schien.

 

Die Tür wurde schließlich aufgerissen und Henry fand sich ebenjenem großen, im Gesicht vernarbten Mann gegenüber stehen. Er trug ein schwarzes, ärmelloses Shirt um den Oberkörper zusammen mit einer schwarzen Hose und musterte ihn kritisch.

„Warum bist du hier?“, fragte er scharf.

„Weil ich eure Hilfe brauche“, kam Henry ohne Umschweife zum Punkt, nicht weniger angespannt.

Wie er solche Menschen hasste, die einem sofort mit Feindseligkeit begegneten, ohne sich auch nur angehört zu haben, was man zu sagen hatte. Der schien vom selben Schlag zu sein wie Anya. Kein Wunder, dass sie sich nicht ausstehen konnten.

„Du bist doch ebenfalls ein Malträger“, erwiderte Alastair aufgeregt. „Ich habe dich bei der Versammlung gesehen. Warum sollten wir dir helfen?“

„Ehemaliger Malträger“, stellte Henry richtig, „und helfen sollt ihr mir dabei, meine Nachfolgerin zu finden. Meine Schwester. Wenn wir Eden vernichten wollen, ist sie unabkömmlich, das solltet ihr mittlerweile wissen.“

Alastair zischte verächtlich, ehe er ihn mit einer Geste herein ließ.

 

Kaum war Henry in das kleine Zwei-Bett-Zimmer eingetreten, kam ihm schon der andere Dämonenjäger entgegen. Dieser trug ein schwarzes Unterhemd mit einem weißen Handtuch um den Hals, hielt dabei eine Cola-Dose in seiner Hand und schaute ihn verdutzt an. „Du bist doch …“

„Henry. Wir müssen reden“, sagte er entschieden.

„K-klar.“ Verdutzt deutete der Schwarzhaarige, dessen Name Matt lautete, sofern sich Henry richtig erinnerte, auf einen kleinen Tisch in der rechten Ecke des spärlich eingerichteten Zimmers. „Setz' dich. Möchtest du auch etwas zu trinken?“

„Nein“, schlug Henry das Angebot aus und nahm dort an einem der beiden Stühle Platz. Matt setzte sich ihm gegenüber, während Alastair das Gespräch aus der Ferne gegen die Haustür gelehnt beobachtete.

 

„Du kommst bestimmt wegen deiner Schwester?“, fragte Matt und traf damit direkt ins Schwarze.

„Richtig. Ich möchte euch bitten, sie für mich zu finden. Ich habe bereits alles ausprobiert, überall gesucht, aber bin mit meinem Latein am Ende. Ohne sie können wir nicht zum Herzen Edens vordringen, wie du sicher weißt. Womit du auch gleich einen Grund hast, mir zu helfen.“

Überrascht von so viel Direktheit hob Matt abwehrend die Arme. „Moment mal, warte! Das ist ja schön und richtig und alles, aber wie stellst du dir das vor?“

Henry erwiderte ungerührt: „Als Dämonenjäger solltet ihr doch in der Lage sein, eure Beute aufzuspüren. Besitzt ihr nicht irgendwelche Mittel dafür?“

Ziemlich perplex lachte Matt daraufhin auf. „Denkst du, wir haben ein Radar dafür? Normalerweise bemerkt man Dämonen erst, wenn sie dir so nahe sind, dass du ihre Anwesenheit am ganzen Leibe spüren kannst – wenn überhaupt! Einzig Refiel kann Auren orten, sofern diese sich in der näheren Umgebung befinden und nicht unterdrückt werden. Der Radius ist zwar eher klein, aber besser als nichts.“

„Wer ist Refiel?“

„Ein Engel, der mit Alastair einen Pakt eingegangen ist.“ Matt nahm einen Schluck aus der Cola-Dose und setzte sie auf den Tisch ab. „Aber es funktioniert nicht so, wie du dir das vorzustellen scheinst. Wenn der Dämon, der deine Schwester besetzt hält, sich ruhig verhält, können wir gar nichts tun. Und in den letzten Tagen ist uns nichts Besonderes aufgefallen.“

Allerdings wollte Henry das nicht hinnehmen. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit!? Ich muss Melinda finden! Es muss doch in eurem Interesse sein, mir zu helfen! Ich will, dass Eden zerstört wird, damit dieser Albtraum endet und nie wieder jemand so leiden muss, wie wir beide es tun!“

Beschwichtigend nickte Matt und sagte einfühlsam. „Uns geht es nicht anders als dir. Es ist ja nicht so, als ob wir dir nicht helfen wollen. Wir können nicht.“

 

Plötzlich zischte dieser Alastair hinter ihnen verächtlich: „Als ich vor einigen Wochen spürte, wie sich Anya Bauer mit einem unbekannten Dämon bekriegte, hatte ich schon die Hoffnung, sie würde dabei sterben! Aber leider hat sie mir diesen Wunsch nicht erfüllt, diese Dämonenbrut! Sonst wäre das hier schon längst vorbei!“

Henry biss sich auf die Lippen und stand mit gesenktem Kopf auf. „Wenn das so ist, entschuldigt die Störung. Dann will ich euch nicht länger belästigen.“

Mitfühlend sah Matt ihn an. „Es tut mir leid, aber als Dämonenjäger ist man für gewöhnlich darauf trainiert, sich Informationen zu Standorten von Dämonen selbst zu besorgen. Nicht zuletzt deswegen ist der Job auch so knifflig. Weißt du, wie viele Leute glauben, Dämonen gesehen zu haben? Du würdest lachen.“

„Zu lachen ist mir aber nicht zumute“, erwiderte Henry und sah Matt trotzig an. Für ihn mochte es leicht sein, das so daher zu sagen, aber emotional involviert war er nicht in die Sache. Was wusste der schon davon, seine Schwester beschützen zu wollen!?

„Das Leben ist kein Zuckerschlecken“, warf Alastair ein, „und wenn du etwas richtig erledigt sehen willst, solltest du dich nicht auf andere verlassen.“

Mit wütendem Blick wandte sich Henry zu ihm um. „Danke für den Hinweis! Habt -ihr- eure Aufgabe denn schon erledigt!?“

„Den Sprengstoff können wir morgen früh abholen“, antwortete ihm Matt ruhig, „darum musst du dir keine Sorgen machen. Ich würde dir ja helfen, deine Schwester zu suchen, aber wenn wir beide morgen nicht beim Lieferanten erscheinen, verschwindet der ohne die Ware. Misstrauischer Kerl, musst du wissen.“

„Also gibt es wirklich niemanden, der mir helfen will?“ Henry lachte bitter auf. „Wer hätte gedacht, dass mein alter Mann recht hat?“

 

Sein Vater, William Ford, sagte immer, dass die Menschen einem nur dann halfen, wenn sie sich selbst etwas davon versprachen. Nichts wurde ohne eigennützige Absichten getan. Selbst große Opfer wurden im Endeffekt nur gebracht, um dem eigenen Seelenheil zu dienen. Mitgefühl sollte das schlechte Gewissen kompensieren, das den Menschen, die es besaßen, das Leben schwer machte.

Die Welt war ungerecht und unausgeglichen, wer sich in ihr zurechtfinden wollte, durfte keine Angst davor haben, den Schwächeren bei Bedarf zu schaden. Denn wären sie in der eigenen Position, würden sie nicht anders handeln.

Henry hasste diese tiefschwarze Philosophie, aber langsam glaubte er zu erkennen, was hinter ihr steckte.

 

Er lachte noch einmal bitter. „Ihr kennt nicht zufällig ein Zauberbuch, in dem alles Wissen dieser Welt geschrieben steht, oder?“

Matt schüttelte den Kopf.

„So etwas gibt es in dieser Welt nicht. Nicht, dass wir wüssten. Am ehesten käme an deine Vorstellungen der- Moment, das ist es!“ Er schlug mit der Faust auf die Handfläche. „Der Sammlerdämon!“

„Wer?“, fragte Henry verwirrt und sah auf.

Gleichzeitig protestierte Alastair: „Das kann nicht dein Ernst sein! Mit diesem Abschaum darf man keine Geschäfte treiben!“

Wütend verlangte Henry: „Klärt mich bitte jemand auf!? Wer ist dieser Sammlerdämon!? Wovon redet ihr auf einmal!?“

 

Matt faltete die Hände ineinander und beugte sich über den Tisch, woraufhin Henry sich wieder hinsetzte.

Der Dämonenjäger begann mit leiser Stimme zu erklären. „Der Sammlerdämon ist uralt und in der Lage, aus den Herzen der Menschen ihre Wünsche zu lesen und sie wahr werden zu lassen. Doch nicht ohne Gegenleistung.“

Henry schüttelte irritiert den Kopf. „Wenn das so ist, meine Familie besitzt genug Geld.“

„Nein, Geld will er nicht. Der Preis hängt vom Wunsch seines 'Kunden' ab. In der Regel verlangt er die Seele, seltener auch andere, nicht weniger wichtige Dinge. Was das ist, sage ich hier lieber nicht laut. Aber wer sich auf ihn einlässt, muss wirklich verzweifelt sein.“

„Und wenn schon, das ist mir egal! Ich habe sowieso nichts zu verlieren!“

„Sei nicht dumm, Matt!“, donnerte Alastair wütend. „Du kannst ihn unmöglich in die Arme dieser Missgeburt schicken! Es ist eine Sünde unter Dämonenjägern, ihr Klientel auf Dämonen zu verweisen! Das werde ich nicht zulassen!“

„Halt den Mund!“, donnerte Henry und sprang wütend auf, drehte sich zu Alastair um. Mit dem Finger zeigte er auf ihn. „Das ist meine freie Entscheidung! Euer Kodex interessiert mich nicht! Wenn ihr mir helfen wollt, dann bringt mich zu diesem Sammlerdämon! Alles andere ist meine Sorge, nicht eure!“

Matt stöhnte daraufhin und legte nachdenklich sein Kinn auf den Handrücken. „Mal abgesehen davon, dass Alastair recht hat, ist das leichter gesagt als getan. Der Collector, so sein offizieller Name, lässt sich nicht so einfach finden. Er offenbart sich nur denjenigen, die seiner Hilfe bedürfen.“

„Und wenn diese Made leichtes Spiel wäre, hätten die Dämonenjäger sie schon längst vernichtet!“, fügte Alastair aufgebracht hinzu. „Manche Dinge lässt man besser ruhen, glaub mir!“

„Das ist nicht mein Problem!“, widersprach Henry zornig. „Irgendwo muss er doch zu finden sein, schließlich ist er von seiner Kundschaft abhängig!“

„Tch, denkst du, er steht in den Gelben Seiten!?“, fauchte Alastair den jungen Mann an.

Hinter ihnen meinte Matt nachdenklich: „Das nicht … aber womöglich kann man ihn beschwören.“

Alastair schien das anders zu sehen. „Unmöglich! Das haben schon dutzende Dämonenjäger versucht, nie ist er aufgetaucht!“

„Weil er wusste, dass sie ihn töten wollten“, widersprach Matt, „aber in unserem Fall braucht Henry wirklich seine Hilfe. Einen Versuch wäre es zumindest wert, wenn wir sonst schon nichts für ihn tun können.“

Der schwarzhaarige, junge Mann sah auf. Henry drehte sich zu ihm um, wie der Dämonenjäger ihn eindringlich ansah. „Aber bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst? Denk an deine Schwester. Würde sie wollen, dass du dich am Ende einem Dämonen verkaufst, nur um sie zu finden?“

Henry schloss die Augen. „Nein. Aber das ist mir egal. Außerdem habe ich nicht leichtfertig vor, meine Seele oder dergleichen wegzugeben. Wenn es ums Verhandeln geht, bin ich auch nicht gerade zimperlich. Lasst das meine Sorge sein und ruft diesen Kerl einfach, okay?“

Resignierend stöhnte Matt und stand auf. „Wie du willst. Aber auf eigene Gefahr. Wir können ihn nicht für dich loswerden, wenn er es erstmal auf dich abgesehen hat.“

„Das Risiko gehe ich ein.“

„Das dürft ihr nicht!“, konnte Alastair sich damit jedoch nicht abfinden und stieß sich von der Tür ab, ging wild gestikulierend auf die beiden zu. „Von allen Dämonen dieser eine! Selbst Refiel rät davon ab!“

„Refiel kann mich mal“, giftete Matt und grinste plötzlich heimtückisch. „Außerdem werden wir nicht gänzlich unvorbereitet sein.“

 

~-~-~

 

Zu dritt standen sie schließlich um einen mit Kreide auf den Dielen des Motelzimmers gezeichneten Kreis. Um diesen herum waren fünf Kerzen aufgebaut, die die Spitzen eines fünfzackigen Sterns repräsentieren sollten. Dieser fand sich in Form von ausgestreutem Salz noch einmal innerhalb des Kreidekreises wieder.

Matt hatte soeben die letzten Worte einer Dämonenbeschwörungsformel gesprochen und schlug den Wälzer in seiner Hand zu. „Das war's.“
 

Henry hatte eine Gänsehaut, was daran lag, dass es plötzlich abnormal kalt in dem Zimmer geworden war. Auch erschien es ihm so, als wäre es dunkler geworden, obwohl draußen noch nicht einmal die Sonne untergegangen war.

„Wird er kommen?“, fragte er, versuchte erfolglos seine Ungeduld zu unterdrücken.

„Wenn ja, wird es einen Moment dauern.“

Alastair schnaubte wütend. „Wieso lasse ich das überhaupt zu?“

„Weil ich der größere Dickkopf von uns beiden bin“, grinste Matt und warf das Buch auf das Bett hinter ihm. „Außerdem willst du auch, dass der Edenfluch für immer Geschichte ist. Und Henry ist nun mal Teil davon.“

Der junge Spross der Abraham Ford Company nickte nur. „Leider …“

„Tch“, zischte Alastair und schulterte eine Schrotflinte, die er vorher aus ihrem Bus geholt hatte.

Neugierig sah Matt seinen 'Auftraggeber' an. „Wie bist du dein Mal eigentlich losgeworden?“

„Darüber möchte ich nicht reden, wenn ich ehrlich bin.“

 

Dieses Thema war für Henry tabu. Im Grunde war er nur durch Zufall auf die Lösung gestoßen. Die Lösung, dass man den Tod überleben musste, um den Dämon aus sich zu treiben. Das Mal besaß er noch, aber es war verblasst, Isfanel fort. Und nun im Körper seiner Schwester.

Alles was Henry ursprünglich wollte, als dieses Wesen sich in ihm eingenistet hatte, war Frieden. Für den er so weit gegangen war, dass …

Aber wer hätte ahnen können, dass er rechtzeitig von seinem Komplizen reanimiert wurde? Im Nachhinein erschien es ihm so töricht. Damit hatte er schlussendlich nur Isfanel dazu gebracht, Melinda als Ersatz zu wählen.

Es war seine Schuld …

 

„Kann ich verstehen“, meinte Matt mitfühlend. „Einfach war das sicher nicht.“

Doch Henry kam nicht mehr dazu ihm zu antworten, denn ein grelles Licht erfüllte das Motelzimmer.

„Er kommt!“, rief Matt überrascht.

Alastair zückte die Waffe und hielt sie direkt auf den Beschwörungskreis gerichtet. „Ich warte!“

Hoffentlich würde er die Antwort bekommen, die er suchte, dachte Henry und hielt sich schützend den Arm vor das Gesicht.

 

Das Licht verebbte wieder, doch die Luft war gefüllt von einer unheimlichen Atmosphäre. Es war, als würde sie regelrecht knistern.

„Da haben zwei Dämonenjäger aber Nerven“, stellte eine schnarrende Stimme mit britischem Akzent fest, deren Ursprung direkt in der Mitte des Kreises lag. Doch es war niemand zu sehen.

„Geschäfte unter Zwang zu betreiben ist eigentlich nicht mein Stil.“

Aus dem Nichts materialisierte sich ein hoch gewachsener Mann in einem schwarzen Anzug. Dieser mutete zwar wie eine Reliquie aus dem 18. oder 19. Jahrhundert an, war jedoch noch in einem astreinen Zustand.

„Wie interessant“, meinte der Collector erstaunt, als er sich in dem kleinen Motelzimmer umsah und dabei die Hand an sein fein nach hinten gekämmtes, dunkelrotes Haar legte. Abfällig fügte er hinzu: „Oder sollte ich eher sagen: wie chaotisch. Hat euch niemand beigebracht, wie man sein Zuhause sauber hält?“

„Du hast jetzt andere Sorgen, Sammler“, zischte Alastair und richtete seine Waffe auf den Mann.

Jener drehte sich zu ihm um und blinzelte erstaunt. „Wie unhöflich. Behandelt man so seine Gäste, Alastair?“

„Woher kennst du-!?“

„Ich gehe wieder“, entschied der Dämon jedoch, noch bevor sein Gegenüber geendet hatte.

Matt lachte jedoch triumphierend auf. „Pech gehabt, das kannst du nicht! Schau mal nach unten!“

Der Collector tat wie ihm geheißen und stellte mit hochgezogener Augenbraue fest, dass er mitten in einem fünfzackigen Stern stand, geformt aus gesegnetem Salz. „Ein doppelter Bannkreis?“

„Dämonen sind in geschlossenen Salzkreisen gefangen!“, lachte nun auch Alastair. „Aber dieser hier ist besonders, denn dank seiner Form und-“

 

Mit dem feinen Herrenschuh schob der Sammler einen Teil des Salzes vorsichtig beiseite und unterbrach damit das geschlossene Gefüge. Er sah amüsiert grinsend in das Gesicht des entsetzten Dämonenjägers. „Was wolltest du sagen? Und ferner: wer von euch macht jetzt meinen Schuh sauber? Das ist das Mindeste.“

In einem wütenden Schrei drückte Alastair daraufhin ab.

„Nein!“, schrie Matt unter dem Donnern der Schrotflinte, doch schon wich der Sammler einen Schritt zurück, da er direkt in den Bauch getroffen wurde.

„Was tust du da!?“, rief auch Henry entgeistert. „Wir haben ihn nicht gerufen, um ihn zu töten!“

Der Sammler sah perplex den zerfetzten Stoff an, der einst sein Sacko und das darunter liegende, weiße Hemd war. Doch seine Haut war völlig unverletzt davon gekommen. „Das … war sehr teuer.“

„Nicht einmal Silberkugeln-!?“, schoss es aus Alastair heraus.

Ehe er sich versah, stürzte sich der Sammler auf ihn und riss ihm die Flinte aus der Hand, nur um sie zu verbiegen und damit völlig unbrauchbar zu machen. Mit geweiteten Augen sah er zu, wie der Rothaarige sie achtlos fallen ließ.

Dieser sagte erzürnt: „Sieh das als Ausgleich für meine Kleidung an! Wenn ihr aufmüpfigen Kinder spielen wollt, dann tut das meinetwegen, aber nicht mit mir!“

„Sammler!“

Henry trat einen Schritt vor. Der Dämon wandte sich ihm mit feindlichen Blick zu.

„Ich weiß“, erwiderte er nur kalt. „Morgen.“

Und war verschwunden.

 

Was blieb waren zwei überrumpelte Dämonenjäger, ein verwirrter Henry und eine verbogene Schrotflinte. Und viel Salz. Die Kerzen waren allesamt erloschen.

„Das glaube ich jetzt nicht“, stammelte Matt. „S-so leicht zu-“

„Die Geschichten haben nicht übertrieben“, brummte Alastair mit verletztem Stolz. „Diese Brut ist wirklich eine Nummer zu groß für uns.“

„Danke“, sagte Henry jedoch tonlos und wandte sich ab. „Mehr wollt ich nicht.“

Damit ging er.

„H-hey warte, was soll das!?“, rief ihm Matt verdutzt hinterher.

„Er wird mir helfen“, antwortete der brünette, junge Mann noch, bevor er das Zimmer der Dämonenjäger verließ. Als er die Tür schloss, festigte sich sein Blick. Morgen!

 

~-~-~

 

Ruhigen Schrittes ging Henry durch die morgendlichen Straßen der Innenstadt Livingtons. Gestern war er erst spät nachts zurückgekommen, da er nachdenken musste und dann sehr früh aufgestanden, hatte das Haus der Masters verlassen, als Abby noch schlief. Ihrer Mutter hatte er erzählt, er habe Hinweise auf den Verbleib seiner Schwester erhalten. Abby würde es verstehen, doch er wollte nicht, dass sie wusste, von wem genau diese Informationen stammen würden.

 

Er schlenderte am großen Einkaufszentrum der Stadt vorbei, dessen bläuliche Fensterfassade ein rundliches Gebilde ergab, einem Kolosseum gleich. Lange konnte es nicht mehr dauern, dachte er innerlich ungeduldig. Der Sammler hatte ihm die Botschaft gegeben, bis morgen, also heute, zu warten. Wenn er bedachte, dass heute bereits der 8. November war – drei Tage bis Edens Erwachen, spürte er ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend.
 

Selbst Isfanel wusste praktisch nichts über Eden. Nur, dass es sich im Turm von Neo Babylon befand, welcher in einem zeitlich abgestimmten Rhythmus etwa alle 400 Jahre erschien. Doch etwas war geschehen, das diesen Rhythmus durcheinander gebracht hatte, sodass der Turm viel länger auf sich hatte warten lassen als sonst. Über 100 Jahre war er überfällig. Und es würde das letzte Mal sein, dass er auftauchte, so hatte Isfanel gesagt – warum wusste er nicht, aber er fühlte es.

Was Henry jedoch auch wusste war die Tatsache, dass Menschenleben geopfert werden mussten, um Eden zu erwecken. Ausgesuchte Individuen höherer Wesen auf Isfanels Stufe. Leute wie Melinda …

 

Zwar hatte er Anya das Versprechen gegeben, am 11. November zusammen mit Melinda vor dem Turm zu erscheinen, doch ob er es halten würde, wusste er nicht. Allein schon deshalb nicht, weil er diesem Mädchen nicht über den Weg traute. Sie erweckte bei ihm seither den Eindruck, als hätte sie etwas zu verbergen, seit sie allen von Eden und dem Turm berichtet hatte. Henry ahnte, dass sie die sogenannten Zeugen der Konzeption, Matt, Alastair, Valerie, Marc und seine Schwester in eine Falle locken wollte, um Eden zu werden und dem Limbus zu entgehen. Und dass der Dämonenjäger Alastair dies ebenfalls vermutete, bestärkte ihn darin.

Wenn sie den Turm wirklich betraten, gab es keine Garantie auf Wiederkehr. Und wenn man bedachte, dass er und Melinda der Sache nur fern bleiben mussten, um Isfanels Absicht zu erfüllen – das Erwachen Edens zu verhindern – war die Entscheidung für ihn im Grunde leicht. Doch es gab etwas, das ihm Sorgen bereitete. Was, wenn es noch mehr Zeugen gab, von denen im Moment niemand etwas ahnte? Und Anya wirklich zu Eden wurde, selbst wenn er und Melinda flüchteten?

Niemand wusste, was Eden war. Isfanel nannte es seinen Untergang. Er mochte zwar ein selbstsüchtiger Bastard sein, aber wenn Eden einem so mächtigen Wesen wie ihm solche Angst bereitete, war Henry sich nicht sicher, was geschehen würde, wenn Eden erwachte. Wäre es nicht besser, Vorbereitungen zu treffen, damit dieser Fall gar nicht erst eintrat? Aber das hieße, den Turm zu betreten und mit den anderen zusammenzuarbeiten.

 

Henry blieb abrupt auf dem wie leergefegten Bürgersteig stehen. Gänsehaut.

„Wenn du es möchtest, werde ich dir dabei helfen“, erklang die Stimme des Sammlerdämons hinter ihm freundlich.

Sich nicht umdrehend, erwiderte der brünette, junge Mann: „Eins nach dem anderen. Wo ist Melinda?“

„In der Kanalisation. Es hat etwas gedauert, sie und Isfanel ausfindig zu machen. Ich entschuldige mich dafür, normalerweise arbeite ich effizienter. Aber aufgrund einer interessanten Entwicklung bin ich in die Irre geführt worden.“ Er lachte amüsiert. „Selbst im hohen Alter lernt man noch dazu, nicht wahr?“

Nun wandte sich Henry mit Händen in den Taschen seiner Jeans um. „Was muss ich zahlen, um deine Hilfe in Anspruch zu nehmen?“

Der rothaarige Brite sah genauso aus wie gestern, mit dem einzigen Unterschied, dass er offenbar seinen Anzug mit einem gleich aussehenden Exemplar gewechselt hatte. Oder durch seine Kräfte einfach repariert hatte. Lässig stand er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor ihm und lächelte trügerisch. „Bis jetzt noch gar nichts. Ich würde sagen, wir verrechnen das am Ende. Denn mir dünkt es, dass du heute noch öfters auf mich zukommen wirst.“

Nun reichte er ihm seine rechte Hand. „Willst du nun zu deiner Schwester?“

Dass Henry diese nahm und somit bewusst einen Handel mit dem Collector einging, war Antwort genug. Ein grelles Strahlen ging von den beiden Händen aus, welches Henry so sehr blendete, dass er aufstöhnte.

 

~-~-~

 

Als er die Augen wieder aufschlug, drang gleichzeitig ein widerlicher Geruch von Fäkalien in seine Nase. Es gab keinen Zweifel, der Sammler hatte ihn direkt in die Kanalisation gebracht. Es war stockfinster.

„Mist, ich habe keine Taschenlampe!“, murmelte er ärgerlich. Und wagte es nicht, sich vom Platz zu bewegen, aus Furcht, am Ende irgendwo zu landen, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen war.

Ein Schnippen ertönte und ehe sich Henry versah, schossen lauter grüne Feuerbälle durch den Kanal und platzierten sich oberhalb der Decke wie Fackeln, die ihr näheres Umfeld in smaragdfarbenes Licht tauchten.

Erstaunt stellte er fest, dass der Sammler vor ihm stand, umhüllt von einer silbernen Blase.

„Was soll das?“, fragte Henry daraufhin. „Ist es hier gefährlich?“

„I-ich weiß nicht wie es dir geht, aber meine Wenigkeit möchte weder den G-g-g-gestank, noch den Schmu- Schmuuuu- Schmuuuuuuu-“

„Schmutz?“

„Genau das! Das in meiner Nähe wissen.“ Der Mann erschauderte sichtlich und packte sich mit den Händen an den Schultern. „A-allein der Anblick bereitet mir eine Gänsehaut.“

Verdutzt musterte Henry den Kerl, der plötzlich ganz anders klang als noch vor fünf Minuten. Als habe er tatsächlich Angst. Mit dem Finger zeigte der Sammler an ihm vorbei auf etwas in der Ferne.

Henry wandte sich um und musterte zunächst seine Umgebung.

Dieser Kanal war zweigeteilt, in der Mitte floss das Abwasser an ihnen vorbei, während je links und rechts Wege gebaut waren, damit die Arbeiter sich hier fortbewegen konnten. Er befand sich auf der rechten Seite. In regelmäßigen Abständen verbunden Brücken beide Hälften.

 

Und nicht all zu weit weg lehnte auf der anderen Seite ein regungsloser Körper an der Wand. Henrys Herz machte einen Sprung, als er das brünette, nach hinten in einer Welle verlaufende Haar erblickte. „Melinda!“

Sofort rannte er über die Brücke, rutschte dabei fast noch aus und achtete nicht auf den Sammler, der sich keinen Millimeter rührte. Doch noch ehe er seine Schwester erreicht hatte, hielt er zutiefst schockiert bei ihrem Anblick inne.

„D-das kann nicht- was um alles in der Welt-!?“

Neben dem leblosen Leib seiner Schwester lag ein Taschenmesser, an dem verkrustetes Blut haftete. Und nicht nur da, überall war es. Das Blut seiner Schwester. Sie war kreidebleich, die Lippen blau und lag in dieser entsetzlichen, getrockneten Blutlache.

„D-das darf nicht sein!“, murmelte er.

Aber da waren keine Spuren! Die Ärmel ihres abgetragenen Pullovers waren hochgekrempelt, blutverschmiert, aber es gab keine Anzeichen von Wunden auf der nackten Haut! Was war das!?

 

Sie schlug die Augen auf und hob den Kopf an.

Henry fiel ein Stein vom Herzen. „Melinda! Oh Gott sei Dank-“

„Du!?“, zischte sie und kam schwankend auf die Beine. „Wie hast du mich gefunden!? Tch! Wer hätte gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen?“

Ihm stockte der Atem. „Du … du bist nicht Melinda! Du bist Isfanel!“

„Sehr gut erkannt. Genießt du dein Leben ohne mich?“, fragte dieser keuchend und trat einen Schritt auf ihn zu. „Bedauerlicherweise bist du mich nicht ganz losgeworden, nicht wahr?“

„Lass sie gehen!“, forderte Henry aufgebracht.

Isfanel grinste gehässig. „Nein. Sie gehört jetzt mir. Du weißt, wozu ich sie brauche.“

„Das ist mir egal! Lass sie frei! Nimm mich, wenn es sein muss!“

Die besessene Melinda stützte sich an der Mauer ab und lächelte kalt. „Wie aufopferungsvoll. Und wenn wir unseren Pakt erneuern, wirst du dann wieder kalte Füße bekommen, Benjamin Hendrik Ford? Dazu wird es nicht kommen! Und wisse: selbst wenn ich damit einverstanden wäre, hätte ich nicht genug Kraft dafür!“

Henry lief der Schweiß über die Stirn. „Was soll das bedeuten!?“

Er erschrak, als die Stimme des Sammlers direkt hinter ihm erklang. Sie war wieder fest und bestimmend, nicht mehr 'bacteriophobisch'. „Siehst du den Zustand, in dem sich der Körper deiner Schwester befindet? Diese Wunden hat sie sich zugefügt, um Isfanel in Schach zu halten. Da er nach dem Kampf mit Anya Bauer geschwächt war und anschließend noch von ihrem besten Freund Nick Harper verletzt wurde, hat Melinda die Chance ergriffen und die Kontrolle zurückgewonnen.“

Er machte eine Pause. „Nur um Isfanel in einer endlosen Schleife aus Schmerz und Regeneration gefangen zu halten, damit er niemandem schadet. Dabei hat er sich meiner Blicke verborgen, indem er mit dem Rest seiner Kräfte ein Tarnfeld errichtet hat. Aus Angst vor seinen Feinden.“

„Oh, der Sammler“, krächzte Isfanel amüsiert und sah den Mann hinter Henry verächtlich an, „welch hoher Besuch. Dir ist wohl kein Mittel zu schade, um mich loszuwerden, was Bursche?“

„Wenn es sein muss, ja!“

 

Henry hob den rechten Arm, an dem Abbys schwarze Duel Disk angebracht war und aktivierte diese. „Und du kannst dir sicher sein, dass ich nicht zimperlich bin, wenn es darum geht, sich den Feinden unserer Familie zu stellen!“

Isfanel lachte. „Ein Duell? Jetzt und hier? Was soll das erreichen? Du bist nichts ohne meine Macht!“

Doch der jüngste Spross der Ford-Familie grinste. „Aber ich habe Ersatz gefunden, wie du sehen kannst! Sammler! Wenn ich dieses Duell gewinne, könntest du bitte dafür sorgen, dass Isfanel aus dem Körper meiner Schwester für immer vertrieben wird? Steht das in deiner Macht?“

Der Brite überlegte kurz, ehe er sich räusperte. „Nein. Das würde nicht den Effekt erzielen, der dir vorschwebt. Aber ich mache dir ein Gegenangebot, das auch den Preis für meine Hilfe in Grenzen halten wird. Ich kann Isfanel unterdrücken, aber nur bis zum 11. November.“

Henry drehte sich mit geweiteten Augen um. „Länger nicht!?“

„Natürlich ginge es auch länger. Aber denk daran, dass du noch andere Wünsche hast, die ich erfüllen soll. Und länger bis zu diesem Tage ist auch nicht nötig, nicht wahr?“

„Du willst, dass ich Eden zum Opfer falle!?“, donnerte Isfanel daraufhin aufgebracht und aktivierte die eigene Duel Disk am Arm. „Das werde ich zu verhindern wissen!“

„Nein, ich will Eden vernichten! Aber dazu muss Melinda mit mir kommen!“

Der Dämon lachte hysterisch auf. „Als ob ich dir das glauben würde! Gerade du suchst doch den Tod, was käme dir da rechter, als ein Opfer im perfiden Spiel des Gründers zu werden!?“

„Ich kann ihn auch ohne Duell unterdrücken“, mischte sich der Sammler ein.

Und erntete unerwartet Widerspruch von Henry. „Nein! Das wäre unehrenhaft! Ich will mich dem Feind meiner Familie stellen! Er soll genauso kämpfen, wie ich zu kämpfen hatte gegen ihn! Das ist meine Rache!“

Der Sammler zog eine Augenbraue hoch. „Interessant. Nun gut, wie du wünscht.“

„Du hättest auf ihn hören sollen“, sagte Isfanel leise, „ihr Menschen seid so eingenommen von euch selbst, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen sollen. Aber wenn das deine Entschlossenheit ist, dann lass sie mich mit meiner Macht zerquetschen!“

Langsam schritt er nach rechts auf eine der Brücken zu, um sich in Duellposition zu bringen. Henry tat es ihm gleich, sodass sie sich auf den beiden Brücken gegenüber standen. Letztlich riefen beide synchron: „Duell!“

 

[Henry: 4000LP / Melinda: 4000LP]

 

„Ich mache den ersten Zug!“, entschied Isfanel bestimmend und zog mit einem Schlag sechs Karten von seinem Deck. Zwei nahm er aus seinem Blatt hervor und schob eine davon in die Backrow, während er das Monster verdeckt auf die Duel Disk legte. „Ein Monster in Verteidigung und diese gesetzte Karte!“

Beide materialisierten sich in der jeweiligen Lage vor ihm über dem Fäkalienfluss.

Danach zückte er eine Zauberkarte. „Und jetzt aktiviere ich [Book Of Taiyou]! Damit bringe ich ein Monster in verdeckter Verteidigungsposition in Angriffsposition! So wie mein eigenes, [Kamui, Hope Of Gusto]!“

Aus Isfanels gesetzter Monsterkarte sprang ein grünhaariges Mädchen, das in der Hand einen Zauberstab trug und einen beigefarbenen Mantel über die Schultern gelegt hatte.
 

Kamui, Hope Of Gusto [ATK/200 DEF/1000 (2)]

 

„Nun aktiviert sich ihr Flippeffekt!“, verkündete Isfanel und schwang den Arm aus. „Sie beschwört einen Gusto-Empfänger von meinem Deck! Erscheine, [Gusto Falco]!“

Auf der Schulter des jungen Mädchens erschien ein grüner Vogel, der einen Helm und Brustpanzer am Leibe trug.

 

Gusto Falco [ATK/600 DEF/1400 (2)]

 

„Direkt zum Punkt“, kommentierte Henry das angespannt.

„Natürlich! Ich werde dir gegenüber keine Gnade kennen!“, versprach Isfanel und streckte den Arm seines Gefäßes aus.

Ein schwarzer Wirbel tat sich inmitten des Spielfelds auf, seine Monster wurden in grünen Lichtstrahlen in den Sog gezogen. Ein grünes Glimmen ging von Melindas Arm aus. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen zwei Stufe 2-Monstern wird ein Rang 2-Monster! Erscheine, [Daigusto Phoenix]!“

Aus dem Wirbel entstieg ein hässlicher, nackter Vogel, der eine erstaunliche Ähnlichkeit zum Dinosaurier Pteranodon aufwies. Seine rote, schuppige Haut ging in smaragdfarbenen Flammen auf, aus welchen sein 'Federkleid' geformt wurde. Zwei Lichtsphären kreisten um das Wesen.

 

Daigusto Phoenix [ATK/1500 DEF/1100 {2}]

 

Henry hätte nie gedacht, schon im ersten Zug ausgerechnet diesem Monster gegenüber zu stehen.

Aufgebracht rief er: „Ich weiß genau, was du vor hast!“

„Ach ja? Wie hinreißend. Zug beendet!“, verlautete Isfanel mit einem gehässigen Grinsen.

 

Aufgebracht zog Henry und betrachtete die Karte. Wenn Isfanel glaubte, in ihm einen leichten Gegner gefunden zu haben, irrte er. Vielleicht konnte er diesen nicht verletzten, aber das wollte er Melinda wegen auch gar nicht.

Jedoch kannte er das Deck, das Isfanel benutzte, genau. Schließlich war es einst sein eigenes gewesen, bevor Melinda es genommen hatte und abgehauen war. Sie wollte dadurch vermutlich die Paktkarte darin – jener [Daigusto Phoenix] – außer Isfanels Reichweite bringen, denn als Symbol eines Pakts besaß diese ganz eigenwillige Kräfte. Kräfte, die womöglich mit Eden im Zusammenhang standen. Doch Isfanel beabsichtigte vermutlich eher, diese Kraft zu nutzen, um die anderen Malträger zu töten. Eigens dafür war er sogar einen neuen Pakt mit diesem Marc eingegangen. Doch das erwies sich letztlich als fataler Fehler, denn nachdem jener gestorben war, ging auch ein Teil von Isfanels Kraft verloren!

 

„Ich werde nicht verlieren, nicht gegen jemanden wie dich!“, versprach Henry seinem Widersacher drohend und nahm eine Karte aus seinem Blatt. „Ich beschwöre [Don Turtle]! Und wenn dieser gerufen wird, kann ich alle weiteren Exemplare dieser Karte von meiner Hand rufen! Also wird noch ein weiterer [Don Turtle] erscheinen!“

Vor ihm tauchten zwei braune Schildkrötenpanzer auf, aus deren Inneres gelbe Augen leuchteten.

 

Don Turtle x2 [ATK/1100 DEF/1200 (3)]

 

„Was du kannst, kann ich auch! Ich erschaffe das Overlay Network!“, rief er anschließend und ließ seine beiden Schildkröten zu blauen Lichtstrahlen werden. Diese wurden ebenfalls in ein schwarzes Loch in der Mitte es Feldes gezogen. „Aus meinen beiden Wasser-Monstern der Stufe 3 wird nun ein Monster vom Rang 3! Xyz-Summon! Sei meine Waffe, [Black Ray Lancer]!“

Aus dem Wirbel trat eine dunkle, amphibische Gestalt hervor. Pechschwarz war sie, besaß zwei Paar mit Schwimmhäuten bespannte Schwingen, das größere von beiden auf dem Rücken, das kleine an den zu kurz geratenen Beinen. In den Händen hielt sie einen roten Speer.

 

Black Ray Lancer [ATK/2100 DEF/600 {3}]

 

„Oh?“ Isfanel grinste süffisant. „Du scheinst tatsächlich eine Ahnung zu haben, worauf du dich hier eingelassen hast.“

„Du willst inkarnieren!“, sprach Henry das Vorhaben aus, welches seinem Gegner vorzuschweben schien. Es gab keinen anderen Grund, warum er sonst das Paktmonster schon im ersten Zug beschworen hatte.

„Und da Incarnation Mode-Monster nur durch Xyz-Monster im Kampf zerstört werden können, dachtest du, dem mit deinem Monster zuvor kommen zu können?“

„Nein.“ Auf Henrys Stirn bildete sich eine tiefe Falte. „Ich habe gar nicht erst vor, dich inkarnieren zu lassen! [Black Ray Lancers] Effekt! Indem ich eines seiner Xyz-Materialien abhänge, kann ich bis zur End Phase den Effekt eines Monsters negieren! Den deines [Daigusto Phoenix]! Und da das Inkarnieren ein geheimer Effekt der Originalmonster ist, kannst du ihn nicht verwenden, um mir zuvor zu kommen! Dachtest du, ich wüsste nicht um die schützende Kraft von [Eternal Daigusto – Jade Phoenix], den du rufen willst!?“

Isfanels Gesichtszüge entglitten ihm vor Schreck. „Was!? Woher weißt du-!?“

„Dies ist mein Deck!“, bellte Henry.

Sein [Black Ray Lancer] absorbierte eine der Sphären über seiner Brust und richtete danach seinen Speer auf den Phönix. Ein roter Strahl schoss aus diesem, der den Vogel direkt in der Körpermitte traf, wobei rötliche Blitze den ganzen Körper des Wesens zu peinigen begannen.

„Du-!“, knurrte Isfanel. „Kein Wunder, dass du mein optimales Gefäß bist! In dir schlummert ein geborener Kämpfer und Stratege!“

„Halt den Mund!“, schrie Henry jedoch nur wütend und schwang den Arm. „Verschwinde endlich aus unserem Leben, du Missgeburt! [Black Ray Lancer], greife [Daigusto Phoenix] an! Der Albtraum wird enden, bevor er angefangen hat!“

Sein Monster schwang den Speer über seinem Kopf, ehe er ihn direkt in die Richtung seines Opfers warf. Dieser schrie und schlug wild mit seinen Flammenschwingen. Diese wirbelten einen so starken Sturm auf, dass dieser die Lanze fortwehte, welche in ihrem Flug gegen Henrys Monster knallte. Jenes ging daraufhin verletzt in die Knie.

„Was!?“, stieß Henry erschrocken hervor. Und dann fiel sein Blick auf die Fallenkarte, die Isfanel aktiviert hatte.

„[Windstorm Of Etaqua], der sagenhafte Wind, der jeden Feind zu Fall bringt.“ Der Dämon lachte hämisch. „Du kennst ihn, hast du ihn doch selbst für dieses Deck auserwählt. Er zwingt alle gegnerischen Monster, die Positionen zu wechseln.“

 

Black Ray Lancer [ATK/2100 DEF/600 {3}]

 

Mit dem Handrücken wischte sich Henry den Schweiß von der Stirn, obwohl es in der Kanalisation eigentlich ziemlich kühl war. „So ein Mist …“

„Tja, du bist nicht der Einzige, der strategisch denkt. Ich wusste genau, dass du nicht widerstehen können würdest, wenn ich dir [Daigusto Phoenix] als Lockvogel präsentiere. Und nun hast du dich verraten, gezeigt, wie du meine Inkarnation aushebeln willst!“

„Scheiße“, zischte Henry, der eine solche Sprache normalerweise nicht pflegte. Er griff eine Karte aus seinem Blatt. „Ich setze die hier verdeckt und beende meinen Zug!“

Die Karte tauchte vor seinen Füßen und hinter [Black Ray Lancer] auf. Damit besaßen beide Spieler noch drei Handkarten.
 

„Mein Zug, Draw!“, rief Isfanel energisch und stockte das eigene Blatt auf. Die gezogene Karte drehte er zwischen seinen Fingern um und lächelte finster. „Sieh an! Ich beschwöre [Gusto Codor]!“

Neben dem Phönix tauchte nun auch ein grüner Kondor auf, welcher ebenfalls mit Helm und Plattenrüstung versehen war. Um seinen Hals lag ein weißer Ring aus Daunenfedern, der wie ein Schal wirkte.

„Auch das noch“, stöhnte Henry.

 

Gusto Codor [ATK/1000 DEF/400 (3)]

 

„Das war nur der halbe Spaß! Zusätzlich aktiviere ich eine weitere mächtige Wind-Zauberkarte, [Blustering Winds]! Sie erhöht die Angriffs- und Verteidigungskraft eines meiner Monster bis zu meinem nächsten Zug um 1000!“

Auf Isfanels Wirken hin begann von [Daigusto Phoenix] ein starker Sturm auszugehen, durch den das Wasser unterhalb der Brücken sich in immer stärker werdeden Wellen zu bewegen begann.

 

Daigusto Phoenix [ATK/1500 → 2500 DEF/1100 → 2100 {2}]

 

„Und du weißt genau, wie gefährlich das im Falle dieses einen Monsters ist, nicht wahr?“, lachte Isfanel und schnappte sich eines der Monster, die unter seinem Phönix lagen. „Ich hänge ein Xyz-Material ab und aktiviere [Daigusto Phoenix'] Effekt!“

Die Augen des Vogels leuchteten rot auf, als er den Schnabel öffnete und nach einer der Sphären um ihn herum schnappte.

Isfanel erklärte: „Damit kann ein Wind-Monster für diesen Zug zweimal angreifen! Und wer wäre dafür besser geeignet, als [Daigusto Phoenix] selbst!?“

Henry ächzte. Er spürte regelrecht, wie sich die Schlinge um seinen Hals enger zog. Dieser Bastard war verdammt gut darin, das Blatt zu wenden! Soviel musste man ihm lassen! Aber so leicht würde er nicht aufgeben, schließlich ging es hier für ihn praktisch um alles!

„Nun“, verlautete Isfanel majestätisch, „[Gusto Codor], greife das Monster deines ehemaligen Meisters an!“

Ohne zu widersprechen flog der Kondor auf [Black Ray Lancer] zu und schoss wie eine Rakete durch seinen Bauch. Ein klaffendes Loch hinterlassend, zog er seine Kreise zurück zu Isfanel, während das Seeungeheuer schreiend explodierte.

Die besessene Melinda streckte den Arm aus. „Effekt von [Gusto Codor] aktivieren! Wenn er ein Monster im Kampf besiegt, ruft er ein Wind-Monster vom Typ Psi von meinem Deck, welches maximal 1500 Verteidigungspunkte besitzen darf! Komm herbei, [Musto, Oracle Of Gusto]!“

Zwischen den beiden Vögeln tauchte ein Priester in weißem Umhang auf, welcher einen langen Zauberstab schwang. Er schwebte in der Luft, wodurch er nicht in den Kloakenfluss fiel.

 

Musto, Oracle Of Gusto [ATK/1800 DEF/900 (4)]

 

„Bist du sicher, dass du dich nicht übernommen hast?“, fragte der Sammler freundlich.

Henry drehte sich nicht einmal um, als er antwortete. „Ich komme schon klar!“

„Ach ja!? Das wollen wir erstmal sehen! Mit meinen Monstern kann ich dich spielend leicht besiegen!“, ließ Isfanel das nicht gelten. „[Daigusto Phoenix], direkter Angriff auf seine Lebenspunkte!“

Henry schreckte zurück, als der große, unförmige Vogel Luft einsog, um sogleich eine smaragdfarbene Flamme auszuspeien. Die Hitze war unangenehm, doch längst nicht so schlimm wie man es sich von jemandem wie Isfanel vorstellte. Er musste wirklich sehr geschwächt sein, wenn ein Angriff dieser Größenordnung im Verhältnis so ungefährlich schien.

„Den lass ich aber nicht durchgehen!“, widersprach Henry letztlich und drückte einen der Knöpfe an Abbys Duel Disk. „Meine Falle [Defense Draw] negiert den Schaden und lässt mich eine Karte ziehen!“

Die Flamme prallte direkt vor Henry an einer unsichtbaren Mauer ab und wurde aufwärts gegen das Gemäuer der Kanalisation geschleudert. Deren Decken wurde durch den Angriff versengt, wodurch sie sich vom Ruß schwarz färbte. Derweil hatte Henry seine Karte gezogen.

„Winde dich nur, Wurm“, zischte Isfanel abfällig und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Hast du vergessen, dass [Daigusto Phoenix] zweimal angreifen kann!? Es ändert sich nichts an deiner bevorstehenden Niederlage! Los!“

Auch beim zweiten Versuch spie der Phönix eine grüne Flamme in Henrys Richtung, doch der grinste zufrieden. „Wie nicht anders zu erwarten war!“

„Was soll das!? Du besitzt keine Karten mehr auf deiner Spielfeldseite!?“

„Aber auf der Hand! Wenn du mich diese Runde zweimal direkt angreifst, kann ich beim zweiten Mal ein ganz besonderes Monster von meiner Hand rufen! Dieses nennt sich [Ogre Of The Scarlet Sorrow]!“

Der junge Mann klatschte die Karte auf seine Duel Disk. „Und dieser betritt das Feld mit derselben Angriffs- und Verteidungspower, die das Monster besitzt, das zuerst angegriffen hat! Was in deinem Fall irrelevant ist, da beide Angriffe von [Daigusto Phoenix] stammen!“

Vor Henry erhob sich ein riesiger Oger, dessen blauer, muskulöser Körper nur von einem Lendenschurz verdeckt wurde. Mit seiner wuchtigen Keule wehrte er den Flammenangriff des Phönix' spielend leicht ab. Und während er das tat, liefen rote Tränen über seine Wangen.

 

Ogre Of The Scarlet Sorrow [ATK/0 → 2500 DEF/0 → 2100 (4)]

 

Henry verschränkte abwartend die Arme. „Da sich die Zahl meiner Monster während deiner Battle Phase verändert hat, tritt laut den Regeln ein Replay ein. Wie entscheidest du dich? Wird dein Monster erneut angreifen oder nicht?“

„Ich muss dir meine Anerkennung zugestehen“, raunte Isfanel angespannt, „du kämpfst wirklich hart! Aber ich- Urgh!“

Der Dämon in Melindas Körper ging in die Knie und hielt sich den Kopf. „N-nicht jetzt!“

 

„W-was ist mit ihm!?“, wandte sich Henry an den Sammler.

Dieser sah steif herüber zu Isfanel. „Melinda versucht wieder die Kontrolle zu gewinnen. Sich ständig zu verletzten hat auch sie an die Grenzen ihrer Kraft gebracht, weswegen es Isfanel überhaupt erst gelungen ist, sie wieder zu übernehmen.“

„D-du bleibst wo du bist“, ächzte dieser. „Dieser Körper gehört mir- Ahhhhh!“

Als Isfanel auf allen Vieren zu schreien begann, rief auch Henry mit ausgestreckter Hand: „Melinda! Hörst du mich!? Kämpfe gegen ihn an! Ich bin hier!“

„Halt den Mund! Sie kann dich nicht- Ahhh!“ Isfanel hielt sich den Kopf mit so schmerzverzerrter Miene, dass man glaubten konnte, sein ebendieser würde jeden Moment abfallen.

„Sie überanstrengt sich“, kommentierte der Sammler das tonlos, „damit tut sie sich keinen Gefallen. Ihr Bewusstsein ist so schwach, dass sie Gefahr läuft, ihren Verstand zu verlieren, wenn sie weiterkämpft.“

Fassungslos wandte sich Henry zu ihm um. „Was!?“

„Deine Schwester ist in einem kritischen Zustand. Du solltest ihr davon abraten, es noch weiter zu treiben.“

Was etwas war, worüber Henry gar nicht erst diskutieren musste. „Me-Melinda! Hör auf! Ich werde das alleine regeln!“

Die junge Frau streckte den Arm Richtung Henry aus. Wenn sie doch nur nicht so weit voneinander entfernt wären, dachte der junge Mann verzweifelt.

„I-ich … w-werde … nicht zulassen …“ Sie schrie vor Schmerz. Und es war Melinda, die da sprach, das spürte er. „Nicht zulassen … d-dass d-dieses Ding … m-meinem Bruder weh tut … B-Benny … tö- …“

Ihre Tonlage wechselte schlagartig. „Dummes Ding! Hör auf dich zu wehren!“

Tränen standen in Henrys Augen, wie er den verzweifelten Kampf seiner Schwester mit dem Dämon in ihr nur hilflos verfolgen konnte.

Melinda ballte eine Faust. „D-das ist a-alles was ich für dich tun kann, Bruder … [Daigusto Phoenix], greife … sein Monster an!“

Wieder wechselte die Stimme. „Nein! Das lasse ich nicht zu! Ich rekon-“

„Los!“, schrie wieder Melindas wahres Ich.

 

Mit fassungslosem Blick verfolgte der kurz darauf wieder an die Macht gelangte Isfanel, wie sein Phönix bereits den Angriff ausführte und eine gewaltige Flamme Richtung des Ogers spie. Dieser warf im Gegenzug im hohen Bogen seine Keule auf den Vogel, was ihn nur den Flammen aussetzte.

Es folgten zwei gewaltige Explosionen.

Henry wurde regelrecht an den Rand der Brücke zurückgedrängt, auf Höhe des Sammlers, der sich in seiner bakterienfreien Blase keinen Millimeter rührte.

„Melinda!“, krächzte Henry, da ihm langsam die Stimme versagte.

Als der Rauch sich legte, waren die beiden Monster fort. Und die junge Frau stand wieder.

„Diese kleine-“, zischte Isfanel zornig und fasste sich an die Stirn. „Wegen ihr ist [Daigusto Phoenix] zerstört worden, bevor ich ihn reinkarnieren konnte!“

„Melinda! Melinda bist du noch-“

„Sie ist fort“, sprach der Sammler teilnahmslos. „Und sie wird so schnell nicht wiederkehren. Sie hat ihre letzten Kräfte geopfert, um zu verhindern, dass du einem noch gefährlicheren Monster gegenüber stehst.“

Henry konnte das nicht glauben. Wieso hatte sie etwas so Dummes getan? Er war doch stark, und-

Aber es war ihre Entscheidung gewesen. Im Grunde war er stolz, so eine mutige, ältere Schwester zu haben. Und doch …

„Wird sie sich erholen können?“

„Höchstwahrscheinlich. Das hängt aber davon ab, wie Isfanel weiter vorgehen wird. Er hat jetzt die vollkommene Kontrolle. Aber auch sein Verstand wird immer instabiler.“

Tief durchatmend, trat Henry einen Schritt vor. „Gut, das ist alles, was ich hören wollte. Wenn das so ist, werde ich alles tun, um sie ihm zu nehmen! Das Opfer meiner Schwester wird nicht umsonst sein!“

Er ballte dazu eine Faust. „Isfanel! Ich werde dich besiegen!“

„Pah! Dummer Menschling!“ Der Dämon zog eine hässliche, hochmütige Fratze. „So einfach ist das nicht! Der Kampf ist noch nicht vorbei! Musto, direkter Angriff! Ich gewinne, ich!“

Henry schrie erschrocken auf, hatte er den Priester in der Zwischenzeit völlig vergessen. Dieser schwang nur einmal seinen Zauberstab, um einen mächtigen Luftzug zu erschaffen, welcher Henry mühelos von den Beinen riss und ihn in die Höhe hob. Dann erschuf der Hexer leuchtend grüne Klingen, die er per Schwenk mit seinem Stab in Henrys Richtung schickte.

„Gahhh!“, schrie der, als er von dem Angriff getroffen und letztlich fallen gelassen wurde.

 

[Henry: 4000LP → 2200LP / Melinda: 4000LP]

 

„Aber das war nur der Anfang!“ Isfanel zeigte eine Zauberkarte vor und lachte hysterisch. „Ahahaha! Main Phase 2, [One For One]! Ich werde ein Monster von meiner Hand abwerfen, um ein Stufe 1-Monster von meinem Deck zu beschwören!“

Die gewählte Karte knallte er auf die Duel Disk. „[Gusto Egul]! Und da das abgeworfene Monster [Gusto Griffin] war, kann ich durch dessen Effekt nun ein weiteres Gusto-Monster von meinem Deck beschwören! Erscheine, [Caam, Serenity Of Gusto]!“

Gleich zwei neue Monster tauchten vor Isfanel auf. Das erste war ein kleiner, grüner Vogel, der wie alle seine Artgenossen mit Helm und Brustpanzer daher kam. Das andere hingegen eine junge Magierin, deren grünes Haar zu einem langen Pferdeschwanz gebunden war. Sie schulterte stolz einen Zauberstab.

 

Gusto Egul [ATK/200 DEF/400 (1)]

Caam, Serenity Of Gusto [ATK/1700 DEF/1100 (4)]

 

Henry biss sich auf die Lippen beim Anblick der insgesamt vier Monster, die nun Isfanels Feld füllten. Dieser griff nach seinem Friedhof. „Effekt von Caam! Ich mische zwei Gusto-Monster von meinem Ablagestapel in mein Deck zurück!“

Er zeigte Griffin und [Daigusto Phoenix] vor, schob Letzteren dann grinsend in ein Unterfach seiner Duel Disk, ins Extradeck. „Und dann ziehe ich eine Karte!“

Aufgebracht entgegnete Henry: „Das weiß ich alles! Das ist schließlich -mein- Deck!“

Voller Schwung zog Isfanel die Karte und streckte dann den Arm aus. „Ich stimme das Stufe 1-Monster [Gusto Egul] auf das Stufe 3-Monster [Gusto Codor] ab!“

Beide Vögel stiegen in die Höhe. Dabei zersprang Egul in einen grünen Ring, welchen der Kondor durchquerte. „Emerald wings lead the will to survive towards heaven! A storm of hope embraces the world! Synchro Summon! Soar, [Daigusto Falcos]!“

Es gab einen grellen Blitz und kaum öffnete der geblendete Henry die Augen, flog ein stolzer, grüner Riesenfalke zu Isfanel. Sein massiver Körper war in eine blaue Rüstung gehüllt, dennoch trugen seine Schwingen ihn mühelos durch die Kanalisation. Da er jedoch ohne Reiter beschworen wurde, saß auch niemand auf seinem Rücken.

Isfanel rief: „Wenn dieses Monster als Synchrobeschwörung gerufen wird, stärkt es alle meine Gusto-Monster um 600 Angriffspunkte! Siehst du das!? Sie werden stärker!“

Das Monstrum gab einen schrillen Schrei von sich, der die drei Monster von Isfanel in grüne Auren hüllte.

 

Musto, Oracle Of Gusto [ATK/1800 → 2400 DEF/900 (4)]

Caam, Serenity Of Gusto [ATK/1700 → 2300 DEF/1100 (4)]

Daigusto Falcos [ATK/1400 → 2000 DEF/1200 (4)]

 

Isfanel zeigte seine letzte Handkarte und setzte sie verdeckt. „Nun hast du es gleich mit drei mächtigen Kreaturen zu tun! Und ich schwöre dir, sie werden dich vernichten! Niemals werde ich Eden zum Opfer fallen! Niemals, nie, nie! Zug beendet!“

Henry runzelte nur wütend die Stirn. Und -er- würde niemals zulassen, dass [Daigusto Phoenix] noch einmal beschworen wurde! Melindas Opfer durfte nicht umsonst sein!

 

Selbstbewusst griff Henry nach seinem Deck und rief: „Draw!“

Die Karte kurz betrachtend, legte er sie sofort auf seine Duel Disk. „Das ist es! Ich beschwöre [Marauding Captain]! Und wenn der als Normalbeschwörung gerufen wird, beschwört er ein weiteres Monster mit maximal Stufe 4 von meinem Blatt! Erscheine, [Grass Phantom]!“

Kaum hatte Henry die Namen seiner Monster genannt, erschienen diese vor ihm. Es waren ein strohblonder Krieger, welcher zwei Schwerter schwang und eine Kohlblume, aus deren Maul Tentakel quollen.

 

Marauding Captain [ATK/1200 DEF/400 (3)]

Grass Phantom [ATK/1000 DEF/1000 (3)]

 

„Jetzt!“, tönte Henry erhaben und nahm die beiden Monster von der Duel Disk, hielt sie in die Höhe. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen zwei Stufe 3-Monstern wird ein Rang 3-Monster!“

Seine Monster verwandelten sich in einen braunen und einen blauen Lichtstrahl, als sich mitten im Spielfeld abermals das schwarze Loch auftat und sie einsog. „Land und Meer, Erde und Wasser, werdet eins! Steh mir bei, [Circulating Flow – The Gaia Cleaver]!“

Aus dem Wirbel erhob sich eine massive Kreatur. Der Körperbau glich dem eines Menschen, doch war dieser Titan ganz aus Gestein gemacht. Überall durchzogen kleine Flüsse seinen Körper. Bewaffnet war der Gigant mit einer mächtigen Axt. Doch die zwei Lichtsphären, die um ihn kreisten, gaben plötzlich elektrische Stöße ab, sodass der Riese sich zusammenrollte und kurzerhand zu einer Kugel wurde – einem Planeten.

„Gaia Cleavers Angriffskraft sinkt um den Betrag der Angriffskraft seines Xyz-Materials“, erklärte Henry dazu.

 

Circulating Flow – The Gaia Cleaver [ATK/3500 → 1300 DEF/2000 {3}]

 

Als Isfanel das Monster genauer betrachtete, begann er hysterisch zu lachen. „Damit willst du mich besiegen!? Narr! Niemand kann mich besiegen! Niemand! Eden wird mich nie besiegen! Nie, nie, nie, nie, nie, nie!“

„W-was!?“

„Er verliert langsam den Verstand.“

Henry sah herüber zum Sammler, der den Dämon forschend betrachtete. „W-wieso?“

„Isfanel ist von Hause aus ein instabiles Wesen. Dadurch, dass er in der letzten Zeit permanent schwere Kämpfe ausgetragen hat und verwundet wurde, bricht sein Bewusstsein langsam auseinander. Melindas Taten haben es besiegelt, spätestens jetzt in diesem Duell. Womöglich weiß er nicht einmal mehr, wer er ist.“

„Nie, nie, nie, nie! Ahahahahaha!“

„Dann ist das unsere Chance!“, entschied Henry selbstbewusst und griff nach dem Xyz-Monster auf seiner Duel Disk, zog [Marauding Captain] darunter hervor. „Ich entferne ein Xyz-Material von Gaia Cleaver, um seinen Effekt zu aktivieren!“

„Effekt!?“, wiederholte Isfanel amüsiert. „Besitzt diese Missgeburt so etwas, Benjamin Henry Ford? Ahahaha!“

„Ja! Wenn du mindestens vier Karten kontrollierst, kann Gaia Cleaver eine davon zerstören!“ Henry zeigte mit dem Finger auf die gesetzte Karte. „Und meine Wahl fällt auf sie!“

Der Planet brach auseinander und formte wieder den Riesen, welcher mit seiner Axt eine der Sphären absorbierte und jene Waffe dann auf Isfanels Falle warf.

„Köstlich!“, schrie der manisch, als sein [Dimensional Prison] in tausend Stücke zersprang.

Henry sah das ähnlich. „Und da Gaia Cleaver nun nur noch ein Xyz-Material besitzt, erhöht sich seine Angriffskraft wieder!“

 

Circulating Flow – The Gaia Cleaver [ATK/1300 → 2500 DEF/2000 {3}]

 

„Jetzt ist es stärker als meine Monster“, stellte Isfanel mit geweiteten Augen fest. Und begann wieder hysterisch zu lachen. „Und wenn schon! Ich werde nicht besiegt werden! Nie! Nie, nie, nie, nie!“

Henry runzelte verärgert die Stirn. Langsam ging dieser Bastard ihm auf die Nerven mit seiner verrückten Art. Der alte Isfanel war zumindest noch ruhig geblieben, wenn auch nicht weniger übermütig. Aber das hier würde ohnehin jeden Augenblick enden!

„Ich aktiviere jetzt meine letzten beiden Handkarten! Die erste nennt sich [Nitro Unit] und wird an eines deiner Monster ausgerüstet! Wenn dieses dann durch Kampf zerstört wird, erhältst du Schaden in Höhe seiner Angriffskraft!“

Erschrocken schrie der Priester Musto auf, als um seinen Körper plötzlich ein Gürtel erschien, an dem eine riesige Bombe angebracht war. Diese bestand aus einem Zündmechanismus und einer grünen Gasflasche.

„Und wenn schon! Das reicht nicht!“, widersprach Isfanel. „Ich werde dich besiegen, wart nur ab! Wie ich Anya Bauer und ihren Freund besiegt habe! Du wirst sterben, genau wie sie! Ahahahaha!“

„Was-! Aber er-!“

Der Sammler räusperte sich. „Ich sagte doch, er verliert den Verstand. Auch seine Erinnerungen sind davon betroffen.“

„Wie auch immer“, zischte Henry und legte die zweite Zauberkarte in die Duel Disk ein. „Zeit, den Albtraum zu beenden! [Oni-Gami Combo]! Ich entferne alle Xyz-Materialien von meinem Monster, damit es diese Runde zweimal angreifen kann! Du weißt, was das heißt, Isfanel!“

„Niemals! Ich verliere nie!“, lachte der und schien nicht begriffen zu haben, was genau das bedeutete.

Henry schnaubte. „Träum' weiter …“

Auch die zweite Sphäre um [Circulating Flow – The Gaia Cleaver] löste sich auf. Dafür wuchsen ihm nun zwei weitere Arme aus dem felsigen Rücken, einer davon hielt eine Axt in der Hand. „Jetzt, da Gaia Cleaver keine Xyz-Materialien mehr besitzt, ist seine volle Stärke zurückgekehrt!“

 

Circulating Flow – The Gaia Cleaver [ATK/2500 → 3500 DEF/2000 {3}]

 

Henry ballte eine Faust. „Warte nur noch einen kurzen Augenblick, Melinda! Gleich ist es vorbei!“

„Vorbei, vorbei, vorbei! Dass ich nicht lache!“

Der junge Mann streckte den Arm aus und öffnete die Hand dabei. „Gaia Flow! Greife Caam an! Earth Glaive!“

Der Riese stampfte mit dem Fuß in der Luft auf, da er direkt über dem Fäkalienfluss schwebte. Dennoch erbebte ihr Umfeld, aus den Wänden schossen Stalagmiten und Stalaktiten, die alle die junge Zauberin anvisiert hatten. Unter einem Schrei wurde jene aufgespießt.

 

[Henry: 2200LP / Melinda: 4000LP → 2800LP]

 

„Nicht genug!“, schrie Isfanel wahnsinnig.

„Und jetzt, Gaia Flow, beende es! Greife Musto an! Wrath Of Gaia!“

Der Riese zog es nun vor, selbst zu kämpfen und schoss wie ein Pfeil auf den vergleichsweise mickrigen Priester zu. Dieser hob zum Schutze seinen Zauberstab, doch als der Gigant seine beiden Äxte schwang, zerbrach die Waffe des grünhaarigen Mannes wie ein Zweig unter dem Fuße eines Dinosauriers. In einem Schrei ging er unter.

 

[Henry: 2200LP / Melinda: 2800LP → 1700LP]

 

„Immer noch nicht genug!“ Isfanel grinste hämisch. „Zu schwach! Du bist einfach zu schwach!“

Henry schloss die Augen. „Und du hörst offenbar nicht mehr zu.“

„Was sagst du!?“

„Hör doch hin.“

Ein Ticken ertönte. Irritiert davon suchte der Dämon nach dem Ursprung, bis er schließlich auf den Boden vor sich blickte. Dort lag der Sprengsatz, welcher vorher an Musto angebracht worden war. Der Zeiger des Auslösers war nur noch zwei Sekunden von Punkt 12 entfernt. Gas strömte aus der Flasche aus.

Dann explodierte das Gebilde, die ganze Brücke wurde erfasst. Isfanels panischer Schrei ging darin hoffnungslos unter.

 

[Henry: 2200LP / Melinda: 1700LP → 0LP]

 

Plötzlich hörte Henry etwas zersplittern, ein Licht blendete ihn. Auch der Klang von dutzenden Glocken ertönte in seinem Ohr, es war ohrenbetäubend. Dazu spürte er noch ein Kribbeln auf der Haut, das von seinem verblassten Mal ausging. Ehe er jedoch darüber nachdenken konnte, war alles wieder vorbei.

Er öffnete die Augen und sah, wie die Rauchwolke um Isfanels Spielfeld sich langsam verzog.

„Das war leichter als erwartet“, stellte Henry dabei trocken fest. Doch wer weiß, wie es gelaufen wäre, hätte Melinda nicht eingegriffen? Zumindest seine Rache war damit vollzogen. Auch wenn diese ihn nicht befriedigte, hauptsächlich, da Isfanel nicht mehr er selbst zu sein schien.

 

Als der Rauch sich vollends verzogen hatte, war dieser auf die Knie gefallen und senkte sein Haupt. Dabei hielt er sich die Stirn und kicherte. „Ich habe nicht verloren, nein! Ich verliere nie! Nie! Das ist nicht geschehen!“

„Bereite diesem Trauerspiel ein Ende“, wies Henry den Sammler an. Er konnte das nicht länger mit ansehen, wie dieses Wesen den Körper seiner Schwester entehrte. So wollte er Melinda nicht sehen!

„Wie du wünscht.“ Der Sammler brauchte nur einmal mit dem Finger zu schnippen, da kippte die junge Frau schon bewusstlos nach vorn.

„Melinda!“, schrie Henry erschrocken und rannte um die linke Seite des Kanals herüber zu ihrer Brücke, um sie aufzulesen. In seinen Armen schüttelte er sie. „Melinda! Wach auf! Ich bin es, Henry! Er ist weg! Isfanel ist fort!“

Der Sammler trat zu ihnen beiden heran. „Für drei Tage.“

„Warum wacht sie nicht auf!?“, polterte Henry und strich ihr über das erschöpfte, blasse Gesicht.

„Sie ist völlig entkräftet. Es wird eine Weile dauern, bis sie wieder zurückfindet.“ Über das Antlitz des Sammlers huschte ein Lächeln. „Wie es aussieht, ist meine Aufgabe hier erledigt.“

Henry seufzte schwer, griff mit einem Arm unter Melindas Beine und las sie auf. In seinen Armen trug er sie fest an sich gepresst und stellte sich dem Collector mit fester Miene gegenüber. „Danke. Ohne dich …“

„Danke mir nicht. Deswegen existiere ich. Und bedenke: alles hat seinen Preis.“

„Ich weiß. Und ich bin bereit, ihn zu zahlen.“

„Sehr gut. Dann lass uns jetzt verhandeln, was deine übrigen Wünsche angeht.“

Henry zog an dem Sammler vorbei. „Ja …“

Jener gluckste daraufhin zufrieden: „Aber an einem gemütlichen Ort! Was bin ich froh, endlich aus dieser menschgemachten Hölle zu entkommen!“

Der Preis, ging es Henry dabei jedoch nur durch den Kopf. Hoffentlich würde er nicht zu hoch sein. Schließlich wollte er die Zukunft gemeinsam mit Melinda und dem Rest seiner Familie, seinen Freunden erleben. Allerdings … hatte sein Plan Priorität.

 

~-~-~

 

„Warum muss es ausgerechnet hier sein!?“, beschwerte sich Anya mit nasaler Stimme.

Bewaffnet mit einer Taschenlampe, hielt sie sich mit der freien Hand das Riechorgan zu und durchschritt einen dunklen Gang.

 

Hör auf dich zu beschweren, Anya Bauer. Dies ist das letzte Elysion, das wir aufsuchen müssen, also halte noch etwas durch.

 

„Du hast leicht Reden, du riechst ja auch nichts! Ich hasse diese abgefuckte Kanalisation! Elendes Labyrinth! Den Architekten werde ich-!“

 

Da vorne!

 

Anya sah auf und bemerkte es ebenfalls. In der Ferne schimmerte etwas Grünliches. Licht!

„Nanu!“, näselte sie weiter. „Wo kommt das denn her?“
 

Womöglich vom Elysion. Es ist gleich dort vorne.

 

„Endlich!“

Anya rannte durch den Gang, blieb jedoch plötzlich erschrocken stehen. „I-ich glaube-“
 

Was ist!?

 

„I-ich glaube ich … bin in Rattenkot getreten! Ahhhh, verdammter Kackmist!“

Sie hüpfte wütend auf der Stelle und versuchte, sich den Schuh an der Wand abzuschmieren, was jedoch nur dürftig funktionierte.

 

Hör auf mit den Albernheiten und lade die Scherbe auf!

 

Anya versuchte zu schnauben, was mit zugehaltener Nase jedoch nicht funktionieren wollte. „Ist ja gut!“

Sie nahm die letzten Schritte und trat aus den Gang heraus. Nur um sich in einem von smaragdgrünen Flammen erleuchteten Kanal wiederzufinden, durch dessen Mitte ein Fluss aus Fäkalien schwamm. Zwei Brücken führten jedoch auf die andere Seite.

„Wer hat die denn angezündet?“, wunderte sich Anya und betrachtete die Flammen.

 

Ich würde mich nicht wundern, wenn es die Handschrift des Sammlers wäre. Womöglich hat er sie erschaffen, damit du die Stelle findest. Immerhin war er es, der uns die Fundstelle des letzten Elysions verraten hat.

 

„Dieser Kerl“, stöhnte Anya und knipste die Taschenlampe aus. Sie ließ den Rucksack von ihren Schultern, verstaute das gute Stück darin und zog stattdessen ein Stück farbloses, spitzes Mosaik aus ihm hervor. „Okay, und wo genau ist das Teil nun!?“

 

Dort, bei dieser dunklen Stelle.

 

Die Blondine sah sich einen Moment um, ehe sie es fand. Und erschrak. „W-warte mal! Ist das nicht-!?“

 

Es ist Blut. Aber ich denke nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Das Elysion ist da. Lade jetzt die Scherbe auf.

 

„Sehe ich so aus, als ob mich das interessiert!?“, zischte Anya und stampfte zu der Stelle herüber.

Dennoch war ihr mulmig zumute, selbst als die Scherbe anfing, grünes Licht auszustrahlen. Dabei hörte sie wieder klar das Geläute von Glocken. Eden war nahe.

Ob das das Blut von der Schwester des Pennerkinds war? Hoffentlich hatte diese nicht den Löffel abgegeben! Denn ohne Minerva konnte … Eden nicht erwachen.

„Fertig“, meinte Anya schließlich abwesend, mit der aufgeladenen Scherbe in der Hand. Diese war nun komplett grün, leuchtete von innen.

Wieder setzte sie den Rucksack ab und verstaute den Splitter ihres alten Elysions darin.

 

Sehr gut. Mit den Scherben müssen wir jetzt nur noch zurück in deine Schule. Das sollten wir noch heute tun, je früher desto besser.

 

Anya trat herüber an den Rand des Kanals. Sie sah herab auf ihr in Grün getauchtes, verzerrtes Spiegelbild und schluckte.

Wer einen Pakt brechen wollte, müsste den Tod überleben. Das war, was alle sagten. Wenn sie jetzt also einfach dort reinspringen und …

Aber das war unmöglich! Wenn sie tot war, wer würde sie reanimieren!? Außer ihnen war niemand hier! Und außerdem, selbst wenn sie es versuchte, würde Levrier sie aufhalten. Abseits davon … fehlte ihr der Mut, so etwas zu tun.

Sie biss die Zähne zusammen. Das war nicht fair! Wieso-!

Tief durchatmend, versuchte sie die Fassung zu wahren. „'kay. Lass uns gehen.“

Und wandte sich damit vom Kanal ab. War vielleicht auch besser so, dachte sie sich dabei. Eine Anya Bauer ertrank nicht in einem Fluss voller Scheiße …

 

~-~-~

 

Immerhin mussten sie dieses Mal nicht einbrechen, dachte Anya grimmig, als sie die Türen der Aula öffnete. Es waren trotz der vorangeschrittenen Uhrzeit noch ein paar Lehrer und Schüler im Haus, sodass jenes frei betretbar war.

Die Baustelle hatte sich praktisch nicht verändert, als das Mädchen eintrat. Es standen noch immer keine Stühle in der Aula, das Loch in der Decke war auch noch nicht geflickt.

„Wenn die wüssten“, brummte das Mädchen grimmig und schritt durch den Saal.

Bald würde der Turm von Neo Babylon alles in Schutt und Asche legen. Und sie würde alles mit Kamera aufnehmen, so viel stand fest! Die Youtube-Klicks würden explodieren! Damit konnte sie zumindest posthum noch zum Internetstar avancieren. Immerhin etwas, dachte sie frustriert.

 

Ich frage mich, was passieren wird, wenn alle Scherben versammelt sind.

 

Genervt seufzend setzte Anya den Rucksack ab und holte die fünf Splitter heraus. Sie waren alle so groß wie die Fangzähne eines Raubtiers. Rot, grün, blau, gelb und violett. Marc, Melinda, Valerie, Alastair und Matt.

… es waren nur Namen.

„Man, da platzt einem ja fast das Trommelfell!“, beschwerte sie Anya, als sie näher an die Stelle heran trat, an der sich ihr altes Elysion befand.

 

Das liegt daran, dass genau hier der Turm erscheinen soll, vermute ich. Da dies die Glocken Neo Babylons sind, ist es nicht weiter verwunderlich, dass man sie von hier am deutlichsten hört.

 

„Wenn das so ist, würde es mich nicht wundern, wenn Eden taub ist!“

Mit grimmiger Visage stellte sich Anya direkt dorthin, wo sie sich einst gegen Alastair duelliert hatte. Dorthin, wo sie ihren Untergang eigenhändig besiegelt hatte.

„Ah!“

Die Scherben begannen zu strahlen und flogen ihr aus der Hand – und lösten sich in weißem Licht auf!

 

Ich sehe es! Das Elysion, es wird neu zusammen gesetzt! Ah!

 

„Was ist!?“

 

Es … es ist verschwunden! In die Dunkelheit!

 

Anya blinzelte irritiert. „Was heißt das jetzt?“

 

Dass wir warten müssen. Bis der Turm erscheint. Anya Bauer, ich danke dir. Damit sind die letzten Vorkehrungen getroffen. Nun heißt es warten. Alles hängt jetzt davon ab, ob deine Freunde-

 

Doch das Mädchen hatte sich unter einem lauten Zischen umgedreht.

„Ich weiß! Und damit das klar ist: die sind nicht meine Freunde! Wenn sie so dumm sind und kommen ist das ihr Pech!“

Und sie würden kommen, da war sich Anya sicher, als sie ihren Rucksack auflas und durch den Saal rannte. Dafür würde Matt sorgen, denn wenn er sich wirklich Mühe gab, konnte er sogar recht überzeugend sein. Was nur gut für sie war …

 

 

Turn 29 – Rivals

Nun, da die letzten Vorbereitungen für Edens Erwachen getroffen sind, verbringt Anya die letzten beiden Tage, die ihr noch bleiben, zuhause, da sie noch einige persönliche Vorbereitungen zu treffen hat. Am Abend des 10. Novembers wird sie schließlich von Abby und Nick überrascht, die sie durch eine „Alles wird gut“-Party aufheitern wollen. Doch unerwartet taucht Valerie auf, was zu einer Auseinandersetzung führt, die letztlich in einem ganz besonderen Duell mündet …

Turn 29 - Rivals

Turn 29 – Rivals

 

 

09. November

 

Hey Mum, hey Dad,

 

wenn ihr diese Zeilen lest, bin ich bereits weit weg. Hab es nicht mehr ausgehalten in dieser langweiligen Stadt, wisst ihr? Keine Ahnung, wohin es mich führt, aber es wird sicher spannend werden.

Wartet nicht auf mich. Ich werde nicht zurückkommen. Will mein eigenes Leben leben, ohne immer unter Beobachtung zu stehen. Einfach neu anfangen, in einer Stadt, in der mich niemand kennt. Macht euch keine Sorgen, ich werde auch ohne euch klarkommen.

 

Lebt wohl,

 

Anya
 

PS: Dad, du Mistkerl, ich habe dir jetzt verziehen! Sei nett zu Mum, solange ich weg bin!

 

 

Bittere Tränen rannen über Anyas Wangen, als sie den Stift weglegte und sich den Brief noch einmal durchlas. Selbst ordentlich hatte sie die Worte geschrieben, nicht geschmiert, das Papier war sauber wie eine Jeans nach der Wäsche.

Es war ihr Abschiedsbrief und der hatte perfekt zu sein!

Sich das Nass aus den Augen wischend, nahm sie den Brief, faltete ihn mit größter Sorgfalt und schob ihn in einen Umschlag, der neben dem Stift auf ihrem Schreibtisch lag.

 

Anya Bauer. Es tut mir leid, dass du das durchmachen musst …

 

„Halt die Klappe, Levrier!“, zischte Anya und legte den Brief in ein Schubfach neben sich.

Wenn -der- Tag gekommen war, würde sie ihn herausholen und auf das Bett ihrer Mutter legen.

Sie konnte sich die Reaktion regelrecht vorstellen. Ihre Mum würde den Brief gar nicht ernst nehmen und erwarten, dass Anya aufgrund mangelnder Vorbereitung noch am Abend wiederkommen würde. So war es immer gewesen, wenn sie abgehauen war. Nur, dass es dieses Mal nicht so laufen würde.

Doch Anya konnte ihren Eltern nicht die Wahrheit sagen. Dass sie vom Antlitz dieser Welt verschwinden würde. Der Brief würde ihnen die vage Hoffnung geben, dass sie eines Tages wiederkam. So würden sie leichter mit dem Verlust umgehen können.

 

Warum hast du ihn auf den heutigen Tag adressiert?

 

„Keine Ahnung“, antwortete Anya und schluckte den Schmerz herunter. Sie hatte noch einiges vor, da durfte sie jetzt nicht heulen wie ein kleines Baby, dem man den Schnuller gemopst hatte.

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und atmete tief durch. „Auf geht’s! Ich hab keine Zeit zu verlieren!“

 

~-~-~

 

Sie flog, als sie das erste Mal beim Bungie Jumping mitmachte.

Sie nahm die wildeste Achterbahn aller Zeiten.

Sie gönnte sich das teuerste Eis im Café „Bikini Fruit“.

Sie schaute sich den neuesten Horror-Film in 3D an und schmiss das halbe Publikum aus dem Saal.

Sie suchte sich die schönsten Nägel vom Schrottplatz, um Barbie für den Abschied zurecht zu machen.

Und als die Nacht kam, schlief sie nicht, sondern zockte den neuesten Teil der „Finite Fantasia“-Reihe auf ihrer Videospielkonsole durch, in einem Rutsch.

Am nächsten Tag stattete sie dem widerlichsten Schläger ihrer Schule einen Besuch ab und erteilte ihm eine Lektion, die er nie mehr vergessen würde.

Sie räumte sogar ihr Zimmer auf.

Sie half einer Nachbarin dabei, ein paar Einkäufe zu erledigen.

Sie lehrte ein paar Knirpsen, wie man richtig Duel Monsters spielte.

Und als das Abendrot am Firmament stand, wusste sie, dass man sie in ein paar Jahren vergessen haben würde.

 

~-~-~

 

Es klingelte, als Anya müde auf ihrem Bett lag. Da ihre Mutter noch nicht zuhause war, quälte sie sich vom Bett auf, rannte die Treppen polternd hinab zur Haustür und öffnete jene mit einem Ruck.

„Ich kaufe nichts von Penn-“ Sie blinzelte verdutzt.

„Hi, Anya“, strahlte Abby ihr entgegen.

Nick stand hinter ihr und grinste dämlich. „Hi, Anya-Muffin!“

Die Blondine wusste nicht, was sie sagen wollte. Die letzten beiden Tage über war sie ihren Freunden bewusst aus dem Weg gegangen. Und das, obwohl sie all die Erlebnisse der vergangenen Stunden am liebsten mit ihnen zusammen erlebt hätte …

„Was wollt ihr?“, fragte sie abweisend. „Ich bin beschäftigt.“

Abby seufzte genervt. „Schon klar, lügen konntest du noch nie gut! Da morgen der große Tag ist, an dem du Eden zurück in den Garten schickst, dachten wir, dass wir eine Party feiern wollen.“

„Eine Party?“, wiederholte Anya die Worte ungläubig.

Das Hippiemädchen strahlte über beide Backen. „Aber sicher! Eine „Alles wird gut“-Party!“

„Wir haben sogar Wein mitgebracht“, gluckste Nick und hielt Anya eine Flasche Sekt entgegen, wobei sein Arm bandagiert war.

Die war sprachlos, starrte nur von einem zum anderen. Eine „Alles wird gut“-Party? So etwas Dämliches konnte sich auch nur Abby ausdenken.

„Sehe ich so aus, als wäre ich in Partylaune?“, tönte Anya missmutig und war schon im Begriff, die Tür zuzuschlagen, als ihre Freunde sich eilig an ihr vorbeizwängten.

Dabei rief Abby gut gelaunt: „Natürlich nicht! Aber das werden wir ändern!“

 

Kurz darauf fanden die Drei sich auf dem Boden hockend in Anyas Zimmer wieder. Abby kramte aus ihrem Rucksack ein paar Knabbereien heraus. „Wir haben für alles vorgesorgt.“

„Jap, wir haben sogar ein paar CDs gekauft“, gluckste Nick und nahm Abby jene ab, hielt sie Anya direkt vor das Gesicht. „Finnischer Death Metal!“

„Schön und gut, aber ich sagte doch, ich bin nicht-!“

„Auch nicht, wenn wir uns hiermit vergnügen?“, fragte Abby und holte ein Videospiel hervor. „Todeszombies VS Killercops Teil V! Den wolltest du doch unbedingt mal antesten.“

Anya betrachtete die Packung überrascht. „S-schon-!“

„Und wenn uns das zu langweilig wird, spielen wir einfach hiermit!“ Nick fasste sich in den Schritt.

Doch als er finstere Blicke von den beiden Mädchen erntete, zog er schnell sein Deck aus der Hosentasche. „Ich meine hiermit.“

„Duel Monsters? Keine Lust …“

Abby seufzte daraufhin und schnappte sich die Sektflasche, die in der Mitte des Sitzkreises stand. „Okay, sie scheint immer noch nicht zu kooperieren. Nick, du hältst sie fest, während ich ihr das Zeug einflöße!“

„W-was!?“

„Okay!“ Schon krabbelte der junge Mann hinter Anya und packte sie unter den Achseln. „Immer schön das Mäulchen auf!“

„Lass mich los, du Vollhorst!“

Allerdings stellte sich Abby derweil ungeschickt mit dem Öffnen der Flasche an und verzweifelte regelrecht daran. „Hast du 'nen Flaschenöffner, Anya?“

„Gib her!“, zischte die, gab Nick mit einem Ruck nach hinten eine Kopfnuss und befreite sich so aus dessen nicht ganz so eisernem Griff. Sie riss Abby die Flasche aus der Hand und biss auf den Korken.

Dabei nuschelte sie: „So geht das!“, ehe sie diesen nur mit den Zähnen aus der Flasche zog.

Ehe sie aber nur einen Schluck daraus nehmen konnte, wurde ihr der Sekt von Nick geklaut. „Ich bin Vorkoster!“

„Bist du nicht! Wenn das schon meine Party ist, dann gebührt mir der erste Schluck, Harper!“, ließ Anya sich das nicht gefallen und sprang ebenfalls auf.

Die beiden rannten laut brüllend um Abby im Kreis. Diese lachte vergnügt. Anya konnte sich noch so desinteressiert stellen, in Wirklichkeit freute sie sich über die Party.

 

Und so geschah es, dass der letzte Abend vor dem großen Tag zu einer wilden Feier verkam. Die Drei lieferten sich eine Essensschlacht mit den Knabbereien, in der Nick vorzeitig ausschied, weil Anya ihm das Zeug solange in den Mund stopfte, bis ihm schon fast die Backen platzten.

Auch eine Runde Wahrheit oder Pflicht durfte nicht fehlen, die jedoch schnell abgebrochen wurde, weil Nicks Ideen zum Thema Pflicht nicht auf den erhofften Anklang bei seinen weiblichen Mitspielern traf.

Damit Abby das Geld für das Videospiel nicht umsonst ausgegeben hatte, zockten sie zu dritt den Co-Op Modus und schlugen sich eher mäßig, da besonders das Hippiemädchen aufgrund mangelnder Erfahrung keine große Hilfe war. Und weil Nick kurzerhand die Seiten wechselte und für die Zombies zu kämpfen begann.

Natürlich durfte auch eine Partie Duel Monsters nicht fehlen, in der sie in einem Battle Royale gegeneinander antraten. Dabei schenkte keiner dem anderen etwas, selbst Nick spielte für seine Verhältnisse erstaunlich gut. Am Ende konnte Abby ihre Gegner gegeneinander ausspielen und sich somit den Sieg sichern. Und ein Kissen an den Kopf, da Anya keine gute Verliererin war.

Dies war dann auch der Anlass für eine Kissenschlacht, die sich durch das ganze Haus zog. Selbst vor dem Zimmer ihrer Mutter machte Anya nicht halt, da sie noch Munition für ihren vierfachen Todeswurf brauchte. Und gerade als sie diesen im Wohnzimmer gegen Nick einsetzen wollte, welcher sich heldenhaft vor Abby stellte, klingelte es an der Tür.

 

Verdutzt ließ Anya die Kissen fallen. „Wer will denn so spät noch nerven?“

„Vielleicht ist es deine Mutter“, meinte Abby, die knallrot vor Erschöpfung im Gesicht war und trat näher an das Fenster heran.

„Quatsch, die hat doch vorhin schon angerufen und gesagt, dass es heute sehr spät wird, da sie im Büro viel zu tun hat“, erwiderte Anya und stellte sich neben ihre Freundin.

Draußen war es schon dunkel, die Laternen beleuchteten die Straße und den zum Teil versengten Garten der Familie Bauer bereits seit über einer Stunde. Allerdings sahen die beiden nicht, wer da klingelte, vermutlich stand der Gast schon direkt vor der Tür.

Zerknirscht zischte Anya, als es wieder durch das Haus schrillte: „Ist ja gut, ich geh ja!“

Wütend stampfte sie durch den Flur zur Haustür, die sie mit folgenden Worten aufriss: „Ich kaufe nichts von Pennern! Schon gar nicht um diese Uhrzeit!“

„Dann habe ich wohl Glück, dass mein Vater als Bürgermeister gutes Geld verdient, was?“, erwiderte Valerie spitz und funkelte die daraufhin verdutzte Anya finster an. „Wir müssen reden!“

„Sehe ich so aus, als ob ich mit dir reden will?“, erwiderte die Blondine garstig. „Kann das nicht bis morgen warten, wenn wir mit dieser Edenkacke durch sind?“

„Genau darum geht es“, kam ihr das Mädchen kalt zuvor und ließ sich ohne zu fragen Einlass.

 

Ruhigen Schrittes trat sie in das Haus der Familie Bauer ein und war überrascht, als Abby und Nick auf sie zu traten. Erstere sprach überrascht: „Oh, Valerie! Guten Abend!“

„Guten Abend, Abigail.“ Das Mädchen, welches ihr schwarzes Haar zu zwei langen Pferdeschwänzen gebunden hatte und eine pinke Strickjacke über ihrer weißen Bluse trug, verschränkte die Arme. „Ich mache es kurz: ich werde morgen nicht kommen. Und Marc auch nicht.“

Als Reaktionen erntete sie erschrockene Seufzer.

„V-Valerie-!“

Ehe Abby den Satz beenden konnte, packte Anya ihre ewige Rivalin am Arm. „Sag das nochmal, Redfield!“

„Du hast mich schon beim ersten Mal verstanden“, riss diese sich los und funkelte Anya dabei regelrecht an. „Ich werde dir nicht helfen!“

„Und warum!? Ich hab dir nichts getan!“ Kleinlaut fügte die Blondine hinzu: „Jedenfalls nicht in letzter Zeit …“

„Du weißt genau, was du getan hast!“, erwiderte nun auch Valerie mit gehobener, aufgebrachter Stimme. „Du hast meinen Freund beinahe getötet! Denkst du, das habe ich dir verziehen!?“

„Also ist es Rache!?“ Anya schlug mit der Faust gegen die Wand des Flurs. „Sieh an! Auch die edle Redfield kann also ein Miststück sein, wenn sie richtig wütend ist! Da krieg' ich glatt Lust, dir ein Umstyling im Anyastil zu verpassen, du dämliche-“

Valerie schüttelte jedoch den Kopf und fand zu ihrem distanzierten Tonfall zurück. „Wäre ich auf Rache aus, hätte ich diese schon vor Tagen genommen …“

 

Ehe Anya darauf reagieren konnte, schritt Abby schlichtend zwischen die beiden und sprach beruhigend auf die schwarzhaarige, junge Frau ein. „Bitte Valerie, denk darüber nach, was du da sagst. Wenn du und Marc nicht da sind, dann wird Anya …“

„Ich weiß. Aber das ist nicht zu ändern. Anya scheut ja auch nicht davor zurück, uns über die Klinge springen zu lassen.“

Entsetzt sah Abby das Mädchen an, in deren rehbraune Augen sich regelrecht Abscheu für die Blondine widerspiegelte.

„Ist dir ein Flugzeug auf den Kopf gefallen, oder was redest du da für einen Bullshit!?“, fauchte Anya und wollte an Abby vorbei, um ihrer Erzrivalin einen Fausthieb zu verpassen. Nur Nicks Einschreiten war es zu verdanken, dass es nicht dazu kam.

„Lass mich los, Harper! Ich werde dieses Püppchen zu Brei verarbeiten!“, keifte Anya im festen Griff des hochgewachsenen Kerls, strampelte vor Wut.

Nick presste im Kampf mit der Blondine ächzend hervor: „Rennt weg, lange kann ich den Monstermuffin nicht festhalten! Sie wird uns alle töten!“

„Verdammt richtig, Harper, wenn du mich nicht gleich loslässt!“

„Das wird sie tatsächlich, morgen“, sprach Valerie ungerührt und sah Anya feindselig an. „Du hast uns angelogen. Im Turm von Neo Babylon wartet kein Herz von Eden, da Eden gar kein Herz besitzt. Es ist ein Tor, kein Lebewesen.“

Anyas Versuche, sich gegen Nicks Griff zu wehren, verebbten. Ihr Mund stand offen, doch kein Laut verließ ihre Lippen, als sie ihre Erzfeindin fassungslos anstarrte.

„Das beweist gar nichts!“, war es nun auch Nick, der das Wort ergriff. „Tore können auch Herzen haben und lebendig sein! Wer sagt, dass Eden nicht trotzdem lebendig ist? … ich meine, manchmal laufe ich auch gegen Tore, die sich mir plötzlich in den Weg stellen. Also leben die auch, hehe!“

„Woher willst ausgerechnet du überhaupt wissen, was Eden ist!?“, fand Anya nun ihre Stimme wieder. Sie wurde von Nick losgelassen und lud praktisch schon den Todesblick auf, um Valerie zu vernichten. „Bisher konnte uns niemand sagen, was Eden genau ist! Woher der plötzliche Geistesblitz, Redfield!?“

„Was spielt das für eine Rolle?“, erwiderte die uneinsichtig. „Völlig gleich, was Eden ist, bist es doch du, die uns opfern will! Niemand sonst! Wer einmal zu Mord imstande war, wird es wieder tun!“

„Pah! Du hast deinen Marc doch wieder, wieso also das Theater!?“

„Du verstehst gar nichts, Anya! Ich dachte, du würdest dich ändern, aber-!“

 

Ein dunkler Schatten sauste urplötzlich über Valerie hinweg. Abby schrie erschrocken auf und stieß gegen Anya, die weniger überrascht auf Nick sah. In dessen ausgebreitete Hände war das schwarze Knäuel gelandet.

„Konichi wa!“, flötete es aus seinem Trötenmund.

Der Blick der Blondine verfinsterte sich beim Anblick der Kreatur. „Oh Gott, es ist die Pornozwiebel! Was will der denn hier!?“

Orion sah Anya mit seinen großen, weißen, pupillenlosen Augen entrüstet an. „Warum so abweisend, meine süße Tsundere? Hast du mich nicht vermisst?“

„Kein-bisschen!“

„Er war es, der mich über Edens wahre Gestalt aufgeklärt hat“, sagte Valerie daraufhin. „Dank ihm wurde mein Verdacht bestätigt, dass du uns nur opfern willst, um selbst heil aus der Sache herauszukommen, Anya!“

„St-stimmt das, Orion?“, fragte Abby entgeistert und beugte sie herunter zu dem Schattengeist in Nicks Händen.

Dieser ließ den überdimensionalen Kopf hängen, der gleichzeitig sein ganzer Körper war. „... ja. Ich will nicht … Ich will nicht, dass Valval-chan geht! Deswegen habe ich ihr gesagt, was Eden ist, auch wenn ich das gar nicht darf!“

„Bei dir hackt's wohl! Alles was ich will, ist Eden in Schutt und Asche zu legen!“, widersprach Anya erzürnt und packte den Geist mit einer Hand am Stummelbein, ließ ihn in gefährlicher Höhe baumeln. „Nimm das sofort zurück, du heuchlerischer Ekelgnom!“

„Das kann ich nicht!“, jammerte Orion kopfüber. „Wenn Valval-sama in den Turm geht, hat -sie- gewonnen!“

Valerie fragte verwundert: „W-wer?“

„Sie! Das Böse in dir!“

„Wovon redest du, Orion!?“, wurde die Schwarzhaarige nun deutlich lauter. „Erklär' dich!“

„Neeeein! Ich habe schon viel zu viel gesagt!“ Der Schattengeist heulte dicke Krokodilstränen, als Anya ihn zu schütteln begann.

 

Diese wusste gar nicht, ob sie sich zuerst um den Dämon oder ihre Erzrivalin kümmern sollte.

Wie war ihr die durchgeknallte Spinnerknolle nur auf die Schliche gekommen!? Wusste sie tatsächlich mehr als sie zugab? Wenn dem so war, musste Anya ihn dazu zwingen, ein bisschen zu singen!

Andererseits hatte der Knallkopf dieser Nullnummer Redfield jetzt irgendeinen Floh in den Kopf gesetzt! Und solange das nicht geklärt war, sah es richtig übel aus! Ausgerechnet jetzt, wo der Turm doch jeden Moment erscheinen konnte!

Aber eins nach dem anderen, noch konnte sie das alles geradebiegen! Ihr würde schon etwas einfallen!

 

Mit einem Wutschrei warf Anya den Schattengeist in die Luft, welcher gegen die Decke des Flurs knallte und wieder herabfiel. Mit beiden Händen fing sie ihn an den Wangen auf und begann gleich damit, diese auf ihre Strapazierfähigkeit zu testen.

„Du redest jetzt schön Klartext, du fleischgewordener Scheißhaufen!“ Sie zog die Wangen so lang, dass Orion kurz davor stand, in einen Briefkasten umfunktioniert zu werden. Wohlgemerkt einer, der Briefe nur entgegen nahm, aber nie wieder ausspuckte. „Was zur Hölle bringt dich auf die Schnapsidee, Redfield so einen Unsinn zu erzählen!?“

„Iff woffte doff nuf, daff fie-“

„Lass das!“, fauchte Valerie und ging dazwischen, schnappte Anya den Schattengeist aus den Händen.

Der rieb sich die schmerzenden Wangen mit seinen Stummelärmchen. Kleine Kullertränchen standen ihm in den Augenwinkeln. „Ich wollte doch nur, dass -sie- nicht gewinnt!“

„Wer!?“, tönten Blondine und Schwarzhaarige gleichzeitig und kreisten Orion ein.

„Joan! Sie ist kein Engel!“

„Red' keinen Unsinn, natürlich ist sie das!“, widersprach Valerie sofort aufgebracht. „Ich weiß, dass sie aus dem Himmel verbannt wurde! Also hör auf, dir deswegen Sorgen zu machen!“

„Aber das ist es ja … ich kann dir nicht sagen warum, aber man darf ihr nicht vertrauen! Sie ist böse!“

Was für Anya eine ideale Möglichkeit bot, um sich Valerie vorzunehmen. „Da hörst du es! Kehr erstmal vor deiner eigenen Garage, Redfield!“

Leise murmelte Abby zu Nick: „Es heißt aber Haustür …“

„Joan würde niemals jemandem ein Leid zufügen!“, verteidigte Valerie ihre Paktpartnerin jedoch vehement, breitete weit die Arme aus und ließ Orion dabei fallen. „Sie ist sogar so großherzig, dass sie dir trotz aller Zweifel helfen will!“

„Aber das ist es doch gerade, Val-samachan!“ Der Schattengeist landete auf den Füßen und sah flehend zu seinem Schützling auf. „Das sollte sie nicht! Denk doch nach!“

Doch Valerie presste nur verbittert die Lippen aufeinander. „Orion … das ausgerechnet von dir zu hören! Ich dachte, man kann dir vertrauen!“
 

„Wenn ihr mir nicht helfen wollt“, murmelte Anya plötzlich und streckte den Arm aus, „dann helfe ich mir eben selbst. Nick! Hol Barbie!“

„Barbie!?“, schoss es aus Abby heraus.

Ein dreckiges Grinsen huschte nun über Anyas Gesicht. „Niemand hat gesagt, dass diese komischen Zeugen den Turm bei Bewusstsein betreten müssen!“

„Du willst mit mir kämpfen!? Mit deinem komischen Baseballschläger!?“, schoss es fassungslos aus Valerie, die dann ihre Stirn kraus zog. „Aber stimmt, du hattest ja noch nie Angst vor Gewalt! Wenn du unbedingt willst, nur zu!“

Valerie hob die rechte Hand auf Kopfhöhe. Eine blaue Aura fing an, um sie zu glühen.

„Hör auf, Val-Baby!“, schrie Orion mit Trötenmund. „Du darfst die Kräfte … dieses bösen Weibs nicht benutzen! Siehst du nicht, wie sie dich manipuliert!?“

Zornig blickte Valerie auf den Schattengeist herab. „Wenn du auf Anyas Seite bist, dann halt dich da raus, sonst kann ich für nichts garantieren!“

„So willst du kämpfen?“ Anya grinste und hob ebenfalls den Arm, um ihn begann eine braune Aura zu glühen. „Von mir aus! Das wollte ich sowieso schon immer mal machen! Scheiß auf Duelle, jetzt wird mal richtig gerockt! Bereit, Levrier!? … Levrier sagt, ich soll dir in den Arsch treten! … zumindest würde er das, wenn er denn mal etwas sagen würde!“

 

Bitte hört auf!

 

Alle Beteiligten des Streits horchten überrascht beim Klang der zarten, weiblichen Stimme auf.

 

Ich kann nicht zulassen, dass ihr euch um meinetwegen streitet. Wenn ihr die Wahrheit über mich erfahren wollt, dann …

 

„Joan!“, fand Valerie als Erste ihre Sprache wieder. „Mach dir nichts daraus! Wenn ich Anya jetzt besiege, dann wird alles gut!“

 

Bitte, Valerie! Deine Zweifel an Anya sind sicherlich berechtigt, doch deswegen darfst du dich nicht an ihr versündigen!

 

„Das ist meine Entscheidung! Sie hat sich an meinem Verlobten versündigt!“

„Also doch Rache!“, zischte Anya verärgert und erschuf Blitze um ihren Arm. „Fein, Redfield! Komm nur! Und du halt dich da raus, du elende Engelstante!“

Der Schattengeist sprang auf Anyas Schulter. „Ganz genau!“

„Auf wessen Seite bist du eigentlich, Orion?“, schoss es aus Abby heraus. „Anya will Valerie doch weh tun!“

„Waaah, stimmt!“

Leider wurde es nur nichts mit dem Weh tun, denn die Blitze um Anyas Hand lösten sich auf. Diese starrte ihre verkrümmten Finger entsetzt an. „Was!? Wieso ist der Strom weg!? Levrier, tu den Stecker wieder rein!“

„Anya-“, begann Valerie ungehalten, doch wurde unerwartet übertönt.

 

Es tut mir leid, aber ich kann nicht erlauben, dass ihr jetzt kämpft. Nicht hier.

 

Anya zuckte beim Klang der ihr bisher unbekannten, glockenhellen Stimme zusammen.

Mit einem Schlag ging ein grelles, blaues Licht von den Malen der beiden Furien aus. Es war so intensiv, dass alle Anwesenden geblendet wurden. Die beiden Mädchen selbst schrien erschrocken auf, doch dann verstummten sie schlagartig und es polterte.

 

~-~-~

 

Anya schlug blinzelnd die Augen auf. Dabei brauchte sie auch nicht lange darüber zu grübeln, wo sie sich wiederfinden würde. Sie kannte mittlerweile das Gefühl, -hier- zu sein. Im Elysion.

Was das Mädchen jedoch nicht davon abhielt, einen überraschten Laut auszustoßen, als sie letztlich mit der Realität konfrontiert wurde
 

Sie war im Elysion. Aber nicht alleine!

Und es war nicht das Elysion, das sie kannte.

 

Valerie stand auf der anderen Seite. Dem -anderen- Elysion.

Irritiert sah die Blondine auf den Boden herab. Sie stand auf dem Mosaik, welches in seiner hauptsächlich blauen Farbe den Erdball bildete. Aber das zuvor kreisrunde Gebilde ging direkt ihr gegenüber in ein anderes Elysion über. Ein anderes Mosaik, das eine goldene Sonne darstellen sollte. Dort, wo beide aufeinander trafen, liefen die im Kontrast stehenden Farben ineinander über.

 

„Ich glaub's nicht“, brummte Anya verärgert. „Was soll das!? Erst klemmt er mir den Saft ab und jetzt das hier!“

Schlimmer noch, die Pornozwiebel klammerte sich an ihrem Bein wie eine Klette und sah feindselig herüber zur anderen Seite, ohne einen Mucks von sich zu geben.

Was hatte die überhaupt hier zu suchen!? Anya war dazu geneigt auszutesten, wie weit die unendliche Schwärze wirklich ging, indem sie Orion 'voraus schickte'. Doch auch wenn sie es niemals laut zugeben würde, erregte sein zitternder Leib, die zusammengepresste Tröte, diese spürbare Angst ihr Mitleid. Was war sein Problem?

 

„Joan, was geschieht hier?“, fragte Valerie von der anderen Seite verblüfft. „Wieso ist Anya in meinem Elysion?“

Die konnte dies nicht so stehen lassen und wandte sich von Orion ab. „Du meinst wohl -mein- Elysion! Levrier, kick diese Hohlbirne raus, auf der Stelle!“

Und während von Anyas Paktpartner keine Reaktion folgte, entstand rechts neben Valerie ein leuchtender Punkt etwa auf Höhe ihres Herzens, der viele Lichtpartikel aus dem Nichts anzog. Ein helles Flimmern später, stand dort neben ihr die Heilige Johanna. Burschikos mit ihren kurzen Haaren, der Ritterrüstung und den etwas groben Gesichtszügen. Welche tiefes Bedauern zum Ausdruck brachten.

„Ich korrigiere mich“, murmelte Anya verloren beim Anblick der beiden Frauen, „kick die Hohlbirne und ihren Zuhälter aus meinem Elysion!“

Kurz darauf schnappte sie: „Was macht ihr beiden Psychopathen überhaupt hier!?“

Und wieso meldete Levrier sich nicht, fügte sie noch nervös im Gedanken hinzu. Der war doch sonst immer hier und drehte Däumchen!

 

Joan wurde fragend angesehen. Und das nicht nur von Anya.

„Sie hat recht. Was, ich wiederhole mich, geschieht hier?“, verlangte Valerie höflich, nichtsdestotrotz mit unterschwelliger Schärfe abermals zu wissen.

Darauf erntete sie von ihrer Schutzpatronin einen nachdenklichen Blick und ein Nicken. „Ich habe euch hierher gerufen. Es ist wahr. Keine Menschenseele kann das Elysion eines anderen betreten – doch zwischen ihnen kann eine Verbindung hergestellt werden. Dies habe ich veranlasst, denn es ist an der Zeit, mein Geheimnis zu lüften.“

Valerie kniff daraufhin die Augen zusammen. Ihr war jetzt nicht danach, in anderer Leute schmutziger Wäsche zu wühlen. Natürlich war da die Neugier, endlich die Wahrheit hinter Joans 'Sünde' zu erfahren. Sofern es das war, worüber sie reden wollte. Doch warum jetzt?

„Was hat das mit meinem Konflikt mit Anya zu tun?“

Joan seufzte. „Oberflächlich betrachtet nichts. Jedoch ist sie … war sie mein Ziel.“

„Ziel!?“, schoss es aus der Blondine. „Willst du mir ans Leder, Miststück!? Komm nur rüber!“

Doch Joan schenkte ihr keine Beachtung, als jene die Fäuste hob, um zu anzudeuten, wie geschickt sie sich im Boxkampf anstellen konnte.

 

„Sie war mein Ziel“, begann Joan schwermütig zu erklären, „um zurück in den Himmel zu gelangen. Um von Gott meine Gnade zurückzuerhalten, meine wahre Kraft. Und erreichen wollte ich das durch dich, Valerie.“

Die erwiderte überrascht: „Warum ich? Heißt das … ich soll sie für dich töten?“

Etwas ruhiger, gar abgebrüht fügte sie hinzu: „Dann weiß ich nicht, was dein Problem ist! Genau das will ich doch!“

Es erstmals so deutlich aus dem Mund ihrer Erzrivalin gehört zu haben, traf Anya indes härter als sie es sich jemals auszumalen gewagt hätte. Die Friedenstaube Redfield wollte …?

Während das andere Mädchen verstummt war, packte Valerie ihre Patronin am Arm, welcher durch das engmaschige Kettenhemd unter ihrer Rüstung verdeckt war. „Das ist doch gut, oder nicht!?“

„Nein“, schüttelte Joan den Kopf, „das ist alles andere als gut.“

Valerie verstand nicht. „Aber du hast doch eben gesagt-“

„Valerie. Sollte ein Kind Gottes einem anderen jemals mutwillig Leid zufügen?“

„N-nein! Aber genau das will sie doch! Sie will die anderen opfern! Orion hat recht!“

„Selbst wenn das wahr ist, spreche ich nicht von Anya.“ Joans Augen lagen fest auf dem schwarzhaarigen Mädchen. Enttäuschung lag in den folgenden Worten. „Ich spreche von dir.“

Vor Schreck schnappte Valerie nach Luft. „Von mir!? W-was ist daran verwerflich-!“

„Du kennst die Antwort bereits.“ Nun legte die Ritterin ihre beiden Hände auf die Schultern des Mädchens. „Was du damit beabsichtigst ist lobenswert. Aber das ist nur eine Ausrede. Die Worte des kleinen Dämons haben nur entfacht, was in dir geschlummert hat. Jeder Mensch trägt Dunkles in seinem Herzen. Aber seine Worte haben es erweckt, haben dich vergiftet. Deinen Wunsch nach Rache wieder angestachelt.“

Sofort riss Valerie sich los, betrachtete ihre Beschützerin in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Trotz. „Das stimmt nicht!“

„Du warst einst ein reines Kind.“ Joan wandte sich von ihr ab, sah auf die goldene Sonne die unter ihnen strahlte. „Bis ich kam und dich ungewollt in die Dunkelheit gezogen habe.“

„Joan-“

Doch ehe Valerie etwas darauf erwidern konnte, hob die Ritterin die Hand. „Lass mich dir nun erklären, warum wir uns begegnet sind.“

 

Sie sah plötzlich auf, in Anyas Richtung. „Auch du sollst es hören. Ihr beide sollt meine Richter sein. Auch wenn das Urteil bereits in dem Moment gefallen sein wird, in dem ich mich offenbare.“

Anya, die im Gedanken noch an Valeries Worten hing, nickte nur knapp.

Die Ritterin trat einen Schritt vor. „Ich, Jeanne D'Arc, bin ein gefallener Engel. Denn ich habe gesündigt, indem ich mich in einen Dämonen verliebt habe. Und auf sein Verlangen hin den Erzengel Gabriel … getötet habe.“

Unangenehmes Schweigen legte sich wie ein Umhang um das neue Elysion, das von grenzenloser Dunkelheit umgeben war.

Zumindest, bis Joan plötzlich aufschrie.

„Was ist!?“, stieß Valerie hervor und eilte der Ritterin herbei, welche sich krümmte und dabei den linken Oberarm hielt.

„Mir geht es gut“, antwortete Joan und straffte sich wieder. Doch ihr Anblick strafte ihrer Worte Lügen, war sie mit einem Male kreidebleich im Gesicht. „Sorge dich nicht um mich.“

„Und was hat das mit mir zu tun!?“, platzte es schließlich aus Anya heraus. Die zeigte mit dem Finger auf Valerie. „Mir ist wurscht, mit wem du gepimpert hast! Wieso soll Redfield mich töten, was hast du davon, heh?“

Joan sah die Schwarzhaarige traurig an. „Ich habe so lange nach einem reinen Herzen gesucht. Dann warst du da, Valerie. Im Kampf gegen -seine- Abkömmlinge. Und in dem Moment entschied ich, dich zu beschützen. Auf dass du Gabriels Platz nach deinem Tode einnehmen würdest.“

 

Valeries Mund stand offen, als sie das vernahm. „Du … ich … ?“

„Ich wollte dich auf den Weg eines Engels führen. Doch wohin ich dich führte, war nur Finsternis“, gestand Joan. „Du solltest sie kennenlernen, diese Finsternis. Sie in den Dämonen sehen. Ihre Denkweise verstehen. Der Sammler war ideal, dir zu zeigen, wie gnadenlos sie sind. Aber er war die falsche Wahl. Denn du hast dich ihm verkauft …“

„Ich“, zögerte Valerie überrumpelt, „kann also kein Engel mehr werden?“

Joan schüttelte betrübt den Kopf. „Nein.“

Plötzlich brach es ungestüm aus dem Mädchen heraus. „Und wann wolltest du mir das alles sagen!? Wenn es zu spät ist!? War ich also nichts weiter für dich, als ein Mittel zum Zweck!?“

Betreten wich Joan ihrem Blick aus. „Du selbst hättest entschieden, ob du ein Engel wirst oder nicht.“

„Warum warst du nicht von Anfang an ehrlich mit mir?“, fragte Valerie weinerlich, Tränen der Enttäuschung standen in ihren Augen. „I-ich weiß zu schätzen, dass du in mir dieses Potential sie-“

Ein spitzer Schrei entglitt ihr, sie deutete auf Joan. Oder besser gesagt, deren Hals.
 

„Deswegen“, entgegnete ihr jene und fasste sich auf die Stelle, von der sich in Schwarz eine seltsame Markierung auszubreiten begann. Es waren pfeilartige Gebilde, die gewundenen Linien folgten. Wie Schlangen krochen sie langsam an ihrem Hals hinauf. „Der Moment, in dem ich dir die Wahrheit sage, wird der Moment sein, in dem ich endgültig falle. Erinnerst du dich?“

„J-ja.“

„Gefallene Engel sind Dämonen, Valerie. Aber bei mir ist es etwas anderes“, sprach Joan und sah ihren Schützling in die Augen. „Ich werde sterben, denn Gabriels Blut, das Blut eines Engels, klebt an meinen Händen. Das ist Gottes Wille.“

„Warum hat er dich nicht sofort getötet!?“ Valeries Gedanken überschlugen sich förmlich. „D-du kannst doch jetzt nicht-“

„Es ist seine Strafe. Ich sollte sehen, wie die Welt von Dämonen heimgesucht wird. Unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Jeder Engel hat seine Aufgabe. Er erfüllt sie und kehrt in den Himmel zurück. Doch die Welt sieht anders aus, wenn man den vorgegebenen Weg verlässt.“ Joan senkte ihr Haupt. „Die normalen Engel haben keinen Blick für das Leid. Aber diejenigen, die einst Menschen waren, so wie ich, für die ist es etwas, das man begreifen kann. Und ich musste hunderte von Jahren mit ansehen, wozu Menschen unter dem Einfluss von Dämonen fähig sind.“

„Joan …“

„Valerie, Gott hat mich nicht getötet. Er hat mich gewissermaßen wieder zum Mensch gemacht, damit das Gewicht meiner Schuld auf ewig auf meinen Schultern lastet. Es ist eine schlimmere Strafe als der Tod. Und ich habe sie verdient.“

„Und was geschieht jetzt?“, fragte Valerie ungehalten und packte Joan an den Handgelenken, zerrte an ihr. „Wirst du … wirklich sterben?“

„Ich werde als Dämon wiederkehren.“ Als wäre es, um ihre Aussage zu bekräftigen, schlichen die Schlangenlinien langsam über ihre Wange. „Wie das geschehen wird, ob ich meine Erinnerungen behalte, das weiß ich nicht. Zuerst kommt mein Tod. Deswegen, solange ich noch hier bin … bitte vergib mir.“

„Joan, ich-“

Sanft sah Joan ihren Schützling an. „Und wisse, dass du für mich nie nur ein Mittel zum Zweck warst. Dein Licht hat mir Hoffnung gegeben, mich wieder an das Gute im Menschen glauben lassen.“

„D-dann hilf mir!“, verlange Valerie aufgeregt und zeigte unverblümt auf Anya. „Hilf mir, sie aufzuhalten! Ich verzeihe dir, aber wenn sie-! Wenn Marc-!“

Joan schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht.“

„Bitte!“, flehte Valerie förmlich und zerrte an ihrer Mentorin. „Du wirst bald sterben! Tu wenigstens noch etwas Gutes! Hilf mir, diese Menschen zu beschützen, die Anya auf dem Gewissen haben wird!“

 

„Ja Joan, tu es“, zischte Anya mit einem Male trotzig, „hilf Daddys Prinzessin ruhig. Mir ist es egal. Engel, Dämonen, dieser ganze Quatsch ist mir egal! Eure Meinung über mich kann ich ja doch nicht ändern!“

„Weil wir recht haben!“, donnerte Valerie.

Joan sah sie nachdenklich an. „Bist du dir sicher, dass du das wirklich tun willst? An diesem Ort kannst du niemanden töten, Valerie. Wir könnten sie nur hier einsperren. Der Gründer ist scheinbar geschwächt und wird ihren Körper nicht übernehmen können.“

„Dann ist es doch kein Mord, oder!?“, schloss Valerie daraus engstirnig. „Anya wird einfach nur ins Koma fallen und Edens Erwachen verpassen. Sie hat sich dazu entschieden, das durchzuziehen, uns trifft da keine Schuld.“

„Aber du wärst verantwortlich dafür, dass sie den Zeitpunkt verpasst“, widersprach Joan ruhig.

„Damit muss ich leben! Wie du selber sagtest, verdorben bin ich sowieso schon. Hilf mir einfach, okay!?“
 

Die Augen der Blondine wurden derweil mit einem Schlag schmal wie Rasierklingen. „Sieh an! Du machst tatsächlich ernst! Aber Redfield, willst du mir im Ernst verklickern, dass diese Schnalle da deine Freundin ist!?“

Valerie stellte sich schützend vor Joan, die mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Handrücken betrachtete, an denen sich ebenfalls die schwarze Markierung ausbreitete.

„Sie hat mir das Leben gerettet, uns allen! Und ich glaube an all das, was sie gesagt hat!“ Es klang fast schon verzweifelt aus ihrem Munde.

„Weil sie zurück in ihr Engelskaff wollte, du Dummnuss!“, fauchte Anya und schwang wütend den Arm aus. „Pah! Du als neuer Erzengel Gabriel!? Das klingt so dermaßen bescheuert, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder kotzen soll!“

Die Lippen ihrer Rivalin glichen einem Strich, ehe sie tonlos erwiderte: „Angesichts dessen, dass du für mich das Böse in Person bist, klingt es für mich gar nicht so schlecht …“

Woraufhin ihr Gegenüber von der anderen Seite des Elysions hysterisch auflachte.

„Was!? Ich und das Böse in Person?“ Anyas Blick verhärtete sich. „Dann hast du noch nie etwas Böses kennengelernt, Redfield …“

Diese hob aber nur ihren Arm, an dem sich ihre meeresblaue Duel Disk materialisierte. „Joan, selbst wenn ich kein Engel mehr werden kann, wäre es meine Pflicht gewesen, die Menschen zu beschützen, nicht wahr? Alle!“

„J-ja“, erwiderte die gequält und sah ihren Schützling ängstlich an.

„Auch wenn es Menschen sind, die ich verachte?“

„Jedes Leben ist vor Gottes Augen gleich viel wert.“

Valerie nickte. „Dann hilf mir dabei, Anya aufzuhalten, bevor sie den anderen Schaden zufügt! Bevor sie die schlimmste aller Sünden begeht! Mir ist egal, ob Gott das gutheißt, aber wenn ich mit einer Tat vier Menschen das Leben retten kann, tu ich es!“

Schließlich sagte Joan entschlossen und nahm Haltung an: „Wie du willst. Ein wenig Zeit bleibt mir noch. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, das Schlimmste zu verhindern, werde ich dir dabei helfen. Als deine Beschützerin. Denn es wäre vermessen, mich als Engel zu bezeichnen.“

Valeries Augen leuchteten förmlich vor Dankbarkeit.

„In Ordnung!“ Damit wandte sie sich mit harter Miene an Anya. „Du hast es gehört.“

„Pah!“, keifte die entgeistert. „Glaubst du den Scheiß, den du da laberst!?“

Anya ballte eine Faust und zeigte demonstrativ mit dem Finger auf Joan. „Aber Luzifers Geliebte hat dir wohl so sehr ins Hirn geschissen, dass es den Geist aufgegeben hat! Wenn du mich fertig machen willst, musst du schon mehr bringen, als dummes Gelabere, Redfield!“

 

Orion, der die Szene stillschweigend mitverfolgt hatte, sprang plötzlich auf Anyas Schulter.

„Runter da, du Mistvieh-“ Doch als das Mädchen den Schattengeist wie ein lästiges Insekt von sich stoßen wollte, hielt sie inne. In den Augen der Pornozwiebel – so Anyas mittlerweile gängige Bezeichnung für Orion – standen einmal mehr kleine Kullertränen.

Er erhob den Arm und zeige ebenfalls auf Joan, während sich eine winzige Duel Disk an ihm materialisierte. „Ich sage es nur ungern, aber ich werde dir helfen! Lieber du, als dieses … diese Lügnerin! Sie will Val-chan ins Verderben führen, das weiß ich! Sie tut nur so, als ob sie ihr helfen will! Der große Orion-sama wird verhindern, dass Val-sama auf die Lügnerin hereinfällt! Welcher Engel würde bei so einer ernsten Sache plötzlich nachgeben!?“

Anya zischte genervt und sah davon ab, ihm mit ihrem Handrücken bekannt zu machen. „Tch, von mir aus. Dann mach eben mit. Aber sprich nur, wenn du auch dazu aufgefordert wirst!“

 

Solange Levrier sich ja offensichtlich woanders vergnügte, brauchte sie Orion als Ersatz. Denn gegen Joan UND Redfield hätte selbst sie gewisse Schwierigkeiten. Erstmals musste sie zugeben, dass Levriers Anwesenheit durchaus auch angenehme Seiten haben konnte – wenn er denn da wäre.

Außerdem, wer würde schon die Pornozwiebel bevorzugen, wenn er ein starkes, hübsches, gewieftes, heißes, intelligentes UND erotisches Blondinenduo haben konnte?

 

„Ihn sollten wir auch erlösen“, meinte Joan mit Blick auf den Schattengeist.

„Nein“, erwiderte Valerie bestimmend. „Er ist der Bote des Sammlers. Wenn ich ihm etwas tue, fällt das auf Marc zurück. Also nein! Nur Anya!“

Die konnte sich eine spitze Bemerkung dazu nicht verkneifen. „Die kreisen ja wie Geier um uns …“

Orion schwieg.

„Anya“, erwiderte Valerie darauf. „Das hast du dir selbst eingebrockt. Man sollte dir gratulieren, denn du bist die erste Person, die meine Toleranzgrenze gesprengt hat.“

„Spiel dich nicht so auf, Redfield!“

„Das ist nicht allein der Einfluss des Dämons.“ Auch an Joans Arm erschien eine altertümlich anmutende Duel Disk, die einer Mischung aus Handschuh und Schild glich. „Dieses Mädchen ist-“

„Als ob ich das nicht wüsste!“, schnitt Valerie ihrer Patronin ungestüm das Wort ab.

Schließlich riefen alle aufgebracht: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP Orion: 4000LP //// Valerie: 4000LP Joan Of Arc: 4000LP]

 

Da standen sie sich nun gegenüber, auf ihrem jeweiligen Elysion. Sie und Valerie, schon wieder in einem Tag Duell. Anya sah herüber zur Kriegerin. Was sie von der halten sollte, wusste sie nicht. Im Grunde war dieses Mannsweib noch eher auf ihrer Seite, als auf Redfields. Sie wollte diesen Kampf nicht, das konnte man ihr eindeutig ansehen. Und Anya ahnte bereits, dass sie diese Schnalle nicht vernichten durfte – sofern sie das überhaupt konnte. Denn dann würde Valeries Pakt schwinden.

Sollte sie demnach das Duell verlieren, fragte Anya sich erschrocken. Niemals! Nicht, wenn Redfield ihr Gegner war!
 

„Ich mache den ersten Zug!“, bestimmte die Blondine kurzerhand. Ihr Arm war der letzte, an dem eine Duel Disk erschien – ihre alte Battle City-Version. Daraufhin zog sie zusammen mit ihrem Startblatt noch eine Karte.

Orion auf ihrer Schulter meinte dazu: „Kümmere du dich um Val-chan! Ich nehm' mir das Bügelbrett vor!“

„Du kannst froh sein, wenn ich dir überhaupt etwas von einem der beiden übrig lasse!“

„Nur Gerede“, kommentierte Valerie das unbeeindruckt und machte eine wegwischende Geste.

Joan sah sie von der Seite besorgt an. „Aber wir sollten dennoch vorsichtig sein. Beide sind stark, das weißt du.“

„Genau wie wir.“

„Ach ja!?“, tönte Anya. „Das wird sich erst noch zeigen! Ich beschwöre [Gem-Knight Sardonyx] im Angriffsmodus!“

Vor dem Mädchen erhob sich ein kräftig gebauter Ritter in braun-roter Rüstung, der eine Kette schwang, an welcher ein Morgenstern aus rotweißem Sardonyx befestigt war. Hinter dem Krieger tauchte eine gesetzte Karte auf. „Die da verdeckt! Dann mal los, Redfield! Ich warte!“

 

Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]

 

„Ganz wie du willst“, erwiderte die unterkühlt und zog. „Ich beschwöre [Gishki Noellia]! Und sie lässt mich bei ihrer Beschwörung die obersten fünf Deckkarten ansehen, um alle Gishki-Karten davon auf den Friedhof und den Rest unter mein Deck zu schicken!“

 

Gishki Noellia [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

 

Auf der anderen Seite der ineinander verlaufenden Elysien bezog eine rothaarige Hexe Stellung, die ihren Zauberstab laut gackernd in die Höhe hielt. Der Reihe nach erschienen fünf vergrößerte Karten auf Valeries und Joans Spielfeld, beide Seiten der Karten waren mit Bild und Effekttext bedruckt. Es waren, von links nach rechts, die Zauber [Salvage], [Monster Reborn], dann das Ritualmonster [Gishki Psychelone], danach noch zwei Zauber, [Gishki Aquamirror] und [Mystical Space Typhoon].

Valerie entledigte sich der beiden Ritualkarten aber nicht etwa, sondern zeigte sie vor, als die Hologramme der Karten verschwanden. „Indem ich [Gishki Aquamirror] von meinem Friedhof ins Deck zurücklege, erhalte ich [Gishki Psychelone] zurück auf mein Blatt!“

Dies getan, zückte sie aus ihrer Hand nun eine andere Zauberkarte. „Und nun zeige ich dir die geheime Technik der Gishki, die unter ihnen wegen ihrer Macht verboten wurde! [Forbidden Arts Of The Gishki]!“

Plötzlich stieg violetter Nebel unter Anyas Ritter hervor. Diese erkannte mit erschrockenem Gesichtsausdruck, dass sich um ihr Monster am Boden ein kreisrundes Symbol, ähnlich einer brennenden Sonne gebildet hatte. Unter einem Schrei versank ihr Ritter, als der Boden in jenem Symbol sich in Wasser verwandelte.

„Was soll das!?“, fauchte Anya wütend.

„Diese Ritualzauberkarte opfert nicht etwa meine Monster, sondern deine. Das kostet dem beschworenen Ritualmonster zwar die Hälfte seiner Angriffskraft, dafür bin ich aber deinen Ritter los“, erklärte Valerie, „und dazu muss ich dich nicht einmal angreifen können. Erscheine, Verräterin deines Stammes! [Gishki Psychelone]!“

Unter schrillem Gelächter tauchte vor Valerie eine fliegende Gestalt auf. Mit einem Unterwasserwesen hatte sie kaum etwas gemein. Pechschwarz war die weibliche Dämonin, deren Schwingen mit Schwimmhäuten ausgestattet waren. Auf ihrem Kopf thronte eine Art Insekt mit Kneifzangen, das scheinbar mit ihr verschmolzen war. Als Anya genauer hinsah, erkannte sie, dass dieses Ritualmonster große Ähnlichkeit mit [Gishki Noellia] besaß – nein, es war besagte Hexe!

 

Gishki Psychelone [ATK/2150 → 1075 DEF/1650 (4)]

 

„Pah! Dieses Ding hättest du wirklich nicht auf diese Weise beschwören sollen“, tönte Anya übermütig und zeigte auf die korrumpierte Hexe, die entfernte Ähnlichkeit mit Matts Steelswarm-Monstern aufwies. „Die ist so schon schwach genug! Aber jetzt ist sie gerade mal gut genug, um deine Lebenspunkte zu verteidigen.“

„Hey“, flüsterte Orion Anya ins Ohr, „ihre beiden Monster haben dieselbe Stufe!“

Und da horchte die Blondine auf. Mit den Hexen konnte Redfield spielend leicht ihr Paktmonster beschwören! Und was, wenn sie mittlerweile gelernt hatte, wie man …?

„Ich aktiviere den Effekt von Psychelone! Einmal pro Zug benenne ich einen Typen und ein Attribut! Danach wird eine zufällige Karte von deiner Hand gewählt, und wenn beide Angaben stimmen, wird das Monster, sofern es eins ist, ins Deck geschickt!“

„Na dann rate mal schön!“, forderte Anya ihre Erzrivalin heraus.

Valerie kniff angespannt die Augen zusammen. „Man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass fast alle deine Monster das Attribut Erde besitzen. Vom Typ her sieht das anders aus, aber ich habe da eine Ahnung, was auf deiner Hand lauern könnte.“

„Ich höre!?“

„Hexer.“

Anya verstummte. „W-warum ausgerechnet der!?“

Doch schon breitete Valeries Monster ihre Arme weit aus und schickte violette Wellen über die miteinander verknüpften Elysien. Anya und Orion wurden davon getroffen, über Anya tauchte das Abbild einer ihrer Karten auf. Und als beide Mädchen hinauf sahen, um zu wissen, um welche es sich handelte, lachte Anya schließlich auf. „Hell yeah! [Megamorph]! Das ist 'ne Zauberkarte! Pech gehabt, Redfi-“

„[D. D. Designator]!“ Ihre Gegnerin zeigte ihr die Zauberkarte entgegen.

„Huh!?“

„Ich nenne den Namen einer Karte von deinem Blatt und wenn jene sich darunter befindet, wird sie verbannt. Wenn nicht, muss eine zufällig gewählte Karte von meinem Blatt dran glauben. Aber wir beide wissen, dass das nicht geschehen wird – ich deklariere [Megamorph]!“

Der Blondine klappte die Kinnlade hinunter, als allen Spielern ihre vier Handkarten preisgegeben wurden. Und darunter war eben auch ihre mächtige [Megamorph]-Ausrüstungszauberkarte, die Anya nun zähneknirschend in die Hosentasche steckte.

„Val-chan ist ja sooo clever! Sie spioniert erst dein Blatt aus, ehe sie zuschlägt.“

„Auf wessen Seite bist du eigentlich!?“, fauchte Anya den Schattengeist auf ihrer Schulter daraufhin an.

„Ich setze noch eine Karte und beende meinen Zug“, gab Valerie derweil zu verstehen, als die verdeckte Karte sich vor ihr materialisierte.

Wütend die Stirn runzelnd, dachte sich Anya, dass sie für diese Demütigung noch bittere Rache nehmen würde. Wenn doch bloß die beiden Nervnickel von Tag-Partnern nicht wären! Das Ganze wäre so viel unterhaltsamer ohne sie!

 

„Mein Zuuuuuug!“, flötete Orion durch seinen Trötenmund und zog seine Miniaturkarte von der winzigen Duel Disk an seinem Arm. Von seiner Niedergeschlagenheit war plötzlich nichts mehr zu sehen. „Orion for the win!“

„Streng dich an!“, befahl Anya rüde.

„Ist gebongt!“ Der kleine Schattengeist sprang von Anyas Schulter hoch in die Luft und hielt dabei zwei Karten in der Hand. „Ich aktiviere den Effekt von [The Fabled Nozoochee]! Indem ich einen seiner Kumpel abwerfe, kann ich ihn auf das Spielfeld beschwören!“

Neben Anya tauchte eine voluminöse, gelbe Schlange auf, deren Kopf unter einem blauen Helm steckte.
 

The Fabled Nozoochee [ATK/1200 DEF/800 (2)]

 

Desweiteren rief Orion, noch mitten in der Luft. „Und da ich [The Fabled Ceburrel] dafür abgeworfen habe, wird dieser jetzt durch seinen Effekt vom Friedhof beschworen! Und noch etwas! Wenn Nozoochee durch seinen Effekt aufs Feld gerufen wurde, kann ich von meiner Hand ein Fabled-Monster beschwören, welches maximal auf Stufe 2 sein darf! Unter diese Kategorie fällt mein zweiter Cerburrel!“

Rechts und links von der Schlange erschienen zwei dreiköpfige, dämonische Welpen, deren Fell rot gefärbt war.
 

The Fabled Cerburrel x2 [ATK/1000 DEF/500 (2)]

 

Langsam griff die Schwerkraft, sodass es mit Orion abwärts ging. Dennoch rief er im Feuereifer: „Und als Normalbeschwörung kommt noch von meiner Hand die [T-t-t-tuningware]! Whohaaaa!“

Zu Orions Monstern gesellte sich ein kleiner Apparat, bestehend aus einem kugelrunden Körper sowie drahtigen Armen und Beinen und nicht zuletzt einer Bratpfanne auf dem Kopf.

 

Tuningware [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

„Und jetzt“, rief der Schattengeist mitten im Fall, „gibt es eine fette Doppelsynchrobeschwörung! Dabei benutze ich [Tuningwares] Effekt, um seine Stufe auf 2 zu erhöhen! Looooos!“

Die beiden Dämonenwelpen sprangen gleichzeitig durch die Luft und zersprangen, wie es bei Empfängermonstern so üblich war, in jeweils zwei grüne Ringe. Die dicke Schlange und Orions seltsamer Apparat durchquerten diese synchron, gleich zwei grelle Lichtblitze schossen durch die Dunkelheit des verschmolzenen Elysions.

„Ab geht die Post, [The Fabled Kudabbi] und [The Fabled Unicore]!“

Mit einem Satz landete Orion auf dem Rücken des grauen Kalbs, welches zusammen mit einem weißen Einhorn neben Anya erschienen war. Während der Kopf des Kalbs mit einem Schleier verdeckt wurde, bäumte sich Orions Unicore auf und wieherte stolz.

 

The Fabled Kudabbi [ATK/2200 DEF/1100 (4)]

The Fabled Unicore [ATK/2300 DEF/1000 (4)]

 

„Jetzt, da [Tuningware] als Synchromaterial verwendet wurde, darf ich eine Karte ziehen!“, kündigte Orion auf seinem Reittier an und zog. Danach legte er eine der drei Karten in seine Miniatur-Duel Disk ein. „Die verdeckt, Joan verreckt! Zug beendet, Joan geschändet!“

Die gesetzte Karte tauchte zwischen seinem Kudabbi und Unicore auf.

„Nicht schlecht!“, musste Anya ihren Partner aufrichtig loben. „Vielleicht bist du doch gar nicht so dämlich wie du aussiehst?“

Auch wenn diese zwei Synchromonster relativ schwach waren im Vergleich zu anderen, war es dennoch ganz nett, sie auf ihrer Seite zu wissen.

„Hey! Niemand redet so mit dem großen Orion-sama, du frustrierte Kampflesbe! Zeig etwas mehr Respekt!“

„Waaaas!?“ Anya ploppten fast die Augen heraus, als sie das hörte. „Dir werde ich den Hals umdrehen, du-!“
 

„Hört auf!“, donnerte Valerie und unterbrach Anya dabei, wie sie Orions Reittier einen Tritt in den Allerwertesten geben wollte.

„Joan ist jetzt am Zug!“ Die junge Frau sah zu ihrer Partnerin herüber. „Ich verlasse mich auf dich!“

„Natürlich“, antwortete die burschikose Heilige zurückhaltend und griff nach der Duel Disk an ihrem Arm. „Ich beginne also meinen Spielzug. Draw.“

Anya und Orion stoppten ihre Streitereien und linsten beide mit zusammengekniffenen Augen zur anderen Spielfeldseite herüber.

„Ich wette, die kennt nicht mal die Grundregeln!“, lästerte die Blondine.

„Ich wette, die ist da unten schon zugewachsen!“, stimmte Orion mit ein.

Glücklicherweise war Anya in -dieser- Hinsicht noch ein wenig naiv, sodass sie nicht verstand, was er damit meinte. „Huh!? Ihre Duel Disk?“

„Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst?“, fragte Joan ihren Schützling noch einmal.

„Ja. Denk an die Menschen, die wegen ihr sterben müssen, wenn ich es nicht tue.“

„Aber ich denke auch an dich.“ Joans Züge trübten sich. „So etwas solltest du nicht tun müssen.“

Valerie stöhnte genervt. „Wenn du mir helfen willst, dann tu es einfach! Ansonsten halt dich hier raus und lass mich das alleine regeln!“

„Wie du meinst.“ Joan betrachtete nun ihr Blatt und zog nachdenklich eine Karte daraus hervor. „Indem ich den Engel [Hecatrice] ablege, erhalte ich [Valhalla, Hall Of The Fallen] von meinem Deck. Eine permanent wirkende Zauberkarte, die ich sogleich zu aktivieren gedenke.“

Anya und Orion verstummten in ihrer Lästerei, als überall um das Spielfeld herum weiße Steinsäulen aus dem Boden wuchsen. Verbunden waren sie durch ein Band aus rotem Stoff, welches einen Kreis um das Spielfeld zog. Hinter Valerie und Joan wuchs ein Thron aus dem Boden.

Die Gefallene zückte ein Monster von ihrer Hand. „Sollte ich keine Monster kontrollieren, ist es mir durch den Effekt von Valhalla erlaubt, einen Engel von meiner Hand als Spezialbeschwörung zu rufen. Erhöre mich, [Darklord Asmodeus]!“

Schwarze Federn fielen aus dem Nichts auf das Spielfeld herab. Sie wirbelten umher, bis ein Engel in ihrer Mitte erschien. Die dunklen Schwingen spreizend, wirkte der in weiße Robe mit darüber liegender, schwarzer Panzerung gekleidete Engel eher wie ein Scherge des Teufels, denn ein Diener Gottes.

 

Darklord Asmodeus [ATK/3000 DEF/2500 (8)]

 

Anya fluchte beim Anblick des schwarzen Engels. „Was zum Geier!? Was schmeißt die Alte schon in ihrem ersten Zug mit solchen Kalibern um sich!?“

„Diese Karten sind sehr gefährlich!“, quiekte Orion panisch. „Es sind gefallene Engel! Die sind alle so stark, pass' bloß auf!“

„Na das passt ja wunderbar zu dir, Ladyboy!“, fauchte Anya und zeigte mit dem Finger auf Joan.

„Deine Worte mögen harsch sein, doch kann ich die Wahrheit darin nicht verkennen“, erwiderte Valeries Paktpartnerin einsichtig. „Deswegen habe ich sie auch für mich erwählt.“

„Hör auf zu labern, du zwielichtige Schnepfe!“

„Dann setze ich nun meinen Zug fort. Einmal pro Zug wird durch den Effekt von Asmodeus ein Engel von meinem Deck auf den Friedhof geschickt.“ Die Heilige Johanna zeigte das Stufe 8-Monster [Darklord Superbia] vor und schob es in den Schacht ihrer ritterlichen Duel Disk. „Da ich noch kein Monster als Normalbeschwörung beschworen habe, hole ich dies nun nach. Komm herbei, [Nurse Reficule The Fallen One].“

Noch einer der gefallenen Engel erschien vor Joan. Dieses Exemplar war jedoch weiblich, aber nicht weniger unheimlich. Um den ganzen Körper war sie mit Bandagen eingehüllt, die ledrigen Schwingen waren mit Klingen besetzt, ja selbst das violette Haar dieser Kreatur.

 

Nurse Reficule The Fallen One [ATK/1400 DEF/600 (4)]

 

Joan zückte zwei Karten aus ihrem Blatt. „Um dem Effekt von [The Fabled Unicore] aus dem Weg zu gehen, setze ich diese Karte verdeckt.“

Während ihre Falle verdeckt vor ihr erschien, machte Orion große Augen. „Woher weißt du-!?“

„Sie war dabei, als ich gegen dich gekämpft habe“, erinnerte Valerie den Schattengeist an jenen Tag, als sie den Sammler aufgesucht hatte. „Daher ist ihr klar, dass Unicore sämtliche Effekte des Gegners lahmlegt, wenn du und er dieselbe Handkartenzahl besitzen.“

Was im Falle beider Spieler nun zwei Stück waren. Jedoch änderte sich dies, als Joan die andere hervor genommene Karte, einen Zauber, in den entsprechenden Slot ihrer Duel Disk schob. „So ist es. Aber bald muss sich niemand mehr darum Sorgen machen, denn mit [Soul Taker] führe ich die Seele deines Fabelwesens nun in den Himmel.“

Orion kreischte entsetzt, als aus der Mitte des Spielfeldes eine geisterhafte, durchsichtige Hand schoss und in die Brust des sich aufbäumenden Einhorns griff. Dort zog sie eine leuchtende Kugel heraus, mit der sie verschwand. Im Anschluss explodierte der Schimmel laut wiehernd.

„Unicore!“, jammerte Orion.

Plötzlich ertönte schrilles Gelächter, dessen Ursprung Reficule war. Um sie schlängelten sich einige lose Bandagen. Joan erklärte dazu: „[Soul Taker] überträgt die Seele des verstorbenen Monsters auf seinen Besitzer, schenkt ihm damit 1000 Lebenspunkte. Doch durch die Einwirkung von [Nurse Reficule The Fallen One] wird sämtliches Leben in Tod umgekehrt. Daher schadet dir die Seele deines treuen Gefährten nun.“

„Ohje!“ Orion weitete die Augen, als Reficules Binden sich von ihr lösten und über das Spielfeld auf ihn zugeschossen kamen. Sie umwickelten ihn fest und gaben schmerzhafte Stromstöße ab, die der kleine Schattengeist nur unter Schreien ertragen konnte. „Auauauauauau!“

 

[Anya: 4000LP Orion: 4000LP → 3000LP //// Valerie: 4000LP Joan Of Arc: 4000LP]

 

Als die Tortur beenden war, sank Orion erschöpft auf dem Rücken seines Kudabbis zusammen.

Anya betrachtete ihn verstört. Nie hätte sie gedacht, dass diese Joan so geschickt sein würde – und vor allem so gnadenlos!

„Hey, war das wirklich nötig!?“, protestierte sie daher wütend und zeigte auf ihren Partner.

„Ich tue, was ich als Engel und Valeries Beschützerin tun muss“, rechtfertigte sich Joan unbeeindruckt. „Dieses Wesen, mag es auch noch so klein und harmlos erscheinen, ist ein Dämon. Ein Feind des Herrn. Rücksicht auf ihn zu nehmen wäre gegen die Gesetze des Himmels.“

„Scheiß auf den Himmel! Du bist doch eh nicht mehr Teil davon! Solche wie du widern mich mehr an als alles andere!“ Anya schwang aufgebracht den Arm aus. „Ihr nehmt irgendwelche Regeln als Ausreden, um zu verbergen, wie sadistisch ihr in Wirklichkeit seid! Redfield, du tust mir leid!“

„W-was!?“, erschrak die.

„Weil du zu dämlich bist, 'ne eigene Meinung zu haben! Du trällerst einfach nur nach, was andere dir ins Ohr flüstern! Sei es diese Alte oder Orion! Wie es dir gerade am besten gefällt! Und bildest dir dann ein, Miss Rechtschaffenheit herself zu sein!“

Orion sah mit halboffenen Augen zu Anya auf. „T-tsundere …?“

„Keine Sorge, die Alte feg' ich vom Platz!“, entschied Anya und zeigte mit dem Daumen auf ihr Haupt. „Als ehrlicher Bully ist das sozusagen meine Pflicht! Und Redfield schick' ich gleich hinterher!“

„Mutig bist du“, erwiderte Joan anerkennend. „Ich nehme die Herausforderung gerne an. Und beende meinen Zug.“

„Das war keine Herausforderung“, murmelte Anya und nahm ihre Gegnerinnen fest ins Visier, „das war 'ne Kriegserklärung!“

 

 

Turn 30 – Enemies

Der erbitterte Kampf zwischen Anya, Valerie, Orion und der Heiligen Johanna von Orléans geht weiter. Trotz großer Anstrengung schafft es Anyas Team nicht, die Oberhand zu gewinnen. Im Gegenteil, durch einen fatalen Winkelzug von Joan werden Anya und Orion an den Rand der Niederlage gebracht. Was Valerie letztlich dazu veranlasst, über ihre Vergangenheit mit Anya nachzudenken ...

Turn 30 - Enemies

Turn 30 – Enemies

 

 

„Was ist nur mit ihnen los?“

Abby betrachtete die bewusstlose Valerie besorgt, während sie neben ihr kniete. Sie und Anya waren einfach umgekippt.

„Bestimmt so eine Dämonen- oder Engelsgeschichte“, antwortete Nick nicht weniger aufgewühlt. Er hielt Anya im Arm und strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Wo ist Orion überhaupt?“

Abby blickte auf und sah sich in dem Flur um. Doch der kleine Schattengeist war tatsächlich nicht mehr bei ihnen. „Ob er abgehauen ist? Vielleicht hat er es mit der Angst zu tun bekommen? Ich meine, er war es, der Valerie …“

Das Mädchen verstummte betreten.

Nick sah ihr sofort an, dass sie an neulich dachte. Im Grunde war es dieselbe Situation, nur mit dem Unterschied, dass weder Valerie noch Orion Anyas Freunde waren. Dass die beiden jedoch auch an ihr zweifelten, musste für Abby äußerst verwirrend sein. Schien sie doch selbst nicht genau zu wissen, was sie letztlich über Anya denken sollte.

„Vergiss Orion“, versuchte Nick sie aufzumuntern, „dem Typen würde ich nicht über den Weg trauen. Am Ende will der Valerie nur manipulieren. Und wenn dem so ist, wird Valerie das merken. Sie ist nicht dumm.“

„Aber … Nick, sie hat in der letzten Zeit viel durchmachen müssen. Es würde mich nicht wundern, wenn sie einfach nur froh wäre jemanden zu haben, der ihr beisteht …“ Abby senkte ihren Blick.

„Das haben wir alle“, versuchte Nick zu relativieren, „und ich glaube an Valeries Gewissen. Das wird nicht zulassen, dass sie einen Menschen tötet, beziehungsweise einfach seinem Schicksal überlässt.“

Das Hippiemädchen nickte zögerlich. „V-vielleicht hast du recht- Hey, was machst du da!?“

 

Die Hand ihres Freundes war gefährlich nah an einer von Anyas Körperzonen, die noch nie ein Mann gewagt hatte zu berühren. „Wieso? Sie ist bewusstlos. Keiner wird es je erfahren, wenn du dicht hältst!“

„Ich fasse es nicht! Ich dachte, der Lüstling wäre nur Show!?“

„Nein, der ist echt.“ Nick grinste verschlagen.

Daraufhin schob Abby ihre Hand in die Tasche ihres grauen Kleides. „Nimm sofort die Finger da weg, sonst lernst du die Macht von dem da kennen!“

Mit wütendem Gesichtsausdruck zeigte sie eine Karte hervor, [Naturia Pumpkin].

Nick winkte jedoch lachend ab. „Damit werd' ich fert-“

Aber er verstummte, als Abby mit einem Schwenk die Karten dahinter ausfächerte und er gar nicht mehr zählen konnte, wie viele Monster es waren, die sie da in der Hand hielt. Der junge Mann wurde kreidebleich und zog vorsichtig seine Hand von Anyas Busen weg.

„... dacht' ich mir“, raunte Abby mit ungewöhnlich düsterer Stimme.

 

~-~-~

 

Finster starrte Anya herüber zum anderen Teil des ineinander vernetzten Elysions, das aus ihrem und dem ihrer Erzfeindin Valerie bestand. Die stand dort zusammen mit Joan Of Arc, der burschikosen Ritterin, welche wohl am wenigsten an diesem Kampf interessiert war.

Doch Anya hatte ihr den Krieg erklärt und genau das würde sie auch in die Tat umsetzen! Und da war es ihr egal, ob der Alten schon irgendwelche schwarzen Strichcodes über das Gesicht liefen!

„Draw!“, schrie die Blondine, die nun am Zug war und riss förmlich die Karte von ihrem Deck.

 

[Anya: 4000LP Orion: 3000LP //// Valerie: 4000LP Joan Of Arc: 4000LP]

 

Dennoch musste sie zugeben, dass die Situation für das ätzende Duo auf der anderen Spielfeldseite derzeit besser kaum sein konnte. Was nicht zuletzt an Joans letztem Zug lag.

Während Anya nur noch eine verdeckte Karte kontrollierte, konnte Orion neben seiner eigenen immerhin noch mit dem Synchromonster [The Fabled Kudabbi] auftrumpfen – einem grauen Kalb, dessen Haupt durch einen Schleier verdeckt war und auf dem Orion hockte wie ein König.

 

The Fabled Kudabbi [ATK/2200 DEF/1100 (4)]

 

Der kleine Schattengeist war immer noch benommen von Joans indirektem Angriff im letzten Zug.

Die kontrollierte gleich zwei gefallene Engel, sowie eine gesetzte Karte und [Valhalla, Hall Of The Fallen]. Zu jener permanenten Zauberkarte gehörten auch die hohen Säulen, die um sie herum aus dem Elysion ragten und durch ein rotes Band miteinander verbunden waren.

 

Darklord Asmodeus [ATK/3000 DEF/2500 (8)]

Nurse Reficule The Fallen One [ATK/1400 DEF/600 (4)]

 

Aber auch Valeries Feld war gut gefüllt mit zwei Meereshexen, von denen eine scheinbar zu lange im Teer gebadet und nicht begriffen hatte, dass Insekten kein Kopfschmuck waren. Auch die Schwarzhaarige kontrollierte darüber hinaus eine verdeckte Karte.

 

Gishki Noellia [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

Gishki Psychelone [ATK/1075 DEF/1650 (4)]

 

Immerhin war ihr Team im Handkartenvorteil, dachte Anya unzufrieden. Sie besaß vier Stück, während Orion und Valerie mit zwei, Joan gar nur mit einer auskommen mussten.

Dennoch war sie planlos, was sie aus der derzeitigen Lage machen sollte. Zu gerne wollte Anya mit großen Kalibern um sich werfen, wie die anderen. Doch ihr Blatt vermieste ihr dies eindrucksvoll.

Sie biss sich nachdenklich auf den Daumen. Egal wie sie es anzustellen gedachte, gegen [Darklord Asmodeus] kam keines ihrer Monster an.

Sie brauchte verdammt nochmal [Gem-Knight Fusion], doch die war nirgendwo in Sichtweite! Levrier wusste bestimmt einen Weg, wie sie an jene heran kam – doch von dem fehlte jede Spur, seit Redfield sich ungebeten selbst eingeladen hatte. Zwar blieb er gerne im Hintergrund, aber dass er rein gar nichts zum Eindringen in ihr Elysion sagte, irritierte Anya. Was war bloß los mit ihm?

 

„Wenn du nichts tun kannst, dann gib ab“, verlangte derweil Valerie streng.

Anya zeigte ihr prompt den Vogel. „Als ob! Ich muss nur etwas nachdenken!“

„Kein Wunder, dass es so lange dauert …“

„Was hast du gesagt, Redfield!?“

Anya hob ihren Arm mit den Karten in der Hand auf Kopfhöhe, um sie auf den Boden zu werfen, mit der Absicht, das Duell in einen Boxkampf übergehen zu lassen, da fiel ihr Blick auf eine ihrer Zauberkarten.

Das ist es, dachte sie sich und schnaufte nur wütend, statt eine weitere Schimpftirade loszulassen. Stattdessen grinste sie nun dreckig. „Dann zeig ich dir einfach, wie das Hirn einer Anya Bauer Strategien zaubert! Verdeckte Karte aktivieren: [Birthright]! Die reanimiert ein normales Monster von meinem Friedhof! Los, [Gem-Knight Sardonyx]! Komm zurück!“

Ihre Falle klappte auf und schon schoss aus dem Boden ihr breitschultriger Ritter in der rotbraunen Rüstung, der seinen Morgenstern aus rot-weißem Sardonyx schwang.

 

Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]

 

„Ein Effektmonster? Also ein Zwilling?“, schlussfolgerte Valerie anhand des braunen Randes von Anyas Monster – was für gewöhnlich auf ein Effektmonster hinwies und kein normales, welches gelb hätte sein müssen.

„Bingo, auf dem Friedhof werden Zwillinge als Normalos behandelt! Genauso auf dem Feld, solange man ihren Effekt nicht induziert, wodurch meine Normalbeschwörung für diese Runde nötig wäre!“, erklärte Anya. „Aber die will ich nicht aufgeben! Stattdessen umgehe ich das mit dieser feinen Ausrüstungszauberkarte: [Supervise]!“

Eine orangefarbene Aura begann um ihr Monster zu glühen.

„Diese Karte gibt meinem Ritter zwar keine Angriffspunkte, lässt ihn dafür aber auf seinen Zwillingseffekt zugreifen! Und da ich dafür keine Normalbeschwörung brauche, nutze ich die nun und rufe seinen Bruder aufs Spielfeld, [Gem-Knight Amber]!“

Neben dem Krieger tauchte ein weiterer Ritter auf, der in goldener Rüstung gekleidet, zwei blitzende Dolche schwang.

 

Gem-Knight Amber [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

 

„Und jetzt“, grinste Anya dreckig und formte mit beiden Händen Pistolen, die sie auf ihre beiden Gegner richtete, „los, meine Babies! Bang!“

Sardonyx begann seinen Morgenstern zu schwingen und schleuderte ihn direkt auf Valeries rothaarige Hexe, wohlgemerkt die noch nicht mutierte Form. Obwohl Noellia ihren Stab als Schutzschild benutzte, konnte sie der Wucht des Angriffs nicht entkommen. Aber auch für Reficule lief es alles andere als gut. Trotz des verzweifelten Versuchs, den goldenen Ritter mit den Bandagen an ihrem Leib zu fesseln, konnte der sich dank seiner Dolche befreien und jene letztlich direkt in die Brust der Höllenkrankenschwester versenken.

Zeitgleich erschütterten zwei Explosionen die Spielfeldseite von Valeries Team.

 

[Anya: 4000LP Orion: 3000LP //// Valerie: 4000LP → 3900LP Joan Of Arc: 4000LP → 3800LP]

 

„Take that, bitc- oh“, unterbrach sich Anya selbst und schnippte mit dem Finger. „Das hatte ich ganz verpeilt. Wenn Sardonyx einen Kampf gewinnt, erhalte ich eine Gem-Knight-Karte von meinem Deck.“

Sofort schoss eine Karte aus dem Stapel hervor, welche Anya mit derselben hämischen Visage herauszog, ehe ihr Deck automatisch gemischt wurde. Zwischen den Fingern platziert, zeigte sie sie vor. „[Gem-Knight Fusion]! Und wisst ihr was, die benutze ich jetzt gleich in meiner zweiten Main Phase! [Gem-Knight Amber], du bist das Element, [Gem-Knight Sardonyx], du der Ursprung! Vereinigt eure Kräfte und werdet zu [Gem-Knight Prismaura]!“

Über Anya entstand ein Wirbel aus dutzenden von Edelsteinen, in welchen ihre Monster hineingezogen wurden. Nie im Leben würde sie gegen Redfield und deren Schoßhündchen verlieren, dachte die Blondine dabei ärgerlich. Es gab einen Blitz und schon stand ein weißer Ritter vor ihr, mit Schild und einer Lanze ganz aus Kristall bewaffnet.

 

Gem-Knight Prismaura [ATK/2450 DEF/1400 (7)]

 

Doch er war nicht allein, denn neben ihm tauchte unerwartet Sardonyx wieder auf.

„Sie hat den Effekt von [Supervise] benutzt“, erklärte Valerie der überrascht dreinblickenden Joan, ehe diese überhaupt das Wort ergreifen konnte. „Damit kann sie ein normales Monster von ihrem Friedhof beschwören, wenn diese Karte auf den Friedhof gelegt wird. Und das sind Zwillinge, solange sie dort liegen.“

„Ich verstehe. Durchaus eine gute Wahl für ihr Deck.“

„Ich brauche kein Lob von dir, Ladyboy!“, spuckte Anya daraufhin Gift und Galle, zeigte auf die Heilige. „Das wird dir jetzt sowieso im Hals stecken bleiben! Ich aktivere Prismauras Effekt! Guck da, die [Gem-Knight Fusion], die ich mir eben durch das verbannen von Amber wieder aufs Blatt geholt habe! Ich werfe sie jetzt ab, damit Prismaura deinen Spackoengel killt! Schick ihn dahin zurück, wo er hergekommen ist, Prismaura – die Hölle!“

Die Lanze ihres Ritters begann elektrische Ladungen auszustoßen und kaum einen Moment später schoss aus ihr ein Lichtstrahl, der sich in Asmodeus' Brust bohrte. Jener explodierte kurzerhand und hinterließ nichts als zwei schwarze Federn, die gen Boden segelten.

„Zeig's ihr, Schwester!“, jubelte Orion und sprang auf seinem Reittier auf und ab.

Das hieß, bis aus den beiden Federn zwei neue Engel wurden, kleiner als Asmodeus selbst, doch glichen sie ihm ansonsten, abgesehen von der blauen und roten Farbe, bis aufs Haar.

Anyas Augenbraue zuckte. „Wie, wo, was!?“

„Wenn [Darklord Asmodeus] fällt“, erklärte Joan seelenruhig, „hinterlässt er zwei Wesen, die Spielmarken genannt werden. Asmo und Deus.“

 

Asmo-Spielmarke [ATK/1800 DEF/1300 (5)]

Deus-Spielmarke [ATK/1200 DEF/1200 (3)]

 

„Was!?“, fiel Anya daraufhin aus allen Wolken und zeigte entgeistert auf die neuen Engel. „D-die vermehren sich einfach! Was für ein abgefucktes Spiel ist das!?“

„Immerhin mussten sie ihre Stärke dafür aufteilen“, gab Orion altklug zu bedenken, „jetzt sind sie leichtes Futter.“

„Das hoffe ich – für dich!“ Anya schnaubte laut. „Wie ätzend! Zug beendet!“

 

Kaum hatte sie dies gesagt, zog auch schon ihre erbitterte Rivalin wortlos die nächste Karte. Die hatte nur eines im Sinn: Anyas perfides Spiel beenden, koste es, was es wolle!

„Machen wir da weiter, wo wir in meinem letzten Zug aufgehört haben“, sagte sie streng und deutete auf [Gishki Psychelone]. „Mein Instinkt sagt mir nach wie vor, dass auf deiner Hand ein Erde-Monster vom Typ Hexer ist. Sonst hättest du Sardonyx niemals ungeschützt im Angriffsmodus gelassen! Demnach wird Psychelone das jetzt mit ihrem Effekt überprüfen. Und wenn ich richtig liege, war es das für dein Monster.“

„W-was!? Du irrst dich, Redfield! In meinem Deck gibt es gar kein Hexer-Monster-“

„Und was ist dann das?“, fragte jene kühl, kaum hatte ihre korurmpierte Meereshexe die Handflächen an die Stirn gelegt. Über Anya erschien das Abbild eines Monsters, [Gem-Merchant].

Valeries gnadenloses Urteil: „Eindeutig Hexer.“

Da half es Anya auch nichts, dass sie sich herausreden wollte. „Ähm, das ist, also- hey!“

Schwupps löste sich die Karte in ihrem Blatt einfach auf.

„Dacht' ich's mir doch“, sagte Valerie, „schon letzte Runde hatte ich das Gefühl, du würdest Sardonyx absichtlich schutzlos aufs Feld schicken, damit ich gedankenlos angreife. Da er im Moment ein normales Monster ist, kann [Gem-Merchants] Effekt ihn stärken, aber jetzt nicht mehr.“

Anya zischte daraufhin nur. Ihrer Meinung nach hatte Redfield einfach nur geraten!

Diese zeigte längst ein Monster von ihrer Hand vor. „Ich benutze jetzt den Effekt von [Gishki Shadow], den ich abwerfe und somit [Gishki Aquamirror] von meinem Deck aufs Blatt nehme. Aber hier endet es nicht, denn mithilfe meiner Falle [Aquamirror Meditation] kann ich nun zwei Gishki-Monster von meinem Friedhof aufs Blatt nehmen, wenn ich den Aquamirror besitze.“

Ihre Falle sprang auf und sendete rhythmische Wellen aus, die in Anyas Ohren ein seltsames Druckgefühl hervorriefen. Gleichzeitig zeigte Valerie [Gishki Shadow] und [Gishki Noellia] vor.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich -es- jemals beschwören würde“, meinte Valerie plötzlich und zückte ihre Schlüsselkarte, den Ritualzauber, „das in den Untiefen meines Decks lauernde Grauen. Normalerweise ist -es- gar nicht Teil meines Decks, aber für dieses Unterfangen habe ich -es- rekrutiert! [Gishki Aquamirror], bereite die Zeremonie vor! Ich opfere [Gishki Shadow], der als komplettes Opfer für diese Beschwörung herhalten wird!“

Ein goldener Spiegel tauchte aus dem Nichts vor Valerie auf. Seine runde Fläche bekam nach und nach Sprünge, bis der Spiegel in tausend Stücke zerbarst. „Erstehe auf aus der Finsternis des Ozeans! [Gishki Zielgigas]!“

Die auf dem Elysion liegenden Scherben verwandelten sich in Wasser, welches das gesamte Mosaik zu fluten begann. Und aus der unbekannten Tiefe erhob sich eine schattenhafte Gestalt, die absolut nichts mit Valeries anderen Monstern gemein hatte. Mit dem goldenen Siegel der Gishki auf der Brust, glich dieses Monster mit seinen vier Armen und breiten Schwingen eher einem menschgewordenen Herkuleskäfer, denn einer Meereskreatur.

 

Gishki Zielgigas [ATK/3200 DEF/0 (10)]

 

Anyas Mund stand im Angesicht dieser Kreatur weit offen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass Valerie etwas derart Eindrucksvolles auf Lager hatte. Das Vieh wirkte viel eher wie etwas, das Matt spielen würde. Auch Orion machte Augen wie ein Mondkalb.

„Wah! Das Ding ist riesig!“, kreischte er.

Valerie achtete gar nicht auf die Reaktionen ihrer Gegner, sondern schwang den Arm aus.

„Zielgigas' Effekt! Für 1000 Lebenspunkte ziehe ich pro Zug eine Karte und wenn diese ein Gishki-Monster ist …“ Sie nahm die Karte und zeigte [Gishki Vision] vor. „... ach, seht einfach selbst.“

 

[Anya: 4000LP Orion: 3000LP //// Valerie: 3900LP → 2900LP Joan Of Arc: 3800LP]

 

Der schwarze Insektenmann legte seine vier Handflächen aufeinander und erzeugte so eine pechschwarze Kugel, die er direkt auf Prismaura schleuderte. Dieser schrie und löste sich binnen Sekundenbruchteilen auf, hinterließ eine fassungslose Anya.

„Er ist nicht tot, nur in dein Deck zurückgekehrt“, erklärte Valerie dazu und legte nebenbei ein Monster namens [Gishki Mollusk] auf ihre Duel Disk. Und während vor ihr ein dunkelhäutiger, humanoider Krieger erschien, welcher zwei Säbel schwang und offenbar seinen Kopf gegen eine Muschel eingetauscht hatte, fuhr sie ungerührt fort.

 

Gishki Mollusk [ATK/1700 DEF/900 (4)]

 

„Ein Schicksal, welches auch gleich deinem [Gem-Knight Sardonyx] zuteil werden wird. Ich kenne die Schwäche deines Decks, Anya. Es ist [Gem-Knight Fusion]. Ohne sie bist du aufgeschmissen. Und solange sich keiner deiner Ritter auf dem Friedhof befindet, kannst du auch nichts tun, um sie zurückzubekommen!“

Anya hatte das Gefühl, als würde sie von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpern, so leicht schien Redfield sie zu durchschauen. Nur, dass besagte Fettnäpfchen mit Säure gefüllt waren und die Größe des Atlantiks besaßen.

Ihre Gegnerin streckte den Arm in die Höhe. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinem Stufe 4-Mollusk und meiner Stufe 4-Psychelone wird ein Rang 4-Monster! Xyz-Summon! Zeige dich, [Evigishki Merrowgeist]!“

In vollkommener Stille öffnete sich inmitten des Spielfelds ein schwarzes Loch, das Valeries Monster als blaue Lichtstrahlen in sich aufnahm. Heraus kam eine mit Flossen beschwingte, rothaarige Meerjungfrau, die ein langes Zepter mit sich führte – Valeries Paktkarte. Deren Mal leuchtete blau auf.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

Sie würde Anya aufhalten, dachte Valerie entschlossen, egal was es kostete. Anmutig streckte sie den Arm aus und legte dabei den Kopf in den Nacken, als würde sie auf ihre Gegnerin herabsehen.

„[Evigishki Merrowgeist]! Greife [Gem-Knight Sardonyx] an! Sceptre Of Foresight!“

Ihre Meerjungfrau schwang ihren Stab und schoss daraus eine Salve an Seifenblasen auf Anyas Krieger, die bei Kontakt zerplatzten und explodierten. So wurde der Ritter regelrecht bombardiert. Aber auch Anya bekam etwas von den Explosionen ab und wurde zurückgeschleudert, landete auf dem Rücken.

„Dah! Verdammter Kackmist!“

 

[Anya: 4000LP → 3700LP Orion: 3000LP //// Valerie: 2900LP Joan Of Arc: 3800LP]

 

Derweil zog Valerie [Gishki Psychelone] unter ihrem Xyz-Monster hervor und schob diese in den Friedhofsschacht. Gleichzeitig absorbierte ihre Meerjungfrau eine der zwei blauen Sphären, die um sie kreisten, mit dem Zauberstab.

Valerie erklärte dazu: „Jetzt entferne ich ein Xyz-Material, um Merrowgeists Effekt zu aktivieren! Damit schicke ich Sardonyx wie angekündigt in dein Deck zurück, statt auf den Friedhof!“

„Das wirst du noch bereuen, Redfield!“, versprach Anya ihr wütend und schob den Ritter in ihren Kartenstapel, welcher daraufhin automatisch gemischt wurde.

„Ach ja?“, erwiderte Valerie unbeeindruckt. „Ich denke nicht! Sieh dich lieber vor, Anya, denn ich bin noch nicht fertig mit dir!“

Damit wandte sich die Schwarzhaarige ihrem riesigen Herkuleskäfermann zu, welcher unheilvoll die Arme verschränkte. „Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte, [Gishki Zielgigas]! Infestation's Solitude Beam!“

Der Riese streckte seine vier Arme weit aus. Das rote Emblem in seiner Brust begann unheimlich zu glimmen und saugte Lichtpartikel aus ihrer Umgebung auf. Einer war so groß, dass er wie ein Pfeil durch die Brust des Monstrums ging – und es zum Explodieren brachte!

„Wie-!?“ Valerie weitete die Augen, als von ihrer Kreatur tatsächlich nichts mehr übrig war. „Wer hat-!?“

Das Maunzen eines Kätzchens klang durch das Elysion. Alle Blicke wandten sich instinktiv Orion zu, dessen verdeckte Karte aufgesprungen war.

„Tut mir leid, Val-chan, aber ich muss Anya in dem Fall beschützen!“, entschuldigte er sich kleinlaut. „Mit meiner Falle [Fine] habe ich meine letzten beiden Handkarten abgeworfen. Das waren [The Fabled Catsith] und [The Fabled Ganashia]! Und während Ersterer beim Abwerfen eines deiner Monster zerstört, wird Ganashia direkt auf mein Feld beschworen, wenn er abgeworfen wurde!“

Neben Orion und seinem Kalb trampelte ein weißer Elefant auf zwei Beinen aufs Spielfeld und verhielt sich in seinen ungeschickten Bewegungen wie sein Artgenosse im sprichwörtlichen Porzellanladen.

„Und wenn Ganashia so beschworen wird, erhält er sogar noch 200 Angriffspunkte!“, erklärte Orion weiter.

 

The Fabled Ganashia [ATK/1600 → 1800 DEF/1200 (3)]

 

„Orion“, murmelte Valerie, immer noch verstört von dem vorzeitigen Ableben ihres Monsters.

„Klasse!“, konnte sich Anya derweil kaum beherrschen in ihrer Erleichterung. „Man, das Vieh hätte Gulasch aus mir gemacht! Du bist ja doch zu was gut, Pornozwiebel!“

„Immer doch!“, grinste der anzüglich. „Vielleicht möchtest du ja jetzt auch meine anderen Qualitäten kennenlernen, meine süße Tsundere?“

„No way!“

Gleichzeitig ballte Valerie unbewusst eine Faust ob der illustren Szene der beiden. „Zug beendet.“

Damit hatte sie nur noch [Evigishki Merrowgeist] und zwei Handkarten in ihrem Repertoire.

 

„Dann ist jetzt Orion-time!“, flötete jener durch seinen übergroßen Mund und sprang einem Flummi gleich in die Luft. „Draw!“

Kaum hatte er seine Handkarte gezogen, weitete er die Augen. „Was zum-!? Hey, wieso ausgerechnet die!? Jetzt wo ich sie gar nicht mehr brauche!?“

Wütend schob er sie in ein Zauber- und Fallenkartenzone, wodurch die Karte verdeckt vor ihm erschien. „Dämliches Karma! Ich dachte, ich hätte längst wieder gut gemacht, dass ich an Val-samas Unterhöschen gerochen hab!“

„Du hast -was-!?“ Valerie lief mit einem Schlag knallrot an.

„Ah, eh, oh, nichts! Ähm … i-ich mach dann mal mit meinem Zug weiter, ja, Val-chan-sama-sempai-dono!?“ Der Schattengeist warf einen verstohlenen Blick auf die Heilige Johanna. Die war im Moment viel gefährlicher als Valerie. Auf sie musste er sich konzentrieren. „Los, [The Fabled Kudabbi], greif den blauen Engelsfritzen an!“

Womit er die blaue Asmo-Spielmarke mit 1800 Angriffs- und 1300 Verteidigungspunkten meinte, welche zu seinem Ärgernis in der Defensive positioniert war.

Sofort rannte das Kalb samt Orion über das Zwillingselysion. Noch im Lauf sprang Orion vom Rücken seines Reittiers und flog wie eine Rakete auf den gefallenen Engel zu. „Orion-Fisting!“

Mit seiner winzig kleinen Faust brachte er Joans Monster dazu, in tausend Stücke zu zerspringen.

Noch in der Luft machte er einen Salto. „Ganashia!“

Der Elefant war ihm einfach hinterher gerannt und warf sich trötend auf den Bauch, schlitterte über das Mosaik auf Valeries Spielfeldseite, direkt zwischen Valerie und Joan sowie deren Monster vorbei. Orion landete auf dem Rücken seines Monsters und nutzte dieses als Sprungbrett, um nun den roten Engel, die Deus-Spielmarke mit je 1200 Punkten auf beiden Werten, ins Visier zu nehmen. Leider befand auch dieses sich im Verteidigungsmodus. „Orion-Fisting, die Zweite!“

Damit schoss er auf den Engel zu und schlug ihm mit seiner kleinen Faust direkt ins Gesicht. Und prallte ab, wobei er von einer unsichtbaren Kraft den ganzen Weg zurück auf Anyas Spielfeldseite zurückgeschleudert wurde. Wie ein Fußball rollte er über ihr Elysion und kam gerade so am Rand ebenjenes zu stehen.

„Waaaah!“, stieß er beim Blick in den Abgrund aus. Mit Tränchen in den Augen wandte er sich an Joan. „Was hast du getan!? Der herrliche Orion versagt nie!“

„Deus ist unbesiegbar im Kampf“, erklärte die Ritterin ihm ruhig.

„Und das konntest du mir nicht früher sagen!?“

„Du hast nicht gefragt.“

„Dämliche Kuh!“ Orion hüpfte wütend zurück auf den Rücken von Kudabbi, welches gekommen war, um ihn abzuholen. Neben Anya verharrte das Monstergespann schließlich, als es wieder vollzählig war. Wütend stampfte der Schattengeist dreimal mit dem Stummelfuß auf. Das hatte er sich aber ganz anders vorgestellt. „Zug beendet! Aber ich krieg' dich noch, du hinterhältiges Mannsweib!“

 

„Sei vorsichtig, kleiner Dämon“, sprach Joan seelenruhig und zog dabei eine Karte. Die schwarzen Markierungen waren mittlerweile auch von der anderen Körperhälfte ihr Gesicht hinaufgestiegen und ließen sie nun wie ein Wesen aus einer anderen Welt aussehen. „Meine Sünden mögen mir nicht vergeben werden, doch ebenso nicht die deinen. Deine respektlosen Worte zeugen von deiner wahren Natur. Du verbreitest Lügen, um die Ziele deines Meisters umzusetzen.“

„G-gar nicht wahr!“

„Ihm liegt nichts am Leben eines Menschen“, sprach die Gefallene weiter und zückte eine Zauberkarte aus ihrem Blatt. „Er hat Valerie dazu gebracht, ihren Namen zu verkaufen. Er beobachtet uns, wie ein Geier, der um seine Beute kreist. Du als sein Spion bist nicht besser. Du bist die Verkörperung dieses niederträchtigen Handels.“

„Du nimmst den Mund aber ganz schön voll!“, polterte Anya dazwischen. „Ihr seid beide Abschaum, wenn ihr mich fragt!“

Etwas, das Valerie nicht so stehenlassen konnte. „Dich fragt aber keiner, Anya!“

„Tch!“

„Wie dem auch sei, es ist mein Zug“, leitete Joan diesen nun endgültig ein und schob die Zauberkarte in ihre altertümliche Duel Disk. „Ich benutze [Trade-In]. Indem ich ein Stufe 8-Monster hergebe, erhalte ich im Austausch zwei neue Karten.“

Sie entledigte sich ihres [Darklord Zeratos] und füllte danach ihr Blatt auf. Einen Wimpernschlag später schwang sie den Arm aus. „Und nun, sei wiedergeboren, [Darklord Superbia]! Höre den Ruf der Verblassten, höre den [Call Of The Haunted]!“

Ihre gesetzte Fallenkarte sprang auf, während Anya wütend schnaubte. „Erspar' uns die Einzelheiten, Miststück. Jeder weiß, was diese Karte kann!“

„Die holt einfach das Monster wieder, welches sie in ihrem letzten Zug auf den Friedhof gelegt hat.“ Orion knabberte panisch an seinen kleinen Stummelfingern. „Das ist gar nicht gut!“

„In der Tat. Sei wiedergeboren, [Darklord Superbia]!“

Vor Joan erschien aus einer schwarzen Flamme ein gleichfarbiger Kelch, der sich im Uhrzeigersinn zu drehen begann.

„W-was ist das denn!?“, schoss es ungläubig aus Anya heraus.

Doch sie ersparte ihren Mitstreitern einen weiteren Kommentar dieser Sorte, als sie plötzlich einer grimmigen Fratze gegenüberstand, die dem Kelch entsprang. Mit einem Schlag wuchsen aus diesem zwei dürre, lange Arme und blutrote Schwingen, wobei das Wesen gleichzeitig auf die Größe eines Menschen anwuchs.

 

Darklord Superbia [ATK/2900 DEF/2400 (8)]

 

Joan streckte weit ihren Arm aus. Unter ihrem Kettenhemd war ein Großteil ihrer Haut verborgen, doch was zu sehen war, ihre Hände, hatten mittlerweile eine graue Färbung angenommen. Und es schien, als hätten sie feine Risse, die langsam zu bröckeln begannen. Die Kriegerin wirkte, als wären ihre Arme aus Asche geformt.

„Dies ist der Heilige Gral, gefallen in die Hände des Unsäglichen! Doch selbst jetzt ist seine Macht noch so groß, dass er ein Quell des Lebens ist, wenn man ihn aus der Hölle entführt! Drum holt er jetzt einen gefallenen Engel direkt aus ebendieser zurück!“ Aus dem Kelch schoss eine pechschwarze Flamme. „Sei wiedergeboren, [Darklord Zerato]!“

Anya blinzelte verdutzt, als aus dem Feuer ein großer Krieger flog. Genau wie Joans andere Monster, waren seine Flügel blutrot, während die nackte Haut des Gefallenen pechschwarz gefärbt war. Er schwang eine lange, gebogene Klinge und grinste unheilvoll.

 

Darklord Zerato [ATK/2800 DEF/2300 (8)]

 

„Uah! Das hat sie die ganze Zeit über geplant!“, stammelte Orion panisch und fiel auf dem Rücken seines Monsters aufs Hinterteil. „Jetzt wird’s ganz übel!“

Joan verzog keine Miene, als sie eine ihrer Handkarten vorzeigte. „Indem ich mich von einem Finsternis-Monster, in diesem Fall [Darklord Edeh Arae], trenne, werden alle Monster eines von mir gewählten Spielers umgehend von [Darklord Zerato] vernichtet. Jedoch kostet ihn dies am Ende des Zuges das eigene Leben.“

Anya und Orion tauschten nur einen fassungslosen, panischen Blick aus, da donnerte es auch schon.

In die Klinge Zeratos war ein Blitz eingeschlagen, finstere Energie umspielte sie wie eine Schlange. Lachend schleuderte der Krieger diese Blitze Orion entgegen, der vor Schreck die Augen weitete.

„Mein Ziel bist du, Dämon.“

Sein Ganashia schrie auf, als er von der Ladung getroffen wurde und zersprang in tausend Stücke. Auch Orion kreischte panisch, als sein Reittier erfasst worden war, doch urplötzlich bildete sich eine Lichtmauer, als Kudabbi aufheulte und in einen merkwürdigen Singsang verfiel.

„Oje, oje“, jammerte der Schattengeist, der beinahe von seinem verschleierten Kalb gefallen wäre. „Wenn ich jetzt noch Handkarten gehabt hätte, wäre es aus gewesen.“

„Weitere Handkartenmanipulation?“, wunderte sich Valerie, die damit bereits vertraut war.

Der Schattengeist sprang auf die Beine und streckte stolz die Schnute hervor, da es ihm an Brust deutlich mangelte. „Klaro, Chica! [The Fabled Kudabbi] konzentriert sich aber auf meine eigenen, Baby! Ohne Handkarten, nix put machen! Gar nix, nix Kampf, nix Effekt! Der große Orion wird nicht so leicht-“

„In dem Fall biete ich meine Deus-Spielmarke als Tribut an“, setzte Joan völlig ungerührt ihren Zug fort und ließ den Engel verschwinden, „um [Darklord Desire] als Tributbeschwörung zu rufen. Höre mich!“

Anya und Orion starrten gebannt nach oben, von wo auf Valeries Seite des Elysions etliche schwarze Federn fielen. Sie alle färbten sich rot, flogen auf einen bestimmten Punkt in der Luft zu, um sich zu sammeln. Kurz darauf gab es einen Lichtblitz und dort, wo eben noch die Federn gewesen waren, flog nun ein Engel durch die Luft. Das rote Federkleid war aber nicht das Beeindruckende an ihm, viel mehr war es die massive gold-schwarze Rüstung, die besonders an Armen und Beinen besonders hervorstach. An beiden Enden der Arme befanden sich zwei Klingen, die wie Klauen wirkten.

 

Darklord Desire [ATK/3000 DEF/2800 (10)]

 

Anya zeigte wütend mit dem Finger auf die Heilige Johanna. „Du betrügst! Für den hättest du zwei Monster opfern müssen, Miststück!“

Beschwichtigend die Hand hebend, schüttelte jene mit dem Kopf. „Ich fürchte, du irrst dich. [Darklord Desire] benötigt nur ein Opfer, wenn dieses ein Engel ist. Und nun sehe, dass er imstande ist, jeden Dämon zu töten.“

Sie schwang den Arm Richtung Orion aus. „Opfere einen Teil deiner Kraft, um das Böse direkt in die Hölle zu schicken!“

Der Kriegerengel Desire legte seine Arme über Kreuz auf die Brust und schoss massenhaft Federn auf [The Fabled Kudabbi]. Orion gab nur noch einen Schrei von sich, als sein Reittier schon getroffen wurde und sich in roten Nebel verwandelte, welcher wiederum einfach verschwand. Auf den Hintern plumpsend, stand der kleine Schattengeist plötzlich ohne Monster da. Genau wie Anya.

 

Darklord Desire [ATK/3000 → 2000 DEF/2800 (10)]

 

„Sie konnte sogar Kudabbi vernichten“, stammelte Orion und sah Joan ängstlich an, die wie ein Henker auf ihn herab starrte. Und obwohl sie so weit weg sein mochte, jagte sie nicht nur Orion bei ihrem Anblick einen kalten Schauder über den Rücken.

„Oh, verdammter Kackmist“, fluchte Anya, die den Ernst der Lage erkannt hatte. „Mit der Alten ist echt nicht gut Kirschen essen.“

Sie besaß drei Monster mit mindestens 2000 Angriffspunkten. Und Anya wusste genau, dass sie keine Angst davor hatte, sie zu benutzen. Nur wen? Wen würde sie aus dem Spiel jagen wollen? Es reichte nur für einen von ihnen.

Plötzlich nahm Joan Anya scharf ins Visier. „[Darklord Superbia], dein Ziel ist die Sünderin.“

„Oh, shit, ich wusste es!“

„[Darklord Desire], [Darklord Zerato], sendet diesen Wicht zurück dorthin, wo Luzifer ihn geschaffen hat. Du wirst Valerie nicht länger vergiften, Dämon!“

Gleichzeitig erschraken die beiden Mädchen und wichen zurück, aus demselben Grund.

„Joan, warum er!? Du könntest Anya-!“

„Nicht ich!?“

Doch ehe Joan ihre Absichten erklären konnten, schwärmten ihre Monster bereits aus.
 

In Orions Augen spiegelte sich wahrlich die Furcht, die ihm der bevorstehende Angriff bereitete. Er wusste nicht, welches Schicksal eine Niederlage mit sich zog. Die beiden Kriegerengel flogen auf ihn zu wie Pfeile von der Sehne eines Bogens.

Der kleine Schattengeist schluckte schwer, dann wandte er sich Anya zu. „Jetzt ist es an dir, Schwester! Du musst Val-chan für mich beschützen, okay!?“

„Was redest du da, du hast doch deine verdeckte Karte! Benutze sie, Dummkopf!“

Orion bemerkte die Karte vor ihm, doch er seufzte. „Klaro … verdeckte Falle. [The Gift Of Greed]. Einer meiner Gegner zieht nun zwei Karten … und zwar du, Schwester!“

Anya erschrak, als die Falle hochklappte und daraus eine weiße Schachtel auftauchte. „W-was!? So eine Dreckskart-“

„Das ist alles, was ich für dich tun kann! Bitte, beschütze Val-chan für mich!“

Der Deckel der Schachtel lüftete sich von selbst und hervor kam eine grüne Vase, auf der ein grinsendes Gesicht eingearbeitet war. Wie in Trance zog Anya die zwei Karten, die Orion ihr hinterlassen hatte. Kaum einen Moment später trafen die beiden Engel auf Orion und schlugen ihn zusammen mit Schwert und Faust nieder.

Doch Anya kam gar nicht dazu zu reagieren, denn auch sie wurde plötzlich erfasst. Von einer schwarzen Flamme, die aus dem Inneren des verdorbenen Heiligen Grals kam, welcher in angewinkelter Position auf sie zeigte, um die Flammen loszulassen.

„Ahhhh!“, schrie sie unter dem Feuer. Auch Orions gequälte Rufe drangen durch das Elysion. „Val-chan …!“

Die unerwartete Wucht des Flammenangriffs warf Anya um.

 

[Anya: 3700LP → 800LP Orion: 3000LP → 0LP //// Valerie: 2900LP Joan Of Arc: 3800LP]

 

Die Blondine landete hart auf der Seite und ließ dabei ihre Handkarten fallen. Neben ihr kullerte Orion an ihr vorbei und begann sich in schwarzen Partikeln aufzulösen.

„Hey!“, schoss es aus Anya hervor, die sich ruckartig erhob und zum kleinen Schattengeist eilte.

„Du musst … sie aufhalten …“, bat Orion mit Tränchen in den Augen, ehe er ganz verschwunden war.

 

Die Blondine war fassungslos. Er war einfach weg, nicht mehr da. Innerhalb weniger Sekunden.

Und es war … sie hatte ihn da reingezogen, es war …

„Was hat er dir überhaupt getan, du Psycho!?“, schrie sie unvermittelt Joan an. „Du hättest genauso gut mich nehmen können! Immerhin seid ihr sowieso nur hinter mir her!“

„Er war das sinnvollere Ziel für meinen Angriff“, erklärte der Engel ungerührt. „Es wäre schwieriger, gegen ihn zu kämpfen, als gegen dich. Zug beendet.“

Damit löste sich auch [Darklord Zerato] auf und hinterließ nichts weiter als eine schwarze Feder, die von einer Brise davongetragen wurde.

 

„Ihr seid …“, presste Anya unter all ihrer Wut mühsam hervor, „die Schlimmsten von allen!“

„Was redest du da?“, widersprach Valerie aufgekratzt. „Du bist doch diejenige, die-“

„Schnauze, Redfield!“ Die Blondine stampfte wütend auf, zeigte auf Joan. „Sie! Langsam glaube ich, was die Pornozwiebel mit ihr meinte! Heuchlerisches Weib! Du tust so, als würdest du strategisch handeln, aber in Wirklichkeit lachst du dir nur einen ab, weil du einen Dämon besiegt hast! Du hast dich die ganze Zeit nur auf ihn konzentriert! Solche wie du widern mich an!“

„Das werde ich akzeptieren müssen.“

Anyas Stirn war bereits voll von Zornesfalten, was durch Joans distanziere Reaktion nur umso schlimmer wurde. „Ach habe ich ja vergessen, ich bin ja auch nur so ein 'Sünder'! Ihr Engel seid so selbstgerecht! Ob Dämon, Engel oder weiß der Geier, was spielt das für eine Rolle!?“

Das Mädchen hatte sich so in Rage geredet, dass sie ihre Handkarten, welche sie nebenbei aufhob, in der Faust zu drücken begann. „Es ist doch völlig egal, als was man geboren wird! Es zählt allein, was man aus seinem Leben macht! Aber nein, ihr Vollidioten von Engeln stempelt alles als böse ab, was anders ist als ihr!“

Sie schwang ihren Finger auf Valerie, die erschrocken zusammenzuckte. „Du, Redfield, bist ganz genauso! Plötzlich ist die Pornozwiebel ein Feind für dich, aber erinnerst du dich noch, wer zuerst auf wen zugegangen ist!? Wie kannst du ihn so plötzlich fallen lassen!?“

„Anya, ich-“

„Tch! Es ist nicht meine Aufgabe, mich über so etwas zu beschweren! Aber da hier niemand sonst für ihn sprechen kann, fällt der Schwarze Peter eben auf mich.“ Dieses eine Mal würde sie ihn eben annehmen müssen. Auch wenn Anya es hasste, in eine Rolle zu schlüpfen, die ihr nicht lag. „Der Knilch mag zwar ein perverses Mistvieh sein, aber soweit ich das beurteilen kann, hat er nie etwas Schlechtes getan. Im Gegenteil, er hat sogar alles gegeben, um dich vor dieser Ollen und ihrem Irrsinn zu beschützen.“

Anyas Blick verhärtete sich. „Aber da er jetzt nicht mehr hier ist, hat sich die Situation verändert. Solche wie dich … zerstampfe ich im Boden, Redfield! Denn ich hasse nichts mehr als Heuchler und Feiglinge!“

Valerie, die von Anyas ungewohnter Verhaltensweise regelrecht erschüttert war, brauchte einen Moment, um ihre Fassung wiederzugewinnen. „In dem Punkt sind wir uns einig. Ich schlage vor, du verleihst deinen Worten Nachdruck. Du bist am Zug.“

 

„Oh, das werde ich“, zischte Anya und griff nach ihrem Deck. „Mit allen Mitteln.“

Wirklich mit allen!

Sie schloss die Augen und versuchte sich auf ihr Deck zu konzentrieren. Die Pornozwiebel hatte all ihr Vertrauen in sie gesetzt. Und auch, wenn er es war, der Redfield diesen Floh überhaupt erst ins Ohr gesetzt hatte, stimmte Anya mit ihm in Punkto Joan überein. Was ihn allerdings nicht davor bewahren würde, die Anya Bauer-Premiumstrafe für Verrat zu erhalten, sollte sie ihn jemals wiedersehen. Doch zuerst …

Seine zwei Karten, sie würde sie nutzen. Mit ihrer anderen Handkarte, und der, die sie jetzt ziehen würde.

Anya würde sie nutzen, um Valerie und Joan zu zerstören!

„Draw!“

Die Augen des Mädchens öffneten sich schlagartig, doch noch während sie zog, war da kein Gefühl einer pulsierenden Kraft in ihr. Levriers Macht, sie konnte nicht einmal hier auf sie zugreifen.

Und während sie den Arm beim Ziehen ausschwang, entschied Anya, dass es im Endeffekt vollkommen egal war, ob Levrier ihr jetzt half oder nicht. An den Nervenkitzel solcher Duelle hatte sie sich mittlerweile gewöhnt … und es war …

Anya schüttelte den Kopf. Wenn sie alle, ob Dämonen oder Engel, so versessen darauf waren, einander an die Gurgel zu gehen … wo war dann der Unterschied zwischen ihnen und ihr selbst?

„Tch!“, zischte sie, nicht wissend, wen sie mehr hasste, Redfield oder Joan.

Wenn es jedoch ums Rache nehmen ging – und Anya wollte sich rächen, weniger für Orion, sondern mehr für die Situation im Allgemeinen – hatte sie bereits eine genaue Vorstellung, wer als Erstes dran war.

In ihrem Zorn war ihr völlig gleich, was sie tat. Hauptsache, sie tat überhaupt etwas.
 

„Zauberkarte!“, bellte sie und hielt jene in die Höhe. „[Mystical Space Typhoon]! Damit kille ich einen Zauber oder 'ne Falle auf dem Spielfeld! [Call Of The Haunted]!“

Ein Wirbelsturm ging von dem Hologramm der Karte aus, als Anya jene in ihre Duel Disk schob. Besagter Sturm riss Joans Falle auseinander, ehe er verschwand. Was zur Folge hatte, dass [Darklord Superbia] in tausend Stücke zersprang, da jener an die Falle gebunden war. Anya ging diese Szene hinunter wie Öl.

Sie wollte Joan zerstören. Und jeden anderen Engel, der es in Zukunft wagen würde, ihren Weg zu kreuzen. Jeden verdammten Mistkerl dieser Rassisten!

„Ich rufe [Gem-Knight Garnet] als Normalbeschwörung! Aber der bleibt nicht lange, denn ich opfere ihn für den Effekt der Zauberkarte [White Elephant's Gift]! Wenn ich mit ihr einen Vanilla entsorge, ziehe ich zwei Karten!“

Ihr Ritter tauchte gar nicht erst auf. Stattdessen ein weißer Knochen, der sich in weiße Funken aufzulösen begann, während Anya zwei Karten zog.

Valerie indes schluckte. So aufgebracht war Anya selbst ihr unheimlich. Außerdem hatte ihre Gegnerin einen cleveren Zug hingelegt. Nicht nur hatte sie ihr Blatt erweitert, sie hatte nun, da Garnet auf dem Friedhof lag, auch wieder Zugriff auf [Gem-Knight Fusion].

Jene wurde von der Blondine bereits zwischen Mittel- und Zeigefinger gehalten, während Garnet in Anyas Hosentasche verschwand. „Du weißt, was kommt, nachdem ich Garnet verbannt habe, Redfield! [Gem-Knight Fusion], los! Ich verschmelze [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Sapphire] von meiner Hand! Scheiß auf den Beschwörungstext, los, [Gem-Knight Topaz]!“

Über dem Mädchen öffnete sich ein strahlender Wirbel aus Edelsteinen, in den ein goldener und ein saphirblauer Ritter hineingezogen wurden. Kurz darauf schlugen Blitze aus dem Strom um sich und ein Krieger in goldbrauner Rüstung trat daraus hervor. Mit einem Satz und wehendem, schwarzen Umhang landete er neben Anya und zückte zwei Dolche, deren Klingen stilisierte Blitze waren.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

„Denkt über mich, was ihr wollt“, zischte seine Besitzerin dabei und schob ihre letzte Handkarte in die Duel Disk. „Hat mich eh nie interessiert. Aber eins sollt ihr wissen, ihr heuchlerischen Schnepfen! Ich werde keine Familien auseinanderreißen, indem ich andere für meine Zwecke opfere!“

Valerie weitete die Augen, als sie die Entschiedenheit in Anyas Ton wahrnahm. Was jene sagte, kam vom Herzen. Und dennoch! „Was ist das Wort von jemandem wert, der so etwas schon einmal getan hat!? Denk an Marc!“

„Wie ich sagte, Redfield“, murmelte Anya leise, „ist mir egal, was ihr denkt. Aber das, was ich eben gesagt habe, bezieht sich nur auf Leute, die ich respektiere. Und dummerweise gehört deine kleine Freundin nicht dazu.“

Plötzlich erschien an Topaz' Arm eine Art Elektroschocker. Anya erklärte dazu: „Ich rüste [Gem-Knight Topaz] mit [Fusion Weapon] aus, welche Fusionsmonster bis Stufe 6 um 1500 Punkte verstärkt!“

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 → 3300 DEF/1800 → 3300 (6)]

 

„Merk dir eins, Redfield“, sagte die Blondine mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. „Was mit Marc passiert ist, war nicht meine Schuld. Er hat es so gewollt und wusste von Anfang an, was ihn erwartet, wenn er mich und Levrier angreift. Ich wusste das nicht!“

„Das ist keine Entschuldigung!“

„Ich will mich auch nicht bei dir entschuldigen, Dummkopf!“ Anya schwang aufgebracht den Arm aus. „Da gibt es nichts zu entschuldigen! Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann ihr beide bei mir! Aber darauf kann ich lange warten, das weiß ich! Deswegen bin ich jetzt so frei und sorge dafür, dass wir quitt sind!“

Mit einem Schlag schwenkte Anya ihren Finger um auf Joan. „Und zwar, indem ich diese Pest hier beseitige. Los, Topaz, Thunder Strike First! Angriff auf [Darklord Desire]!“

„Nein!“, schrie Valerie verzweifelt und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihre Patronin.

Anyas Krieger schoss wie ein Pfeil durch die Luft, genau wie der finstere Engel Joans. Beide trafen in der Mitte des Elysions aufeinander und tauschten Schläge mit Fäusten beziehungsweise Klingen aus. Doch Desire erwies sich als zu schwach und wurde mitten in der Brust von den Dolchen Topaz' durchbohrt.

„Geh aus dem Weg, Redfield!“, befahl Anya aufgebracht, als die Klingen ihres Ritters plötzlich bläuliche Blitze ausstießen. „Wenn [Gem-Knight Topaz] ein Monster im Kampf besiegt, fügt er dessen Besitzer Schaden in Höhe der Angriffskraft seines Opfers zu! Zusammen mit dem Kampfschaden ist das mehr als genug, nämlich ganze 4300 Punkte Schaden, um dieses Drecksweib aus -meinem- Elysion zu jagen!“

„Wie kannst du-!?“

„Sie hat recht“, sprach Joan hinter ihr eindringlich. „Bitte Valerie, geh aus dem Weg, sonst trifft dich die Wucht des Angriffs. Dadurch wäre nichts gewonnen!“

Die Schwarzhaarige drehte sich verzweifelt um. „Nein! Du darfst nicht-!“

„Aus dem Weg, Redfield!“, verlangte Anya und zeigte mit dem Finger auf die beiden. „Ich sag es nicht noch einmal! … aber gut, wenn du so scharf drauf bist, für sie den Treffer einzustecken, ist mir das nur recht! Auch wenn du sowieso danach dein Fett weggekriegt hättest! Los, Topaz, keine Rücksicht mehr!“

Der aufgespießte [Darklord Desire] zersprang unter einem Schrei, als sein gesamter Körper von den blauen Blitzen der beiden Klingen gepeinigt wurde. Aus den Waffen schoss schließlich ein elektrisch aufgeladener Energiestrahl, der direkt auf Valerie zusteuerte.

Jene wurde an den Schultern gepackt und kurzerhand von Joan weggeschleudert. Noch während des Falls drehte sich das Mädchen perplex um und sah, wie die Heilige Johanna sie freundlich anlächelte. Ehe sie der Strahl direkt in die Brust traf.

„Joan!“, schrie Valerie und prallte auf dem Boden auf.

 

[Anya: 800LP //// Valerie: 2900LP Joan Of Arc: 3800LP → 0LP]

 

Panisch richtete sich die Schwarzhaarige sofort wieder auf und packte Joan am Arm, welche trotz der Wucht des Angriffs noch auf beiden Beinen stand. „Joan!“

Allerdings stieß sie einen spitzen Schrei aus, als der aschgraue Arm in ihrer Hand wie Glas zerplatzte. „Oh nein! Nein!“

Langsam begann sich Joan in kleinen Partikeln aufzulösen, ihr ganzer Körper verlor seine Farbe. Doch jene lächelte dabei gedankenverloren. „Ich konnte niemanden retten in dem Zustand, in dem ich war. Niemanden, nicht einmal die, die mir am nächsten standen …“

Valerie hielt sie am anderen Arm fest, doch auch jener zersprang wie Glas in ihrer Hand, welches auf das harte Mosaik fiel. „Joan! Du-! Du darfst nicht-!“

„Ich war die ganze Zeit im Irrtum, Valerie. Ich wollte, dass du zu einem Engel wirst, um die Dinge, die ich nicht erreichen konnte, besser zu machen. Ich wollte mich durch deinen Aufstieg vor dem Herrn als würdig erweisen. Aber er hat mich nicht ohne Grund verbannt.“

Tränen standen in den Augen des Mädchens, die nach vorne stolperte und ihrer Patronin an den Schultern fasste. „Dann lass uns zusammen-“

„Valerie“, antwortete Joan mit traurigem Gesichtsausdruck. „Menschen werden immer nur Menschen bleiben. Auch der Herr hat dies erkannt. Sie sind nicht dazu geschaffen, sein Werk umzusetzen. Auch Gott irrt sich von Zeit zu Zeit.“

Das Mädchen biss sich auf die Lippen. Sie verstand nicht, was Joan ihr damit sagen wollte. Jene lächelte wieder, es war ein Strahlen voller Hoffnung. „Bevor ich diese Welt verlasse und als Dämon wiedergeboren werde, lass mich einen letzten Wunsch formulieren.“

„N-nein, sag das nicht-“

Joan, die keine Hände mehr hatte, um Valerie auf die Schultern zu fassen, legte stattdessen ihre Stirn gegen die der Schwarzhaarigen. „Wirst du mir zuhören?“

„J-ja“, würgte die hervor.

„Danke, Valerie. Mein letzter Wunsch ist, dass du wieder die wirst, die du warst, bevor du mich getroffen hast. Das aufrichtige, junge Mädchen, das andere beschützt, wenn sie in Not sind. Erinnere dich daran, wer dich geprägt hat, Valerie.“

„Joan? Ah!“

Mit einem Mal zersprang der restliche Körper der Ritterin wie ein Kristall und schoss durch alle Ecken und Eden des Elysions. Valerie streckte verzweifelt die Hand nach den Fragmenten aus, ehe sie auf die Knie fiel. „Joan!“

 

Du bist nie ganz allein, Valerie. Mein Wille, dich zu beschützen, wird immer ein Teil von dir sein. Das war mein Versprechen. Unser Pakt.

 

Anya zischte verächtlich, als sie mit ansah, wie ihre Erzrivalin mit von Tränen benetztem Gesicht ihren leuchtenden Arm ansah. Ihr Mal glühte blau.

„Tch. Endlich ist sie weg“, gab die Blondine sich gänzlich ungerührt von der Szene. „Jetzt sind es nur noch wir beide, Redfield!“

Die Augen ihrer Gegnerin verengten sich schlagartig, als sie über ihre Schulter herüber schaute. „Bist du nun zufrieden!?“

„Warum fragst du mich das?“, erwiderte Anya kaltherzig. „Du hast doch den ersten Stein geworfen. Jetzt beschwer' dich nicht, dass ich mit 'nem verdammten Raketenwerfer antworte!“

Valerie zuckte unmerklich zusammen, erhob sich aber einen Augenblick später wieder.

 

Sie hatte einen Entschluss gefasst. Wenn dieses Duell vorbei war und sie Anya versiegelt hatte, würde sie sich auf die Suche begeben. Nach Joan. Sobald sie wiedergeboren wurde, würde sie sie finden. Sie würde auf diesen Tag warten, egal wie lange es auch dauern mochte. Das schwor sie sich von der Tiefe ihres Herzens.

Valerie musste verhindern, dass Joan als Dämon Böses tat, wenn jener Tag gekommen war. Und dann würde Joan sehen, dass ihr letzter Wunsch in Erfüllung gegangen war. Ganz bestimmt.

Aber bis dahin …

 

„Wir sind noch nicht fertig hier, Anya!“, fauchte sie entschlossen und straffte sich, raffte sich auf. „Für all deine Taten wirst du bezahlen! Ein für alle Mal!“

„Zu dumm, dass ich noch am Zug bin, Miststück!“, fauchte ihre Gegnerin zurück und streckte den Arm weit aus, zeigte auf [Evigishki Merrowgeist]. „Sei dankbar, dass du nicht lange um deine Kampflesbe weinen musst, denn ich werde dich gleich hinterher schicken! [Gem-Knight Topaz], würg' ihr deinen zweiten Angriff rein! Thunder Strike Second!“

Noch während sich ihr Krieger in der Mitte des Spielfelds zum zweiten Angriff bereit machte, fügte Anya hinzu: „Du weißt doch, ich muss dem Bild entsprechen, das du von mir hast.“

Valerie schnaubte nur.

Da schoss der Krieger auch schon auf ihre Meerjungfrau los, welche den ersten Dolchhieb mit ihrem Zauberstab abwehren konnte. Doch der zweite war direkt auf ihre Brust gezielt, wo sie ganz ungeschützt war.

„Joan, wenn du wirklich in mir bist“, murmelte Valerie und schloss die Augen, „dann leih mir deine Kraft!“

Mit einem Schlag begann ihr Mal noch stärker zu leuchten.

„Ich hab's geahnt“, zischte Anya daraufhin genervt.

Valerie streckte jenen Arm ruckartig in die Höhe. „Ich rekonstruiere das Overlay Network! Aus meinem Rang 4-Monster, [Evigishki Merrowgeist], und seinem Xyz-Material wird ein neues Xyz-Monster!“

Direkt unter der Meerjungfrau tat sich ein schwarzes Loch auf, was Topaz dazu veranlasste, schleunigst Abstand zwischen sich und dem Wirbel zu bringen. In jenen wurde Merrowgeist eingesogen, während schwarze, rote und blaue Blitze daraus willkürlich um sich wüteten.

Valerie senkte den Arm wieder und betrachtete diesen betrübt.

„Ich bin nie allein, was? Ich glaube an dich, Joan!“ Mit gefestigtem Blick wandte sie sich damit Anya zu. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr! Incarnation Summon! Aus dem Meer der Tränen, erwache, [Evigishki Serenade – Ghost Princess Merrow]!“

Blitzschnell schoss aus dem Wirbel eine große, fischartige Gestalt, gefolgt von einer gewaltigen Wasserfontäne. Verblüfft stellte Anya fest, dass jene Valeries neuem Monster folgte, als dieses eine Runde um deren Elysion drehte und sich schließlich majestätisch vor ihrer Gegnerin aufbaute. Dabei hatte dieses Monster einen weitflächigen Ring aus Wasser um Valerie gebildet.
 

Evigishki Serenade – Ghost Princess Merrow [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

Zwei goldene Sphären kreisten um diese neue Meerjungfrau. Doch die war anders als ihre Vorgängerin – sie war ein Geist. Durchsichtig, schneeweiß und flimmernd wie ein kaputter Fernseher. Nichts mehr als eine Illusion. Das lange, gewellte Haar lag ihr direkt im Gesicht, sodass dieses nicht zu erkennen war. Ihr langer Körper war bestückt von langen Dornen, aus dem Rücken ragten zwei lange Flossen, die wie Flügel anmuteten. Den Stab hatte Merrow bei ihrer Transformation verloren – genau wie ihre Arme.

„Die gewinnt gewiss keinen Schönheitswettbewerb“, spottete Anya, welcher der Anblick der Kreatur kein müdes Wimpernzucken hervorlockte. Zumindest nicht äußerlich.

„Das kann ich verkraften“, fuhr Valerie auf derselben Schiene wie ihre Gegnerin fort. „Immerhin kann ich mich damit trösten, dass Princess Merrow nur von Xyz-Monstern besiegt werden kann.“

Soviel hatte Anya bereits vermutet und fluchte innerlich. Egal wie stark ihr Topaz auch war, an diesem Vieh und der Mauer aus Wasser kam sie nicht vorbei. Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf. Was half ihr all das Wissen um die Incarnation-Monster, wenn sie jenes nicht ausnutzen konnte!?

„Da hast du ja nochmal Glück gehabt, dass deine Freundin dir mit ihrem letzten, verkrüppelten Atemzug den Hintern gerettet hat“, maulte Anya zornig. „Vorerst jedenfalls. Dann zeig mir mal, wie toll die Sumpfhexe ist. Im Ernst, den Look hat sie doch aus The Ring geklaut! Zug beendet!“

 

Mit einem plötzlichen, wütenden Schrei riss Valerie die nächste Karte von ihrem Deck.

Wie konnte sie nur!? Wie konnte dieses Mädchen selbst jetzt noch so zuversichtlich sein!? Hatte sie denn gar keine Angst? Sie war bis auf ihr Monster völlig ungeschützt, wusste nichts über Merrow und dennoch! Woher nahm sie diese verdammte Zuversicht!?

Valerie verstand es einfach nicht. So war Anya schon immer gewesen! Aber das hier war nicht der Schulhof, das hier war bitterer Ernst!

„Der Effekt von [Evigishki Serenade – Ghost Princess Merrow] aktiviert sich während meiner Standby Phase“, rief sie angespannt, „es regeneriert Xyz-Materialien, bis es drei Stück hat.“

„Ach, wie unerwartet“, giftete Anya daraufhin garstig, „hast du dir wohl von Marcs Ghostrider-Abklatsch abgeschaut, huh?“

Getroffen von dieser Spitze, schwieg Valerie einen Moment, während aus ihrer Duel Disk eine goldene Sphäre auftauchte und zusammen mit den anderen beiden um ihre Geistermeerjungfrau zu kreisen begann.

Schließlich sagte sie, bemüht die Fassung zu wahren: „Ich habe jetzt die Wahl zwischen drei Effekten. Der mächtigste, der mich alle drei Xyz-Materialien abhängen lässt, stellt dich vor eine Wahl. Du musst mindestens eine, aber maximal drei Karten ziehen. Und für jede so gezogene Karte erhalte ich gleich zwei.“
 

Anya blinzelte einen Moment überrascht. Sie bekam von Redfield Karten? Ernsthaft?

Aber nein … das war doch nur, um ein Psychospielchen zu treiben. Vermutlich dachte das Miststück, sie könne ihre Gier für sich ausnutzen! Aber nicht mit ihr!

Andererseits wären drei neue Karten jetzt genau das Richtige in ihrer Situation. Aber dadurch erhielte ihre Gegnerin gleich sechs, was wiederum alles nur umso riskanter machte.

Es war zum-

 

„Jedenfalls ist das, was ich sagen würde. Aber nein, dir diesen schwachen Hoffnungsschimmer zu schenken bin ich nicht gewillt“, fügte Valerie plötzlich an. Sie kniff ihre Augen so fest zusammen, dass ein Stück Papier Schwierigkeiten hätte, zwischen die Lider zu passen. „Ich habe einen viel effektiveren Weg, dich zu besiegen.“

„Ach ja!?“, erwiderte Anya mit Zornesfalten auf der Stirn. Hatte Redfield es doch tatsächlich gewagt, mit ihr zu spielen! „Das will ich erstmal sehen!“

Jene musste zugeben, dass ihr Anyas beleidigter Blick durchaus zusagte. „Das wirst du. Ich nutze die ersten beiden Effekte von Ghost Princess Merrow. Für ein Xyz-Material erhalte ich ein Ritualmonster von meinem Friedhof oder Deck.“

Ein Schatten huschte durch den Ring aus Wasser, welcher Valerie umgab. Die Geistermeerjungfrau, die vor jenem Ring schwebte, drehte ihren Kopf um ganze 360 Grad, wobei ihr Haar jedoch am Gesicht kleben blieb. Doch für einen kurzen Moment glaubte Anya, ein rotes Leuchten auf Höhe der Augen wahrgenommen zu haben.

Derweil schoss die von Valerie gewählte Ritualmonsterkarte aus deren Deck hervor und wurde sogleich ins Blatt aufgenommen. Eine der goldenen Sphären löste sich wie Nebel auf.

„Und jetzt der zweite Effekt, der mich die verbliebenen beiden Xyz-Materialien kostet“, fuhr Valerie fort. „Es ist dasselbe Spiel, wie eben. Diesmal nur mit einem Ritualzauber.“

Anya schreckte zusammen, als sie erkannte, dass ihre Gegnerin sich somit mühelos ein Ritualset zusammenstellt hatte. Die Geisterprinzessin drehte ihren Kopf wieder zurück in die Ausgangsposition, doch diesmal war Anya sich sicher, dass deren Augen rot leuchteten, als Valerie die Ritualzauberkarte auf ihr Blatt nahm und die goldenen Sphären verdunsteten.

„So ein Kackmist“, fluchte Anya wütend, ahnend, was jetzt kommen würde.

„Du willst doch auch sicher wissen, für welches Ritualmonster ich mich entschieden habe?“, fragte ihre Rivalin bitterböse. „Ich zeig es dir! Indem ich den gesuchten [Gishki Aquamirror] aktiviere und [Gishki Vision] als Opfer anbiete, kann ich dieses Monster hier beschwören! Erscheine aus endlosen Kristallkaskaden! [Evigishki Soul Ogre]!“

Zunächst tauchte vor Valerie jedoch nur ein goldener Spiegel auf, in dessen kreisrunder Fläche sich das geopferte Monster widerspiegelte, eine amphibische Kreatur auf zwei Beinen mit einem blauen Cape um die Schultern. Schließlich schossen mehrere Wasserfontänen rings um Valerie in die Höhe, bis ein dunkler Schatten daraus hervortrat, den Ring aus Wasser passierte und sich neben Merrow stellte.

„Der also“, brummte Anya alles andere als begeistert.

Ihr gegenüber stand eine Mischung aus Amphibie und Dinosaurier. Dessen gewaltiger Kamm erstreckte sich vom Kopf abwärts hin bis zum massiven Schweif, der ganze Körper war von dunklen Schuppen bedeckt.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 DEF/2800 (8)]

 

Sofort fühlte Anya sich an ihr Duell mit Valerie vor zwei Monaten erinnert. Damals, als die Server der AFC schlapp gemacht hatten. Dieses Ding war gefährlich!

Aber plötzlich schrillten bei Anya die Alarmglocken, als sie etwas realisierte. „Hey! Du hast zu wenig geopfert, um das Drecksvieh zu beschwören! Dein Visionendingsda war nur auf Stufe 2, du musst aber mindestens-“

„Hast du es immer noch nicht gelernt?“, schnitt Valerie ihr genervt das Wort ab. Auch sie hatte ein Déjà-vu. Ein eher unerfreuliches wohlgemerkt. „Wenn ich weniger Opfer als vorgesehen erbringe, dann kannst du dir sicher sein, dass das angebotene Monster durch seinen Effekt alle Kosten auf einmal trägt. Das war damals bei [Gishki Shadow] so und ist auch bei [Gishki Vision] nicht anders.“

Anya winkte ab. „Pah! Was für ein Scheiß! Wer denkt sich so einen Quatsch aus?“

„Jemand, der mehr vom Spiel versteht als du.“ Valerie nahm ihre vorletzte Handkarte und schob sie in den Friedhofsschacht ihrer Duel Disk. „Aber so viel sollte auch dir klar sein. Wenn ich ein Gishki-Monster abwerfe, schickt Soul Ogre eines deiner Monster auf dein Deck zurück. Oder in diesem Falle Extradeck.“

Sich ihrer [Gishki Noellia] entledigt, spürte Valerie ein nahezu unheimliches Gefühl von Genugtuung in sich aufkeimen, als sie Anya ansah. Deren Augen weiteten sich, als sie erkannte, was das für sie bedeutete. „Topaz!“

„Er wird dich nicht mehr schützen können!“

Valeries Oger begann damit, Wasser von dem Ring hinter ihm einzusaugen, welches er kurzum in einem gebündelten Wasserstrahl direkt auf [Gem-Knight Topaz] abfeuerte. Dieser wurde von dem Strom glatt über das Elysion hinaus geschleudert und verschwand in der Finsternis. Anya sah ihm fassungslos hinterher.

 

Damit war ihre letzte Verteidigung gefallen. Sie hatte verloren.

 

„Wo ist jetzt deine Angeberei hin?“, fragte Valerie scharf. „Wie ist es, wenn man erkennt, dass man nicht immer gewinnen kann?“

Anya wandte sich mit hasserfülltem Blick zu ihr um. „Was soll der Mist, Redfield? Willst du dich über mich lustig machen?“

„Nein. Eher will ich wissen, wie es sich für dich anfühlt, zur Abwechslung an jemand Stärkeres geraten zu sein?“

Plötzlich lachte Anya höhnisch auf.

„Was ist so lustig!?“, wollte Valerie wissen, die dieser Provokation anders als sonst nicht erhaben war. „Warum lachst du!?“

Das Mädchen ihr Gegenüber fasste sich an die Stirn und sah sie mit einem Auge überheblich, ja gar wahnsinnig an. Es jagte Valerie einen eiskalten Schauder über den Rücken.

„Ach, es ist nichts Besonderes. Nur dass du denkst, du wärst die Erste, die stärker ist als ich. Das ist alles.“

„W-was soll das heißen?“

Ein fieses Grinsen breitete sich auf Anyas Gesicht aus. Plötzlich wirkte die Blondine so unmenschlich, dass Valerie vollkommen ins Stocken geriet.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in letzter Zeit gegen jemanden gekämpft habe, der schwächer war als ich.“ Das diabolische Grinsen von Anya wurde noch breiter. „Und weißt du was? Das turnt mich richtig an. Nie zu wissen, ob es gleich vorbei ist. Was der nächste Tag bereit hält. Es macht mir Angst, aber gleichzeitig ist es auch so …“

„So was?

„Befriedigend.“ Anya nahm langsam die Hand von ihrer Stirn und sah gen Boden, grinste aber immer noch. „Es macht mir Spaß. Viel mehr, als irgendwelche Maden zu zerquetschen. Sag mir, Redfield, warum soll ich mich noch mit irgendwelchen Nerds und Spinnern 'rumärgern, wenn ich das hier haben kann?“

Mit einem Mal streckte Anya beide Arme zu den Seiten aus. „Dies ist jetzt meine Welt geworden. Ein Abenteuer, von dem andere nur träumen können. Es ist ein Albtraum, und ich liebe Albträume! Denn sie machen einem erst bewusst, dass man am Leben ist!“

Plötzlich verflog Anyas manischer Gesichtsausdruck, doch eine gewisse Genugtuung blieb. „Ich mag vielleicht verloren haben. Aber weißt du was? Wenn ich jetzt im Limbus lande wegen dir, bleibt mir zumindest eins. Der Nervenkitzel herauszufinden, was sich dahinter verbirgt.“

 

Einen Moment lang schwiegen beide.

Schließlich fand die Schwarzhaarige zu ihrer Stimme zurück. „Du hast doch eine Macke, Anya. Das hier ist kein Spiel!“

„Was denn dann, Redfield? Ein Ponyhof?“ Anya spuckte auf ihr Elysion. „Nah, im Grunde könnt' ich reden wie ein Wasserfall, aber kapieren würdest du dennoch nicht, was ich damit sagen will. Warum ersparst du uns dieses ätzende Gespräch nicht einfach, indem du angreifst?“

„Ich denke, ich will gar nicht verstehen, was du da redest. Aber wenn du willst, dann erfülle ich dir diesen Wunsch. Das ist schließlich, warum ich hier bin.“

Valerie sah herüber zu ihren Monstern. Nur ein Befehl und sie würden es beenden. Sie öffnete den Mund, doch etwas in ihr hielt sie zurück.

 

Anya war krank. Sie schien an diesem Terror Gefallen gefunden zu haben. Wie konnte ein Mensch darin aufgehen, ständig in Angst zu leben? Valerie verstand es nicht, sie konnte das einfach nicht begreifen. Angst war das Schlimmste, was es in dieser Welt gab. Niemand wusste das besser als sie.

Allein die Angst, Marc noch einmal zu verlieren, war so grauenhaft, dass Valerie am liebsten schreien wollte.

Dass Anya es genoss … im Grunde empfand Valerie dafür Mitleid. Denn auch wenn Anya ein Monster war, so etwas hatte doch niemand verdient, oder?

Und mit einem Schlag erinnerte Valerie sich an etwas. Vergessen geglaubte Bilder traten vor ihrem inneren Auge auf. Die Zeit mit Anya, als sie beide noch Kinder gewesen waren.

Plötzlich dachte Valerie an Joan und ihre Worte.

„Ich muss … wieder ich selbst werden?“, murmelte sie leise vor sich hin.

Wer war sie denn zu diesem Zeitpunkt? Und wer war Anya? Die Dinge … waren anders.

Joan hatte es wohl gewusst, die ganze Zeit über. Warum hat sie sonst erwähnt, dass sie sich an das erinnern soll, was sie einst geprägt hat?

Ebenjene Kindheit mit Anya.

Diese stand ihr mit kämpferischer Mimik von der anderen Seite des Zwillingselysions gegenüber und schien das Ende tapfer zu erwarten.

Wieder öffnete Valerie den Mund, doch statt Worten, entsprangen ihrem Kopf nur Gedanken.

 

So habe ich dich schon oft gesehen. Viel zu oft, Anya. Weißt du noch, damals?

Als wir noch klein waren, im Kindergarten, da war ich immer alleine. Keiner mochte mich, weil ich aus einer wohlhabenden Familie stammte und immer das bekam, was ich wollte. Und wenn ich versuchte zu teilen, dachten die anderen Kinder, ich würde mir ihre Freundschaft erkaufen wollen. Was ich ihnen aus heutiger Sicht nicht verübeln kann, es stimmte schließlich.

Sie begannen mich zu ärgern, nahmen mir mein Spielzeug weg und machten sie vor meinen Augen kaputt. Und sie beleidigen meine Familie, meinen Vater, weil er alleine war. Sie zogen mich auf, weil meine Mutter kurz nach meiner Geburt gestorben war, lachten über meine Großmutter, die mit dem Krebs zu kämpfen hatte, aber zu stolz war, um ihre ausgefallenen Haare mit einer Perücke zu verstecken. Sie waren auf ihre Art grausamer als jeder Erwachsene es je hätte sein können.
 

Bis du dich zwischen die Fronten gestellt hast. Ich kann nur raten warum, aber ich schätze, du kanntest das Gefühl, ohne ein Elternteil aufzuwachsen. Dein Vater hatte sich ja zur gleichen Zeit von deiner Mutter geschieden und ist mit deinem Bruder umgezogen. Nicht ertragen könnend, dass ich deswegen aufgezogen wurde, hast du die Aufmerksamkeit der anderen auf dich gezogen. Um allen zu beweisen, wie stark du bist. Deswegen hasst du mich auch, nicht wahr?

 

Denn während du Tag für Tag meine Peiniger in Schach gehalten hast, habe ich mich mit anderen Mädchen anfreunden können. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich deine Hilfe nicht mehr brauchte, weil es niemanden mehr gab, der auf mich herabsah. Wir beide hatten bis dato nie auch nur ein Wort miteinander gewechselt, manchmal glaubte ich, du hast dich wirklich nur des Spaßes wegen geprügelt. In deinen Augen habe ich nie existiert, sondern nur der Sachverhalt. Dachte ich.

Aber ich habe nicht realisiert, dass es deine Art gewesen ist, mit mir eine Freundschaft schließen zu wollen. Und als die Basis, auf der sie beruhen sollte, fort war … warst auch du fort. Das begreifend, habe ich es gewagt, dich anzusprechen. Dir zu danken und dir meine Freundschaft anzubieten. Aber du hast mich abgewiesen und seitdem war ich immer deine Erzrivalin.
 

Ich verstand nicht, warum du das getan hast. Welchen Fehler ich begangen habe, um mir deine Feindseligkeit zu verdienen. Und du hast es bestimmt vergessen, weil es so lange her ist. Oder verdrängt. Ich kenne schließlich keinen Menschen, der so nachtragend ist wie du, selbst wenn es nur um Trivialitäten geht.

Diese Feindseligkeit hat viele Jahre später dazu geführt, dass du vor meinen Augen die mir wichtigste Person umgebracht hast. Zumindest wollte ich das glauben, deinem miesen Charakter die Schuld geben. Aber du hast es nicht getan, weil du es wolltest, nicht wahr? Sondern weil du verletzt warst, da auch du Marc sehr geliebt haben musst. Und wenn ich jetzt ehrlich bin, hätte ich an deiner Stelle genauso gehandelt. Aus Angst zu sterben. Aber welche Ängste musst du Tag für Tag durchlebt haben, seit du den Pakt mit Levrier geformt hast?

 

Valerie senkte ihren Kopf und betrachtete ihre Hand.

 

So sehr ich dich versuche zu hassen für all deine Fehler, deine Taten und deine Respektlosigkeit gegenüber anderen, kann ich diesen letzten Angriff nicht mehr durchführen. Weil es teilweise meine Schuld ist, dass du so geworden bist. Hätte ich damals den Mut gehabt mit dir zu reden, dir rechtzeitig zu danken, wären wir vielleicht Freundinnen geworden. Ich hätte dich davor bewahren können, die Außenseiterin zu werden, die du jetzt bist. Und davor, jetzt aus Angst deine Kraft zu beziehen.

Stattdessen habe ich in deinem Schatten gelebt, der mich vor der glühenden Sonne beschützt hat, damit ich die angenehmen, warmen Strahlen genießen konnte. Und während du über all die Jahre bis zum heutigen Zeitpunkt so furchtbar nervtötend warst …

 

„... war ich immer nur neidisch auf dich.“

„Huh?“ Anya blinzelte verdutzt. „Was geht denn bei dir ab, Redfield? Bist du zu feige, es zu einem Ende zu bringen!?“

Valerie sah Anya mit forschender Mimik an. „Was lässt dich das glauben?“

„Du siehst aus, als ob du gleich losflennst.“ Anya zuckte genervt stöhnend mit den Schultern. „Aber fein, ich akzeptiere meine Niederlage, wenn's denn unbedingt sein muss! Mach endlich, ich habe mich sowieso längst damit abgefunden, in diesem Limbus-Ding zu verrecken!“

Was tatsächlich alles andere als der Wahrheit entsprach. Aber die Blöße wollte Anya sich nicht geben, nicht vor Valerie Redfield, die dafür verantwortlich sein würde! Andererseits hätte es auch einen Vorteil, jetzt zu verlieren. Nur einen einzigen, das Ende der Lüge …

 

Neidisch, weil du trotz der Steine, die du dir selber in den Weg legst, daraus immer eine Straße geschaffen hast. Weil deine Kraft schier unbegrenzt scheint, wenn es darum geht, deinen Willen durchzusetzen. Aber heißt das nicht auch, dass deine Angst so groß ist?

Du hast wirklich vergessen, was damals zwischen uns geschehen ist, nicht wahr? Du bist einfach weitergegangen, ohne je zurück zu sehen. Geblieben ist nur der Groll selbst, an dessen Ursprung du dich nicht mehr erinnern kannst.

Ich aber nicht, Anya, ich habe es nicht vergessen. Und ich will immer noch deine Freundin sein. Um meine Schuld bei dir zu begleichen und meine Sünden wieder gut zu machen.

Joan hatte die ganze Zeit recht. Meine Rache war nur eine Entschuldigung, um den vielen schwereren Konflikten aus dem Weg zu gehen. Du hast meinen Verlobten getötet, aber du warst es nicht, die diesen Kampf angezettelt hat. Ich hätte eingreifen müssen, als Marc sich verändert hat. Du bist letztlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Also … vielleicht können wir wirklich noch Freundinnen werden, egal was in letzter Zeit zwischen uns geschehen ist. Wenn du ebenfalls aufhörst, vor deinen inneren Konflikten davon zu rennen.

 

Valerie hob den Arm an.

 

Aber noch nicht jetzt. Nicht heute. Wir sind beide noch nicht bereit dazu. Erst musst du zurückbekommen, was du damals verloren hast. Etwas, das dir vielleicht schon gefehlt hat, bevor Levrier in dein Leben trat, gar bevor wir uns kennengelernt hatten. Was das ist, weiß ich nicht. Dabei helfen, es zurückzubekommen, kann ich auch nicht. Das Teil des Puzzles, das dir fehlt, kannst du nur in dir selber finden. Zumindest möchte ich das glauben.

Und ich möchte glauben, dass du es ernst meinst. Uns nicht für deine eigenen Zwecke opfern willst. Joan hat an dich geglaubt. Also werde ich es auch tun. Auch wenn es mir sehr schwer fällt. Dafür brauche ich Zeit.

Was ich jetzt weiß ist, dass Anya Bauer, du, menschlicher bist als man es dir jemals zutrauen würde. Aber solange du das selber nicht erkennst, müssen wir Rivalinnen bleiben. Damit du weitergehen kannst, bis du weißt, wohin die Reise führen soll.

 

„Ich gebe auf“, verkündete Valerie mit erhobenem Haupt.

„Wie jetzt!?“, schoss es aus Anya heraus. „Hast du etwa deine Tage, Redfield!? 'nen Football an den Kopf bekommen – ich war's nicht! Leider … ! Was soll der Kackmist auf einmal!?“

„Mir hätte klar sein müssen, dass die Chancen dieses Duells völlig unausgeglichen waren. Joan allein ist stärker als ihr beide zusammen gewesen.“ Die Schwarzhaarige drehte ihrer Gegnerin den Rücken zu. „So ehrlos zu gewinnen ist nicht mein Stil. Schließlich habe ich Joans Kraft, aber du?“

 

Und schlimmer, ich bin verantwortlich dafür, dass sie nun fort ist. Ich habe sie dazu breitgeschlagen mir zu helfen. Das auf dich abzuwälzen wäre ungerecht. Für meinen Durst nach Rache wurde ich schwer bestraft und ich denke, meine Lektion habe ich gelernt.

Für dieses eine Mal … lasse ich es gut sein, Anya. Aber wenn dies nicht noch einmal geschehen soll, musst du mir beweisen, dass du nicht so niederträchtig bist, wie es im Moment den Anschein hat.

 

[Anya: 800LP //// Valerie: 2900LP → 0LP]
 

Anya lief rot an. Vor Wut. Rasender, unbändiger Anya Bauer-Premiumwut. „Tickst du noch ganz sauber!? Ich brauche deine Gnade nicht, du dämliches Miststück! Wir setzen das hier fort, klar!? Einer gegen einen, damit wir sehen, wer wirklich die Hosen anhat!“

„Kein Interesse“, winkte Valerie ab, drehte ihr den Rücken zu. Mit dem Anflug eines herausfordernden Lächelns. „Überlebe erstmal den morgigen Tag, dann können wir darüber reden, dies hier zu wiederholen.“
 

Auch wenn ich nicht weiß, wie ich dir dabei helfen soll.

 

„H-heißt das, du willst mir-!?“ Anya verstand die Welt nicht mehr. „Redfield, du hast deine Tage, oder!? Bist du so ausgelaufen, dass dein Hirn unterversorgt ist!? Die ganze Zeit redest du davon, mich zu-“

Weiter kam sie jedoch nicht. Plötzlich fing das Elysion an zu erbeben.

Die beiden Elysien, die miteinander verbunden waren, begannen sich von einander zu trennen und wegzubewegen.

Über die Schulter sah Valerie ein letztes Mal zu Anya herüber, die ihr ganz verdattert nachschaute.

„Doch Anya, du brauchst meine Gnade.“

„Du elende-!“

Ehe Anya jedoch weitere wüste Beschimpfungen von sich geben konnte, zerbrachen beide Elysien gleichzeitig. Die Mädchen fielen in die tiefe Dunkelheit und drifteten soweit auseinander, dass sie letztlich aus dem Blickfeld der jeweils anderen verschwanden.

 

~-~-~

 

Mit einem Satz richtete die Blondine sich keuchend auf. Sie war hellwach und fasste sich an die Stirn. „Verdammter Mist, wieso gerade jetzt!?“

Plötzlich spürte sie, wie etwas auf ihre Oberschenkel sprang.

„Mon Amour! Wir haben überlebt, wir haben überlebt!“, trötete Orion mit strahlenden Augen und kuschelte sich an Anyas Bauch. Und wurde infolge dessen mit einem wütenden Aufschrei durch den Flur geworfen.

„Finger weg, du notgeiler Scheißhaufen!“, keifte Anya und sah Orion hinterher, der gegen die Tür am Ende des Flurs knallte. Sie blinzelte zweimal verdutzt. „Oh, jetzt wo du's sagst, du lebst noch?“

„I-ich weiß zwar nicht, was du damit meinst, aber die Chancen stehen gut, dass er es jetzt nicht mehr tut.“

Anya sah zur Seite und bemerkte, dass auch Nick und eine um Orion besorgte Abby da waren und neben ihr knieten. Ihre Freundin betrachtete sie kritisch. „Wieso sollte Orion tot sein? Wobei ich ja zugeben muss, dass ich mich ganz schön erschrocken habe, als er plötzlich einfach auf dir drauf lag.“

„Wieso darf Orion -da- liegen und ich nicht?“, jammerte Nick weinerlich.

Anyas Blick verfinsterte sich. „... wo genau?“

„... sie ist weg.“

 

Die Drei drehten sich überrascht zur Tür um, wo auch Valerie wieder zu Bewusstsein gekommen war. Die betrachtete ihren Arm betrübt, das mit ihrem verblassten, blauen Mal versehen war. „Joan ist fort.“

„Tch, komm drüber hinweg. Die wichtigere Frage ist doch, warum die Pornozwiebel noch da ist!“

Mit einem Satz sprang Anya auf und schritt auf Valerie zu, starrte feindselig auf sie herab. „Wir haben immer noch nicht geklärt, was das eben sollte!“

Das gesagt, reichte die Blondine ihrer Erzrivalin plötzlich die Hand. Valerie, die so eine Geste ausgerechnet von einer Anya Bauer nie erwartet hätte, griff zu, solange das Angebot stand und ließ sich aufhelfen. Wenn auch die Befürchtung vorhanden war, auf halbem Weg nach oben aus purer Boshaftigkeit wieder losgelassen zu werden – was Anya anscheinend nicht in den Sinn gekommen war.

„Also“, dröhnte ihr Gegenüber maulig, „wieso hast du-“

 

Anya wurde jedoch vorzeitig unterbrochen, als es unerwartet an der Tür klingelte.

„Wer ist das?“, wunderte sich Abby und nahm eine lockere Haltung an. Sie hatte fast befürchtet, dass Anya Valerie jeden Moment 'eine reinwürgen' würde, um es mit Anyas Sprache auszudrücken.

„Vielleicht Anyas Mum? Wer weiß, wo sie sich herumgetrieben hat, die olle Milf“, gluckste Nick und bekam umgehend eine Kostprobe davon, wie Abby mit ihrer Hacke versuchte, anderer Leute Zehen zu brechen.

„Sei nicht so respektlos, Nick!“

„AU! Heute ist echt verdrehte Welt. Anya ist nett-“

Der Todesblick ließ Nick jedoch sofort verstummen. „Nicht-die-vier-Buchstaben! … und danke, Abby. Den Move muss ich mir merken.“

Jene legte spaßeshalber ihre flache Hand an die Schläfe. „Immer zu Diensten, Sir!“

Als es schließlich nochmal klingelte, trat Anya zur Tür und nahm den Griff in die Hand. „Als ob meine Mum klingeln würde! Und was soll das heißen, 'Milf'!?“

„Es ist bestimmt Marc“, meinte Valerie mit abgewandtem Blick, „man muss kein Genie sein um zu erahnen, wo ich um diese Uhrzeit groß sein könnte …“

„Tch! Wer immer es ist, wird es bereuen, so spät noch zu stören“, zischte Anya wütend und riss die Haustür auf. „Ich kaufe nichts von Pe-“

 

„Anya Bauer?“, fragte eine junge Frau in dunkelblauer Uniform. Hinter ihr stand ein etwas größerer, dunkelhaariger Mann, ebenfalls uniformiert.

Die Polizei. Anya blieben die Worte im Halse stecken. Sie nickte nur knapp.

„Wir haben vor etwa einer Stunde einen Anruf erhalten“, sprach die rothaarige Polizistin mit ernster Stimme weiter.
 

Dem Mädchen sackte das Herz in die Hose. Ihre Mutter war noch nicht zurück, obwohl es schon nach 10 Uhr war. So spät war sie noch nie auf der Arbeit geblieben!

Kein Unfall! Lass es kein Unfall sein!

 

Mit einer unbeholfenen Geste lud Anya die beiden ein, doch die Frau schüttelte den Kopf. „Anya Bauer, gegen Sie liegt aufgrund des Verdachts der mehrfachen Brandstiftung ein Haftbefehl vor. Wir bitten Sie, friedlich …“

 

Doch Anya hörte nicht mehr hin, wie die Polizistin ihre Standardphrasen herunter leierte.

Haftbefehl? Gegen sie!? Brandstiftung!?

Das war doch völliger Schwachsinn, sie hatte nie-!

 

Irritiert wandte sie sich zu den anderen um, die nicht weniger erschrocken im Flur warteten.

Der Brand im Park! Das … die dachten, das war ihre Schuld! Aber wieso jetzt auf einmal!?

Die Polizistin packte Anya am Arm. „Kommen Sie bitte mit uns. Und keine Gegenwehr. Ich kenne Ihre Akte und möchte Sie ungern unter Anwendung von Gewalt abführen.“

Anya nickte betreten, ihr Kopf wollte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dabei war die Situation an sich nichts Neues für sie.
 

Aber dieses Mal war es anders. Sie hatte Angst.

Der Turm von Neo Babylon würde bald erscheinen, es war keine Zeit, jetzt in einer Zelle zu versauern! Aber wie sollte sie das verhindern!? Levrier war fort! Und mit ihm die Kontrolle über ihre Kräfte, das wusste Anya genau.

Und wenn sie sich jetzt mit diesen Typen anlegte, würde das alles nur viel schlimmer machen. Die hatten Waffen!
 

Sie drehte sich um, als die beiden Polizisten sie flankierten und zu ihrem Wagen führten. Ihr flehender Blick half jedoch nichts, keiner ihrer Freunde sagte auch nur ein Wort, wagte es nicht, etwas gegen die Verhaftung zu unternehmen.

„Kümmert euch um das Haus, 'kay?“, war der wohl absurdeste Gedanke, den sie fassen und auch formulieren konnte.

Dann wurde sie am Kopf gepackt und auf die Rückbank des Streifenwagens gezwängt.

 

Valerie hatte doch wahr gemacht, was sie angekündigt hatte …

 

 

Turn 31 – November 11th

Noch fassungslos von den jüngsten Ereignissen, wird Anya in eine Zelle des Police Departements gesperrt und damit konfrontiert, so kurz vor dem Ziel gescheitert zu sein. Derweil erfahren Abby und Nick, wer wirklich hinter dem Anruf steckt. Woraufhin sie verzweifelt zum Police Departement eilen, um Anya zu befreien. Gleichzeitig beginnen sich die Vorgänge rund um den Turm von Neo Babylon endlich in Gang zu setzen. Und als es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt, unternehmen die beiden einen verzweifelten Versuch, die Dinge zu richten – mit fatalen Folgen.

Turn 31 - November 11th

Turn 31 – November 11th

 

 

Antriebslos, ja fast schon müde betrachtete Anya ihre Hände, die kurz zuvor noch in Handschellen gesteckt hatten. Die Polizisten hatten ihr alles genommen. Taschenmesser, Feuerzeug, das Messer unter ihrer Schuhsohle, gar die versteckten Haarklammern. Mittlerweile kannten sie sie wohl einfach zu gut.

Eins stand fest: sie würde die kleine Zelle nicht verlassen können. Nicht ohne Hilfe.

Aber wer konnte ihr jetzt schon helfen? Levrier? Der war irgendwo, nur nicht hier. Die anderen? Bedingt. Vielleicht konnte Abby etwas erreichen, aber sie war zu umständlich, als dass Anya sich in so etwas auf sie verlassen konnte. Matt? Solange der nichts davon erfuhr, würde er nichts tun können – und selbst wenn, das Narbengesicht würde ihr garantiert in den Rücken fallen.

Und Redfield? Die hatte sie doch erst in diese Lage gebracht!

 

Anya war nie pessimistisch gewesen. Aber dieses Mal wusste sie, dass ihre Chancen äußerst schlecht standen, hier rechtzeitig herauszukommen. Ein Blick auf die kreisrunde Uhr neben dem hoch angelegten, kleinen Gitterfenster auf dem Gang gegenüber ihrer Zelle verriet Anya, dass es bereits kurz nach 11 Uhr war.

Und sie spürte eine fremdartige Anspannung, schon seit einer Weile. Ihr Körper wusste, dass der Turm von Neo Babylon jeden Moment kommen würde. War das letztlich der Grund für Levriers plötzliches Verschwinden?

Sie betrachtete ihr Mal. Es war noch da, mit ihm der Pakt. Nur seine Kräfte, die hatte er mitgenommen. Ansonsten hatte sich nichts geändert. Gar nichts.

Anya lachte bitter auf. Das hatten die beim ziemlich kurzen Verhör auch gesagt. Hoffnungsloser Fall, so hatten sie sie tituliert. Verdammt richtig!

Nur in diesem Fall … würde sie ihr Ding diesmal nicht durchziehen können, wenn das so weiterging.

Das Mädchen verstand selbst nicht, warum sie so niedergeschlagen war. Vielleicht weil sie tief in ihr wusste, dass sie bekommen hatte, was sie verdiente? Wie würde Abby es nennen, Karma?

Für alle anderen war es das Beste so, dessen war sie sich bewusst. „Tch …“
 

Nachdenklich blickte sie durch das Fenster. Diese bekloppte Pritsche war immer noch hart, ihr tat schon der Allerwerteste weh. Zumindest war sie allein, die anderen Zellen leer. Jetzt noch irgendwelche Drogensuchtis heulen zu hören wäre zu viel für sie.

Allerdings blieb die Frage, was ihr „Ding“ überhaupt war … und ob sie es wirklich durchziehen wollte …

 

~-~-~

 

Die drei jungen Menschen, die am Küchentisch der Familie Bauer saßen, tauschten Blicke voller Ratlosigkeit und Entsetzen aus. Kaum war Anya weg, hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie schnell handeln mussten. Und sie brauchten einen Plan.

„Ich habe das nicht getan“, schwor Valerie bereits zu dritten Male.

„Wir glauben dir doch“, versuchte Abby sie zu beruhigen.
 

Valerie wusste nicht mehr, was sie denken oder fühlen sollte. Auf der einen Seite hatte sie zugelassen, Anya näher zu kommen, konnte zum ersten Mal über ihre abscheuliche Tat hinaus das Mädchen sehen, das jetzt dringend ihre Hilfe brauchte. Andererseits war sie niemand, der je ohne Zweifel war – Anya stellte nach wie vor ein nicht zu verachtendes Risiko dar. Deren Festnahme war für ihr persönliches Glück mit Marc sozusagen das Beste, was hätte passieren können.

Aber ein Teil von ihr hatte Anya verziehen und wollte ihr helfen. Was sollte sie tun, für welche Seite sollte sie sich entscheiden? Joan … ihr Pakt war ungebrochen. Sie existierte noch irgendwo da draußen. Was würde sie ihr raten?

 

„Wenn Levrier, warum auch immer, inaktiv ist, dann kann Anya ohne Hilfe nicht entkommen“, grübelte Abby und wiederholte sich damit ebenfalls.

Sie sorgte sich fürchterlich um das Wohl ihrer Freundin. Die Dinge hatten sich so plötzlich überschlagen, dass es ihr schwer fiel, den Überblick zu wahren. Erst Valeries Ausbruch und nun eine gefangene Anya, gepaart mit Orions Zweifeln bezüglich Joans Ambitionen. Auch jetzt ließ der Schattengeist nicht davon ab.

Dennoch, egal wie sie zu Anya standen, wichtig war, jene erstmal zu befreien.

 

„Dann bist nur noch du übrig“, sprach Nick und sah den Schattengeist nachdenklich an, piekte ihn mit dem Zeigefinger in den Bauch.

Ihm war nicht danach, seine Rolle zu spielen. Nicht jetzt, wo Anya im Knast saß und auf ihre Hilfe hoffte. Wie sonst sollte man ihre letzten Worte an sie interpretieren, bevor sie abgeführt wurde?
 

Es war schon schlimm genug, zu der Erkenntnis gelangt zu sein, dass er Anya von ihrem schrecklichen Los nicht befreien konnte. Und dass alles, was er im Grunde für sie tun konnte … nicht richtig, gar gefährlich war. Über die Bedrohung Edens konnte er zwar hinwegsehen, wenn es hieße, Anyas Zukunft etwas leichter zu gestalten. Aber helfen konnte er ihr bei der Erfüllung ihres Plans nicht.

Er war ein Versager, nicht mehr. Im Grunde gehörte er eingesperrt und nicht sie!

Die Zelle war für Anya immer die Endstation gewesen, denn es war ihr nie gelungen, von dort auszubrechen, egal was sie hatte hinein schmuggeln können. Und die Polizisten wurden nicht dümmer, leider.

 

„Ohne Levrier sitzt sie in der Patsche“, gluckste er halbherzig, „sie hat einfach zu viel gekokelt.“

Vor Valerie musste er die Maske aber anbehalten – auch wenn sie ihn vermutlich schon lange durchschaut hatte. Es war egal. Die einzigen Menschen, die er an der Nase herumführen musste, waren Anya und seine ignoranten Eltern. Der Rest war ihm, zumindest in diesem Augenblick, gleich.

„Aber der Nickinator wird sie da rausholen, hehe.“

Und wie er das würde!

 

„E-es tut mir leid“, jammerte Orion, der sich in der Mitte des runden Tisches wiederfand. Umzingelt von vier Brüsten – okay, drei, Abbys flache Dinge gingen als eine durch – und einem Idioten. Und alle starrten ihn feindselig an.

„Ich musste doch etwas tun! Gegen Joan und diese dumme Tsun ohne Dere! Niemand darf Val-chan etwas tun, es ist doch meine Pflicht, sie zu verteidigen!“

Symbolisch streckte er die Stummelärmchen vor ihr aus.

Er tat nur, was der Chef ihm aufgetragen hatte – Valerie bewachen. Es war schon schlimm genug, dass er seine Pflichten vernachlässigte, um hin und wieder mit Nick abzuhängen, aber hier ging es um so viel mehr!

Deshalb hatte er sogar einen anonymen Hinweis an die Polizei von -ihm- abgeben lassen, wer für die Brände in den letzten Wochen verantwortlich war. Völlig egal, ob sie Anya etwas nachweisen konnten – sie würde den Tag nicht mehr erleben, an dem über so etwas Banales entschieden wurde. Nur darauf kam es Orion an.

 

„Ich würde gerne wissen, warum du Joan so sehr hasst“, sagte Valerie enttäuscht und erhob sich schließlich. „Auch wenn ich mir sicher bin, dass dir verboten wurde, darüber zu sprechen. Im Endeffekt ist es ohnehin zweitrangig und muss warten. Abby, Nick.“

Die beiden sahen beim Klang ihres Namens überrascht auf. „Ich habe mich entschieden. Anya hat noch eine Chance verdient. Ich werde ihr helfen und in den Turm gehen. Irgendjemand muss dort oben aufpassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht – und ich denke, ich bin die Einzige, die dafür infrage kommt.“

„Und was hast du jetzt vor?“, fragte Abby, die ihre Erleichterung über Valeries Entscheidung in Form eines Lächelns nicht verbergen konnte.

„Mein Vater. Vielleicht kann er etwas erreichen, er ist immerhin der Bürgermeister. Das Problem ist bloß, dass er gerade auf einer Geschäftsreise ist. Die Nummer und den Namen vom Hotel habe ich nicht hier, deswegen muss ich nachhause.“

„Ruf doch zuhause an und frag einen Angestellten danach. Oder Marc?“, schlug Abby vor.

Plötzlich verfinsterte sich Valeries Gesichtsausdruck. „Geht nicht. Wir haben kein Personal, ausgenommen einem Gärtner und Marc dürfte längst im Bett sein. Wie ich ihn kenne, hat er sein Handy ausgeschaltet. Ich werde wohl oder übel nachhause müssen.“

Ihr Ausdruck gewann wieder etwas Freundliches. „Keine Sorge, ich beeile mich. Versprochen.“

Abby nickte zögerlich. „O-okay.“

„Und was macht ihr?“

Auch das Hippiemädchen erhob sich nun langsam und nahm ihre getönte Brille ab.

„Wir werden direkt zur Polizeistation fahren. Vielleicht schenkt man uns Gehör.“ Plötzlich öffnete sie ihre Augen, in denen die Iriden ein grelles Rosa annahmen. „Jedenfalls wäre das wünschenswert für alle Beteiligten.“

Valerie schreckte zurück, doch als sie genauer hinsah, hatten Abbys Augen längst wieder ihre alte Farbe angenommen. Das musste wohl ihre Einbildung gewesen sein. „O-okay. Also los, gehen wir!“

 

Das gesagt, begaben sie sich zusammen vor die Haustür der Familie Bauer und schritten über den kleinen Weg herüber zur Gartentür.

„Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache“, gab Abby zu bedenken.

„Ist bestimmt nur Hunger“, gluckste Nick und zwinkerte ihr zu.

„Also gut, hier trennen sich unsere Wege“, meinte Valerie, als sie auf dem Bürgersteig ankamen. Sie musste nach links, während Abby und Nick die Straße in die andere Richtung nehmen mussten.

Ohne viele Worte zu verlieren, lief sie los und rief: „Viel Glück euch beiden.“
 

Und kaum war sie außer Hörweite, verschwand Nicks dummes Grinsen. „Da ist doch was faul.“

„Ich glaube auch. Aber um Valeries Alleingänge können wir uns jetzt nicht kümmern, Nick.“

Er sah seine Freundin nachdenklich an, als sie einen Schritt nach vorn nahm, seinen Blick mied. „Willst du wirklich so weit gehen? Deine Kräfte benutzen?“

„Ja. Wenn es sein muss, ja.“ Sie wirbelte mit feurigem Blick um. „Ich habe keine Angst mehr vor ihnen! Und wenn sie mir dabei helfen, euch zu beschützen, dann nutze ich sie auch!“

Was den hochgewachsenen Kerl zum Schmunzeln brachte. „Ich kann nicht sagen, dass ich mich gerne mit Cops anlege, wenn sie mir direkt gegenüberstehen. Aber wenn ich auch nur dein Köder sein kann, dann benutz' mich nach Herzenslust.“

„W-wer sagt denn was von Köder!?“, sprudelte es aus Abby heraus, die spürte, wie sie rot anlief. „W-wir klären das in einem Gespräch, klar!? Und jetzt los, wir haben's eilig!“

 

~-~-~

 

„Das wäre die Letzte“, murmelte Matt und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

Drei Kisten hatte er zusammen mit Alastair im Schutze der Nacht in den alten VW-Bus geladen, der neben ihrem Motel parkte.

„Nun müssen wir nur noch auf das große Event warten.“ Er drehte sich mit ernstem Blick zu seinem Freund herum, der mit verschränkten Armen in den Himmel starrte. „Ich hoffe, du kneifst nicht in letzter Sekunde.“

„Ich habe es dir versprochen, Matt. Dass wir das bis zum Ende durchstehen und diesem perfiden Spiel ein Ende setzen. Dir und Refiel. Aber wisse, wenn Anya Bauer auch nur versucht-“

„Ja, ich weiß“, stöhnte Matt, trat an Alastair heran und schlug ihm kräftig auf die Schulter. „Erspar' mir die Details mit dem, was du aus ihr machst. Ehrlich, langsam glaub ich, du bist ihr verlorener Zwillingsbruder, was eure Fantasie angeht.“

Der Mann im roten Mantel schnaubte nur.

 

Wow, das große Finale, die letzte Schlacht, das entscheidende Gefecht. It's the final countdown, dududuuuuuuu~

 

„Alastair, jag mir bitte eine Kugel in den Schädel, wenn der Plagegeist in meinem Kopf immer noch da ist, sobald wir hiermit durch sind“, stöhnte Matt genervt.

Er musste wirklich darauf achten, das Übel nicht beim Namen zu nennen. Wenn Alastair erfuhr, wer sein Paktpartner war, würde er eigenhändig die Pforten der Hölle aufreißen, um sie beide dorthin zu verfrachten, so viel stand fest. Von Another würde Matt ihm erst erzählen, wenn ihr gemeinsamer Pakt durch Erfolg gekrönt aufgelöst wurde. Zwar würde Alastair ihm dann dennoch an die Gurgel gehen, aber zumindest wäre die Edensache bis dahin geklärt.

Aber Matt musste insgeheim zugeben, dass er selbst zweifelte. Würde alles glatt gehen? Nein, irgendwas war da. Irgendwas würde sie dort erwarten, mit dem nicht zu spaßen war. So war es immer. Er hasste dieses blöde Gefühl im Bauch.

 

Jetzt kommt es drauf an, Menschlein. Von diesem Turm soll nichts mehr übrig bleiben, hast du das verstanden? Ich bezahle meine Putzfrauen schließlich nur, wenn sie ihren Job gut erledigen.

 

„Schon klar“, brummte Matt.

Warum Another den Turm unbedingt zerstören wollte, hatte der Dämonenjäger selbst jetzt nicht in Erfahrung bringen können. Und das beunruhigte ihn zunehmend. Viel mehr als die kleinen Steinchen vor seinen Füßen, die unruhig auf dem Boden zu vibrieren begannen.

 

~-~-~

 

Henry warf einen traurigen Blick herüber zu seiner Schwester. Sie war immer noch blass, aber immerhin bei Bewusstsein.

Beide saßen sie in einem Auto, er am Steuer, sie auf dem Beifahrersitz. Müde lehnte sie ihren Kopf gegen die Scheibe und starrte von der Straße hinweg über das weite Footballfeld herüber zur Livington High, die sich ihr in der Ferne kaum erschloss.

„Wir haben das jetzt lange genug durchgekaut“, sagte Henry streng. „Du bleibst hier. Ich gehe an deiner Stelle.“

„Aber ich bin die aktuelle Paktträgerin von Isfanel“, sagte sie, ohne sich ihm zuzuwenden. „Ich muss es tun.“

„An diesem Punkt spielt es keine Rolle mehr, wer wer oder was ist.“ Henry strich Melinda sanft über das schulterlange, braune Haar, das in einer Welle endete. „Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder leiden musst. Das habe ich dir versprochen.“

Die Erde begann leicht zu erzittern.

 

~-~-~

 

Valerie fasste sich mit geweiteten Augen an die Brust, sank auf ihr Bett. Die Hände aus Entsetzen vor den Mund geschlagen. Völlig vergessen war ihre Absicht, ihren Vater anzurufen.

Das konnte nicht wahr sein, es durfte nicht! Wie hatte er- wie hatte er das bloß erfahren!?

„Du dachtest, du könntest alleine dort hoch gehen, habe ich recht?“ Marc stemmte voller Unverständnis die Hände in die Hüfte. „Ich weiß, dass du Angst um mich hast. Aber ich werde dich dort nicht alleine hingehen lassen. Nicht in diesen Turm. Isfanel hat mir gesagt, dass niemand ihn jemals betreten sollte. Schon gar nicht Zeugen der Konzeption – wir, du!“

„Deswegen- deswegen will ich doch allein gehen!“, sagte sie mit Tränen in den Augen und sah flehend zu ihm auf. „Verstehst du das nicht!?“

Wie hatte er nur sein Gedächtnis zurückbekommen!? Wieso!?

„Was ich getan habe, ist unentschuldbar, Valerie. Wenn jemand allein gehen müsste, dann ich. Aber wir beide wollen Anya retten, oder nicht? Dann müssen wir beide gehen!“ Er reichte ihr die Hand lächelnd entgegen. „Also bitte! Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe, aber das ist meine Chance, das alles wieder gut zu machen.“

Also wusste er noch nicht alles? Dass der Sammler ihn zurückgeholt hatte?

Valerie nahm seine Hand. „Es tut mir leid, Marc. Wenn keiner von uns den anderen gehen lässt, dann-“

Ein lautes Donnern erschrak beide zutiefst.

 

~-~-~

 

Mit kleinen Tränchen in den Augen saß Orion in der Mitte des runden Tisches. Sie waren einfach gegangen, ohne ihn weiter zu beachten. Nicht einmal geschimpft hatten sie mit ihm. Und keiner wollte verstehen. Aber wie auch, wenn sie -es- nicht wussten?

Orion legte seine kleinen Stummelhändchen auf den Zwiebelkopf. Sollte er die Anweisungen des Chefs ignorieren und sich in die Eden-Sache noch weiter einmischen, oder abwarten? Auf jeden Fall musste er zu Valerie! Und-
 

„Ich muss sie warnen!“, entschied er und sprang kurzerhand vom Tisch.

So schnell es ihm seine kleinen Beinchen erlaubten, rannte er in den Flur und zur Haustür, die er mit einem Sprung an die Klinke öffnete.

Egal was der Sammler wollte, Orion konnte Valerie doch nicht in die Hände dieser Monster geben, auf keinen Fall. Und so rannte er über den Garten hinaus auf die Straße und sah sich hastig um.

Obwohl er Valerie bereits so viel über Eden verraten hatte, wollte sie dennoch in den Turm! Er kannte sie gut genug, um das zu wissen. Wieso war sie nur so stur!? Was hatte diese Joan getan, um so überzeugend zu wirken!?

Wieso wusste keiner von ihnen, dass-!?

 

Plötzlich erbebte die Erde und Orion fiel auf sein Hinterteil. Und seine Augen weiteten sich beim Anblick dessen, was sich in weiter Ferne abspielte. Der Himmel, voller grauer Wolken, Blitze schlugen in ihnen umher wie Schlangen.

Doch ehe Orion sich aufrappeln konnte, fiel plötzlich von hinten ein grelles Licht auf ihn. Mit Schrecken in den Augen wandte er sich um.

Man hörte nur noch das Quietschen von Reifen.

 

~-~-~

 

Kaum noch zwei Straßen von der Polizeistation entfernt, blieben Nick und Abby entsetzt mitten auf dem Bürgersteig stehen.

„Das kann nicht-!“ Abby nahm sogar die Brille ab. „Der Himmel …“

Auch sie war überrumpelt von den grauen Wolken, die über Livington gezogen waren. Nick legte ihr die Hand auf die Schulter. „Merk dir diesen Anblick. So etwas wirst du vielleicht nie wieder sehen.“

Er deutete mit der anderen Hand auf den einzigen Fleck am Himmel, der vollkommen frei von Wolken war. Wie das Auge des Sturms wirkte er, mit dem klaren Sternenhimmel. Doch was Nick wirklich meinte, waren die flackernden Lichter, die in regelmäßigen Abständen von oben nach unten einfach da waren, aus dem Nichts erschienen. Zu undeutlich jedoch, um etwas daraus zu identifizieren.

 

Plötzlich erklang ohrenbetäubendes Getöse, ein heftiger Wind schlug ihnen entgegen. Nick konnte nur noch erkennen, wie Lichtsäulen, hoch wie Wolkenkratzer von verschieden Punkten der Stadt in die Höhe schossen. Er erkannte eine rote und eine grüne.

„Nick, wir müssen uns beeilen!“, rief Abby angestrengt und stieß im Anschluss einen spitzen Schrei aus.

Neben ihnen hatte es laut gekracht. Ein Autofahrer, der dem ebenfalls zugesehen hatte, war mit seinem Wagen gegen eine Laterne gefahren. Wankend stieg er aus dem roten Mercedes und betrachtete fassungslos das Geschehen.

„Ja, schnell!“, meinte Nick, der froh war, nicht auch noch Ersthelfer spielen zu müssen.

 

~-~-~

 

Anya presste sich die Hände auf die Ohren, doch es brachte nichts. Sie stöhnte vor Schmerz auf, aber das grässliche Geläute dieser Glocken wollte nicht aus ihrem Schädel weichen.

Wie ein ängstliches Kind hatte sie sich in die hinterste Ecke der Zelle zurückgezogen. Mit den Beinen angewinkelt am Körper, hielt sie die Augen fest geschlossen. Doch auch so sah sie es, warum auch immer.

 

Ihre Schule. Die Aula. Der graue Himmel, nur an einem Fleck klar. Alles gleichzeitig, sie konnte sich nicht auf eines der Bilder konzentrieren, sie waren alle in ihrem Kopf.

Weitflächige Kreise bildeten sich in großer Höhe über der Schule von oben nach unten herab und auf etwa alle zwei Meter entstand ein neuer. In ihrem Umfang wurden sie immer weiter, dabei zierten unzählige Zeichen und Symbole ihr Inneres. Es wäre ein Fest für jeden Okkultisten.

Jeder Kreis hatte eine der Farben braun, rot, weiß, gelb, blau, grün oder violett. Immer abwechselnd. Es war, als würden diese Kreise mitten in der Luft ein Gebilde erzeugen wollen.

Und als Anya sah, wo der letzte Kreis entstand, ahnte sie bereits, was geschehen würde. Denn der letzte Zirkel, bestehend aus allen vorhergegangenen Farben, umschloss beinahe das gesamte Schulgelände. Von seinem Ursprung schossen fünf Linien in verschiedenen Farben in fünf verschiedene Richtungen über den Erdboden, durch die ganze Stadt. Die Kanalisation, Victim's Sanctuary, die Straße am Waldrand, der Park – und vor dem Garten der Familie Bauer.

Anya öffnete erschrocken die Augen, gleichzeitig die ganze Stadt und die Zelle vor sich.

„Mum, geh da weg!“, schrie sie aufgebracht.

 

Da war sie, ihre Mutter und stieg verwirrt aus dem Wagen, den sie vor ihrem Grundstück parkte. Sie schritt verwirrt zu der Vorderseite des Autos, betrachtete irritiert die Reifen.

Und dann geschah es schon. Anya wurde die Sicht des Geschehens an diesem Ort genommen durch eine riesige, violette Lichtsäule, die aus dem Boden schoss. Dort, wo ihre Mutter eben gewesen war!

„Mum!“

Aber nicht nur dort, es war dasselbe bei allen anderen Orten, an denen ein Pakt geformt worden war. Eine blaue Säule in Victim's Sanctuary, eine rote im Park, grün für die Kanalisation und gelb am Waldrand.

Alle schossen sie zeitgleich in dem Himmel. Über Livington bildeten diese Säulen die Eckpunkte für ein riesiges, weiß leuchtendes Pentagramm, welches unheilvoll über der Stadt zu hängen begann.
 

Und in dessen Mitte, dort war – das Schulgelände.

Anya stieß einen erschrockenen Schrei aus. Die Gebäude der Stufen, die Sporthallen, einfach alles – es wurde einfach fortgerissen, weg geschubst, von der aufwallenden Erde verschlungen.

Der schwarze Turm, er wuchs aus dem Untergrund wie eine Krankheit, die alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte. Wann immer er einen der magischen Kreise passierte, welche genau bis an die Mauern des Bauwerks reichten, leuchteten diese kurz auf und blieben in Form einer farbigen Linie am Turm zurück.

Nach oben wurde der Turm von Neo Babylon immer spitzer, ganz an seinem Ende ragten zwei steinerne Arme aus der Spitze hervor und hielten ein Gebilde, in dem sich unzählige, goldene Glocken befanden. Alle läuteten im Takt.

Anya hielt sich den Kopf schreiend und sah mit an, wie der Turm schließlich ungefähr einen Kilometer über der Erdoberfläche in seinem Wachstum zum Stehen kam. Über ihm nur der klare Nachthimmel, die Mitte des Pentagramms und die grauen Wolken, die über den Außenflächen jenes fünfzackigen Sterns und darüber hinaus der ganzen Stadt thronten.

Der Turm von Neo Babylon war erwacht. Anyas perplexer Blick fiel auf die Uhr im Gang neben dem Fenster, aus dem sie ironischerweise ebenjenen Turm mit eigenen Augen sehen konnte. Die Uhrzeit: Punkt 12.

 

~-~-~

 

„Hast du das gesehen!?“

Abby und Nick hatten sich nur schwerlich von dem schaurigen Anblick lösen können, der sich ihnen auf dem Weg zur Polizeistation geboten hatte. Doch nun hatten sie es geschafft und ebenjene betreten.

„Ja hab ich, Abby“, antwortete Nick.

Doch schon im Empfangsraum wurde klar, dass sie auch gleich wieder umdrehen konnten. Am Tresen diskutierten zwei Polizisten in blauen Uniformen hitzig, während eine Gruppe weiterer an ihnen vorbei nach draußen rannte.

Im rechts neben ihnen liegenden Wartebereich tummelten sich Menschen, die ebenfalls von einer Beamtin – die, die Anya abgeführt hatte – beruhigt werden mussten.

„Das kann ja heiter werden“, gab sich Nick frustriert beim Anblick der meuternden Menge, die von der Polizistin kaum unter Kontrolle gehalten werden konnte.
 

Zusammen schritten sie eilig auf den Tresen zu. Doch ehe auch nur einer von beiden ihr Anliegen vorbringen konnte, wurden sie harsch von dem glatzköpfigen Polizisten abgewiesen, der mit seinem Kollegen argumentierte.

„Bitte geht in den Wartebereich, ihr seht doch, dass hier die Hölle los ist!“

„Aber-“

Der andere, ein schlaksiger Blonder, schnitt Abby das Wort ab. „Wir kümmern uns um euch, aber im Moment steht das Telefon nicht still. Die Leute sind ganz aufregt!“

„Danke, Captain Obvious“, erwiderte Nick ärgerlich. „Uns ist egal, was da draußen los ist! Ihr habt unsere Freundin eingesperrt, obwohl sie nichts getan hat!“

„Ihr meint Bauer? Pah! Das kleine Flittchen sitzt jetzt schön in der Zelle“, erwiderte der Blonde garstig. „Die seht ihr so schnell nicht wieder. Und jetzt verschwindet!“

„Du-!“

Doch Abby hielt Nick am Arm fest, ehe er über den Tresen hinweg zuschlagen konnte. „Nicht! Das macht alles nur noch schlimmer!“

„Du willst 'ne Prügelei anzetteln, huh!?“, erwiderte der Deputy boshaft. „Willst wohl gleich mit in die Zelle, was!? Joe, hilf-“

„Lass den Unsinn, für so etwas haben wir keine Zeit!“ Der Glatzkopf machte eine verscheuchende Bewegung. „Für heute belassen wir es dabei, aber wenn ihr eure Freundin besuchen wollt, kommt zu einem ruhigeren Zeitpunkt wieder!“

„Er hat recht“, murmelte Abby und zog den wütenden Nick ein Stück weg, welcher nicht davon ablassen konnte, mit dem blonden Polizisten hasserfüllte Blicke auszutauschen.

 

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie leicht panisch im Anschluss, als sie sich eine ruhige Ecke neben der Eingangstür gesucht hatten, welche von ein paar Palmentöpfen flankiert war.

„So kommen wir nicht weiter“, murmelte er, immer noch mit Blick auf dem Tresen. „Deswegen machen wir es kurz und schmerzlos. Dass hier das blanke Chaos los ist, kommt uns gerade recht. Die müssen hier irgendwo die Schlüssel haben. Mehr brauchen wir nicht.“

„Okay“, nickte Abby und rückte ihre Brille zurecht. „Aber wo sind die? Und wie kommen wir an die ran?“

„Du lenkst sie ab, während ich mich am Tresen vorbei in die hinteren Räumlichkeiten schleiche. Irgendwo dort sind auch die Zellen. Ich wette, die meisten Cops sind zurzeit unterwegs, weswegen hier alles chronisch unterbesetzt sein dürfte.“

Abby packte ihn am Arm. „Bist du verrückt!? Wie soll ich das machen, hier sind viel zu viele Leute! Und was, wenn dich einer dabei erwischt!?“

„Das Risiko müssen wir eingehen! Und du bist doch eine Sirene, oder nicht? Lass dir was einfallen. Und jetzt komm!“

Ohne sich auf weitere Proteste einzulassen, zog Nick das Mädchen mit sich. Ihm war klar, wie dumm dieser Plan war, aber sich etwas Besseres einfallen zu lassen würde zu lange dauern!

 

~-~-~

 

„Mum …“

Anya betrachtete ihre zitternde Hand, welche sie vor sich ausstreckte. Sie hatte keine Ahnung, warum sie all das gesehen hatte, zweifelte jedoch nicht daran, dass dies wirklich geschehen war. Der Turm, den sie durch das Fenster sehen konnte, war Beweis genug.

„Levrier, ist Mum in Ordnung? Was war das?“

Doch er würde nicht antworten, soviel wusste Anya mittlerweile. Etwas war mit ihm geschehen. Vielleicht dasselbe wie mit Joan, die einfach verschwunden war. Woher sollte jemand wie sie wissen, wie man solche Dinge einzuschätzen hatte?

Eden. An allem war nur dieses Ding schuld! Wieso war es da, was wollte Levrier damit erreichen? War es wirklich ein Tor, wie Redfield gesagt hatte? Wenn ja, wo führte es hin?

Aber all das interessierte Anya nicht. Sie wollte nur wissen, ob es ihrer Mutter gut ging! Wenn sie doch wenigstens telefonieren könnte!
 

„Anya!“

Das Mädchen schreckte von ihren Gedanken auf. Schritte hallten vom Gang, der die Zellen miteinander verband, zu ihr. Und die Stimme, sie kannte sie nur zu gut.

Sofort sprang Anya auf, verließ ihre Ecke und rannte an das Gitter. Kaum ein paar Sekunden später standen sie vor ihr: Abby und Nick.

„Anya, wir holen dich da raus!“, strahlte ihre Freundin und präsentierte den Zellenschlüssel.

„Wie habt ihr-!?“ Die Blondine konnte ihr Glück kaum fassen.

„Ich dachte schon, wir müssen sonst was anstellen, um an die Schlüssel zu bekommen“, meinte Abby und ging herüber zur Tür. „Aber letztlich ist im Wartesaal eine Panik ausgebrochen, weshalb wir uns unbemerkt an den Polizisten vorbei stehlen konnten.“

„Hehe, ja“, gluckste Nick, „ich hab sogar in das Büro von diesem Idioten gepinkelt, um dich zu rächen.“

Anya blinzelte verdutzt. „Hä?“

„Vergiss ihn, er macht bloß Witze.“ Abby warf einen bösen Blick auf Nick. „Du weißt, er hat's ja nicht so mit der Wahrheit.“

„Hol den Anya-Muffin da raus. Ich hab Hunger. Aber guck mal“, er drehte Anya den Rücken zu, an dem ein Rucksack hing. „Wir haben deinen Kram zurückerobert. Und deine Duel Disk haben wir dir auch mitgebracht. Zur Aufmunterung.“

„D-danke. Habt ihr“, begann die Blondine zögerlich und stellte sich Abby gegenüber vor die Tür, um endlich diese verdammte Zelle verlassen zu können. „Habt ihr das gesehen? Was draußen passiert ist?“

„Ja.“ Mit traurigem Blick schob das Hippiemädchen den Schlüssel ins Schloss. „Es war-“
 

„Keine Bewegung!“

Die Drei wirbelten erschrocken herum.

Anya konnte es aufgrund der anliegenden Zellenwände nicht genau sehen, aber auf dem schmalen Gang standen plötzlich die beiden Beamten vom Tresen. Mit gezückten Waffen.

„Wusst' ich's doch!“, sagte der schlaksige Blonde triumphierend. „Ich hab doch gesagt, ich hab zwei Ratten gesehen, die sich hier herumgeschlichen haben! Wollt eurer kleinen Freundin wohl beim Ausbruch helfen, was?“

„W-wir können das erklären“, stammelte Abby panisch.

Anya fühlte, als würde sich in ihrem Magen ein schwarzes Loch öffnen. „Was ist da los!?“

„Geht von der Zelle weg, ihr zwei! Los!“

„Aber-!“

Der Blonde schnauzte: „Los!“

„Nein! Das können wir nicht!“, entgegnete Abby plötzlich mutig und trat einen Schritt vor. Sie nahm ihre Brille ab, schloss ihre Augen und öffnete sie sogleich wieder. Die Iriden hatten sich rosa verfärbt, während sich ihr Haar mit einem Schlag alle Farbe verlor. „Sie werden jetzt gehen, alle beide. Und vergessen, was Sie hier gesehen haben! Bitte!“

Beide starrten die Sirene gebannt an.

Und auf Anyas Gesicht breitete sich ein gehässiges Grinsen aus. Die Sirenenkräfte! Damit würden diese Typen alles tun, was sie sagte. Genau wie Nick, vermied sie es, ihre Freundin jetzt direkt anzusehen.

„Puh, das war knapp“, meinte Abby und drehte sich wieder der Tür zu. „Ohne diese Krä-“

Ein lauter Knall ertönte.

„Abby!“, kreischte Anya aufgelöst, als ihre Freundin wie eine Puppe in sich zusammenbrach. Sie zwänge ihre Hand durch die Gitterstäbe, doch ihre Freundin lag am Boden und rührte sich nicht. „Abby!“

 

~-~-~

 

Der Sammler trat direkt an das brennende Auto heran, ohne Angst vor dem Feuer. Sein Blick lag dabei auf der dunkelblonden Frau, die durch die Wucht der Energiesäule über den Gartenzaun hinweg auf das Grundstück der Familie Bauer geschleudert worden war. Sie lag auf dem Rücken und direkt neben ihr eine kleine, schwarze Gestalt.

„Du hast sie gerettet“, meinte der rothaarige Brite tonlos und ging einfach an dem brennenden Wagen vorbei, betrat das Grundstück mit einer Lässigkeit, als wäre er zum Kaffee eingeladen worden.

„Aber was unsere Kundin angeht“, murmelte er dabei weiter und trat direkt an die beiden regungslosen Körper. Dann bückte er sich und las das schwarze Knäuel auf. „Hast du als mein Diener versagt, Orion. Ich mache dir aber keinen Vorwurf.“

Damit verschwand er schlagartig von der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.

Kurz darauf schlug Anyas Mutter, die komplett mit Ruß beschmiert war, stöhnend die Augen auf.

 

~-~-~

 

Anya ging in die Knie. „Abby … !“

Nick hatte sie in den Arm genommen und presste hilflos seine Hand auf die Wunde an ihrer Schulter, aus der eine Menge Blut sickerte. „Halt durch!“

„Was ist das!?“, wollte der Blonde derweil aufgeregt von seinem glatzköpfigen Kollegen wissen. „Für einen Moment, da habe ich-! Als wäre ich-!“

„Ich weiß es nicht!“, erwiderte der ebenso hysterisch. „Sie muss ein Monster sein! Es ist, als hätte sich unter uns ein Höllenschlund geöffnet! Erst diese Lichter in der Stadt, jetzt dieses-“

„Was machen wir mit ihr!? Sie ist noch nicht tot!“

„Lasst ihre Finger von ihr, ihr dreckigen- ARGH!“ Anya war mit einem Satz aufgesprungen und rüttelte heftig an den Gitterstangen, sich dabei nur allzu bewusst, dass dies nichts brachte. „Warum habt ihr geschossen, ihr Dreckskerle!? Sie hat euch doch nichts getan!“

„Halt den Mund, Bauer!“ Der Blonde war zu ihr getreten und hielt ihr die Waffe direkt vor die Nase. „Sonst bist du die nächste!“

Einem Reflex nachgebend, wich das Mädchen zurück. „Elender-!“

Doch sie kam gar nicht weiter, denn plötzlich richtete der Polizist seine Waffe auf Abby.

„Lass das!“, befahl ihm sein Kollege aufgebracht. „Du kannst sie doch nicht-!“

„Was, wenn sie -das- wieder macht!?“, meinte der andere hysterisch. „Wir sollten sie erledigen! Sie ist ein Monster!“

 

Derweil schlug Abby die Augen auf und sah direkt in Nicks Gesicht, der neben ihr kniete und sie festhielt. „Tut mir leid …“

„Sag nichts!“, befahl ihr der mit wackliger Stimme. „Du musst dich nicht entschuldigen! Alles wird gut, so schlimm ist die Wunde nicht!“

„Ich dachte, ich kann sie kontrollieren, meine Kräfte.“ Abbys Augen hatten wieder ihre gewöhnliche Farbe angenommen. Genau wie ihr Haar. „Aber wie es aussieht, habe ich mich geirrt. Vielleicht kann ich niemanden verführen, weil ich nur ein Halbblut bin? Das ist … mir peinlich …“

„Abby, ich sagte doch, du-“

„Am Ende war ich wirklich nutzlos.“ Sie drehte ihren Kopf von ihm weg. „Zu denken, dass ich vorhin noch mit diesen Kräften vor dir angegeben habe. Das ist mir wirklich peinlich.“

Sie schloss daraufhin die Augen. Den Schmerz in ihrer Schulter nahm sie kaum wahr, sie fühlte sich einfach nur benommen. Müde.

 

Es erinnerte sie an die Zeit, als ihre Eltern noch gelebt hatten. Damals, als sie noch ein kleines Kind war, hatte ihre Mutter ihr immer etwas vorgesungen, wenn sie nicht einschlafen konnte. Und danach war sie immer müde gewesen, weggenickt, genau wie jetzt. Dieses Lied war schön gewesen, doch leider hörte sie es nur noch verschwommen, die Erinnerungen daran waren schon nahezu verblasst.

Auch hatte ihre Mutter ihr einmal etwas über dieses Lied erzählt. An die Details erinnerte sich Abby nur noch sehr vage. Es solle wohl alles Böse von einem fern halten und wenn sie, Abby, große Angst hatte, solle sie dieses Lied singen und alles würde gut werden.

Als sie sich daran erinnerte, wurde auch die Musik klarer, sie erinnerte sich wieder an die Melodie.
 

Und sie hatte doch Angst. Angst davor, was jetzt mit ihr geschehen würde. Mit Anya und Nick. Jeden Moment würde vermutlich ein weiterer Knall durch die Polizeistation gehen und dann würde sie in der Dunkelheit versinken.

Abby begann, das Lied zu summen, so gut es ging. Ihre Mutter hatte auch einen Text dazu gehabt, keinen englischen, sondern eine andere Sprache.

Plötzlich wunderte sich Abby. Mit Sprachen kannte sie sich gut aus, aber die Wörter dieses Liedes hatte sie noch nie gehört. An ein paar erinnerte sie sich noch.

Jene brachte sie in dem Lied unter, das sie zu singen begann. Es war lückenhaft, aber Abby spürte, wie sie allein der Klang der Melodie beruhigte. Wörter, an die sie sich nicht mehr erinnerte, ersetzte sie durch andere Kreationen ihrer Fantasie.

„Abby! Abby! Hör nicht auf zu singen!“, drang Nicks Stimme an ihr Ohr.

Das Mädchen dachte auch nicht daran. Der Rhythmus war so schön, so beruhigend, dass sie gar nicht anders konnte, als mit ihm zu gehen. Ihn immer wieder aufs Neue anzustimmen.

Dennoch öffnete sie die Augen und sah Nick an, doch sein Blick war geradeaus gerichtet. Jenem folgte sie und sah die zwei Polizisten, wie sie auf der Stelle verharrten. Ihre Dienstwaffen lagen dabei auf dem Boden. Wie gebannt sahen sie Abby an, rührten sich nicht von der Stelle.

„Ich glaube, das ist …“

Auch Anya von der anderen Seite der Zelle sah die Polizisten verstört an. „Das ist ein … Sirenenlied? Abby, woher kannst du das!?“

Doch ihre Freundin wagte nicht, darauf zu antworten, denn das würde das Lied unterbrechen. Plötzlich wusste Abby auch, was sie da sang. Ihre Mutter hatte es immer „La fina kanto“ genannt, das letzte Lied. Jetzt realisierte Abby es, denn ihre leibliche Mutter war eine Sirene gewesen – es war die ultimative Technik ihrer Art, das letzte Lied. Dazu gedacht, alles in der näheren Umgebung in eine Traumwelt zu schicken. In einer Sprache, die zwar spanisch anmutete, doch andere Ursprünge hatte.

 

Langsam richtete sie sich auf, ohne dabei mit dem Singen aufzuhören. Dabei hielt sie sich die blutende Schulter und wurde sofort von Nick abgestützt.

„Wieso sind wir nicht betroffen?“, fragte Anya, als beide sich ihr zuwendeten, damit Nick die Tür aufschließen konnte.

„Hehe, weil wir nicht auf Abbys Blacklist stehen“, gluckste Nick, um Anya dadurch verständlich zu machen, dass Abbys Lied wohl nur diejenigen betraf, die sie als Feinde betrachtete. Jene nickte dazu unsicher.

Kaum war Anya endlich frei, sammelte sie Abbys Brille auf und setzte sie der Freundin auf. „Danke, Masters! Ich schulde dir was!“

Ihr Blick wanderte herüber zu den beiden Polizisten, die mittlerweile zusammengesackt waren und träge an der nächstgelegenen Zellenwand beziehungsweise der Außenwand lehnten. Zornig krempelte sie die Ärmel ihrer Lederjacke hoch, doch Nick griff ihren Arm. „Wir müssen doch in den Turm und in Edens Arsch treten, Anya-Muffin!“

„Kch!“

Zusammen schritten sie an den beiden Beamten vorbei, doch nicht, ohne dass Anya den Blonden anspuckte.

„Ich schwöre dir, wenn dieser Kackmist vorbei ist, werde ich dich wenn nötig bis ans Ende der Welt verfolgen, damit ich deinen verdammten Schädel skalpieren und anschließend als Bowlingkugel verwenden kann! Mistkerl!“, sprachs und setzte einen Tritt nach, der direkt in die Weichteile ging. Doch außer einem Zucken war dem Blonden nichts zu entlocken.

Und während Abby weitersang, lächelte sie dabei.

 

~-~-~

 

Matt parkte den Wagen, als er am Straßenrand Valerie und Marc entdeckte, die den etwa vierhundert Meter entfernten, gewaltigen Turm fassungslos betrachteten.

Von dem Schulgelände war nichts mehr übrig geblieben. Nur noch die Einzelteile der Gebäude, die hier und da unter der dunklen Erde hervortraten, erinnerten an die Livington High. Bisher waren Polizei und Feuerwehr noch nicht hier gewesen, um alles abzusperren. Aber lange würde es nicht mehr dauern, dachte Matt nervös und stieg zusammen mit Alastair aus.

 

Sieh dir das Ding an. Man sollte meinen, sein Erbauer hätte gewisse Komplexe hinsichtlich seiner unteren Körperregion. Was soll das überhaupt sein, ein Leuchtturm? … oh verdammt, jetzt hab ich einen Ohrwurm von dieser deutschen Sängerin. Wie hieß sie doch gleich? Lena?

 

Der Dämonenjäger ignorierte Another gekonnt und schritt herüber zu den beiden Wartenden, die ihm schon entgegen kamen. Hinter ihnen endete die Straße abrupt und ging in Verwüstung über.

„Damit hätte ich nie gerechnet“, sprudelte es sofort aus Marc hinaus. „Ich hoffe nur, dass niemand auf dem Campus war, als er aufgetaucht ist.“

„Wenn ja … sind sie jetzt vermutlich tot“, murmelte Valerie betrübt.

„Habt ihr den Sprengstoff?“, hakte Marc weiter nach.

Matt nickte. „Ja. Alles, was wir jetzt noch brauchen, sind unser Stargast und Henrys Schwester. Hat einer von euch was von den beiden gehört?“

Doch das Pärchen schüttelte nur synchron den Kopf.

Matt schlug sich die Hand vor den Kopf. „Großartig! Anya sollte keine Zeit verlieren! Es heißt, der Turm würde bei Sonnenaufgang wieder verschwinden …“

„Oh, glaub mir“, meinte Valerie und ihr Blick wurde deutlich nervöser, „wie ich Anya einschätze, ist sie schon ganz scharf darauf, ihn zu betreten. Und sei's nur, um ihn in die Luft zu jagen.“

 

~-~-~

 

Abby presste die Lippen fest aufeinander, als sie von Nick und Anya gestützt die Polizeistation verließ. Auf der Straße angelangt, befreite sie sich von den beiden und legte ihre Hand auf die Schusswunde an ihrer Schulter. Der Schmerz machte sich jetzt deutlich bemerkbar, da sie nicht mehr sang.

„Was hast du da gemacht?“, fragte Anya in einer Mischung von Faszination und Skepsis.

„Das war … 'La fina kanto'“, antwortete ihre Freundin, deren Stimme von dem Gesang schon ganz heiser war. Doch es war ihr im Endeffekt gelungen, sämtliche Anwesenden auf der Polizeistation in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen. Aber jetzt war ihre Kraft erschöpft.

Torkelnd stieß Abby an Nick, der sie behutsam an sich zog. „Die stärkste Sirenentechnik. Zumindest glaube ich, dass es so ist. Meine Mutter hatte sie mir immer als Lied vorgetragen, damit ich einschlafen konnte. Dass ich mich ausgerechnet heute daran erinnere, muss wohl Schicksal sein.“

„Von mir aus. Wichtiger ist, dass wir dich jetzt ins Krankenhaus bringen!“

„Dann trennen sich unsere Wege jetzt, Anya“, meinte Abby betrübt und zeigte mit dem Finger in Richtung des Turms. „Tut mir leid, dass ich dich nicht dorthin begleiten kann …“

„Schon okay, ich werde auch so klarkommen …“

 

Anya sah nun auch in die Richtung des Turms von Neo Babylon und musste innerlich schlucken.

Es war, als wäre die ganze Stadt gefangen in der dicken, tiefgrauen Wolkenschicht. Über ihnen flimmerte das gewaltige Pentagramm, in dessen Mitte sich die Turmspitze befand.

Und auch, wenn Anya Abby ungern alleine ließ, war sie froh, dass es am Ende nur ein Durchschuss durch die Schulter war, der sie verletzt hatte. Sie würde durchkommen, das stand außer Frage.

Außerdem … war es das Beste, wenn sie ihr nicht in den Turm folgte. Denn Anya wusste nicht, wie ihre Freundin reagieren würde, sobald die Wahrheit um ihre Absichten ans Licht kam. Eine Wahrheit, die nicht mehr zu ändern war.

 

„Harper, du gehst mit Masters. Und wehe, ich komme zurück und es fehlt ihr auch nur ein Haar!“

Auf die Anweisung hin blinzelte Nick einen Moment verdutzt, ehe er breit grinste. „Ich werde persönlich für ihr Wohlbefinden sorgen, hehe.“

„Denk nicht mal dran!“, fauchte Anya, die schon wieder Zweideutigkeiten witterte.

„Wirst du das wirklich packen?“, fragte Abby traurig, doch Anya wandte ihnen beiden schon den Rücken zu. Dabei hob sie ihren Arm und streckte ihren Daumen aus.

„Klaro. Eine Anya Bauer versagt nie. Also dann, bis nachher, Leute!“

Damit rannte sie einfach über die Straße in die Richtung des Turms, ließ Abby und Nick allein zurück.

 

„Sie ist eben nicht der Typ für lange Abschiede“, meinte Letzterer trocken, nachdem das Mädchen außer Sichtweite war. Dabei legte er seinen Arm um Abbys Hüfte und schultere den ihren.

„Ich hoffe, sie tut nichts, was sie am Ende bereut …“

„Was das angeht, hatte Anya nie die Wahl. Irgendwann musste selbst ich das einsehen, oder denkst du, ich hätte sie sonst gehen lassen? Und lieber sie als Eden, als … ganz allein.“

„Nick“, schluchzte Abby plötzlich, „ich will nicht, dass sie geht. S-sie ist die fieseste Person, die ich kenne … aber sie ist meine Freundin!“

Der junge Mann mit dem verstrubbelten, braunen Haar sah betrübt auf das Mädchen herab, welches den Blick von ihm abgewandt hatte und mit dem Finger hinter ihrer Brille im Auge nestelte.

„Ich bin vielleicht der Falsche, um so etwas zu sagen, aber … hoffen wir einfach auf ein Wunder.“

„J-ja.“

Sie stöhnte überrascht auf, als Nicks Griff sich festigte und er sich ruckartig mit ihr in Bewegung setzte. „Dann kümmern wir uns jetzt erstmal um dich. Und um meinen Zeh …“

„D-denk bloß nicht, dass ich dir für neulich schon verziehen habe! Das vorhin war nur ein Teil deiner Strafe!“

Nick lachte auf. „Jetzt färbt sie schon auf dich ab. Ich glaube, ich muss mir neue Freunde suchen, da wird man ja seines Lebens nicht mehr froh.“

Das gesagt, schleppte er das Mädchen den Bürgersteig entlang, mit dem weit entfernten Ziel Krankenhaus. In der Hoffnung, nur für dieses eine Mal in Punkto nicht existierender Wunder eines Besseren belehrt zu werden.

 

~-~-~

 

Nicht an sie denken, sagte sich Anya und rannte stur geradeaus. Durch enge Seitenstraßen, den Bürgersteig entlang, immer auf den Turm zu.

Sie durfte nicht mehr an die Menschen denken, die ihr etwas bedeuteten. Die waren jetzt fort und würden nie wieder kommen. Ihre Mutter war sogar tot! Es gab jetzt nur noch sie, Anya. Und die Wahl, für immer zu leiden oder dafür zu kämpfen, wenigstens einen angenehmen Tod zu sterben.

Und Anya versuchte ihr Gewissen damit zu beruhigen, dass die anderen an ihrer Stelle dasselbe tun würden. Keiner von denen war besser als sie!

„Levrier!“, rief sie in die Nacht hinein und blieb mitten in einer weiteren engen Seitenstraße stehen.

Von ihrem Paktpartner folgte jedoch wie schon zuvor keine Reaktion.

Was Anya nur umso nervöser machte. Nur er wusste, wie es im Turm weitergehen würde. Er hatte mal etwas von einem Ritual gesagt, aber wie sollte das aussehen? Warum war er weg?

Irgendetwas stimmte da nicht! Er konnte doch unmöglich …

Anya betrachtete das Mal an ihrem Arm. Es war noch dasselbe schwarze Kreuz in einem Dornenring, das sie vor ungefähr zwei Monaten in der Aula erhalten hatte. Nicht ausgewaschen, verblasst, sondern klar und deutlich. Levrier war nicht tot. Wenn selbst Redfields Mal noch aktiv war, obwohl Joan jetzt vermutlich in irgendeiner Gebärmutter finstere Pläne schmiedete, dann musste noch irgendeine Verbindung zwischen ihr und Levrier bestehen.

Könnte er schon im Turm sein und auf sie warten?

„Tch! Du bleibst echt bis zum Schluss eine Nervensäge, oder?“

Anya wusste, dass sie es noch früh genug herausfinden würde. Also rannte sie weiter.

„Wehe, ihr Pisser kriegt Muffensausen! Ich schwöre, dass ich euch blitzschnell finden und in den verdammten Turm schleifen werde!“, versuchte sie dabei, ihre Nervosität hinsichtlich der anderen zu überspielen. Von ihnen hing jetzt alles ab …

 

Etwa fünf Minuten später hatte Anya es geschafft.

Vor ihr endete die Straße abrupt und ging in braune Erde über. Häuser gab es direkt um die Schule herum nicht. Stattdessen gab es mal eine Straße, die sich wie ein Kreis um das Campusgelände gezogen hatte, doch diese war nun unter all dem Schutt verborgen. Dahinter erst begann das Wohngebiet.

Vorsichtig betrat Anya die zerstörte Fläche. Von ihrer Schule war tatsächlich nichts mehr übrig geblieben. Hier und da lagen ein paar Trümmer, an einer Stelle ragte einer der Pfosten des Südtores aus der dunklen Masse heraus.

Es bereitete Anya ein gewisses Gefühl von Genugtuung, dies zu sehen. Mit etwas Glück würde Mr. Bitterfield, der Direktor, einen Herzinfarkt erleiden, wenn er sah, was aus seinem ganzen Stolz geworden war. Zu dumm, dass sie das nicht mehr erfahren würde.

Anya wandte den Blick von ihrer näheren Umgebung ab und richtete ihn stattdessen auf den Turm, der sich knapp einen halben Kilometer von ihr entfernt wie ein Wolkenkratzer durch den Himmel bohrte. Aus der Ferne konnte sie keinen Eingang ausmachen. Lediglich leuchteten in regelmäßigen Abständen verschiedenfarbige Ringe am Turm auf, verdunkelten sich wieder und strahlten dann wieder Licht aus. Anya vermutete, dass dies die einzelnen Ebenen, die Stockwerke des Turms sein könnten. So abgedreht, wie der aufgetaucht war, wäre das gut denkbar.

 

Unschlüssig, was sie jetzt tun sollte und wo die anderen waren, rannte sie auf den Turm zu. Je näher sie ihm kam, desto schlimmer sah ihre Umgebung aus. Nun wurde deutlich, dass ihre Schule wie ein Stück Papier einfach auseinander gerissen worden war. Das halbe Dach der Unterstufe lag unweit von ihr im Sand.

Und während Anya sich dem Turm weiter näherte, fragte sie sich, wie lange es wohl dauern würde, all die Schäden zu beseitigen. Und eine neue Schule zu bauen. Aber noch viel wichtiger: wie würde man den Leuten erklären, was hier überhaupt geschehen war? Allerdings war Anya sich sicher, dass den Sesselpupsern im Weißen Haus schon etwas einfallen würde.
 

Letztlich hatte sie es geschafft und stand dem Turm nun auf wenigen Metern gegenüber. Allerdings konnte sie keinen Eingang ausmachen. Der musste sich wohl auf der gegenüberliegenden Seite befinden. Und während Anya das riesige Gebäude zu umkreisen begann, ließ sie es nicht aus den Augen.

Von Nahem wirkte es genauso bedrohlich wie aus der Ferne. Seine Außenwand bestand aus etlichen schwarzen Ziegelsteinen mit glatter Oberfläche. Fast wie Marmor. Abgesehen davon wurde dieses Bild nur am Ende jedes Stockwerkes durch die verschiedenfarbigen Ringe unterbrochen. Erst ganz oben, auf den letzten zwei oder drei Stockwerken – Anya konnte es selbst mit in dem Nacken gelegten Kopf nicht gut erkennen – ragten diese riesigen, ebenfalls pechschwarzen Arme aus dem Turm und hielten je ein Dutzend goldener Glocken an einer Art Bogen fest.

Am unheimlichsten war jedoch der Vollmond, der über dem Turm stand und ihn in silbernes Licht tauchte. Nur dort oben gab es nach wie vor keine grauen Wolken.

„Tch! Wehe dieses Teil hat keinen Aufzug!“, zischte Anya und setzte die Runde fort. Man konnte schließlich nicht von ihr erwarten, bis nach oben die Treppen zu benutzen!

 

„Anya!“

Das Mädchen sah wieder nach vorn. Selbst im Mondlicht war die Gestalt, die da auf sie zu gerannt kam, kaum auszumachen, aber an der Stimme hatte sie sie trotzdem erkannt.

„Hey, da ist ja unser Stargast“, scherzte Matt, als er ihr entgegen kam und atmete tief durch. Seine Stirn war schweißnass. Es machte den Eindruck, als wäre er seit Stunden über das Gelände gerannt.

„Hi“, erwiderte Anya etwas unschlüssig. „Was ist los? Ist die Narbenfresse abgehauen, oder warum siehst du aus wie ein Fettsack nach einem Marathon?“

„Ich habe nach Verletzten gesucht, wonach sieht es sonst aus? Um die Warterei zu überbrücken und mich nützlich zu machen“, erwiderte er nun beleidigt und kratzte sich am Kopf. „Aber scheinbar ist niemand hier gewesen, als es passiert ist.“

„Wie schade …“

Matt musste grinsen. „Irgendwie habe ich mit dieser Antwort gerechnet. Aber hey, ist auch egal, komm mit! Das solltest du dir unbedingt ansehen!“

Schon rannte er wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Schultern zuckend, folgte Anya ihm und musste innerlich aufatmen. Zwei hatte sie damit in der Tasche …
 

Kurz darauf kamen sie an der Frontseite des Turms an und Anya sah sofort, was Matt ihr zeigen wollte.

Dort war er, der Eingang. Und obwohl er im Vergleich zum Turm klein, ja regelrecht winzig anmutete, machte er doch einiges her. Von etwa zweieinhalb Metern Höhe, sah er im ersten Augenblick aus wie ein Torbogen, dessen Inneres mit einer Mosaikplatte ausgefüllt war. Anya erkannte sofort die leuchtenden Farben ihres Elysions wieder. Das saftige Grün, kräftige Braun und strahlende Meeresblau. Doch auch rote, gelbe, violette und weiße Teile waren im Tor vorhanden.

Der Unterschied zum Elysion bestand, neben der Form, jedoch darin, dass aus diesem Bild kein Sinn entnommen werden konnte. Zwar waren beide Hälften des Tores symmetrisch, doch ansonsten schienen die dreieckigen Mosaikteile wahllos aneinander gefügt worden sein. Ein Griff oder Schloss, ja irgendeine Möglichkeit, das Tor von außen zu öffnen, fehlte.

„Wie kitschig“, kommentierte Anya den Anblick garstig.

„Jop“, stimmte Matt ihr zu. „Wir haben versucht hinein zu kommen, aber scheinbar hat der Turmherr noch keinen Dienst. Die Flügel rühren sich keinen Millimeter, wenn man sie nach innen drückt.“
 

Anya jedoch hatte sich längst umgedreht und musste zu ihrer Überraschung feststellen, dass sie und Matt nicht alleine waren.

Da war Alastair, der auf einer von drei länglichen Kisten hockte und finster zu ihr herüber starrte. Vor ihm standen Marc und Valerie, Letztere hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete, scheinbar in ein Gespräch mit Marc verwickelt, auf die Aufschriften der Kisten. Die Warnung, jene mit Vorsicht zu behandeln, war in eindrucksvollem Rot darauf hinterlassen worden.

Das Grinsen auf Anyas Gesicht drohte über ihre Wangen hinaus zu schießen. Zumindest für einen Moment, bis sie erkannte, dass das Zeug tatsächlich eher ein Hindernis für sie darstellte.

„Cool, was? Ich denke, das Zeug dürfte reichen, um ein nettes Feuerwerk zu starten.“

Matt trat neben sie. Anya nickte nur stumm.

 

Wie sollte sie jetzt verhindern, dass der Sprengstoff im Turm gezündet wurde!?

Doch während der Dämonenjäger darüber lamentierte, woher er das Zeug hatte, kam Anya ein Geistesblitz. Um Eden zu vernichten, mussten sie das Herz zerstören – zumindest glaubten die anderen das. Wenn es ihr also gelang, mit ihnen bis zu diesem Kristallsaal zu gelangen und ihnen den Zünder für das Zeug abzunehmen, hatte sie gewonnen.

„... wir werden das Zeug erst auf dem Rückweg scharf machen“, erklärte Matt dabei. „Schließlich wollen wir auch lebend raus aus dem Turm. Fragt sich bloß, wo das Herz ist. Der Turm ist riesig, die Suche danach könnte Stunden dauern.“

„Oben im Kristallsaal, sagt Levrier“, meinte Anya abwesend. „Auf der Spitze des Turms oder so.“

Matt rümpfte die Nase. „Hätte ich mir denken können. Wozu sonst so ein riesiger Turm? Beziehungsweise, warum ist er überhaupt so riesig?“

„Keine Ahnung.“

 

Nun hatten auch Valerie und Marc Anya bemerkten und traten mit Alastair im Schlepptau auf die anderen beiden zu.

„Du hast es also geschafft“, ergriff Valerie das Wort und sah Anya nachforschend an. „Tut mir leid, aber ich konnte meinen Vater nicht erreichen. Wie bist du entkommen?“

„Das würde mich auch brennend interessieren“, wunderte sich Matt. „Wir waren schon fleißig am Pläne schmieden, wie wir dich aus der Zelle holen sollen. Was ist denn überhaupt passiert, dass sie abgeführt wurde?“

„Ich habe gerade Alastair alles erzählt“, antwortete die Schwarzhaarige ihm, „Anya wurde von Polizisten abgeführt, weil irgendjemand sie wegen Brandstiftung angezeigt hat. Wir waren gerade dabei, ihn dazu zu überreden-“

„Tch, ist jetzt auch egal. Ich bin ja jetzt hier“, raunte Anya und verschränkte missmutig die Arme. Dabei fügte sie gallig hinzu: „Anders als Pennerkind und Anhang.“

„Keine Ahnung wo die sind.“ Marc zuckte mit den Schultern. „Bisher sind wir ihnen nicht über den Weg gelaufen. Ein Anruf bei Mrs. Masters hat auch nichts gebracht, Henry war nicht bei Abby daheim. Zu dumm, dass wir keine Handynummer haben.“

„Selbst wenn, den beiden wird sicher die 'Veränderung' in der Stadt aufgefallen sein“, merkte Matt sarkastisch an. „Wir sollten ihnen noch einen Moment Zeit geben. Sicher sind sie schon unterwegs.“

„Dann würde ich vorschlagen, dass wir den Sprengstoff auspacken und in den Rucksäcken verteilen, die ihr mitgebracht habt.“ Valerie sah herüber zu den Kisten und legte einen Zeigefinger an die Unterlippe. „Die Kisten mitzunehmen wäre unsinnig, die könnten wir gar nicht hoch schleppen. Gut, dass ihr daran gedacht habt.“

Anya schnaufte leise. „Fein, machen wir das.“

 

Alsbald waren die Fünf damit beschäftigt, die Kisten zu öffnen und Sprengsatz um Sprengsatz vorsichtig in die sieben schwarzen Rucksäcke zu packen. Matt hatte gesagt, dass sie alle per Fernzündung funktionierten, dennoch warnte er davor, behutsam mit den Ladungen umzugehen.

Anya hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Es waren metallische Apparaturen, bestehend aus zwei Röhren und einem Display, das mit Drähten mit den Röhren verbunden war. Im Moment waren sie abgeschaltet, aber man musste kein Genie sein, um zu wissen, wie man sie aktivierte.

Neugierig drehte Anya eine der Apparaturen in der Hand herum. Für einen Moment erwog sie, die Sprengsätze zu manipulieren, aber verwarf diesen Gedanken schnell. Dazu müsste sie auch die vornehmen, die Valerie neben ihr in die Rucksäcke packte. Entweder alle oder keinen. Und außerdem … aber es war idiotisch, in so etwas noch Hoffnungen zu stecken. Für sie gab es keine mehr!

„Tch“, zischte sie und stopfte das Gerät schließlich frustriert in den Rucksack.

„Bist du nervös?“, fragte Valerie besorgt, die ihre Arbeit für einen Moment einstellte. Im Hintergrund öffneten Marc und Alastair die nächste Kiste. Matt indes hatte sich dazu bereiterklärt, etwaige Schaulustige fortzujagen und auf Polizei und Feuerwehr zu achten, ehe die sie entdeckten.

„Mir geht’s bestens, Redfield. Was ist mit dir? Schon Bammel?“ Anya sah sie bewusst nicht an.

„Ich müsste lügen, wenn ich das verneinen würde … weißt du, wohin das Tor führt, das dort oben ist? Eden? Orion wollte es mir nicht verraten.“

„Da muss ich passen“, schnaufte Anya und griff in die Kiste vor ihnen, setzte die Arbeit fort. „Bis vorhin wusste ich nicht mal, dass ich zu einem verdammten Tor werden soll. Ich meine, ein beschissenes Tor! Stell dir das mal vor, Redfield!“

Mit der Faust schlug Anya mit voller Wucht auf den Rand der Kiste, knirschte mit den Zähnen. „Ein beschissenes Tor …“

„Anya, ich werde dir sagen, wohin das Tor führen wird. Wenn wir damit fertig sind: nirgendwo hin. Also schmoll nicht, weil du nicht als Teufel inkarniert wirst. … was das angeht, bist du auch so auf bestem Wege dahin.“ Valerie kicherte leise.

„Bist du jetzt fertig mit deinen billigen Aufheiterungsversuchen!?“, fauchte Anya gereizt und stopfte den nächsten Apparat in den Rucksack, der damit voll war.

 

Etwa zehn Minuten später waren sie mit den Vorbereitungen fertig, doch von Henry und Melinda fehlte weiterhin jegliche Spur.

Die Fünf hatten sich vor dem Eingang zum Turm im Kreis aufgestellt, mit den sieben Rucksäcken in ihrer Mitte.

„Verdammte Gaffer, man sollte meinen, die haben nichts Besseres zu tun, als mitten in der Nacht eine Sightseeingtour zu betreiben“, beklagte sich Matt wütend. „Wo ist die Polizei, wenn man sie einmal braucht?“

Anya grinste diebisch und fuhr mit der Hand unter ihren Pferdeschwanz. „Im Land der Träume, sponsored by Abigail Masters.“

Auf die neugierigen Fragen der anderen hin schwieg das Mädchen jedoch genüsslich.

„Was nun?“, fragte Marc, der in der Zwischenzeit seine blauweiße Footballjacke über Valeries Schultern gelegt hatte. „Die beiden sind immer noch nicht da. Vielleicht kommen sie am Ende gar nicht?“

„Würde mich nicht wundern“, murmelte Anya und verzog die Augen zu Schlitzen, „und genau deshalb gehen wir jetzt da rein.“

Valerie zeigte sich davon ziemlich überrascht. „W-was? Jetzt schon?“

„Klar, Redfield. Die werden schon kommen“, gab sich die Blondine zuversichtlich, „sie müssen kommen, wenn sie vor Isfanel ihre Ruhe haben wollen. Ist der Turm weg, hat der keinen Grund mehr, die Schnöselkinder zu nerven.“

Matt nickte knapp. „Denke ich auch. Sie werden wissen, dass es das Beste für sie ist. Bleibt nur die Frage, ob Henry …

„Matt“, ermahnte Alastair seinen Partner, da dieser Stillschweigen über Henrys Begegnung mit dem Sammlerdämon bewahren wollte.

„Stimmt. Er wird es rechtzeitig hierher schaffen.“

„So penetrant wie er ist, ja“, raunte Anya und verschränkte die Arme, „und er weiß, dass das Herz von Eden nur mit vereinter Kraft sichtbar wird. Anstatt auf seine Majestät zu warten, sollten wir schon reingehen und alles vorbereiten. Umso schneller sind wir wieder draußen.“

Valerie schloss die Augen und dachte kurz darüber nach. „Ja, das ist eine gute Idee. So können wir auch die Lage im Turm klären. Der bleibt nur bis Sonnenaufgang, jede Minute ist kostbar.“

„Dann ist es jetzt entschieden!“ Anya, die mit dem Rücken zu dem Eingangstor stand, wirbelte herum und trat einen Schritt darauf zu. „Gehen wir da rein und rocken die Bude!“

„Yeah!“, riefen Marc, Matt und Valerie im Einklang. Nur Alastair fiel mit einem „Hmpf!“ heraus.

 

Und während die Rucksäcke an den Mann gebracht wurden, überlegte Anya, ob es die richtige Entscheidung war, nicht länger zu warten. Wenn die Schnöselkinder tatsächlich nicht kommen wollten, würden sie es auch nicht tun. Egal wie lange man auf sie wartete, sagte sie sich. Zumindest sah es ganz danach aus, sonst wären sie längst hier. Warum das Unvermeidliche noch länger hinauszögern?

Sie würde ihr Glück mit dem versuchen müssen, was ihr zur Verfügung stand. Diese Vier da.

 

„Seid ihr bereit?“, fragte Anya schließlich mit geschultertem Rucksack, bewaffnet mit ihrer Duel Disk am Arm. Genau wie Valerie und Marc. Matt und Alastair hatten bestimmt auch ihre D-Pads mit dabei, nur für den Fall. Obwohl Anya nicht verstehen konnte, warum sie keine fetten Wummen mitgebracht hatten.

Dabei leckte sie sich über die Lippen. Die alle gegen sie? Klang regelrecht verlockend.

„Auf zum großen Finale!“, rief sie schließlich verheißungsvoll und trat gegen die Tür. „Kümmel, öffne dich!“

„Anya“, stöhnte Valerie in belehrendem Tonfall und klatschte sich die Hand an die Stirn, „es heißt 'Sesam öffne dich'.“

Marc war ebenfalls etwas verloren im Bezug auf Anyas Art, den Turm betreten zu wollen. „Ich glaube nicht, dass du so reinkommst.“

„Bah, scheiß drauf, geh einfach auf!“, fauchte Anya und trat wild auf die Tür ein, die sich keinen Millimeter rührte.

„Vielleicht-“

Doch ehe Matt seinen Gedanken vortragen konnte, begannen die Farben des Mosaiks allesamt grell zu leuchten. Die Fünf wurden geblendet von dem Licht und ehe Anya sich versah, steckte ihr Fuß plötzlich in einer wässrigen Oberfläche, zu welcher die Steine geworden waren, ohne dabei jedoch ihr Muster zu verlieren.

„Sag ich doch, das geht!“

Das gesagt, schritt das Mädchen mutig durch die Oberfläche und war kurzerhand verschwunden. Mit mulmigem Gefühl folgten die anderen ihr schließlich.

 

„Wow“, hallte Anyas Stimme schließlich vom Inneren des Turms, „so habe ich mir das nicht vorgestellt. Seltsamer Ort.“

Vor ihr erstreckte sich eine riesige Säule aus grellem, weißgoldenem Licht. Anya legte den Kopf in den Nacken, doch vermochte dadurch nicht, bis zu ihrem Ende hinauf zu sehen. Wie auch, wenn der Turm so verdammt hoch war!?

„Also kein Fahrstuhl für dich, Anya“, kommentierte Matt den Anblick, als er mit den anderen neben jener angekommen war. „Was ist das?“

„Eden?“, überlegte Valerie unsicher.

„Sieht eher aus wie eine Energiequelle oder so etwas“, mutmaßte Marc, der wie Alastair zwei Rucksäcke geschultert hatte und drehte sich um. Hinter ihm war das Tor wieder normal geworden, nicht mehr wie die Oberfläche eines Sees aus Farben. „Ich hoffe, wir kommen hier auch wieder raus.“

„Darüber machen wir uns später Gedanken! Ich glaube, wir müssen die da nehmen, wenn wir hoch wollen“, meinte Anya genervt und zeigte auf eine Treppe, die sich links von ihnen erstreckte. Sie lag direkt an der Innenwand des Turms und verlief wie eine Spirale immer weiter nach oben. Ein verschnörkeltes Geländer aus purem Gold sollte verhindern, dass man auf seinem Weg in die Tiefe fiel.

„Hört zu“, begann Matt schließlich damit, Anweisungen zu geben. Er trat neben Anya und zeigte auf die Treppen. „Wir werden die Sprengsätze regelmäßig an den Wänden anbringen, aber sparsam, der Weg nach oben ist lang. Scharf machen sollten wir sie aber erst auf dem Rückweg. Ich will nicht riskieren, dass sie gezündet werden, bevor der Letzte diesen verdammten Turm verlassen hat.“

Anya grinste zufrieden, denn das hieß: sie musste nur verhindern, dass es einen Rückweg gab. Was kein Problem werden würde. „Klingt gut, Chef.“
 

Schließlich begann die Gruppe damit, vorsichtig die Treppe zu betreten. Sie bot festen Halt, obschon sie nicht sonderlich breit war. Der schwarze Marmor, aus dem sie bestand, war sauber, als wäre noch nie zuvor jemand hier gewesen.

Anya, die die Gruppe anführte, ging ein wenig voraus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber außer der Treppe gab es nichts. Keine Stockwerke, wie sie anfangs vermutet hatte. Während die anderen damit beschäftigt waren, die Sprengsätze anzubringen, schritt Anya unermüdlich voran.

Es kam ihr wie Stunden vor, wie sie Stufe um Stufe nahm und doch nicht wusste, wann ein Ende in Sicht war. Jedoch bemerkte sie, dass die Distanz zwischen dieser gewaltigen Energiesäule und der Treppe langsam geringer wurde. Das grelle Licht der Säule sorgte dafür, dass ihr Schatten zu bedrohlicher Größe gewachsen war und sie wie eine geisterhafte Gestalt verfolgte.

Die Blondine überlegte, wozu dieses Ding wohl dienen mochte. Als Stützpfeiler? Oder tatsächlich als Energiequelle für Eden, wie Marc vermutete? Egal, sie würde es sicher herausfinden, ob sie wollte oder nicht.

„Anya“, hörte sie von weit unten Matt rufen, „geh nicht zu weit voraus, du weißt nicht, was dich dort erwartet.“

„Ja ja“, rümpfte die die Nase und beugte sich über das Geländer. Doch die anderen befanden sich hinter der Säule, sodass sie nicht sagen konnte, wie viel Vorsprung sie schon hatte. „Wie sieht es aus?“

„Den ersten Abschnitt haben wir jetzt abgedeckt. Fragt sich nur, wie viel noch folgen …“

 

Und so ging das Spiel weiter. Mit der Zeit fing auch Anya an, ihren Rucksack zu leeren. Je höher sie kamen, desto mehr zehrte der Turm an ihren Kräften. Allmählich geschah sogar, was Matt ursprünglich vermeiden wollte: der Sprengstoff wurde knapp. Irgendwann hielt Anya plötzlich inne.

„Die Decke! Ich kann sie sehen!“

„Ernsthaft?“, hallte Valeries Stimme zu ihr hinauf. „Endlich!“

Die Energiesäule verschwand einfach in einer pechschwarzen Wand. Die letzten Sprengsätze, die sie noch hatte, sparsam verteilend, eilte Anya die Stufen hinauf und gelangte schließlich an einer Falltür an, die das Ende der Treppe darstellte. Wie das Eingangstor, war auch sie aus bunten Mosaikteilen gemacht und ähnelte im Endeffekt mehr einer Glasscheibe.

Anya starrte sie unruhig an.

„Sieht aus, als wären wir endlich oben.“

Erschrocken wirbelte die junge Frau herum, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Mach dir keine Sorgen, alles wird gut“, versuchte Marc sie aufzumuntern.

„J-ja.“

In diesem Moment erkannte Anya, dass sie ihm wohl noch nie so nahe gewesen war. Sie konnte die feinen Stoppeln um sein Gesicht sehen, er war nicht rasiert. Unter den Augen lagen dunkle Schatten, doch er lächelte aufrichtig.

Und es berührte Anya nicht. Sein Anblick machte ihr nichts mehr aus. Umso besser.
 

Sich von ihm abwendend, wartete sie auf die anderen, ehe letztlich alle vor der Scheibe angelangt waren.

„Auf ins Gefecht“, meinte sie kämpferisch und schritt einfach durch das Mosaik hindurch, das wie schon zuvor am Eingang bei Kontakt eine flüssige Form annahm. Die anderen folgten ihr.

Und begannen zu staunen, als sie letztlich in dem Raum angekommen waren, den Levrier vor einiger Zeit Kristallsaal genannt hatte.
 

Denn das war er auch. Atemberaubend schön. Schlicht. Aber schön.

Er war von beeindruckender Größe, angelegt als Kuppel. Dies war die Spitze des Turms. Der Boden bestand aus einem blau-silbernen, von innen leuchtenden Material, wie der Rest des Raumes. In ihm spiegelten sich die Reflexionen der Gruppe, die sich sprachlos im Saal verteilten.

Hin und wieder ragten spitze Kristalle aus dem Boden, der Wand oder der Decke. Doch eine Einrichtung gab es nicht. Wenn man den prächtigen Thron außen vor ließ, der, ebenfalls ganz aus Kristall, am anderen Ende des Raums auf einem Treppenansatz zu finden war.
 

Anya schritt, von einem Impuls geleitet, auf ihn zu. Angekommen, streckte sie zögerlich die Hand aus. Sie betrachtete ihn nachdenklich, fuhr letztlich mit den Fingerspitzen über eine der Lehnen. Eiskalt. Sie zog erschrocken die Hand weg.

„Könnt ihr das hören?“, fragte Valerie plötzlich.

Marc, der neben ihr sein Spiegelbild an der Wand betrachtete, nickte. „Ja! Sind das Glocken?“

„Ist es das erste Mal, dass ihr sie hört?“, fragte Anya und drehte sich den anderen zu.

„Ja, ich glaube schon.“ Matt legte seinen Rucksack ab. „Scheint, als ob der Glöckner von Notre-Dame selbst um diese Uhrzeit Dienst hat. Aber egal. Hat noch jemand von euch etwas Zeug?“

Zur Verdeutlichung nickte er auf den Rucksack.

„Leider nicht“, antwortete Valerie und bekam von Marc und Alastair Zustimmung.

„Ich“, meldete sich Anya.

„Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir das restliche Zeug hier verteilen.“
 

Es platzte einfach aus ihr raus, denn noch länger hätte sie es nicht für sich behalten können. „Sorry, aber das geht nicht.“

Verdutzt von Anyas Antwort blinzelte Matt irritiert. „Was spricht dagegen?“

„Ich.“ Mit kaltem Blick sah Anya auf den Dämonenjäger hinab. „Planänderung: hier ist Endstation!“

„Ich wusste es!“, brüllte Alastair plötzlich, als ihm die Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde. „Ich wusste, du würdest uns verraten! Das war eine Falle!“

„Anya, du-!?“ Valerie weitete die Augen. „Nach allem, was-! D-das muss ein Irrtum sein!“

„Das meinst du doch nicht ernst!“, widersprach auch Marc erschrocken. „Wir sind ein Team! Wir wollen dir doch helfen! Für solche Scherze ist jetzt keine Zeit!“

„Ich mache keine Witze, Butcher. Es gibt kein Entkommen mehr für euch.“ Das Mädchen erhob den Arm und deutete mit dem Finger herüber zu der Stelle, in der das Mosaik eingelassen war. Nur, dass ein solches dort gar nicht zu finden war. „Dieser Raum kann nur betreten, aber nicht wieder verlassen werden. Levrier hat mir mal ein wenig darüber erzählt. Von dem, was passiert ist, als er das letzte Mal hier war.“

Matt fiel fassungslos auf die Knie. „Du hast uns … die ganze Zeit …?“

„Was hätte ich tun sollen?“ Anya wandte traurig den Blick ab und legte ihre Hand wieder auf die Lehne. Die Kälte beruhigte sie, ihren immer wilder werdenden Herzschlag. Es war ihr einfach herausgerutscht, die Wahrheit. Als wolle sie endlich an die Oberfläche treten. „Es ist … nicht so, dass ich wollte, das das hier passiert. Aber es gab nie Hoffnung für mich. Und als ich gesehen habe, wie es ist, eingesperrt zu sein in einer Welt voller Leere – in der Lampe des Jinns – da konnte ich nicht anders.“

Valerie presste ihre Lippen aufeinander, ehe sie ihre Stimme erhob. „Ich habe an dich geglaubt! Ich dachte, du wärst anders, hättest dich geändert! Du … ich-!“

„Halt die Klappe, Redfield“, meinte die Blondine tonlos. „Ich bin jetzt Eden, nicht mehr eure … Freundin. Hass mich, so viel du willst.“

„Wir müssen hier raus!“, geriet Valerie langsam in Panik und suchte den Saal nach einer Fluchtmöglichkeit ab. „Wir müssen Henry warnen, damit er nicht-!“

Matt schrie regelrecht vor Wut und Enttäuschung. „Wie denn!? Er hat keine Ahnung-!“

 

„Nicht nötig.“

Die Fünf schauten überrascht auf, drehten sich zur Quelle der wohlbekannten Stimme.

Als Matt aus den Augenwinkeln erkannte, wer da im Begriff war, den Kristallsaal durch die von Innen nicht sichtbare Öffnung zu betreten, schrie er: „Nicht! Verschwinde, das ist eine Falle!“

Doch Henry, der über seinem weißen Hemd einen hellbraunen Trenchcoat trug, nahm unbeirrt die letzten Stufen, dicht gefolgt von Melinda. „Ich weiß. Deswegen bin ich gekommen, um euch hier rauszuholen. Dankt mir später.“

Anya weitete überrascht die Augen beim Anblick der beiden. „Du willst was!? V-vergiss es, Kumpel, aber hier ist Schluss!“

Damit waren endlich alle hier versammelt! Anyas Herz machte einen Hüpfer vor Glück. Das ging ja viel schneller als erwartet! Also stand das Pennerkind doch zu seinem Wort!

Nun blieb nur noch das Ritual …

Seelenruhig schlenderte Henry jedoch über den glatten Kristallboden und fixierte sich auf Anya. „Was du nicht sagst?“

„Tch, vergiss es! Ihr seid jetzt hier mit mir gefangen!“ Sie breitete weit die Arme aus. „Der Kristallsaal lässt keines seiner Opfer gehen! Das hat Levrier gesagt! Und der war schon mal hier drin!“

„Soll ich dir mal was sagen?“ Der brünette, blauäugige junge Mann stellte sich vor Matt und griff in die Tasche seines Trenchcoats. „Dein Auftritt war langweilig. Jemand so Verdorbenem wie dir hätte ich mehr Geschmack in Punkto Performance zugetraut. Aber du stellst dich einfach vor sie und sagst ihnen, was sie ohnehin längst wussten. Wobei ich mich schon frage, wie blind man sein muss, um eine so offensichtliche Wahrheit dennoch zu verdrängen.“

„W-wir wurden“, stammelte Valerie, die das so nicht stehen lassen wollte, senkte dann aber den Kopf. „Nein, du hast recht. Ich … wollte nur das Gute in ihr sehen. Mehr … nicht.“

„Tch!“, zischte Anya daraufhin. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Wie begann man dieses verflixte Ritual!?

Henry zückte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und entzündete eine Flamme damit. „Aber lass mich dir etwas sagen, Anya. Du wirst in deinem letzten Moment allein sein. Du wirst hier alleine sterben.“

 

Mit einem Schwenk ließ er einen ganzen Flammenwall aus dem Feuerzeug frei, welcher neben Matt mitten in der Luft zum Stehen kam. Plötzlich formte sich daraus eine schlichte Holztür, die nun im Saal stand.

„Das ist unser Weg hinaus“, erklärte Henry dazu. „Den ich mit meinem Blut erkauft habe.“

„Lass uns gehen“, meinte die blasse und mitgenommen wirkende Melinda niedergeschlagen, drehte sich zu den anderen um. „Mit dieser Tür können wir den Turm verlassen. Macht euch keine Sorgen.“

„Nein!“, schrie Anya und machte einen Satz vorwärts. „Ihr könnt nicht-!“

Doch die anderen versammelten sich mit finsteren Gesichtsausdrücken hinter Henry, was Anya derart erschreckte, dass sie in ihrer Bewegung regelrecht einfror.

„Ich kann nicht glauben, dass du uns verraten hast“, sprach Matt leise und senkte den Blick, als er sich erhob, „ehrlich gesagt kann ich gar nicht glauben, was hier gerade abgeht. Aber … du hast mich wirklich enttäuscht, Anya.“

Valerie schluckte und trat neben ihn. „Du hast uns einfach ausgenutzt. Du wolltest uns opfern …“

„Und ich habe an dich geglaubt“, meinte Marc und legte seine Hände auf die Schultern seiner Verlobten. Seine Finger verkrampften sich förmlich in der blauweißen Jacke. „Hätte ich das gewusst, hätte ich dich damals nicht-“

„Dafür wirst du in der Hölle schmoren“, gab sich letztlich auch Alastair kalt und spuckte auf den Boden. „Schlangenzunge.“

„N-nein!“, schrie Anya und streckte den Arm aus. „Ihr könnt nicht gehen! Levrier, tu etwas! Gib mir Kraft, halt sie auf!“

„Levrier wird nicht kommen“, erstickte Henry ihre Hoffnungen jedoch im Keim. Die Hand des Mädchens senkte sich. „Er wird nie wieder kommen. Du bist jetzt Levrier, Anya.“
 

Sie sank auf die Knie.

„Der Gründer und du, ihr seid jetzt eins. Aber seine Kräfte wirst du dadurch nicht erlangen“, meinte Henry, ehe er ihr den Rücken zuwendete. „Das ist der Preis der Unsterblichkeit – so hat es zumindest ein gewisser Dämon, den du selbst schon getroffen hast, ausgedrückt. Ich kapiere es selbst nicht so ganz, aber du bist jetzt machtlos, Anya. Dein Plan ist nicht aufgegangen. Leb' damit. Oder auch nicht.“

Tränen rannen über die Wangen der Blondine, als sie zitternd eine Hand nach den anderen ausstreckte. „B-bitte! I-ihr dürft nicht gehen!“

„Und warum?“, fragte Henry schneidend.

„In meiner Situation hättet ihr dasselbe getan!“, verteidigte sich Anya verzweifelt. „Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte!“

„Wirklich?“ Matt schloss die Augen. „Das sehe ich aber anders. Verdammt, Anya! Ist dir nicht klar, was du hier tun wolltest!?“

„Vergleiche uns nicht mit dir!“, schrie Valerie wütend.

Anya biss sich auf die Lippen, als die Tränen nur so aus ihr herausquollen. „N-nein! Bitte! Ich- Ich-!“

„Was!?“, wurde nun auch Henry laut. „Was!? Was willst du!?“

„Ich will leben!“

 

Doch die Hand von Henry lag bereits auf der Klinke der Tür, die sich vor ihm mitten im Saal erstreckte. „Pech für dich: wir auch.“

Bevor er jedoch daran ziehen konnte, hielt Matt sein Handgelenk fest.

„Was ist?“

„Wie können sie hier nicht einfach alleine lassen …“

„Du machst wohl Witze!?“, schrie Valerie auf. „Sie-!“

Matt ließ den Kopf hängen und sah dabei herüber zu dem Mädchen, das wie ein Häufchen Elend vor dem Thron lag. „Sie hat recht. Was hätten wir an ihrer Stelle getan? Es ist so leicht, auf andere herabzusehen, sie für ihre Taten zu verurteilen. Aber nur, weil wir nicht diejenigen sind, die diese Entscheidungen treffen mussten.“
 

Er wusste, wie es war, als Täter behandelt zu werden. Selbst wenn er damit nur seine Schwester deckte, wusste er, wie sich die Verachtung anderer anfühlte. Und obwohl sein Fall mit Anyas nicht zu vergleichen war, wollte er es nicht dabei belassen.

Sie mussten doch wenigstens versuchen, eine andere Lösung zu finden! Das hatten sie die ganze Zeit, warum nicht jetzt!?

 

„Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst“, beklagte sich Henry und riss sich von dem Dämonenjäger los. „Heißt das, du bist trotz allem auf ihrer Seite!? Obwohl sie dich tot sehen wollte!?“

„Sie hat uns Freunde genannt …“ Matt straffte sich nun und sah Henry erhobenen Hauptes an. „Und Freunden hilft man, selbst wenn sie Scheiße gebaut haben!“

Marc sah das anders. „Aber ein Freund würde nie so etwas tun! Sie ist nicht unsere Freundin-!“

„Weil wir ihr nie eine Chance gegeben haben“, meinte Valerie bedrückt und sah ebenfalls zu Anya herüber. „Sie ist das Produkt unserer Fehler. Hätten wir besser auf sie Acht gegeben, wäre es nie hierzu gekommen. I-ich … kann nicht sagen, dass … ich ihr deshalb verzeihe. Aber … ein guter Mensch … hilft anderen in Not doch, oder?“

Dabei dachte sie an Joan und ihren letzten Wunsch. Sicher hätte jene Anya in dieser Situation beigestanden.

„Aber wie!? Wie sollen wir ihr helfen!?“, klagte Henry, der nicht mit Widerspruch gerechnet hatte und fuchtelte wild mit den Händen. „Ihr seid doch verrückt! Ich reiße mir den Arsch für euch auf und ihr-!“

„Henry, hör ihnen wenigstens zu“, bat Melinda neben ihm.

„Nein! Ich will das nicht verstehen! Wie stellt ihr euch das vor!? Sollen wir einfach an Gottes Tür klopfen und ihn um einen Gefallen bitten!? Pah!“

Matt legte die Hand an die Stirn. Er hatte tierisch Kopfschmerzen. „Wir könnten mit dem Plan weitermachen? Den Turm-“
 

„Nein …“

Die anderen drehten sich überrascht um, als sie Anyas Stimme vernahmen. Die hatte sich aufgerafft und torkelte rückwärts auf den Thron zu.

„Vergisst es. Das mit dem Herz von Eden ist alles nur erfunden …“

Das Mädchen legte ihre Hand über das Gesicht und stöhnte.

„Es ist vorbei. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Nicht für mich und nicht für euch. Hört auf, euch einzureden, dass ihr mich retten wollt! Ihr hasst mich! Also verschwindet!“

Matt stammelte überrascht: „Anya!? Wieso-!?“

Das Mädchen ließ sich auf den Thron fallen. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. In ihm stand aufrichtige Reue geschrieben.

„Tut mir leid, dass ich euch hier hineingezogen habe. Ich hätte es besser wissen müssen. Geht, solange ihr noch könnt. Ich dachte, ich kann das durchziehen, aber …“ Sie nahm die Hand von ihrem Gesicht und grinste frech. „... ich bin halt die geborene Versagerin. Ich kann … meine Freunde nicht opfern. Ich weiß ja nicht mal -wie- das funktionieren soll. Tch, einfach lächerlich …“

„Was sagst du da!?“ Matt trat ein paar Schritte vor. „Eben erst-!? Ich versteh das nicht!“

„Geht endlich, ihr Idioten!“, schrie das Mädchen, deren Stimme durch den Kristallsaal hallte. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Also war es in ihrem Fall Endstation Limbus. Anya versuchte sich damit zu trösten, dass niemand wusste, wie der Limbus wirklich aussah, wenn nie jemand daraus zurückgekehrt war. Vielleicht … gab es ihn gar nicht?

Aber sie hatte Angst. Fürchterliche Angst davor, allein zu sein. Aber lieber im Limbus ohne Schuldgefühle, als mit Blut an ihren Händen zu Eden zu werden. Denn letztlich … entschied immer noch sie, zu was sie wurde und zu was nicht! Sie, Anya Bauer!

„Haut ab, bevor es euch kriegt! Macht endlich, bevor ich es mir anders überlege! Ihr könnt mich nicht retten, also rettet euch wenigstens selber, ihr gehirnamputierten Dummschwätzer!“

 

Ihre Stimme ging jedoch unter dem plötzlichen Dröhnen von Glockenklang unter. Alle Anwesenden legten sich vor Schmerz die Hände auf die Ohren, selbst Anya. Sie alle pressten die Lider zusammen, als würde das den Effekt lindern, was es jedoch nicht tat.

Einer nach dem anderen begann zu schreien, denn der Lärm trieb sie regelrecht in den Wahnsinn.

Wie Fliegen fielen sie um. Erst Valerie, dann Marc, gefolgt von Melinda, Alastair und Henry.

„Was ist das!?“, ächzte Matt, der die Augen öffnete und erschrak. In ihnen spiegelte sich pures, goldenes Licht wieder.

Anya saß schlaff auf dem Stuhl, so als würde sie nur schlafen. Der Kopf angelehnt an die Schulter, die Hände auf den Lehnen. Doch hinter ihr, hinter ihr war-!

Bevor Matt begreifen konnte, was er sah, kippte auch er um und ging im endlosen Nichts verloren.

Unter dem Klang zerbarst sogar die Tür, die Henrys Feuerzeug geschaffen hatte. Die Holzsplitter schossen über die regungslosen Körper hinweg und lösten sich in kleinen Flammen auf.
 

Und da lagen sie, sieben Menschen im Kristallsaal des Turms von Neo Babylon, als das Glockengeläute endlich verstummte. An seiner Statt war ein neues, viel leiseres, regelmäßig erklingendes Geräusch getreten, wie eine tickende Uhr, doch viel ruckartiger und tiefer.

„Urgh“, erklang schließlich eine Stimme, schleifende Geräusche vermengten sich mit dem unheilvollen Ticken. Ein Schatten erhob sich inmitten der Bewusstlosen. „Hah …“

Der Umriss eines Fußes sauste auf das Feuerzeug herab, das neben Henry lag. Ein lauter Knall verkündete, dass jenes nicht länger funktionieren würde.

„Eden … endlich bist du hier …“

 

 

Turn 32 – Puppetmaster

Das Tor Edens steht kurz davor, geöffnet zu werden. Ein letzter Hoffnungsschimmer verbindet die Gefangenen des Turmes miteinander. Ein Schuss. Zwei Feinde verbünden sich widerwillig, um sich ihren Widersachern in den Weg zu stellen. Und der teuflische Plan kommt endlich ans Licht …

 

Turn 32 - Puppetmaster

Turn 32 – Puppetmaster

 

 

Eine kalte, grausame Lache hallte höhnisch durch den Kristallsaal. Von den Bewusstlosen hatte diese eine Person sich letztlich erhoben und straffte den roten Mantel.

Das süffisante Grinsen auf Alastairs vernarbten Gesicht war jedem Zweifel erhaben. Er hatte erreicht, wonach er so lange gestrebt hatte. Den Fuß von dem Feuerzeug nehmend, das neben Henrys regungsloser Hand lag, grinste triumphal. Das Geschenk des Sammlers löste sich in einer Flamme auf.

Ein neckischer Trick, um den Fängen des Turms zu entkommen. Vergebliche Liebesmüh, damit hatte er gerechnet.
 

Er, Refiel. Nein, er war nicht Refiel. Nie gewesen. Diese Identität konnte er jetzt endlich abstreichen wie eine Haut, die nicht länger benötigt wurde.

Dieser Narr Alastair, er war all die Jahre über so leicht zu kontrollieren gewesen. So sehr er sich in seinem Elysion auch zu wehren versuchte, er war durch die Einwirkung Edens stillgelegt. Für immer. Genau wie die anderen, die in ihrer letzten Zuflucht gefangen waren.

 

Das Wesen, das sich Alastair bemächtigte, schritt durch die Reihen der Bewusstlosen. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit.

Die Gründerin, Valerie Redfield, Marc Butcher, Melinda Ford, der Freund seines Gefäßes und schließlich jenes selbst. Fünf Opfer. Nein, sogar eins mehr, wenn man Henry Ford noch hinzu zog. Es konnte schließlich nie schaden, eine Notreserve zu haben, falls einer absprang.

Wie hatte Anya Bauer es geschafft, sie trotz ihrer feindseligen Art um sich im Turm zu versammeln? Ihm erschien es wie ein Wunder. Aber es war Realität. Mehr brauchte er nicht zu wissen.

 

Er trat seelenruhig an das Mädchen heran, das auf dem Thron saß und wirkte, als wäre es einfach nur eingenickt. In Alastairs Augen spiegelte sich das goldene Licht, das über dem Thron hervor trat, doch er konzentrierte sich ganz auf die Gründerin.

Vor ihr angelangt, griff er sie am Kinn und bewegte ihren Kopf zur Seite, um sie genauer zu betrachten.

„Levrier ist fast fort. Nicht mehr lange und er hat seinen Zweck erfüllt“, murmelte er zufrieden.

Den Zweck, den er einst für Levrier bestimmt hatte. Für einen Abkömmling Isfanels war dieses Exemplar ziemlich langlebig, das musste er den beiden zugestehen. Nicht so wie seine eigenen.

Schließlich ließ er von Anya Bauer ab und sah nun hinauf.

Da war es. Das Tor Eden. Das, wonach er seit Jahrhunderten gesucht, das, was sein ganzes Leben bestimmt hatte.
 

Kreisrund war es, schwebte mitten in der Luft über dem Thron. Von schlichter Eleganz, ragten an den Rändern der kristallisch-silbernen Oberfläche spitze Dornen heraus, die dem Gebilde eine besondere Form gaben. Fast wie eine Sonne. Aber jene war noch nicht aufgegangen. Das Innere des Tors war durch dicke Schichten jenes Kristalls ähnlich Blüttenblättern verdeckt, doch Alastair konnte durch jene hindurch bunte Lichter erkennen.

Die Spitzen des Tores strahlten zudem elektrische Schläge aus, die es wie ein Netz in der Luft hielten, denn jene Strahlen waren mit den Kristallstalaktiten und -stalagmiten verbunden, die sich im näheren Umfeld des Throns befanden.

„Ein wundervoller Anblick“, schwärmte er. „All die Arbeit-!“

 

Ein leises, schleifendes Geräusch ließ den besessenen Alastair herumwirbeln. Allerdings bewegte sich keines der Opfer auch nur im Geringsten. Wie könnten sie auch, Edens Präsenz hatte sie in ihren Elysien versiegelt. Diese Menschen würden nie wieder erwachen.

Der besessene Alastair wandte sich wieder dem Tor zu, als eine Hand auf ihn zuschoss und am Hals packte. Mit einem Ruck war Anya aufgesprungen, lehnte sich mit der Seite an den Körper des Hünen und sah ihn von unten herauf mit einem unwirklichen, manischen Blick an.

„Sieh an, sieh an“, gurrte sie heimtückisch, „scheint, als wäre ich nicht die Einzige, die ihr eigenes Ding dreht, Narbenfresse … oder wer immer du wirklich bist.“

Der Mann stellte tonlos fest: „Du bist wach?“

„Hör mal, Buddy“, erwiderte sie versöhnlich und ließ zugunsten des Nackens von seinem Hals ab, während ihren Kopf auf seine Brust legte, „keine Ahnung, was zum Teufel du hier treibst, aber die da“, sprachs und zeigte mit dem Zeigefinger der freien Hand auf die anderen, „sind nicht dein Spielzeug, klar? Also verpiss' dich!“

Das gesagt, riss sie am Nacken seinen Kopf herab und rammte gleichzeitig ihr Knie in seinen Unterleib, schubste ihn anschließend von sich weg und begann zu rennen.

 

„Aufwachen ihr Idioten, es gibt Ärger im Nimmerland!“, schrie sie dabei, während sie ihn hinter sich zurückließ und auf die Gruppe der Bewusstlosen zusteuerte. „Scheinbar hat der Engel die Seiten gewechselt!“

Das Mädchen stellte mit einem Blick über die Schulter überrascht fest, dass Refiel ihr nicht zu folgen schien, sondern ihr stattdessen nur nachdenklich hinterher sah.

Vor Matt ließ Anya sich auf die Knie fallen, rutschte über den glatten Kristallboden und packte den Dämonenjäger an den Schultern. Ihn heftig schüttelnd, rief sie: „Nun mach die Augen auf, Mistkerl!“

„Er wird nicht erwachen“, hallte Alastairs Stimme durch den Saal.

Anya drehte den Kopf zu ihm und pfiff abfällig durch die Zähne. „Das hast du von mir aber auch gedacht, nicht wahr? Was soll dieser Mist überhaupt!? Was-!“

Erst jetzt fiel Anyas Blick auf das Tor Eden, das in all seiner Pracht über dem Thron hing und goldenes Licht ausstrahlte. Ihre Kinnlade klappte herunter und ließ sie die Dinge vergessen, die sie sagen wollte.
 

„Mist? Warst es nicht du, die das Ritual starten wollte? Denn es hat begonnen, jenes Ritual. Ich habe gar nichts getan. Ganz allein du, Anya Bauer.“

Zwar bekam sie am Rande mit, was Refiel sagte, doch Anya hatte nur noch Augen für Eden. Das war es? Zu dem Ding sollte sie werden? Aber Moment! Sie existierte noch! Dann-!

„Du fragst dich jetzt, warum Eden hier ist, du aber noch lebst?“ Alastair ging zum Thron und ließ sich mit einem erschöpften Stöhnen darauf niedersinken. „Gemach. Es dauert ein wenig, bis das Ritual beendet ist. Obwohl ich zugeben muss, nicht damit gerechnet zu haben, dass du dabei wach sein würdest.“

„Du wolltest das die ganze Zeit, huh!? Dich bei Gott einschleimen, oder was?“ Anya wandte sich wieder Matt zu und rüttelte heftig an ihm, verpasste ihm sogar Ohrfeigen – mit der Faust.

„Aufwachen! Aufwachen! Aufwachen!“

„Natürlich wollte ich das. Aber nur um meinetwillen.“ Der vermeintliche Refiel sah herauf zum Tor über ihm. „Es ist wunderschön. Sobald es offen ist, wird meine Mission endlich erfüllt sein. Nach so langer Zeit.“

„Keine Ahnung, was du da fasel- Urgh!“

Anya keuchte auf und fasste sich an die Brust, die plötzlich heftig zu Schmerzen begann. Matt vor ihr verschwamm, ihre Kräfte ließen nach, sie sackte zusammen und landete auf ihm.

„Wehre dich nicht, Anya Bauer. Du bist die Gründerin, der Eckstein. Dachtest du, du würdest nicht absorbiert werden? Ich muss dich enttäuschen, dieses Schicksal wird euch allein zuteil werden. Selbst meinem Gefäß.“ Er lachte amüsiert. „Außerdem … ist das nicht auch, was du wolltest? Auch wenn du sie ohnehin nicht aufwecken könntest, musst du es auch nicht. Sie können dich nicht mehr daran hindern, eins mit Eden zu werden. Der Limbus, du musst ihn nicht mehr fürchten.“
 

Mit aller ihr noch zur Verfügung stehenden Kraft versuchte Anya sich zu erheben, stützte sich mit den Händen von Matts Brust ab. Der atmete zwar noch, aber das war auch das einzige Lebenszeichen, das er von sich gab. Jedoch gelang Anya der Versuch nicht, sie knickte wieder ein und konnte nur aus einem halb geöffneten Auge Alastair ansehen, wie er da auf dem Thron saß und die Szene zu genießen schien.

„Ich will aber nicht mehr Eden werden“, presste Anya hervor und grinste bösartig, „nicht, wenn so'n Trottel wie du was davon hat.“

„Oh? Das hat mich jetzt aber sehr getroffen“, erwiderte der Mann spitz und seufzte, woraufhin er in fast kindlich beleidigter Manier weitersprach, „du solltest mir dankbar sein, dummes Ding. Ich hab dir geholfen die Opfer zu versammeln. Meine Güte, dir kann man es aber auch nie recht machen!“

„Wenn ich zwischen denen und dir wählen muss, sind mir Redfield und der Rest deutlich lieber, Mistmade!“

„Hmm, scheinbar wirkt sich Eden schon auf deine Ausdrucksweise aus. Ich möchte wetten, dass du im Normalzustand viel fiesere … und vor allem kreativere Dinge von dir gibst.“ Er lachte hysterisch, was bei Alastairs tiefer Stimme regelrecht absurd klang. „Ist ja auch egal. Ich hab gewonnen, nicht du. Also kuschel dich an die Brust deines Ritters, solange du noch kannst. Vielleicht willst du ihm ja einen letzten Kuss stehlen? Nur zu, ich mag solche Momente! Haaaah, die Jugend …“

„Niemals!“, hallte es da durch den Saal – von zwei Stimmen.
 

Ehe Anya sich versah, wurde sie von Matts Brust geschleudert, als der sich ruckartig aufrichtete und perplex ins Leere starrte. Er stöhnte und fasste sich an die Stirn. „Verdammt, was war das für ein Albtraum. Erst dreht Alastair durch und dann soll ich Anya küssen? Haha! Ich bin doch nicht lebensmü- … de.“

Als Matt mit seltsam schmerzenden Backen jedoch Alastair auf dem Thron und über ihm Eden erblickte, traf ihn die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Serviert von Anya Bauers Faust. Nie war Wahrheit so voller Substanz gewesen.

„Ow!“, schrie er und hielt sich die Wange.

„Bin ich dir etwa nicht gut genug!?“, fauchte Anya und blinzelte anschließend verdutzt. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf allen Vieren vor Matt verharrte und wieder bei Kräften war.

 

Gleichzeitig ging noch mehr Gestöhne durch den Kristallsaal. Auch Marc richtete sich mit schüttelndem Kopf auf, neben ihm Valerie, etwas weiter weg auch Melinda und Henry. Letzterer war es auch, der als Erster das Wort ergriff. Auf dem Hintern sitzend, sah er seine Hand an, die er vor sich ausstreckte und welche zitterte wie Espenlaub. „Er hat sein Wort gehalten … der Zauber wirkt!“

Hastig griff Henry in die Brusttasche seines Trenchcoats und zog daraus drei Karten hervor, die Xyz-Monster [Lavalval Chain], [Daigusto Emeral] und ein weiteres, was von den anderen beiden verdeckt wurde. Von allen dreien gingen bunte Lichter aus.

„Welcher Zauber!?“, schoss es aus Anya heraus. „Diese Karten da!? Was geht hier überhaupt ab!? Ich glaube, ich verliere langsam den Überblick! Klär mich auf, Schnöselkind!“

„Dir muss ich nichts erklären!“, erwiderte Henry bockig und steckte die Karten wieder weg.

 

Er wusste, dass sie nicht ewig halten würden. Auch sie hatte er sich unter hohem Preis erkauft, um sich der hypnotischen Kraft Edens zu entziehen. Dabei hatte er diverse Kompromisse eingehen müssen, darunter auch, dass Anya ebenfalls betroffen war. Denn sie war die Schnittstelle zwischen ihm und den anderen Zeugen, ohne sie miteinzubeziehen wirkte der Zauber nicht – daher die symbolische Verschmelzung ihrer Gem-Knights mit seinen Gustos, war er schließlich das Medium für den Zauber. [Daigusto Emeral], der vogelhafte Ritter, war die entsprechende Verkörperung des Zaubers.

Ähnlich verhielt es sich auch zwischen den anderen beiden Karten. Marcs und Valeries Verbindung war [Lavalval Chain]. Jene hatte er nicht bezahlen müssen, da diese Karte bereits entstanden war, als Valerie ihren Wunsch vor dem Sammlerdämon vorgetragen hatte. Sie war die Kette, die die drei einzelnen Zauber zu einem verband.

Die letzte Karte war dementsprechend dazu gedacht, Matt und Alastair zu beschützen. Sie war die Quelle der Kraft für den Zauber.

Zwar verstand Henry nur bedingt, wie diese Karten wirkten, aber der Sammler hatte ihm immer wieder gesagt, nicht zu viel Zeit im Turm zu verbringen. Lange würde die Magie also nicht halten.

 

„Oh? Noch ein Gimmick des Sammlers?“ Der schwarzhaarige Mann auf dem Thron schmunzelte amüsiert und warf den langen Pferdeschwanz von seiner Brust über die Schulter. „Meine Güte, hast du ihm etwa deine Organe verkauft, um so ein Arsenal an Taschenspielertricks zu erhalten?“

Henry, der sich stöhnend die Stirn hielt, sah herüber zu Alastair und weitete die Augen. „Wieso-! Wieso bist ausgerechnet du-!?“

„Dachtest du, Anya Bauer wäre die Einzige, die an Eden Interesse hat? Mitnichten.“

 

Ehe Henry etwas darauf erwidern konnte, stieß er einen schmerzhaften Schrei aus und hielt sich die Brust. Er musste genau hinsehen, um einen hauchdünnen Faden aus blauem Licht zu erkennen, der in seiner Brust verschwand.

„W-was ist das!?“

Er verfolgte den Strang zum Ursprung, was jedoch angesichts des grellen Lichts des Tores letztlich unmöglich war. Aber auch so gab es keinen Zweifel, woher der Faden kam. Und nicht nur er war betroffen, auch die anderen bemerkten den Fremdkörper, der direkt in ihren Herzen zu verschwinden schien. Alle außer Anya.

Was jene dennoch nicht davon abhielt, die anderen auf das Offensichtliche aufmerksam zu machen. „Heiliger Kackmist von Scheißhaufen, was ist das schon wieder!?“

„Das, was euch mit Eden verbindet und eigentlich dafür sorgen sollte, dass ihr wie kleine Lämmer schlaft“, antwortete ihr Alastair und gluckste. „Aber der Zauber eures Freundes hat die Wirkung etwas … hinausgezögert. Aber es dauert nicht lange, dann werdet ihr von Eden absorbiert werden.“

„Das lass ich nicht zu!“, donnerte Matt aufgebracht. „Wir sind hier, um Eden zu zerstören! Wer bist du und was hast du mit Alastair gemacht!?“

„Und warum bin ich die Einzige, die nicht an so'nem komischen Faden hängt!?“, stimmte Anya mit ein und fügte kleinlaut hinzu: „Nicht, dass ich mich beschwere oder so!“

„Ihr seid wirklich nicht die hellsten Löffelchen in der Besteckschublade, oder? Du lieber Himmel, dagegen war dieser Nick Harper ein echtes Genie“, spottete Alastair jedoch nur, „und vor allem war er willensstärker als ihr, der hat sich schließlich keinen Pakt aufdonnern lassen, lieber Matt Summers. Wer würde euch schon ernst nehmen? Für mich gibt es keinen Grund mehr, noch Angst zu haben. Vor euch.“

Er spuckte dabei voller Verachtung aus.
 

„D-diese Art zu reden“, schnappte Matt plötzlich laut und weitete die Augen, „die kenne ich! Du bist-!“

Es war nur eine Eingebung, aber-!

„Another, ja.“

„Den Namen habe ich irgendwo schon mal gehört“, grübelte Anya und schnippte bei der anschließenden Erkenntnis mit dem Finger. „Klar! Du bist doch der Todfeind von dem Freak, den du gerade kontrollierst!“

„Das kann nicht sein!“, schrie Matt erschrocken und sprang auf. „Du kannst unmöglich in ihm sein! Du bist-!“

„Dein Paktdämon?“ Alastair setzte ein fieses Grinsen aus. „Oh, bist du wirklich so naiv? Natürlich bin ich -dein- Paktdämon. Und seiner“, er zeigte auf sich selbst, „und ihrer auch.“

Valerie zuckte zusammen, als der Finger auf sie gerichtet wurde. „W-wie? Ich verstehe nicht, ich bin nicht-!“

„Habt ihr es immer noch nicht durchschaut?“ Gelangweilt stemmte der Schwarzhaarige seine Wange auf die Faust und schloss die Augen, wie er da majestätisch auf seinem Thron saß. „Ich habe nicht umsonst den Namen 'Another' für mich gewählt. Ein anderer, das bin ich. Ob Joan, Refiel, was macht den Unterschied? Ich bin der Puppenmeister und ihr alle seid meine Marionetten, seit ich Levrier ausfindig gemacht habe. Alles, was bis zum heutigen Tag geschehen ist, wurde von mir überwacht und gelenkt.“

Matt schwankte benommen zurück und fasste sich an die Brust, denn sie schmerzte fürchterlich. „U-und der Turm!? Du wolltest ihn zerstören!“

„Alles nur ein Vorwand, um euch in den Turm zu locken. Die Fäden in eurer Brust sind der Beweis für euren Status. Und nun seid brave Lämmer und legt euch wieder schlafen. Der Zauber des Sammlers hält ohnehin nicht lange an.“

Henry biss sich wütend auf die Lippen und ließ sich von Melinda aufhelfen. „Er hat recht, viel Zeit bleibt uns nicht! Aber er hat das Feuerzeug zerstört! Ohne kommen wir hier nicht raus!“
 

„Aber das geht nicht!“, protestierte der jüngere Dämonenjäger weiter und warf dabei einen Blick herüber zu Valerie, die sich mit versteinerter Miene an Marc schmiegte, welcher ihr tröstend zuredete. In ihren Augen stand das blanke Entsetzen. Sie zitterte am ganzen Leib und warf unfähig, den Betrug zu begreifen. Konnte nicht verstehen, dass Joan nicht echt war.

„Was geht nicht?“

Matt wirbelte zu Another herum. „Dämonen können nicht mehr als einen Pakt gleichzeitig aktiv halten!“

„Korrektur, mein Lieber: Isfanel kann das nicht. Du hast sicher gemerkt, dass ein Pakt selbst weiterbesteht, wenn der 'Dämon' das Gefäß verlässt.“ Another legte gespielt nachdenklich Mittel- und Zeigefinger an die Schläfe. „Aber ich habe gehört, dass das Versprechen, auf das ein Pakt beruht, solange existiert, bis es eingelöst wurde. Deswegen seid ihr immer noch Zeugen der Konzeption.“

„Das erklärt nicht-!“

„Lass mich ausreden, Matt Summers“, bat Another seelenruhig, „Isfanel kann tatsächlich nicht überall gleichzeitig sein. Weil seine Kräfte, sich aufzuspalten“, das nächste Wort sprach er mit besonderer Boshaftigkeit aus, „mangelhaft sind. Woran ich übrigens nicht ganz unbeteiligt bin. Deswegen vergleiche mich nicht mit dem. Geschweige denn diesem Blindgänger Levrier. Von seinesgleichen kann ich Hunderte kreieren, ohne zu viel meiner Macht einzubüßen.“

 

„Das wird mir langsam zu viel! Können wir den Kerl endlich kalt machen!?“, verlangte Anya ungeduldig und zeigte auf den Puppenmeister, wie er sich selber bezeichnete. „Ich meine, was sollen wir sonst tun!? Uns einfach ergeben und zu Eden werden!?“

„Anya …“ Matt schluckte und trat einen Schritt auf sie zu, sah sie bedrückt an. „Du weißt, was es bedeuten würde, gegen ihn zu kämpfen.“

Das Mädchen drehte ruckartig den Kopf weg und verschränkte beleidigt die Arme. „Hältst du mich für blöd? Klar weiß ich das! Aber ich habe euch in die Scheiße reingeritten, also hole ich euch da auch wieder raus!“

„Anya …“, murmelte Valerie leise, die an Marcs Brust lehnte und sich dort festkrallte.

„Bist du dir sicher?“, fragte jener zweifelnd. „Ganz nehme ich dir den Sinneswandel nämlich nicht ab.“

„Ich bin sicher“, zischte Anya ihn an, so laut, dass es durch den Kristallsaal hallte. „Wenn du mir nicht vertraust, bitteschön, mir egal! Aber denk an deine Schwanenprinzessin da!“

„Alastair …“ Matt sah herüber zu seinem Freund, der auf dem Thron saß und die Szene gespannt verfolgte. „Wir können ihn nicht töten. Es muss einen Weg geben, Another aus ihm zu vertreiben!“

„Auf welchem Planeten lebst du eigentlich!?“, fauchte Anya und packte Matt am Kragen seines schwarzen Mantels. „Hast du nicht kapiert, dass das nicht geht!? Nichtmal, indem man den Tod überlebt!? Ein-Pakt-kann-nicht-gebrochen-werden!“

 

Gleichzeitig legte Melinda ihrem Bruder die Hand auf die seine, während er die Knie anwinkelte und im Begriff war aufzustehen. Die beiden saßen etwas abseits der Gruppe auf dem kalten Kristallboden. „Der Sammler lag also richtig damit, dass noch jemand anderes als Anya versuchen könnte, uns ins Verderben zu ziehen.“

„Darum geht es also“, murmelte Henry und kniff die Augen zusammen. Nebenbei schob er seine freie Hand unter den Trenchcoat und griff nach etwas in dessen Innentasche. „Hätte ich mir denken können. Egal wer hierher kommt, das Ziel ist immer das gleiche.“

„H-Henry!“, stotterte Melinda, welcher dämmerte, was ihr Bruder jetzt vorhatte. „Tu das nicht!“

Another schlug ein Bein über das andere und lächelte amüsiert. „Gewiss. Wie viel hat der Sammler dir erzählt?“

„Was spielt das noch für eine Rolle?“, antwortete Henry kühl und erhob sich langsam. Dabei zog er einen Revolver aus seinem Mantel und richtete den Lauf auf den besessenen Dämonenjäger. „Ich habe für alles vorgesorgt.“

„Du willst mich erschießen?“ Another lachte herzhaft auf und winkte mit seiner Rechten Henry zu sich. „Nur zu!“

Die anderen verharrten gebannt auf der Stelle beim Anblick der Pistole in den Händen des brünetten, jungen Mannes.

„Am liebsten hätte ich mir vom Sammler eine Kugel erkauft, die Dämonen tötet. Aber das konnte ich mir nicht leisten“, erklärte Henry dazu und schwang den Arm mit der Waffe zur Seite aus. „Deswegen müssen normale Patronen reichen.“

 

Ein Schuss hallte durch den Kristallsaal. Fassungslos folgten die anderen der Richtung, in die Henry geschossen hatte und erkannten mit Entsetzen, dass ein blutiges Loch Marcs Stirn zierte, ehe er letztlich zur Seite klappte.

„Marc!“, schrie Valerie aufgelöst und stürzte sich auf ihn.

Gleichzeitig ließ Henry die Waffe sinken und atmete tief durch, ehe er den Arm wieder hob und sich den Lauf an die Schläfe hielt. „Ein Opfer weniger. Wenn du noch eins verlierst, kann Eden nicht mehr erwachen.“

„W-was geht mit dir ab!?“, schoss es aus Matt heraus, der Henry anspringen wollte, doch verharrte, als dieser einen Schritt zurück nahm und den Abzug ein Stück weit betätigte.

„Das ist die letzte Möglichkeit, das Ganze zu verhindern!“, rechtfertigte sich Henry aufgebracht. „Auch wenn unsere Male verblasst sind, wir sind weiterhin Zeugen der Konzeption! Nichts kann das ändern! Solange wir leben, sind wir Opfer für Eden!“

„Henry, tu das nicht!“, flehte Melinda und zerrte an seinem Arm, doch er stieß sie von sich.

„Es gibt keinen anderen Weg! Denkst du, ich will das tun!? Aber nur ich bin noch frei von einem Paktdämonen! Zu groß ist die Gefahr, dass eure euch heilen!“

„Fein“, hallte da Anothers Stimme zu ihnen und kicherte amüsiert, „drück ab. Ruiniere meinen Plan. Wenn du kannst.“

Panisch wirbelte Henry in seine Richtung. „Was soll das heißen!? Bist du etwa auch noch Isfanel!?“

„Lass das, Henry!“, bettelte Melinda und fiel ihren Bruder wieder an, versuchte ihm, die Pistole abzunehmen. „Bitte!“

Gleichzeitig schüttelte Valerie verzweifelt ihren leblosen Verlobten, badete regelrecht in seinem Blut, das sich in einer Lache immer weiter ausbreitete. „Du kannst nicht sterben! Du darfst nicht! Alles was ich getan habe-!“

„Ist alles, was ich dir aufgetragen habe, Valerie Redfield“, schnitt Another ihr das Wort ab. „Du hast durch dein Opfer meine Schachfigur zum Leben erweckt. Dafür danke ich dir.“

„Du!“, wandte sie sich mit Tränen in den Augen an ihn. „Du hast das alles geplant! Du bist an allem Schuld, hast uns alle nur benutzt! Und wegen dir ist er jetzt tot! Tot!“

„Sagen wir, ich habe einkalkuliert, dass Isfanel mir die Tour vermasseln will. Dass Marc Butcher gestorben ist, war bedauerlich, aber schlimmer hätte mich der Tod der Gründerin getroffen.“

 

Another sah herüber zu Anya, die auf den Knien neben dem stehenden Matt lag und ihn sprachlos ansah. „In der Tat hast du mich wirklich beeindruckt, Anya Bauer. Deine Willenskraft, dein Credo, nie aufzugeben. Mit jedem anderen wäre ich vermutlich gescheitert.“

„Du … du Feigling!“, spie sie daraufhin vor Verachtung. „Du elender Drecks-!“

„Als ich diesen Schattengeist besiegt habe, hast du dich für ihn eingesetzt. Für einen Moment habe ich deinen Worten wirklich Gehör geschenkt. Eine Welt, in der keine Vorurteile existieren. Es klingt schön, wenn man das so sagt. Aber am Ende bist du ebenso feige und hinterhältig, wie du es den Engeln vorgeworfen hast, die nicht einmal existieren.“

Ein Aufschrei ging durch die Gruppe.

Der besessene Another lächelte. Es war ein dünnlippiges, falsches Lächeln. „Ihr hört recht. Ich hatte wirklich Glück, dass der Sammler seinem Schergen verboten hat, über dieses Geheimnis zu sprechen. Es hätte meinen ganzen Plan vernichten können.“

Langsam richtete er sich vom Thron auf, trat einen Schritt auf die fassungslose Gruppe zu und breitete die Arme aus. „So viele Hindernisse. Ihr habt mir immer wieder Steine in den Weg gelegt. Es war nicht leicht, eine so große Gruppe aus Dickschädeln dazu zu bringen, diesen Turm zu betreten. So oft glaubte ich, dass ich scheitern würde. Musste umdenken. Meine Schachfiguren neu positionieren und gleichzeitig die des Gegners dazu bringen, neue Pakte zu formen. Angst ist wahrlich eine große Antriebsquelle. Und ich hatte Angst!“

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, ballte nebenbei die ausgestreckten Hände zu Fäusten. „Verzeiht mir, aber es wird mir unsägliche Freude bereiten, dass eure Leben den Pfad zu den Toren Edens pflastern werden.“

„Denk nicht, dass ich es dir so leicht machen werde!“, fauchte Henry mit der Pistole an der Schläfe.

Mit einem Stoß der freien Hand schubste er Melinda erneut von sich weg, die rückwärts stolperte. Ihr Blick weitete sich, als sie realisierte, was gleich geschehen würde. Denn er sagte: „Ich bin schon einmal gestorben, vor dem Tod habe ich keine Angst mehr!“

„Ist dem so? Dann tu, was du tun musst.“ Another lächelte mild.

Keuchend schloss Henry die Augen – und drückte ab.
 

Leises Klimpern hallte durch den Kristallsaal. Zufrieden grinsend ließ Another die Patronenhülsen aus seiner Hand auf den spiegelnden Boden fallen und lachte.

Als Henry realisierte, dass es keinen Schuss gegeben hatte und daraufhin die Augen öffnete, stieß er einen erschrockenen Schrei aus.

„Diesmal war ich schneller als du“, erwiderte der Puppenspieler zufrieden.

„Wie hast du-!?“, stammelte Henry und drückte abermals ab. Immer wieder, aber egal wie oft er es auch versuchte, die Pistole wollte seinem Leben kein Ende setzen.

„Dachtet ihr, meine Macht würde sich darauf beschränken, Pakte und Kopien meiner selbst zu formen?“ Another lachte arrogant, was als Echo durch den ganzen Saal hallte. „Dumme Menschen! Es gab eine Zeit, da waren -wir- etwas, das ihr als Götter bezeichnen würdet!“

„Gott hin oder her“, zischte Anya und erhob sich langsam. „Ich hab die Schnauze voll von dir!“

Matt, der neben ihr stand, sah sie nachforschend an, ehe er nickte. „Seh' ich ähnlich-!“

 

Doch ein spitzer Schrei Valeries unterbrach ihn abrupt. Die Schwarzhaarige, die neben dem toten Marc kniete, wurde zurück auf ihren Hintern geworfen, als ein weißer Lichtstrahl aus dem Mund ihres Verlobten schoss.

„Marc!“, kreischte sie aufgelöst, erhob sich torkelnd.

„Es beginnt also“, stellte Another seinerseits fest und schmunzelte, „du kannst uns ja nicht ewig warten lassen, nicht wahr, Isfanel? Damit betritt auch der letzte Akteur die Bühne.“

Plötzlich fasste sich auch Anya an den Hals und begann, ein weißes Sekret hervorzuwürgen, das wie Nebel aus ihrem Mund trat. Aber nicht nur sie, denn auch Melinda und Henry erging es ähnlich.

„Anya!“, stieß Matt erschrocken hervor und hielt das Mädchen am Arm fest, welches rückwärts stolperte und in die Knie ging. „Was ist mit ihr!?“

Gleichzeitig begann Marcs ganzer Körper in weiße Flammen aufzugehen. Valerie schrie nach Leibeskräften nach ihren Geliebten, aber ehe sie sich versah, war die hustende Melinda zu ihr geeilt und hielt sie an den Schultern fest.

„Geh da nicht hin!“, würgte sie hervor.

„Aber er brennt!“

„Wenn du ihn jetzt berührst, urgh … könnte alles Mögliche passieren!“, redete die brünette Frau auf die Jüngere ein und zog jene davon, wich dann aber von ihr zurück und umfasste ihren Hals mit beiden Händen.

Valerie gab sich aber nicht damit zufrieden. „Was geschieht mit ihm!?“

„Seht, wie aus dem Meister und seinem Abkömmling wieder eins wird!“, lachte Another laut auf.

Anya, Henry und Melinda würgten unter Qualen die weiße Masse hervor. Matt, der seine Hand auf die Schulter der Blondine gelegt hatte, wusste nicht, wie er ihr helfen konnte.

Der Nebel, den sie auswarf, glitt wie eine Schlange über den Kristallboden und stieg vor Marcs loderndem Leichnam hoch in die Luft, wo er sich mit den anderen beiden und dem Strahl, der aus dem Mund des Footballspielers trat, verband. Damit kehrte sich die Wirkung um und die vier Strahlen wurden von Marcs Körper inhaliert. Dabei explodierten die Flammen um ihn herum regelrecht und nahmen immer mehr Platz ein.

„Marc!“, schrie Valerie verzweifelt, streckte den Arm nach ihm aus.

„Du kannst ihm nicht helfen, das ist nicht Marc!“, redete Melinda krächzend auf sie und hatte ihre Mühen, das Mädchen von der Stelle wegzuzerren.
 

Mit einem Mal hustete Anya, als die weiße Substanz auch aus ihr vollkommen herausgequollen war. Schwach kippte sie nach vorn und wurde von Matt gehalten.

„Bist du in Ordnung!?“

„Geht schon“, ächzte die Blondine und wischte sich über den Mund, ehe sie fassungslos über ihre Schulter sah. „Verdammte Scheiße, was ist hier los!? Was war das!?“

„Warten wir doch mit der Erklärung, bis Isfanel wiederauferstanden ist“, antwortete Another und sah gespannt herüber zu Marcs leblosen Körper.

Dieser erhob sich mit einem Ruck und kam auf die Beine. Nichts mehr an ihm zeugte noch von Marc, denn die weißen Flammen hatten ihn komplett eingenommen. Dunkle Streifen unterbrachen das Bild, welche von seinen Beinen den Oberkörper hinauf bis zum Gesicht verliefen. Mit einem Knall schossen zwei schwingenartige Auswüchse aus seinem Rücken, ebenfalls komplett aus Feuer bestehend.

„Marc!“, schrie Valerie abermals. „Er lebt! Er lebt!“

Aus weißen, pupillenlosen Augen starrte die feurige Gestalt sie an. „Du irrst dich. Ich bin nicht Marc. Ich bin … Isfanel. Der wahre Isfanel.“

„Ich habe auf dich gewartet, alter Freund“, rief ihm Another zu und schritt durch den Kristallsaal. „Erinnerst du dich wieder? An alles?“

„Ja“, erwiderte die Gestalt mit unheimlich tiefer, widerhallender Stimme, „langsam ergibt alles einen Sinn.“

 

„Was geschieht hier!?“, fauchte Anya, als Another an ihr und Matt vorbei schritt.

Statt aber eine Antwort abzuwarten, warf sie sich einfach auf den Hünen, den Alastairs Körper darstellte. Mit einer Handbewegung Anothers wurde sie jedoch meterweit von einer unsichtbaren Kraft durch den Saal geschleudert. Schreiend rutschte sie über den Boden und stieß gegen den perplexen Henry, welcher vorne über stolperte und seine nutzlose Waffe dabei fallen ließ.

Wie die Gruppe jedoch schnell erkannte, hatte Anothers Geste Anya das Leben gerettet, denn an Ersterem war ein weißer Flammenstrahl vorbeigeschossen, der gegen die hintere Wand des Saals, neben dem Tor Eden einschlug und eine Explosion auslöste.

„Du verlierst keine Zeit, nicht wahr? Die zu eliminieren, die Eden erwecken sollen.“

Auf Anothers Worte reagierte dieser neue Isfanel gar nicht, sondern drehte seinen Kopf in Melindas und Valeries Richtung.

„Runter!“, schrie Henrys Schwester, als sie die Gefahr erkannte und schmiss sich zusammen mit der Schwarzhaarigen auf den Boden. Über ihnen schoss haarscharf ein weiterer Flammenstrahl hinweg, dessen Ursprung Isfanels Arm war.

Erneut drehte jener seinen Kopf herum, richtete seinen Blick auf Another und schoss einen dritten Flammenschwall direkt auf ihn. Doch mit einer wegwischenden Handbewegung lenkte jener ihn gegen das kuppelförmige Dach des Kristallsaals. „Hör auf damit!“

„Ich werde nicht eher aufhören, bis ich deinem Unterfangen ein Ende gesetzt habe!“

Matt, der nicht zwischen den Kämpfenden stehen wollte, begann kurzerhand zu rennen und steuerte Anya und Henry an.

„Als ob ich das nicht wüsste. Aber zulassen kann ich das nicht!“

Diesmal feuerte Another pechschwarze Flammen direkt auf Isfanel, doch dieser schwang den Arm aus und ließ sie in der Ecke rechts hinter ihm explodieren.

„Was du tust ist Verrat an den Opfern, die wir erbracht haben!“, fauchte der weiße Flammendämon nun aufgebracht. „Deine Taten werde ich dir nicht vergeben!“

„Wenn du nicht so blind wärst, wüsstest du, dass das, was ich tue, das Richtige ist!“ Zornig schleuderte Another gleich eine ganze Salve schwarzer Flammenkugeln auf Isfanel, welche jener doch mit verschiedenen Handbewegungen ablenken konnte. Überall im Saal gab es Explosionen.

 

„Scheiße, was geht denn jetzt ab!? Das wird mit jeder Minute besser!“ Anya ließ sich von Matt und Henry aufhelfen, doch sogleich mussten sie sich wieder ducken, da Isfanel auf sie aufmerksam geworden war. Infolgedessen zog über sie ein Flammenstrahl hinweg.

„Wieso kämpfen die!?“, fragte Anya dabei. „Und wichtiger, wieso zielt der so verdammt schlecht!? Wenn ich das wäre, würde-“

„Ist doch klar, eine Meinungsverschiedenheit bezüglich Eden! Aber für Spekulationen haben wir keine Zeit, wir müssen hier raus!“, meinte Matt und half dem Mädchen abermals auf. Henry stand nur fassungslos neben ihnen und beobachtete, wie Another und Isfanel gegenseitig hitzige Angriffe austauschten. Bis einer von ihnen eine andere Route einschlug.

„Henry, weich aus!“, hörte er nur Matt rufen, aber sein Körper war unfähig sich zu rühren.

Plötzlich weitete Henry die Augen, in denen sich das weiße Feuer widerspiegelte, das direkt auf ihn zuschoss. Aus seinem Mund quoll weißer Nebel, wie er da regungslos stand.

„Henry!“, kreischte Melinda panisch.

Der Feuerstahl hatte ihn fast erreicht – ehe er nach links davon driftete. Daraufhin prustete Henry los und würgte das letzte bisschen Isfanel aus sich heraus.

„Denkt nicht mal dran abzuhauen!“, rief Another ihnen zu, der seine Hand nach ihnen ausgestreckt hatte, um sie zu beschützen. „Ihr könnt nicht gehen! Die Party hat gerade erst angefangen!“

Damit schwang er seinen anderen Arm aus und feuerte eine weitere Salve schwarzer Flammenbälle auf Isfanel, welcher diese abermals in alle Himmelsrichtungen abzuwehren vermochte. „Und du hör damit auf, dein altes Gefäß zu manipulieren!“

„Es war zumindest einen Versuch wert“, quittierte Isfanel dies und drehte seinen Kopf zur Seite.

 

Gleichzeitig zerrte Melinda an Valeries Arm. Jene lag am Boden und weinte bitterlich.

„Komm Valerie, wir müssen uns bewegen! Hier gibt es nirgendwo Schutz! Wenn wir auf der Stelle verharren, sind wir leichte Ziele!“

„Geh ohne mich weiter!“, wimmerte Valerie und schüttelte den Kopf. „Es ist doch sowieso alles sinnlos!“

Melinda sah sich daraufhin hilflos im Saal um, schrie, als ihr Bruder um ein Haar Opfer von Isfanels Flammen geworden wäre. Zu jenem wanderte dann auch ihr fassungsloser Blick, doch erregte etwas hinter ihm augenblicklich ihre Aufmerksamkeit.

„Valerie, sieh, da hinten!“

Als keine Reaktion folgte, wurde Melinda deutlicher und rief durch den Saal: „Da ist ein Loch direkt bei dem Eingang, durch den wir hier reingekommen sind! Ich sehe die Treppe! Los, alle dorthin!“

Während die anderen sich perplex danach umsahen, riss Melinda wieder an Valeries Arm, doch die schubste sie mit einem Stoß davon. Kurz darauf schlug eine weiße Flamme zwischen ihnen beiden ein und löste eine Explosion aus.

Melinda wurde davon geschleudert, schaffte es jedoch wie durch ein Wunder, durch torkelnde Schritte ihre Balance wiederzufinden und sich auf den Beinen zu halten. Als sie jedoch nur noch weiße Flammen dort sah, wo eben noch Valerie gelegen hatte, legte sich in ihrem Kopf ein Schalter um. Valerie war tot!
 

Die brünette Frau wirbelte herum und begann direkt auf den rettenden Ausgang zu zu rennen. Dabei duckte sie sich unter Isfanels Angriffen hinweg und rief: „Los Leute, folgt mir!“

Der Rest der Gruppe hatte sich ebenfalls aufgerafft und begann zu dem Loch im Boden zu sprinten.

„Das werdet ihr- Urgh!“

Another, abgelenkt von Melindas tollkühner Flucht nach vorn, hatte nicht rechtzeitig auf einen Angriff Isfanels reagieren können und wurde direkt in die Brust getroffen. Noch während er fort geschleudert wurde, schoss er aus seinem Arm einen silbrigen Energiestrahl in Melindas Richtung.

Während Matt, Anya und Henry noch weit von dem Loch entfernt waren, hatte Melinda es fast erreicht. Instinktiv spürte sie, dass etwas hinter ihr im Anmarsch war und ließ sich mit einem Hechtsprung fallen.

Auf dem Bauch schlitterte sie direkt durch das Loch und knallte gegen die Außenwand des Turms, während sie Stufe um Stufe die Treppen hinab rollte. Dabei sah sie im Fall noch, wie sich spitze Kristalle über der Öffnung zum Kristallsaal ausbreiteten und den Fluchtweg binnen Sekunden fast vollständig blockierten.

„Melinda!“, schrie Henry und beschleunigte seinen Spurt zu der Stelle, an der nun ein gewaltiger Kristall thronte. Wie ein Schneekristall sah das silberne Gebilde aus.

Gleichzeitig musste der junge Ford-Spross den Angriffen Isfanels ausweichen, bis jener schließlich wieder von Another in Schach gehalten wurde, welcher auf die Beine gekommen war und neue Flammen auf Isfanel hetzte, um von Henry abzulenken.

„Verdammt, ist das nervig!“, schrie er dabei und wich nur knapp einer von Isfanels Attacken aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass das Levrier-Upgrade dich so stark werden lässt!“

„Wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen, hast du damals nur durch eine List gewonnen!“, erwiderte Isfanel und konzentrierte seine Angriffe auf Another. Denn sein Gefäß zu zerstören würde schon reichen, Edens Erwachen zu verhindern.

 

Derweil war Henry endlich bei dem Kristall angekommen und suchte hinter ihm Schutz vor den Angriffen. Unter den spitzen Dornen konnte er durch diverse Spalten die Stufen der Treppe sehen.

„Melinda, bist du okay!?“, rief er zu ihr hinab.

„Mir geht’s gut!“ Kaum hörte er das, sah er ihre grünen Augen, wie sie zu ihm hoch starrte. Dabei hielt sie sich den Unterleib. „Kannst du das Ding irgendwie bewegen?“

Henry, kurz einen Blick zu Another und Isfanel werfend, stöhnte. „Anya und Matt schaffen es nicht, durch das Schlachtfeld der beiden zu kommen!“

„Ich sag das nur ungern, aber das ist jetzt egal!“

„Du hast recht!“ Sofort versuchte Henry, irgendwie den gewaltigen Kristall wegzuschieben. Doch die vielen Dornen machten es ihm unmöglich, einen Halt zu finden. Stattdessen schnitt er sich nur an ihnen, als er abrutschte. „Argh! Ich kann hier nichts tun!“

Das Ding wäre vermutlich ohnehin zu schwer, selbst zu dritt, dachte er sich dabei verzweifelt.

„… Henry, ich habe eine Idee.“

„Was?“ Irgendetwas an dem Ton seiner Schwester machte ihn stutzig.

„Wir haben nicht viel Zeit. Versucht irgendwie zu überleben, so lange es geht! Ich werde den Sprengstoff scharf machen!“

„W-was!?“

Melindas Stimme zitterte regelrecht. „Die einzige Möglichkeit, euch da rauszukriegen ist die, diesen Kristall zu sprengen. Hör mir zu, ich werde einen Sprengsatz so einstellen, dass er innerhalb der nächsten Stunde explodiert, um euch hinauszulassen! Während dieser Zeit mache ich die anderen Sprengsätze scharf und warte unten auf euch!“

„W-was redest du da!?“

„Wir müssen diese Verrückten aufhalten, Henry! Eden aufhalten!“ Sie sammelte kurz ihre Gedanken, stöhnte überfordert. „Sobald der Weg frei für euch ist, werdet ihr nicht viel Zeit haben! Lasst alles stehen und liegen und rennt die Treppe nach unten! Ich werde die Timer so einstellen, dass sie zeitversetzt nach der ersten Explosion hochgehen werden, ihr müsst euch auf dem Weg nach unten also beeilen! Keine Sorge, ich stell sie so ein, dass ihr dafür genug Zeit haben werdet.“

„W-warum-!?“

„Das war doch der Plan“, meinte Melinda hilflos, „vielleicht können wir Anya dadurch retten! Aber wichtiger ist, dass Eden zerstört wird!“

„Ich weiß nicht mal, ob der Zauber des Sammlers so lange hält! Und für Anya werde ich mich keine ganze Stunde mit diesen Irren anlegen!“, widersprach Henry und forderte: „Spreng' das Ding sofort weg!“

„Nein, Henry, ich werde dich nicht dabei unterstützen, so kaltherzig zu anderen zu sein!“

Der junge Ford-Spross glaubte sich verhört zu haben. „Sie ist doch diejenige, die uns opfern wollte!“

„Henry, denk nach“, forderte Melinda unruhig, „selbst wenn ihr sofort hier raus könntet, würden diese Dinger euch nur verfolgen. Ihr müsst sie irgendwie ausschalten, eher kommen wir hier sowieso nicht raus!“

Henry schluckte. „I-ich weiß, was du meinst, aber-!“

„Das ist mein letztes Wort! Ich hol' euch hier auf meine Weise heraus! Was würde Mutter von uns denken, wenn wir nur darauf fixiert wären, uns selbst zu retten!?“
 

Henry sah sich perplex nach den anderen um, Isfanel hatte sich wieder darauf konzentriert, Anya und Matt anzugreifen, während Another alle Hände voll zu tun hatte, sie zu beschützen.

Dann wandte er sich wieder Melinda zu. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist? Solange überleben wir doch niemals!“

„Eine bessere haben wir nicht, oder!?“

Schluckend nickte Henry. Es war riskant, aber die anderen Optionen waren wenig berauschend. Entweder wurden sie von Eden absorbiert oder von Isfanel getötet. Wenn es eine Chance gab, hier herauszukommen, dann mussten sie sie nutzen! Er hatte letztlich keine andere Wahl, als auf das zu hören, was Melinda sagte.

„... also schön! Wir werden die beiden ablenken! Aber pass' auf dich auf! Und flüchte, wenn es Schwierigkeiten gibt!“

„Als ob ich dich hier zurücklassen würde“, klagte Melinda wütend, „Dummkopf! Pass einfach auf dich auf, okay? Und nimm das hier, vielleicht hilft es dir. Immerhin ist es deins.“

Damit reichte sie Henry eine Deckbox durch eine Lücke zwischen den Dornen, die dieser nickend annahm. „Okay! Ich werde durchhalten, versprochen!“

„Gut, dann bereite ich jetzt alles vor!“

 

Damit wandte sich Henry von dem Kristall ab und sah herüber zum Kampfgeschehen.

„Du kommst wohl langsam aus der Puste, Isfanel“, keuchte Another und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Hast wohl deine Kräfte langsam aufgebraucht?“

„Von dir könnte man dasselbe behaupten.“ Äußerlich war der engelsgleichen, weißen Flammengestalt jedoch keine Erschöpfung anzusehen.

Anya und Matt standen abseits von ihnen, wobei Letzterer schützend den Arm vor Anya hielt um jene davon abzuhalten, nicht auf Another loszugehen.

„Allerdings ist es an der Zeit, unsere Differenzen beizulegen. Sie wollen den Turm zerstören“, sprach Isfanel weiter.

Sein und Anothers Blick fielen plötzlich auf Henry.

„Was!?“, donnerte der besessene Alastair erschrocken. „Dann müssen wir sie aufhalten! Du weißt, dass das niemals geschehen darf!“

„Wir müssen die Schwester des Jungen dort töten.“

„Tch!“, zischte Another daraufhin angewidert und kniff die Augen zusammen. „Soll das etwa heißen, dass wir kooperieren müssen?“

Isfanel nickte. „Die Sicherheit des Turms hat oberste Priorität. Du weißt was geschieht, wenn er zerstört wird. Und auch wenn ich verhindern werde, dass Eden geöffnet wird, darf das Tor ebenfalls nicht vernichtet werden!“

„Also schön“, erwiderte Another daraufhin und schritt langsam auf den Kristall zu, vor den sich Henry stellte, um seine Schwester zu beschützen. „Aus dem Weg, Bursche!“

„Niemals!“
 

Allerdings hielt er inne, als Anya und Matt an ihm vorbei rannten und sich solidarisch vor Henry stellten.

„Nicht so hastig!“, rief Matt. „Wir sind auch noch hier, schon vergessen?“

„Macht Platz!“, verlangte Another aufgebracht. „Ihr habt keine Ahnung, was ihr da tut!“

„Sonst was? Willst du uns umbringen, Narbenfresse 2.0?“, fragte Anya giftig, verschränkte die Arme und grinste bösartig. „Na dann probiere es doch. Auf eigene Gefahr versteht sich!“

Zornesfalten bildeten sich auf der Stirn Alastairs, da Another wusste, dass er den Dreien kein Haar krümmen durfte.

Isfanel gesellte sich neben seinen alten Bekannten und hob den flammenden Arm, doch Another hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. „An deiner Stelle würde ich nicht noch weiter angreifen! Sieh dich um, wir haben bereits viel zu viel Schaden angerichtet!“

 

Und damit hatte er recht. Überall im Kristallsaal waren Boden und Wände zersplittert durch die Explosionen. Regelrechte Krater hatten sich durch den Kampf der beiden gebildet, an einer Stelle war sogar der Sternenhimmel am Firmament zu sehen.

 

„Wir können nicht riskieren, den Turm noch weiter zu beschädigen!“, untermauerte Another seinen Standpunkt. „Wenn es noch nicht zu spät ist, heißt es …“

Anya schnaufte derweil wütend, da sie insgeheim gehofft hatte, dass einer der beiden so dumm war, sie trotzdem anzugreifen. Damit hätte sich das Problem mit dem Kristall ganz einfach lösen lassen.

Die Blondine trat einen Schritt vor und zeigte mit dem Finger auf Isfanel. „Keine Ahnung, wer oder was du jetzt bist, du loderndes Miststück! Aber dafür, dass du Redfield umgenietet hast, wirst du zahlen!“

Gleichzeitig realisierte Anya, dass Another bei deren Tod kein Theater veranstaltet hatte. Demnach musste Isfanel immer noch als Zeuge zählen, sonst wäre der Plan des Puppenspielers längst in sich zusammengefallen, weil sie ohne Redfield und Marc nur noch vier Zeugen wären.

„Und Marc ist wegen dir gestorben!“, donnerte Matt in Anothers Richtung. „Wenn ihr beide glaubt, wir würden uns kampflos ergeben, habt ihr euch geschnitten! Ihr kommt hier nur vorbei, wenn keiner von uns noch ein Fünkchen Leben mehr in sich hat!“

„Das war aber nicht Melindas Plan“, flüsterte Henry ihm von hinten verärgert zu. „Wir sollen die beiden ablenken, und nicht blindlings ins Verderben rennen! Was hilft es uns, wenn sie den Weg freimacht, wir aber längst den Heldentod gestorben sind!?“

„Wir müssen das tun!“, verteidigte sich Matt aufgebracht. „Wenn nicht wir, wer sonst!?“

„Ich hab sowieso nichts zu verlieren, mir ist's egal, ob ich durch einen verpatzten Pakt, Eden oder diese Deppen sterbe!“ Anya stöhnte genervt. „Vollkommen egal, ich geh hier sowieso drauf …“

„Dann aber wenigstens mit einem Knall, nicht wahr, Anya?“

Verblüfft schauten die Drei herüber zu Isfanel, hinter dem plötzlich Valerie auftauchte – vollkommen unverletzt. Seelenruhig schritt sie zu ihren Freunden und bezog neben ihnen Stellung.

„Vier gegen zwei also? Da mache ich mit“, sagte sie gefasst und nahm Isfanel ins Visier. „Allein ihm zuliebe …“

„D-du lebst!?“, stotterte Anya fassungslos. „Ich dachte du wärst krepiert!? Ein Häufchen Asche, siehst die Radieschen von unten wachsen!?“

„Anscheinend … nein, ist nicht so wichtig. Er hat mich verfehlt.“
 

Valerie hatte jedoch insgeheim die leise Hoffnung, dass dies kein Zufall gewesen war. Vielleicht steckte noch irgendetwas von Marc in diesem Ding. Deshalb hatte Isfanel sie nicht töten können, Marc hatte ihn davon abgehalten.

Sie wusste nicht, wie das möglich war, was überhaupt geschehen war. Aber wenn noch die leiseste Hoffnung bestand, dass sie ihren Geliebten retten konnte, würde sie sich nicht einfach gehen lassen!

 

„Wenn wir sie ablenken sollen, dann hiermit!“, wandte Valerie ihr Wort an den Rest der Gruppe und hob den Arm, an dem ihre blaue Duel Disk befestigt war.

Überrascht begutachtete Anya den ihren, an dem die alte Battle City-Duel Disk ihres Vaters hing. „Oh! Das hab ich ganz vergessen. Wusst' ich doch, dass ich die noch brauchen würde!“

Matt zog unter seinem schwarzen Mantel das schmale D-Pad hervor. „Irgendwie denken wir alle ziemlich ähnlich, oder?“

„Allerdings“, bestätigte ihm Henry und aktivierte die schwarze Disk von Abby an seinem Arm seufzend. „Und das macht mir Sorgen.“

„'kay, Leute!“, verlautete Anya daraufhin gefasst und trat wie eine Anführerin einen Schritt nach vorn. „Zeigen wir diesen Deppen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind!“

 

„Sieht so aus, als ob wir nicht so schnell zu unserem letzten Kampf kommen. Sieh nur, Isfanel, wie tapfer sie sich gegen ihr Schicksal auflehnen“, sagte Another mit dem Anflug eines Lächelns. „Aber es sind nur vier Menschen. Ohne unsere Kräfte sind sie machtlos. Sich mit ihnen zu duellieren ist besser, als weiterhin mit unseren Angriffen den Turm zu gefährden.“

Isfanel verschränkte die Arme, bevor die weißen Flammen um ihn bedrohlich aufzulodern begannen. „Unterschätze sie nicht. Nicht einmal habe ich es geschafft, einen von diesen Menschen zu besiegen.“

„Weil du schwach bist …“

„Anya, überlass mir Alastair!“, verlangte Matt.

„Du spinnst wohl!? Das Narbengesicht gehört mir!“

„Ich bin sein Freund!“, widersprach der Dämonenjäger und wandte sich mit flehendem Blick an Anya. „Es ist meine Verantwortung, ihn-“

Er ließ den Kopf hängen. Anya zischte laut und schlug ihre Faust in die Handflächen. Sie hatte keine Lust auf lange Diskussionen. „Fein, dann nehme ich eben den anderen. Mit dem habe ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen!“

„Nicht nur du.“

Erstaunt zog die Blondine eine Augenbraue hoch, als Valerie plötzlich neben ihr stand und ihren Arm mit der Duel Disk hob. „Er hat meinen Verlobten.“

„Und er ist derjenige, der meiner Schwester und mir so viel Leid zugefügt hat!“ Auch Henry hatte sich zu den beiden Mädchen gesellt. „Lasst uns das ein für alle Mal beenden!“

In Marcs brennendem Körper schüttelte Isfanel ungläubig den Kopf. „Drei gegen einen also? Das ist mir nur recht. Dann werde ich diese Gelegenheit ergreifen, um euch zu töten. Zum Wohle des Turms und um zu verhindern, dass Eden sich öffnet!“

Henry wandte sich an die anderen. „Das geht doch in Ordnung, oder? Isfanel ist im Moment die größere Gefahr, weil er uns an den Kragen will.“

 

Als er von allen Bestätigung geerntet hatte, machte der andere Dämon seinem vermeintlichen Unmut Luft.

„Und ich bekomme nur einen Gegner? Anscheinend habt ihr vergessen, wer all dies in Gang gesetzt hat“, beschwerte sich Another. Allerdings lächelte er hinterhältig durch Alastairs Fassade. „Aber umso besser für mich, denn je schneller ich diese Made besiegt habe, desto eher wirst du fallen, mein lieber Freund Isfanel. Du solltest wachsam sein … nicht, dass versehentlich einer meiner Angriffe sein Ziel verfehlt!“

„Bist du dir da sicher?“, fragte Matt unbeeindruckt. „Wenn du ihn so leicht töten könntest, hättest du es schon längst versucht. Aber du brauchst ihn, weil er Marcs Körper am Leben hält. In Wirklichkeit willst du Isfanel durch einen Kampf nur solange hinhalten, bis Eden uns absorbiert hat! Außerdem seid ihr auch betroffen von dem Effekt des Tores. Eure Kräfte werden immer schwächer, nicht wahr?“

„Für ein paar Menschlein reicht es allemal“, erwiderte Another arrogant, „und vergiss nicht, dass im Turm immer noch ein 'Ersatz' ist, falls es einen von euch erwischen sollte.“
 

Henry stieß erschrocken hervor: „Melinda! Dazu werde ich es nicht kommen lassen!“

Er griff in eine Brusttasche seiner beigefarbenen Jacke und reichte Matt die vierte und letzte Karte, die er vom Sammler erhalten hatte. Dieser nahm sie entgegen und blinzelte verdutzt.

„Eigentlich wollte ich die selbst benutzen, aber du brauchst sie wohl nötiger als ich. Wag' es ja nicht zu verlieren“, mahnte Henry ihn.

Matt sah nur kurz auf die Karte und nickte dann, ehe er sie in das Deck in seiner Duel Disk schob. „Verlass dich auf mich!“

„Ein Ass im Ärmel?“ Another summte vergnügt. „Wie interessant. Aber warum fangen wir nicht an? Ihr habt nicht viel Zeit, Zeugen der Konzeption. Und wir ebenfalls nicht!“

„Ich werde dich büßen lassen …“ Erstaunt sah Isfanel zu, wie Anya langsam den Arm erhob. „Büßen dafür, dass du Levrier getötet hast! Du hast ihn aus mir hinaus gesaugt, ist doch so, oder!?“

„Er ist ein Abkömmling von mir. Es lag in seiner Natur, irgendwann zu mir zurückzukehren.“

Matt nickte daraufhin nachdenklich. „Also deshalb ist vorhin …“

„Dennoch! Es ist deine Schuld, dass er jetzt endgültig weg ist und nie mehr wiederkommen wird!“ Mit hasserfülltem Blick zeigte Anya auf ihn. „Dafür werde ich dich zahlen lassen!“

Ihre beiden Partner schwiegen, doch in ihren Augen brannte die Entschlossenheit, Anya zu unterstützen. Und auch wenn jene nie damit gerechnet hätte, jemals mit ihren beiden größten Rivalen ein Team zu bilden, würde sie es ihnen dieses eine Mal durchgehen lassen.

Isfanel nickte. „Du hast recht mit deinen Worten, Anya Bauer. Aber sie sind mir … gleich. Um das kommende Unglück zu verhindern, werde ich alles tun, was nötig ist.“

„Und ich werde alles tun, um meinen Freund zurückzubekommen!“, stimmte Matt mit ein.

Was Another nicht unkommentiert ließ. „Das würde ich zu gerne sehen.“

Doch der Dämonenjäger war zuversichtlich. „Glaub mir, das wirst du!“

Und so hallten sechs Stimmen gleichzeitig durch den Kristallsaal. „Duell!“

 

~-~-~

 

Derweil verbrachten Abby und Nick ihre Zeit in einer völlig überfüllten Notaufnahme. Das Erscheinen des Turms hatte dafür gesorgt, dass viele Leute sich durch die Ablenkung und Panik verletzt hatten. Bei den meisten handelte es sich um Unfälle, die durch erschrockene Autofahrer verursacht worden waren. Dazu kam noch, dass kurz nachdem sie beide die Notaufnahme des Krankenhauses betreten hatten, eine Meldung für das Krankenhauspersonal durchging, dass sich die gesamte Polizeistation in einem komatösen Zustand befand, woraufhin alle verfügbaren Krankenwagen mobilisiert wurden.

Was allerdings auch die Wartezeit verlängerte, da das Personal alle Hände voll zu tun hatte.
 

Inmitten einer Schar anderer Patienten saßen die beiden in dem quadratischen Warteraum auf zwei nebeneinander stehenden Stühlen. Abby presste ihre Hand auf die Schulter, wobei sie auf den weißen Laminatboden starrte.

„Sie sind jetzt schon eine ganze Weile dort drin“, murmelte Abby sorgenvoll.

„Denen kommt das aber bestimmt nicht halb so lang vor wie uns“, versuchte Nick sie abzulenken und schaute durch den Türrahmen herüber zur Aufnahme. „Merken die denn nicht, dass deine Verletzung wichtiger ist als die Wehwehchen irgendwelcher Halbstarken!? Wieso kümmert sich niemand um dich!?“

Die Aufnahme befand sich direkt im Eingangsbereich des Krankenhauses und war in quadratischer Form um eine Säule erbaut worden. Ganze sechs Schwestern bedienten dort die Besucher, während zu jeder Seite von diesem Tresen ein Gang abging.

„Ich meine, was passiert da oben? Ich habe Angst“, gestand Abby und lehnte sich an Nicks Schulter an.

Jener, völlig überrascht davon, legte unsicher seinen Arm um die Schulter des Mädchens.

„Keine Sorge, ihnen wird es gut gehen. Bestimmt. Anya findet einen Ausweg, der alle glücklich machen wird.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, brummte Abby, musste aber verhalten auflachen. „Wir reden hier von Anya.“

„Aber sie hat Valerie und Matt mit sich. Und die sind ziemlich vernünftig.“

„Wenn Anya wenigstens auf sie hören würde … Nick, wir hätten mitgehen sollen!“

Der langgewachsene, junge Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Was immer im Turm passiert … es ist das Beste, wenn wir nicht dabei sind. Am Anfang habe ich auch oft daran gedacht, aber irgendwann wurde mir klar, dass ich Anya nicht so helfen kann, wie ich es gerne würde. Am Ende stünde ich ihr nur im Weg und … das will ich nicht. Nicht mehr.“

Abby wusste sofort, worauf er anspielte. Woraufhin sie sich von ihm löste und demonstrativ in die andere Richtung sah.

„Vielleicht“, erwiderte sie steif, „aber wir werden das womöglich nie erfahren.“

„Vielleicht“, wiederholte Nick niedergeschlagen.

 

~-~-~

 

Um mehr Platz zu haben, hatten die sechs Duellanten sich im ganzen Kristallsaal verteilt. Matt und Another duellierten sich in der linken Hälfte, wobei Matt den Kristall im Rücken hatte, welcher den einzigen Ausgang blockierte. Another hatte sich Alastairs D-Pad umgeschnallt und war in eine Diskussion mit Matt vertieft.
 

Gleichzeitig standen Anya, Valerie und Henry mit etwas Abstand zueinander auf einer Höhe und warteten auf Isfanel, welcher vor dem Thron verharrte. An seinem Arm befand sich ebenfalls eine Duel Disk, doch diese war geradezu abstrakt. Von roter Farbe, bestand sie nur aus zwei Ausläufern, die gut einen halben Meter lang waren und wie Klingen wirkten. In einer waren die Zonen für den Spielplan eingelassen, während am Verbindungsstück die üblichen Fächer für Deck, Friedhof und Extradeck zu finden waren.

„Jetzt wird’s ernst“, meinte Henry und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. „Melinda sagte, wir müssen etwa eine Stunde durchhalten. Also gebt euer Bestes!“

„Das musst du mir wohl nicht zweimal sagen, Schnöselkind!“, fauchte Anya aufgebracht. Dabei betonte sie besonders: „Mir kann das egal sein, ich geh sowieso drauf!“

„Seit wann so negativ, Anya?“

„Schnauze, Redfield!“

Valerie seufzte resignierend. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Irgendwie werden wir dich auch retten. Und nicht nur dich …“

Schließlich meldete sich Isfanel zu Wort.

„Da ich den entscheidenden Nachteil besitze, beginne ich dieses Duell“, bestimmte er, nachdem seine Gegner bereits allesamt ihr Startblatt gezogen hatten. „Draw.“

 

[Anya: 4000LP Valerie: 4000LP Henry: 4000LP //// Isfanel: 4000LP]

 

Gleichzeitig wusste Anya nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Jetzt stand sie hier, mit ihren schlimmsten Rivalen und war im Begriff Marc erneut zu gefährden, sofern es da überhaupt noch etwas zu gefährden gab. Und mehr noch, für sie bedeutete dieses Duell höchstwahrscheinlich das Ende.

Aber nachdem sie diese Blicke erlebt hatte. Diese Blicke voller Enttäuschung, konnte sie sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Trotz ihres Verrats hielten die anderen noch zu ihr und wollten einen Weg finden, wie auch sie gerettet werden konnte. Aber gab es eine Möglichkeit, sie aus dem Pakt mit dem Gründer zu befreien?

Anya bezweifelte es und dachte an Levrier. Wie wäre seine Reaktion auf die Wahrheit um Another ausgefallen? Würde er immer noch Eden werden wollen? Wie sie ihn einschätzte, vermutlich. Andererseits, wie gut kannte sie Levrier schon? Im Endeffekt schien er ja auch nichts weiter gewesen zu sein, als vom selben Schlag wie diese Dinger aus Victim's Sanctuary! Nichts als ein Geist!
 

„Lass jetzt nicht den Kopf hängen!“, wies Valerie sie plötzlich harsch an. „Das können wir uns nicht erlauben. Schuldgefühle müssen warten!“

„Tch, ich glaub du verwechselst da was, Redfield! Wer sagt, dass ich Schuldgefühle habe? Ich helfe euch nur, weil mich dieser Typ ankotzt!“

Gleichzeitig nahm die Gestalt, die einst Marc gewesen war, eine Karte aus ihrem Blatt, welche auf wundersame Weise kein Feuer fing. „Meine Wahl fällt auf [Celestial Gear – Synthetic Albatross].“

Anya schnaubte wütend. „Da kommt es!“

 

Die drei Duellanten sahen überrascht zur hohen Kuppel der Turmspitze. Mindestens ein gutes Dutzend an leuchtenden, roten Sphären war über Isfanel erschienen. Zwischen ihnen zeichneten sich parallel diverse Linien aus weißem Licht. Es war, als würde vor ihren Augen ein Bild gezeichnet werden.

„Was ist das?“, entfleuchte es Henry nervös. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.

Blitzschnell verbanden die Strahlen die einzelnen Sphären, bis man schließlich die Form des Monsters erkennen konnte: es war ein gigantischer Vogel mit gespannten Flügeln, der nun hinab zu Isfanel stieg, welcher zwischen seinen riesigen Beinen stand. Das Außergewöhnliche an dieser Kreatur war jedoch, dass man durch die rötliche, durchsichtige Oberfläche das mechanische Innenleben sehen konnte. Zahnräder waren miteinander verbunden, zu viele, um sie alle zu zählen.

„Alter Falter“, gab Anya zum Besten und pfiff anerkennend. Der riesige Albatros streckte seinen langen, gebogenen Mechanikschnabel vor und gab einen hohlen Schrei von sich.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 DEF/0 (4)]

 

„Es hat wenig Angriffspunkte, aber wir sollten dennoch vorsichtig sein“, riet Valerie ihren Mitspielern. Auf ihrer Stirn hatte sich der Schweiß gebildet. Es war schrecklich zu wissen, dass dieses Wesen dort ihr Marc war. Und dass sie gegen ihn kämpfen musste, um zu überleben.

Endlich verstand sie, was Anya hatte durchmachen müssen. Nur, dass sie darum niemals gebeten hatte.

Henry stimmte ihr zu. „Ja. Vermutlich wird er es im nächsten Zug für etwas Stärkeres verwerten, da wir eine Runde mit unseren Angriffen warten müssen.“

„Ihr werdet überrascht sein“, sagte Isfanel ruhig, „ich setze eine Karte verdeckt. Damit ist mein Zug beendet.“

Vor ihm materialisierte sich die Karte.

 

„'kay, dann bin ich!“, entschied Anya aufgebracht und zog ausholend. „Draw! Redfield, du kommst nach mir dran, dann du, Pennerkind!“

Kaum hatte sie ihre neue Karte aufgenommen, schwang Isfanel den Arm über die vor ihm liegende Fallenkarte, die daraufhin aufsprang. „Ich aktiviere [Synthetic Gears Of Time].“

Anya unterdrückte einen überraschten Ausruf, als um ihr Team herum dutzende Zahnräder erschienen, die sich ineinander verkeilten und zu drehen begannen.

Und etwas störte sie massiv an ihrem Gegner. Dieser Isfanel, er war ganz anders. Er war nicht so arrogant und selbstherrlich wie damals, sondern viel mehr wie …

Die weiß lodernde Gestalt streckte den Arm mit seinem Blatt in der Hand vor. „Diese Falle kann nur aktiviert werden, wenn ich über ein Celestial Gear-Monster verfüge. Sie verbannt all meine Handkarten und alle Karten auf meinem Feld, mit Ausnahme genau eines Celestial Gear-Monsters.“

Verblüfft beobachteten die Drei, wie sich die Karten in Isfanels Hand auflösten.

„Warum opferst du all deine Handkarten!?“, verlangte Valerie zu wissen. „Bist das du, Marc? H-hilfst du uns etwa!?“

„Ich fürchte, dem ist nicht so. [Synthetic Gears Of Time] mag einen hohen Preis haben, aber der Effekt ist dafür sehr mächtig. All eure Züge werden nun übersprungen, sodass ich wieder am Zug bin.“

Gleichzeitig erklang es synchron von Anya, Valerie und Henry: „Was!?“

Sofort sah die Blondine auf den Lebenspunkte-Stand ihrer Duel Disk, der auch Phasenwechsel anzeigte. Und tatsächlich, dort wechselten die Phasen in einem regelrechten Eiltempo, bis End Phase dort stand, danach schließlich wieder ihre 4000 Lebenspunkte. Ähnlich erging es auch ihren Partnern.

 

Die Zahnräder um sie lösten sich schließlich damit auf, als bei Henrys Duel Disk die End Phase angezeigt wurde.

„Somit ist es jetzt mein Zug“, erklärte Isfanel.

„Was hat dir das gebracht, außer etwas Zeitschinderei und ein verlorenes Blatt?“, wollte Henry irritiert wissen. „Für so ein Manöver war es definitiv zu früh-!“

„Du wirst es jetzt sehen“, unterbrach sein Gegner ihn und ließ eine Karte in seiner Hand erscheinen. „Anstatt meine normale Draw Phase durchzuführen, kann ich die verbannte [Infinite Pressure]-Zauberkarte auf meine Hand nehmen. Und ich aktiviere sie sogleich.“

Mit einem Schlag ging eine Schockwelle durch den Kristallsaal, der Anya, Valerie und Henry in die Knie zwang. Die Schwarzhaarige fasste sich sogar an die Brust, da sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr ganzes Umfeld war plötzlich verschwommen, sodass sie mehrmals blinzelte, wodurch sich die Sicht aber nicht besserte. Es lag nicht an ihr, sondern dem Zauber.

„Diese Karte zu aktivieren ist ein schwieriges Unterfangen, denn das vermag ich nur, wenn die einzige Karte unter meiner Kontrolle ein Celestial Gear mit höchstens 1000 Angriffspunkten ist. Zudem darf ich außer [Infinite Pressure] keine anderen Karten auf der Hand halten.“

„Deswegen also“, würgte Henry hervor. „Das war also alles Teil einer Kombo?“

„Korrekt. Nun zur Wirkung meiner Zauberkarte. Alle Spieler müssen ihr Blatt auf den Friedhof schicken.“

Einen Moment lang herrschte entsetztes Schweigen, ehe Anya als Erste zu ihrer Stimme zurückfand. „Willst du mich veräppeln!? Was soll denn dieser Kackmist!?“

„Das ist der Effekt meiner Karte.“

„Eiskalt“, murmelte Henry mit manischem Blick auf seine Handkarten. Es war das erste Mal seit Langem, dass er das Gusto-Deck benutzte und dann das! „Eine eiskalte Technik, um uns auszuschalten …“

„Das ist hart, aber wir dürfen nicht aufgeben“, sagte Valerie. „Das Duell hat gerade erst begonnen und wir sind zu dritt!“

Schließlich trennten die Drei sich von ihrem Blatt, als aus Anyas Friedhof plötzlich zwei Karten geschossen kamen. „Tch! Die zwei Trottel da kannst du damit vielleicht überraschen, aber nicht mich!“

Die Blondine nahm unter den überraschten Blicken ihrer Partner die beiden Monster entgegen und zeigte sie Isfanel. „Die Linke da ist [Gem-Knight Lazuli]. Wenn die durch einen Karteneffekt auf den Friedhof geschickt wird, erhalte ich ein normales Monster von dort zurück. Was mich zu der rechten Karte bringt, [Gem-Knight Tourmaline]. Der passt nämlich auf diese Beschreibung wie meine Faust auf dein Glubschauge, Mistkerl!“

Ein fieses Grinsen breitete sich auf Anyas Gesicht aus. Dieser Trottel würde noch bereuen, was er da eben getan hatte!

„Unwichtig. Denn nun wirkt der zweite Effekt von [Infinite Pressure].“

Henry verlor in dem Moment vollends die Fassung. „Noch einer!?“

Plötzlich öffnete der mechanische Vogel, dessen Oberfläche wie eine Sternenkonstellation anmutete, seinen gebogenen Schnabel.

„Dieser Effekt ändert den Lebenspunktestand aller Spieler zum Doppelten der Angriffskraft des Celestial Gear-Monsters, das bei der Aktivierung von [Infinite Pressure] auf dem Spielfeld liegt.“

Schreie puren Entsetzens drangen zu Isfanel, doch der schwang nur seinen flammenden Arm aus.

Damit schoss sein Albatros der Reihe nach drei rote Laserstrahlen auf Anya, Valerie und Henry, die in den darauffolgenden Explosionen untergingen. Anschließend beugte sich der riesige Mechavogel nach unten, lugte durch seine Beine und schoss auch einen Energiestrahl durch den lodernden Körper seines Besitzers, was jedoch nur ein Loch auf Brusthöhe einbrannte, welches sich kurz darauf schloss.

 

[Anya: 1000LP Valerie: 1000LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 1000LP]

 

Die Drei lagen allesamt am Boden und rührten sich kaum merklich. Valerie war die Erste, die die Kraft fand, sich mit den Händen vom Boden aufzustemmen und in Isfanels Richtung zu schauen.

Genau wie bei ihren Mitstreitern, hatte der Angriff seine Spuren an ihr hinterlassen. Ein Teil ihrer Kleidung war zerfetzt, ihr linker Arm blutete stark. Ihre Hose war noch von Marcs Blut beschmiert. Doch Valerie biss die Zähne zusammen.

„Damit hast du dir keinen Gefallen getan“, meinte sie leise, mit widerspenstigem Blick. „Ein Angriff von uns kann es jetzt beenden.“

„Zuvor ist es aber an mir, einen von euch anzugreifen.“ Isfanel streckte den Arm aus und fuhr der Reihe nach über Anya, dann Valerie und schließlich Henry. Dann schwenkte er zurück zur Schwarzhaarigen, die deutlich zusammenzuckte. „Du. Du bist die Person, die am gefährlichsten einzustufen ist. Deswegen greife ich dich nun direkt an. [Celestial Gear – Synthetic Albatross], Celestial Overburst!“

Valerie weitete die Augen, als der riesige Mechavogel abermals den Schnabel öffnete und eine rote Energie darin auflud.

„Nun zum Effekt meiner Zauberkarten [Gear Backwards] und [Banished Power Gear]“, kündigte Isfanel unverhofft während des Angriffs an.

Valerie kam wackelig auf die Beine und trat protestierend einen Schritt vor. „Aber da sind keine Zauberkarten! Die hast du alle verbannt!“

„Korrekt. Und nur von der verbannten Zone aus entfalten sie ihre Wirkung. [Gear Backwards] erhöht jedes Mal, wenn ein Celestial Gear-Monster meinem Feind Kampfschaden zufügt, meine Lebenspunkte um dieselbe Menge.“

„D-deswegen bist du so unbesorgt …“, presste Valerie hervor und fasste sich an die Stirn dabei.

„Und [Banished Power Gear] erhöht die Angriffs- und Verteidigungskraft eines Celestial Gears während des Kampfes temporär um 500 Punkte.“

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 → 1000 DEF/0 (4)]

 

Fassungslos ließ Valerie ihre Hand sinken. Sie bemerkte die Blicke der anderen beiden nicht, die nicht weniger geschockt waren als der ihre.

Im Inneren des Albatros begannen sich die Zahnräder wie wild zu drehen, alle Maschinen arbeiteten plötzlich auf Hochtouren.

„Celestial Overburst!“

In den Augen des Mädchens spiegelte sich der rote Laserstrahl wieder, der auf sie abgefeuert wurde. Sie war wie gelähmt, konnte nichts tun, um auszuweichen.

Dann kam der Einschlag. Valerie spürte, wie sie durch die Luft geschleudert wurde. Sogar zum Schreien war sie zu schwach. Schwach, ja. Das war sie. Besiegt. Einfach so … Marc war so unendlich weit entfernt …

 

[Anya: 1000LP Valerie: 1000LP → 0LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 1000LP → 2000LP]

 

„Das macht Nummer eins“, kommentierte Isfanel das Geschehen kalt. Um ihn herum tauchten lauter Zahnräder auf, die sich zunächst im, dann schließlich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen begannen.

Gleichzeitig landete Valerie meterweit von den anderen entfernt auf dem kalten Boden und rutschte noch ein gutes Stück weiter, ehe sie einfach nur liegen blieb und sich nicht mehr rührte.

Anya und Henry starrten dem Mädchen hinterher, blanke Panik stand in ihren Gesichtern geschrieben.

Schließlich stieß die Blondine einen fürchterlichen Schrei aus: „Redfield!“

„Zug beendet“, stand Isfanels ruhige Art dem dazu in Kontrast.

 

 

Turn 33 – Isfanel's Heart

Geschockt von Valeries gnadenlosen Ausscheiden aus dem Duell, vereinen Henry und Anya ihre Kräfte, um sich gegen Isfanel zu behaupten. Gleichzeitig eröffnet er ihnen, was vor Jahrhunderten der Anlass dazu war, Eden zu versiegeln. Auf der anderen Seite muss sich Matt Another in Form des besessenen Alastairs stellen. Und dieser erweist sich nicht weniger erbarmungslos im Umgang mit ihm, als Isfanel mit den anderen …

Turn 33 - Isfanel's Heart

Turn 33 – Isfanel's Heart

 

 

„Redfield!“

 

Entgeistert schaute Matt herüber zu dem Duell der anderen, die nicht nur ziemlich hatten einstecken müssen, sondern binnen weniger Minuten ihren ersten Spieler verloren hatten.

„So … stark“, stammelte er und lenkte seinen Blick auf Valerie, die weit abgeschlagen von den anderen entfernt lag und sich nicht mehr rührte.

„Ja ja, natürlich ist er das“, drang da Anothers Stimme an sein Ohr, „aber so leicht gebe ich meine Schachfiguren nicht her. Immerhin hat sie mit mir einen Pakt geschlossen, von daher war Isfanels Versuch, sie zu töten, von vornherein zum Scheitern verdammt. Aber solltest du dich nicht eher um deine eigene Haut kümmern? Ich meine, ich bin auch noch da.“

 

[Matt: 4000LP / Another: 4000LP]
 

Sofort wandte Matt sich zu ihm um. Sarkastisch merkte er an: „Ist mir gar nicht aufgefallen.“

Dennoch war er erleichtert, dass Valerie offenbar noch lebte. Scheinbar setzte Another seine ganze Kraft ein, um seine Pläne umzusetzen. Aber wenn er damit beschäftigt war, in Isfanels Duell zu intervenieren … war die Möglichkeit gegeben, dass er sich nicht stark genug auf sein eigenes konzentrierte!

„Dann helfe ich dir dabei, dich zu erinnern. So nett bin ich. Draw!“

Der Dämon in Alastairs Gestalt zog nun auch seine sechste Handkarte, nachdem Matt den ersten Zug getan hatte.

In jenem hatte er nur [Steelswarm Sting] beschworen. Die schwarze Riesenhornisse verharrte nun vor ihm in der Luft und sollte die Lage überprüfen, ehe Matt in die Vollen ging.

 

Steelswarm Sting [ATK/1850 DEF/0 (4)]

 

Nachdem er Isfanels brutalen Zug gesehen hatte, sah er davon ab, sein Feld zu schnell zu füllen.

Seine fünf Handkarten fest im Griff, wischte er sich mit der anderen Hand den Schweiß von der Stirn. Täuschte er sich, oder wurde es im Kristallsaal immer wärmer?

Ein Blick auf das Tor Edens, das über dem Thron im hinteren Teil des Saals an elektrischen Seilen schwebte, verriet ihm die Antwort nicht. Das kreisrunde, mit silbernen Kristalldornen versehene Tor hatte sich bisher nicht verändert.

 

„Konzentriere dich, wenn du länger als zwei Züge durchhalten willst“, mahnte Another ihn vergnügt, meinte dann aber: „Andererseits, je schneller das hier vorbei ist, desto eher kann ich mich um Melinda Ford und Isfanel kümmern.“

 

Das hier würde sicherlich ebenso wenig ein Kinderspiel werden wie der Kampf gegen Isfanel, sagte sich Matt dabei. Dieser Krieg an zwei Fronten machte ihn nervös. Was, wenn der erste der beiden Dämonen niederging – oder schlimmer, wenn eines seiner Teams den Kürzeren zog? Es würde die anderen mit sich reißen, weil Isfanel oder Another dann dafür sorgen würde, dass deren jeweiliges Ziel erreicht wurde. Entweder, indem der Rest der Gruppe angegriffen, oder aber Isfanel beseitigt wurde. Und dann war da noch Melinda.

Matt war sich aber nicht so sicher, ob Another in Melinda wirklich eine Gefahr sah. Viel eher machte es den Eindruck, als wäre sie nur eine Entschuldigung, um sich mit Isfanel zu verbünden. Die Vorteile lagen auch auf der Hand, so konnte er den flammenden Dämon leichter kontrollieren und beschäftigen, statt sich mit ihm herumschlagen zu müssen.

Außerdem hatte Another bestimmt noch ein Ass im Ärmel, um die Situation, wenn sie brenzlig wurde, zu wenden. Matt hatte es einfach im Blut.

 

„Du hörst mir wirklich nicht zu, oder?“, stellte Another beleidigt fest. „Fein, dann lasse ich lieber die Karten sprechen. Du solltest sie kennen! Ich beschwöre [Vylon Pentachloro]!“

Erstaunt horchte Matt beim Klang des vertrauen Namens auf.

Vor seinem Gegner tauchte ein metallisches Wesen auf, bestehend aus einem fünfeckigen Körper aus dunklem Stahl, zwei Armen und letztlich einem goldenen, radähnlichen Kopf.

 

Vylon Pentachloro [ATK/500 DEF/400 (4)]

 

„D-du benutzt Alastairs Deck!?“, staunte Matt.

Another zuckte unbedarft mit den Schultern. „Warum nicht? Ich bin schließlich keine Attention Whore wie Isfanel und zaubere mir mal mir nichts, dir nichts ein neues Awesome-Deck. Außerdem ist meine Paktkarte hier drin.“

Matt zischte ärgerlich, denn sein Gegner schien das Ganze gar nicht für voll zu nehmen. Schlimmer aber war, dass er vermutlich guten Grund dazu hatte. Denn der jüngere Dämonenjäger ahnte bereits, was gleich auf ihn zukommen würde.

„Da du schon so jämmerlich guckst, werde ich dich nicht länger im Ungewissen lassen, was es mit der Beschwörung dieses Monsters auf sich hat“, erklärte Another selbstverliebt, „du hast es dir sicher sowieso gedacht, nicht wahr? Von meiner Hand die Zauberkarte [Machine Duplication]. Ich denke du weißt genau, was sie bewirkt.“

„Leider“, brummte Matt.

Aus Anothers Monster schossen zwei Abbilder seiner selbst und nahmen rechts und links neben der Kreatur feste Formen an. Womit Matt nun drei Monstern gegenüberstand – was aber nicht lange so bleiben würde, wie er wusste.

Another streckte den Arm in die Höhe, unter dem roten Mantel drang gelbes Licht schwach hervor. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen drei Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Als gelbe Lichtstrahlen wurden seine drei Monster in das schwarze Loch mitten im Spielfeld eingesogen, welches sich zeitlich zu Anothers Ankündigung geöffnet hatte.

„Xyz-Summon! Unterdrücke und herrsche, [Vylon Disigma]!“

Aus dem Wirbel hervor trat eine Kreatur die wirkte, als wäre sie aus den Tiefen der Finsternis selbst entsprungen. Dunkel und bösartig war die Grimasse des Wesens, dessen überdimensional großer Kopf auf zwei miteinander verbundenen, quadratischen Plattformen lag. Aus den langen Armen, die aus seinem Kopf ragten, schoss ein ganzes Bataillon an schwarzen Klingen. Drei gelbe Sphären umkreisten [Vylon Disigma] dabei.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

„Oh verdammt!“, fluchte Matt beim Anblick des Monsters.

Another griff unter Disigmas Karte auf seinem D-Pad und zog eines der Xyz-Materialien darunter hervor. „Blitzgescheit wie du bist, wirst du nicht vergessen haben, was geschieht wenn Disigmas Effekt aktiviert wird!“

Die Kreatur öffnete ihr Maul und sog gnadenlos Matts [Steelswarm Sting] ein. Daraufhin färbte sich eine der Sphären um Disigma violett.

„Mein Monster hat deines absorbiert“, erklärte Another daraufhin triumphierend, „was bedeutet, dass es fortan jedes Monster mit demselben Attribut automatisch in einem Kampf vernichtet!“

Matt weitete die Augen. In seinem Deck befanden sich ausschließlich Finsternis-Monster – was bedeutete, dass jegliche seiner Angriffe nutzlos wären!

„Aber das ist nur der halbe Spaß! Wenn ich das richtig sehe, bist du vollkommen schutzlos.“ Der vernarbte Hüne ihm gegenüber setzte ein fieses Lächeln auf. „Das schreit ja regelrecht nach einer kleinen Demütigung! [Vylon Disigma], direkter Angriff! Sacred Black Obliteration!“

Zwischen seinen Handflächen ließ das Wesen violett-schwarze Energie entstehen, welche zu einem Speer lang gezogen wurde. Matt konnte gerade so einen Schritt zurückweichen, da wurde die Lanze schon auf ihn geworfen. In einer kuppelförmigen Explosion ging der junge Mann schreiend unter.

„Gahhhhhh!“

Die Druckwelle schleuderte ihn von den Beinen. In der Luft drehte Matt sich mehrmals die eigene Achse, ehe er hart auf dem Kristallboden landete und von dort weiter rollte. Direkt in die Kristalldornen, die den Ausgang blockierten.

„Ahhhhhh!“, schrie er abermals, als er dagegen stieß und eine der herausragenden Dornen sich durch seine Schulter bohrte. Andere rissen seine Hose und den Mantel auf, sorgten für tiefe Schnittwunden.

 

[Matt: 4000LP → 1500LP / Another: 4000LP]

 

„Was denn, was denn?“, höhnte Another enttäuscht. „Du bist doch selber schuld, wenn du nicht darauf achtest, dich angemessen zu schützen.“

Matt stieß einen weiteren qualvollen Schrei aus und betrachtete in seiner liegenden Position verzweifelt die Kristallspitze, die aus seiner Schulter ragte. Wenn er sich losriss, riskierte er eine Menge Blut zu verlieren!

„Warte, ich helf' dir“, bot Another gönnerhaft an und streckte den Arm nach Matt aus. Mit einem Ruck und einem Schrei wurde dieser durch eine unsichtbare Kraft vom Kristall losgerissen, drehte sich in der Luft zu einer aufrechten Haltung und wurde zurück an seinem Duellplatz transportiert, wo er unsanft von Another fallengelassen wurde. „Bitteschön!“

Matt, überrascht und an beiden Beinen verletzt, konnte den Fall nicht kompensieren und fiel vorne über auf den Boden. „Urgh!“

„Ein Trauerspiel“, kommentierte sein Gegner das mit einem abschätzigen Blick. „Zug beendet.“

 

Matt hielt sich die Wunde an der Schulter und raffte sich schwankend auf. Er war ganz blass im Gesicht und biss sich auf die Lippen, um von den Schmerzen abzulenken.

„War wohl nicht die klügste Idee, mich direkt hinter diesem Ding zu positionieren“, presste er selbstironisch hervor.

„In der Tat nicht“, stimmte Another ihm zu und lächelte dünnlippig, „man könnte fast meinen, da wollte mich jemand in eine Falle locken.“

„Ja, wäre wirklich schade, wenn eines deiner Opfer durch deinen eigenen Angriff umkäme, huh?“, erwiderte Matt ebenfalls mit einem wissenden Grinsen.

„Na wie gut, dass das nicht passiert ist.“ Der schwarzhaarige Hüne im roten Mantel kniff die Augen zusammen. „Nicht wahr?“

„Sehe ich auch so“, antwortete Matt darauf und verzog wütend das Gesicht. „Tch, was für ne Schnappsidee!“

Innerlich fluchte er über sich selbst. Was hatte er sich dabei gedacht!? Er war doch nicht wie dieser Henry, er hing an seinem Leben! Für diesen seltendämlichen Einfall hatte er jetzt die Quittung!

 

„Mein Zug!“, fauchte er, um sich vom Schmerz und seiner eigenen Idiotie abzulenken. „Draw!“

Die neue Handkarte betrachtend, atmete er tief durch. Diese Dummheit hatte ihn einen großen Batzen an Lebenspunkten gekostet. Wenn er sich jetzt wieder absichtlich zurückhielt, würde er das Duell verlieren!

Es gab nur ein Problem: er kam an [Vylon Disigma] nicht vorbei! Keines der Monster auf seiner Hand war stark genug und selbst wenn sie es wären, könnten sie den Kampf aufgrund von Disigmas Effekt trotzdem nicht gewinnen.

„Ich setze ein Monster und zwei verdeckte Karten“, verkündete Matt, legte die Karten auf sein D-Pad und ließ sie vor seinen Füßen erscheinen. „Damit gebe ich an dich ab, 'Anny'!“

Solange er seine Monster im Verteidigungsmodus spielte, konnten sie wenigstens nicht absorbiert werden.

 

„'Anny'?“, wiederholte Another verdutzt und zog nebenbei seine nächste Karte. „Hast du dir eben den Kopf gestoßen?“

„Soll ich dich lieber 'Ally', nach Alastair, nennen?“, hakte Matt grinsend nach. „Ich dachte, dass es dir vielleicht gefällt, von mir einen Spitznamen zu bekommen. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ihr Dämonen eure Wirte immer beim vollen Namen ansprecht. Dachte, etwas Abwechslung kann nicht schaden?“

„Es ist eine Sache des Respekts“, erklärte Another. Plötzlich trübte sich sein Blick. „Dort, wo wir herkamen, wurden niemals mehrteilige Namen gegeben, denn kein Name in unserer Welt wurde zweimal vergeben. Jeder hat seine einzigartige, besondere Bedeutung. Es ist undenkbar für uns, jemandes Namen zu verkürzen oder falsch wiederzugeben.“

„Wo … ihr herkamt?“ Matt legte verwirrt den Kopf in den Nacken und sah herüber zu Eden. „Etwa durch … ?“

„Was auch immer, deine lausigen Versuche, durch Smalltalk etwas Zeit zu gewinnen, funktionieren bei mir nicht!“, fand Another wieder zu seiner selbstherrlichen Art zurück. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mit meinen Schachfiguren zu plaudern! Daher musst du jetzt stark sein, mein Lieber, denn das hier eben war dein letzter Zug!“

Von seiner Hand nahm der besessene Alastair eine Zauberkarte und zeigte diese vor. „Ich aktiviere [Stop Defense]! Der Name ist hier auch Programm, dein Monster wird in den Angriffsmodus gewechselt!“

„Oh verdammt!“

Mit erschrockenem Blick beobachtete Matt, wie sich die Karte seines gesetzten Monsters um 90° drehte und umwirbelte. Hervor sprang ein kleiner, schwarzer Insektenknabe, dessen überdimensional große Augen herüber zur anderen Spielfeldseite lugten.
 

Steelswarm Scout [ATK/200 DEF/0 (1)]

 

„Na reizend …“, stöhnte Matt, der längst wusste, was jetzt kam.

Another griff unter die Karte seines [Vylon Disigma] und zog ein weiteres Xyz-Material darunter hervor. „Ganz genau! Mein Monster wird jetzt auch diese Kreatur absorbieren!“

Wieder öffnete Disigma sein Maul und sog Matts Scout in sich auf. Zeitgleich verfärbte sich die zweite der drei leuchtenden Sphären violett.

Allerdings hatte Another längst eine weitere Zauberkarte gezückt. „Und nun aktiviere ich [Release Restraint Wave]! Mit ihr ist es mir möglich, eine meiner Ausrüstungszauberkarten zu vernichten, um alle deine gesetzten Zauber- und Fallenkarten ebenfalls mit in den Abgrund zu ziehen!“

„Was!?“

Eine der violetten Sphären, die, die einst [Steelswarm Sting] war, zerplatzte kurzerhand und löste eine Schockwelle aus. Matt schütze sich mit erhobenen Armen vor dem Sturm, doch seine gesetzten Fallen wurden mitgerissen und zersprangen.

Als der junge Mann über seine Arme herüber zu seinem Gegner sah, fand er diesen mit einem finsteren Lächeln auf den Lippen vor.

„Dumm gelaufen, mein Lieber“, sagte Another triumphierend, „ich war dir von Anfang an überlegen.“

Matt zischte vor Wut. „Was willst du überhaupt!? Warum bist du so versessen darauf, dieses verdammte Tor zu öffnen!?“

Der Blick seines Gegenübers verhärtete sich. „Ich sehe keinen Grund, dir eine Antwort zu geben. Du würdest sie ohnehin mit ins Grab nehmen und selbst wenn du meine Absichten kennst, wären sie für dich bedeutungslos.“

„Mit so etwas gebe ich mich nicht zufrieden!“ Matt schwang wütend den Arm aus. „Erzähl mir nichts von wegen, ein Mensch könne nicht verstehen, was in einem von euch vor sich geht! Wir sind nicht so verschieden!“

Allerdings rümpfte Another nur die Nase. „Das war nicht, was ich damit ausdrücken wollte. Aber helfen würde mir niemand freiwillig bei meiner Aufgabe. Daher muss ich mir nehmen, was ich brauche. Und das sind du und deine Freunde!“

Ehrgeizig streckte der schwarzhaarige Mann seinen Arm aus und weitete die Augen manisch. „Euer Schicksal ist besiegelt! Genug des Geschwätzes, mach dich bereit! [Vylon Disigma], ich befehle dir, direkt anzugreifen! Sacred Black Obliteration!“

„Verdammt!“, schrie Matt panisch und wich zurück.

Die finstere Engelsmaschine schuf mit ihren Armen einen neuen Energiespeer, den sie ergriff und zum Abwurf bereit machte. Der Dämonenjäger schluckte. Dann kam der Speer schon auf ihn zugeschossen und ließ ihn in einer kuppelförmigen Explosion untergehen.

 

~-~-~

 

„Dieser Idiot!“, schrie Anya, als Matt gerade im ersten Zug Anothers durch sein zurückhaltendes Spiel gegen den Kristall geschleudert und aufgespießt wurde. „Was macht der da!?“

Dann richtete sie wieder ihren Blick auf Valerie, die am Ende des Saals regungslos durch Isfanels erbarmungslosen Angriff liegen geblieben war. War sie tot?

„Anya, wir müssen weitermachen!“, drang Henrys Stimme da an ihr Ohr. Jener hatte sich wieder aufgerafft, auch wenn er genau wie Anya deutlich mitgenommen daher kam.

Die Blondine nickte schließlich und kam ebenfalls wankend auf die Beine.

 

[Anya: 1000LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 2000LP]

 

„Großartig!“, fluchte sie, als sie ihre Lage Revue passieren ließ.

Isfanel hatte es mit einer Kombo geschafft, die Handkarten aller Spieler zu vernichten und die Lebenspunkte auf ein Minimum zu reduzieren. Glücklicherweise besaß Anya dank des Effekts von [Gem-Knight Lazuli] noch [Gem-Knight Tourmaline] auf dem Blatt. Henry dagegen hatte weniger Glück und war blank. Zumindest erging es Isfanel in der Hinsicht genauso.

Allerdings besaß dieser dafür diesen gewaltigen Maschinenvogel, [Celestial Gear – Synthetic Albatross], dessen Innenleben nur von einer leuchtenden, durchsichtig-roten Oberfläche aus purem Licht verdeckt wurde. Und auch wenn dieses Ding schwach war, hatte es dennoch Valerie mit einem Angriff ausgeschaltet.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 DEF/0 (4)]

 

Es waren die verbannten Karten, dachte Anya wütend. Isfanel hatte ein ganzes Arsenal an Zauberkarten aus dem Spiel entfernt, um ihre Züge zu überspringen. Und nun wusste Anya warum – dort konnten sie ungehindert ihre Effekte entfalten! Wer wusste schon, was dort alles auf sie lauerte?

 

Die weiße, flammende Gestalt, die einst Marc gewesen war, sagte: „Ich habe meinen Zug beendet, Anya Bauer.“

„Tch, ist ja gut!“, fauchte die und griff nach ihrer Duel Disk.

Wie sollte sie zusammen mit dem Pennerkind gegen jemanden bestehen, der seine Monster durch die verbannte Zone stärkte!? Dagegen gab es keinerlei Mittel! Andererseits war dieser Mechavogel, zwischen dessen Beinen Isfanel stand, selbst mit dem Punkteschub durch [Banished Power Gear] schwach! Wäre doch gelacht, wenn sie an so einem Ding scheitern würde!

„Draw!“, fauchte Anya und riss die nächste Karte von ihrem Deck. Und als sie diese betrachtete, blinzelte sie verdutzt. „[Kuriboss]?“

Das war doch eine der Karten, die sie durch den Wunsch des Jinns erhalten hatte! Nur kam dieses Ding im ungünstigsten Moment. Mit dem konnte sie keine Gem-Knight-Fusion durchführen – oder doch!?

Anya griff kurzerhand in das Nebenfach ihrer alten Battle City-Duel Disk und zog ihr Extradeck hervor, um eines ihrer Fusionsmonster zu überprüfen. Und als sie erfahren hatte, was sie wissen wollte, huschte ein zufriedenes Grinsen über ihr Gesicht.

Sich an Isfanel richtend, schob sie das Extradeck zurück in den dafür vorgesehenen Schacht und rief: „Ich verbanne [Gem-Knight Lazuli] von meinem Friedhof und erhalte dafür von dort meine [Gem-Knight Fusion]-Zauberkarte zurück, die du mir vorhin genommen hast, Mistkerl!“

Kaum hatte sie ihr verbanntes Monster in die Hosentasche gesteckt, zückte sie die Zauberkarte und hielt sie zusammen mit den beiden Monstern auf ihrer Hand hoch in die Luft.

„Eine Fusion!? Perfekt, genau was wir jetzt brauchen!“, kommentierte Henry das glücklich.

 

Hoffentlich würde das etwas Zeit schinden, dachte er sich. Sie brauchten jede Minute, damit Melinda alles für ihre Flucht und die Zerstörung des Turms vorbereiten konnte! Wenn er doch nur selbst etwas unternehmen könnte!

 

„Schaut her, ich verschmelze [Gem-Knight Tourmaline] mit meinem [Kuriboss]! Aber das hier ist keine normale Fusion der Gem-Knights! Hier wird ein Gem-Knight mit einem Licht-Monster vereint!“, rief Anya stolz. „Tourmaline, du bist das Gefäß! [Kuriboss], du bist die Seele! Werdet eins! Werdet [Gem-Knight Seraphinite]!“

Wenn sie könnte, würde sich Anya am liebsten beim Jinn dafür bedanken, ihr auch dieses mächtige Fusionsmonster geschenkt zu haben. Zu dumm, dass der nicht mehr war. Aber sie würde dafür sorgen, dass ihr Wunsch an ihn eine Bedeutung gewann!

Über dem Mädchen tat sich ein Wirbel aus Edelsteinen auf, welcher einen goldenen Ritter und einen kleinen, braunen Fellball mit Sonnenbrille und wehendem, grauen Cape in sich einsog. Ein Lichtblitz entstand, als eine erhabene Gestalt aus dem Wirbel trat.

Es war eine Ritterin ganz in Weiß, deren blauer Umhang wild um ihre Schultern flatterte. Aus ihrem Rücken traten dabei weiße Lichtschwingen, während sie einen Degen aus blauem Kristall mit sich führte und diesen drohend auf Isfanel und sein Monster richtete.

 

Gem-Knight Seraphinite [ATK/2300 DEF/1400 (5)]

 

„Was ist das für ein Gem-Knight!?“, staunte Henry mit offenem Mund. „So einen habe ich noch nie gesehen!“

„Das ist der Gem-Knight, der unserem Kumpel jetzt mächtig in den Arsch treten wird!“, erklärte Anya und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den gemeinsamen Gegner. „[Gem-Knight Seraphinite], auf in die Schlacht! Gem Cutting Edge!“

Ihre Kriegerin schwärmte aus und flog unter wehendem Umhang auf den gewaltigen Mechavogel zu. Isfanel hob seinen Arm in die Höhe. „Durch die verbannte Zauberkarte [Banished Power Gear] erhöht sich die Angriffskraft meines Monsters während des Kampfes um 500.“

Woraufhin sich die Zahnräder im Inneren des Albatros wie wild zu drehen begannen.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 → 1000 DEF/0 (4)]

 

„Zu schade, das ist nicht mal ansatzweise genug, Blödmann!“, fauchte Anya und zog mit dem Daumen über ihre Kehle. „Mach es alle, Seraphinite!“

Kurz darauf stieg ihre Ritterin in die Höhe, über den Kopf der Maschine, um dann mit vollem Tempo ebendiesen mit ihrer Klinge zu spalten. Unter einem lauten Knall explodierte der Schädel, während die Zahnräder im Inneren der Kreatur den Halt verloren und das Gebilde in sich zusammenbrach. Bevor Isfanel jedoch unter ihnen begraben werden konnte, schrumpften die Teile und wurden zu klitzekleinen Lichtpartikeln.

„Im Kampf mit [Celestial Gear – Synthetic Albatross] erhalte ich keinen Kampfschaden“, erklärte er und streckte die lodernde Handfläche aus. „Und nachdem ein Celestial Gear zerstört wurde, kehrt es auf meine Hand zurück.“

Die Lichtpartikel um ihn herum fokussierten sich bei diesen Worten an einem Punkt über seiner Handfläche und bildeten dort die Karte seines Maschinenmonsters.

Anya klappte die Kinnlade herunter. „Was zum-!? Hey, das ist unfair! Der Angriff hätte dich über die Hälfte deiner Lebenspunkte kosten müssen!“

„Was sind das für Karten!?“ Auch Henry war überrascht. „Das heißt, er kann sie einfach erneut ausspielen, wenn wir sie zerstören? Wie sollen wir sie dann loswerden!?“

„Tch! Ganz einfach, Idiot“, fauchte Anya ihn mit einem Blick zur Seite an, „wir lassen gar nicht erst zu, dass er sie nochmal ausspielt! Dein Zug! Mach ihn fertig!“

 

Deutlich verunsichert griff Henry nach seinem Deck, doch sein Blick haftete auf der Karte, die immer noch über Isfanels Hand schwebte.

Anya derweil raunte: „Selbst wenn er es nochmal ausspielt, das Vieh ist doch total schwach!“

Auf den ersten Blick mochte diese Fähigkeit der Celestial Gear-Monster nicht weiter gefährlich wirken, denn dieser Albatros war trotz allem ein schwaches Monster, wie Anya richtig sagte. Dennoch war diese Entwicklung besorgniserregend.

„Anya“, richtete er sich ernst an seine Mitspielerin, „unterschätze diese Monster nicht.“

Den Ratschlag nahm das Mädchen aber nicht sonderlich gut auf. „Tch, hab ich gesagt, dass ich das tue!?“

„Du guckst nur auf die Angriffspunkte, daher meine Warnung.“ Henry schnaufte wütend. „Aber da rede ich vermutlich gegen eine Wand. Draw!“

Als Henry zog und erkannte, dass es ein Monster war, atmete er auf. Mit so wenigen Lebenspunkten konnte er es sich nicht leisten, schutzlos dazustehen.

„Ich setzte ein Monster und beende!“

Seine einzige Karte quer auf die Duel Disk legend, ließ er sie in vergrößerter Form vor sich erscheinen. Und sorgte im Zuge dessen dafür, dass Anya ihn auf der Stelle anschrie.

„Was soll der Mist!? Sein Feld ist leer! Das ist die Chance, zuzuschlagen, du elender Schisser!“

„Und was bringt es dir, wenn ich mit einem schwachen Monster angreife, das von ihm im nächsten Zug zerstört wird!?“, verteidigte sich Henry ebenso aufgebracht und zeigte ihr einen Vogel. „Spinnst du eigentlich!? Vergiss nicht, dass er durch die verbannte [Gear Backwards]-Zauberkarte Lebenspunkte bekommt, wenn er uns Schaden zufügt! Wenn ich jetzt angegriffen hätte, wäre das nur zu unserem Nachteil gewesen!“

Anya erwiderte seine rüde Geste mit einem nicht weniger unfreundlichen Mittelfinger und drehte sich beleidigt weg. „Tch, Feigling …“
 

„Ich bin am Zug. Draw“, ließ sich Isfanel nicht davon stören und zog von der klingenartigen Duel Disk an seinem Arm eine Karte, während er [Celestial Gear – Synthetic Albatross] weiterhin über seine andere Handfläche schweben ließ.

Schließlich nahm er diesen jedoch aufs Blatt, nur um ihn im Anschluss auf die Duel Disk zu legen. „Ich führe nun eine Rückbeschwörung durch, indem ich [Celestial Gear – Synthetic Albatross] nach seiner Zerstörung erneut als Normalbeschwörung rufe.“

„Da kommt er!“ Anya runzelte ärgerlich die Stirn.

Wenn das Pennerkind recht hatte, würde hier gleich die Post abgehen. Auch wenn sie nicht leugnen konnte, dass dieser Nervenkitzel ihr irgendwie gefiel.

Henry indes wiederholte: „Rückbeschwörung also …“

Verschiedene rote Lichtpunkte tauchten weit über der brennenden Gestalt, die Isfanel war, auf und wurden durch gleichfarbige Linien miteinander verbunden. Kurz darauf wurde das mechanische Innere des Riesenvogels unter der durchsichtigen Begrenzung sichtbar und der Albatros mit seinem gebogenen Schnabel stand wieder in seiner vollen Größe vor ihnen.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 DEF/0 (4)]

 

Doch etwas war anders! Die Zahnräder in seinem Inneren begannen plötzlich grell zu leuchtend und drehten sich viel schneller als zuvor.

„Der Effekt meines Monsters aktiviert sich nun“, erklärte Isfanel, „wenn auf diese Weise beschworen, bleibt es nur einen Zug auf dem Feld, ehe es verbannt wird. Dafür erhält es seinen letzten Effekt. Dieser lässt mich bei seiner Rückbeschwörung zwei Karten ziehen.“

Anya und Henry stießen erschrockene Seufzer aus, als Isfanel sein Blatt auf drei Karten aufstockte.

„Deshalb hat er also sein eigenes Blatt vernichtet! Er wusste, er würde es wieder regenerieren können“, schloss Henry daraus entsetzt.

„Diese Dinger gehen mir langsam richtig auf den Keks!“, fauchte Anya aufgebracht. „Aber völlig egal, wie viele Karten er zieht, das Ding bleibt trotzdem schwach!“

„Das ist wahr, seine Angriffspunkte sind zu niedrig“, stimmte Isfanel zu und zückte ein anderes Monster von seinem Blatt. „Daher werde ich es jetzt verbannen, um [Celestial Gear – Synthetic Eagle] als Spezialbeschwörung durch dessen Effekt zu rufen!“

Sein gewaltiger Maschinenalbatros löste sich in hellblauem Licht auf, welches dutzende, gleichfarbige Lichtpunkte über ihm bildete, die sich wieder mit zahlreichen Linien miteinander verbanden und so ein neues Monster von riesigem Ausmaß zeichneten. Die Spannweite der Flügel des neuen Mechavogels war noch breiter, dafür wirkte der Körperbau schlanker und agiler. Durch eine himmelblaue, durchsichtige Schicht war auch bei ihm der Blick auf das mechanische Innenleben gewährt.

„Wenn [Celestial Gear – Synthetic Eagle] auf diese Weise beschworen wird, nimmt er die Stufe des verbannten Monsters an“, erklärte Isfanel ruhig, während seine Gegner das Monster bestaunten.

 

Celestial Gear – Synthetic Eagle [ATK/2500 DEF/1000 (5 → 4)]

 

„D-das Vieh ist ja stärker als meine Seraphinite!“, stammelte Anya panisch. Ihre kämpferische Haltung spiegelte sich in den weiß leuchtenden Augen des Riesenadlers wieder, der dann seinen Kopf zur Seite neigte und Henry ins Visier nahm.

Jener stolperte einen Schritt zurück. „Mit seiner Zauberkarte kommt es auf 3000 Angriffspunkte!“

„[Celestial Gear – Synthetic Eagle] fügt, wenn er ein Monster angreift, Durchschlagschaden zu“, erklärte Isfanel und streckte seinen Arm Richtung Henry aus. „Nach dem Mädchen folgt nun der Nächste. Los, Celestial Stormburst!“

 

Celestial Gear – Synthetic Eagle [ATK/2500 → 3000 DEF/1000 (4)]

 

„Oh Gott!“, stieß Henry panisch hervor, da er erkannte, was das für ihn bedeutete.

Der Mechanikadler hob seine riesigen Schwingen an, schlug sie nur einmal auf und ab, um zwei grell leuchtende Wirbelstürme zu entfachen, die sich rasend schnell ihren Weg auf Henry zu bahnten.

Dieser schloss die Augen und ließ die Arme schlaff hängen. „Tut mir leid, Melinda. Ich war …“

„Verdammter Kackmist, ich dachte, ich kann mir das noch aufheben!“, schrie Anya aufgebracht und griff hastig nach ihrem Friedhof, bevor Henry von den Stürmen erfasst wurde. „Ich verbanne [Kuriboss] von meinem Friedhof, um einmal Kampfschaden zu annullieren!“

Kurz bevor die Wirbel Henry und sein Monster erreicht hatten, tauchte das braune Fellknäuel mit der Sonnenbrille und dem grauen Umhang vor ihnen auf und fing einen der Stürme ab.

„Kuri!“

Jammernd wurde das arme Ding daraufhin durch die Luft gewirbelt und verschwand, doch mit ihm besagter Wirbelsturm. Der andere jedoch fegte über Henrys Monster hinweg, das aus der Karte hervorgesprungen kam – ein grünhaariges Mädchen in beigefarbenem Cape.

 

Kamui, Hope Of Gusto [ATK/200 DEF/1000 (2)]

 

Schreiend wurde sie ebenso mitgerissen, bis schließlich auch der zweite Sturm verschwand.

Henry öffnete verwirrt die Augen und sah herüber zu Anya, die ihn wütend anfunkelte. „Was sagt man da?“

„D-du hast mich gerettet!?“

„Falsch! Man sagt 'Danke, liebe Anya, meine Herrin und Gebieterin'!“

Der brünette, junge Mann blinzelte verwirrt. „Wieso hast du das getan?“

„Tch!“ Sie wandte sich ruckartig mit verschränkten Armen von ihm ab. „Denk nicht, dass ich das für dich getan hab! Mir ging es nur darum, [Kuriboss'] Zusatzeffekte auszulösen! Wenn ich nämlich jemand anderes Kampfschaden mit ihm negiere und nicht meinen eigenen, kann ich eine Karte ziehen und eines meiner Monster um 300 Angriffspunkte stärker machen! Nur deswegen, klar!?“

Schnaufend zog sie ihre Karte. Dabei tauchte der Boss der Kuriboh-Familie über ihrer Ritterin auf und ließ einen goldenen Lichtregen auf sie niedergehen, ehe sich über ihm ein kleines Loch in eine andere Dimension auftat, in das er entschwand.

 

Gem-Knight Seraphinite [ATK/2300 → 2600 DEF/1400 (5)]

 

Henry ließ Anya dabei nicht aus den Augen. Ohne ihr Eingreifen wäre er Isfanel zum Opfer gefallen, genau wie Valerie. Gerade überlegte er fieberhaft, ob er sich ein Danke ihr gegenüber abringen konnte, da fiel ihm etwas anderes ein.

„Ah, der Flippeffekt von Kamui!“ Er schnippte mit dem Finger. „Wenn sie aufgedeckt wird, beschwört sie einen Gusto-Empfänger von meinem Deck.“

Kurzerhand nahm er sich seinen Kartenstapel und legte [Gusto Falco], einen kleinen, grünen Vogel mit Brustpanzerung und Helm auf die Duel Disk von Abby. Dieser machte es sich auf seiner Schulter bequem.

 

Gusto Falco [ATK/600 DEF/1400 (2)]

 

„Noch so ein schwaches Verteidigungsmonster?“, beklagte sich Anya sofort wieder. „Willst du, dass es wieder so läuft wie eben!?“

„Ich habe meine Gründe, warum ich ihn ausgewählt habe, okay!?“

Sofort strich Henry jegliche Gedanken an Dank aus seinem Kopf. Dieses Mädchen raubte ihm selbst jetzt, wo sie um ihr Leben kämpften, den letzten Nerv!

„Mein Angriff ist also fehlgeschlagen“, stellte Isfanel fest, während seine Gegner sich schamlos vor ihm zofften. Seine letzten beiden Handkarten in die Duel Disk einlegend, erklärte er: „Wie dem auch sei, ich setze zwei Karten verdeckt. Zug beendet.“

Damit erschienen die Fallen vor seinen Füßen.

 

Anya betrachtete das Spielfeld ihres Gegners einen Moment, bevor sie schließlich den Blick auf die eigene Duel Disk richtete. Selbst mit dem Angriffsboost von [Kuriboss] war [Gem-Knight Seraphinite] nicht stark genug, um gegen [Celestial Gear – Synthetic Eagle] anzukommen. Nicht, solange jener durch die verbannte Zone gestärkt wurde. Und das Schlimmste war, dass es in Anyas Deck kein Monster gab, das die 3000 Punktemarke knackte. Nicht mal der dämliche [Gem-Knight Zirconia] von Matt!

„Elender Mist!“, fauchte sie und riss die oberste Karte von ihrem Deck. „Draw!“

Als sie die neue Karte zu ihrer durch [Kuriboss] gezogenen hinzufügte, erkannte sie ärgerlich, dass sie mit [Gem-Knight Iolite] und [Gem-Knight Obsidian] keine passende Antwort in den Händen hielt.

Bloß konnte sie es sich abschminken, defensiv zu spielen. Der Mechaadler konnte durch die Verteidigung ihrer Monster durchschlagen und das wäre das Ende.

„Maaaaan“, schrie sie verzweifelt und raufte sich mit der freien Hand die Haare. „Das ist unfair!“

„Kommst wohl diesmal nicht mit dem Kopf durch die Wand?“, spottete Henry abfällig. „Probiere es doch mit einem deiner Tricks, wie damals bei unserem Rematch. Vielleicht hilft das ja?“

„Noch so'n Spruch, Knochenbruch!“, fauchte Anya mit erhobener Faust und verteidigte sich engstirnig. „So was habe ich gar nicht mehr nötig, weil ich-!“

 

In diesem Moment ging ihr ein Licht auf: die Karten des Jinns! [Kuriboss] und [Gem-Knight Seraphinite] waren doch nur zwei davon!

Wie hatte sie ihr größtes Kaliber bloß vergessen können!?

 

„Ist ja auch egal“, winkte sie mit einem geheimnisvollen Grinsen ab und richtete sich an Isfanel.

Der verharrte als wandelndes Inferno ruhig auf der anderen Spielfeldseite und wartete auf Anyas weitere Vorgehensweise.

„Kumpel, an deiner Stelle würde ich schnellstens diesen Körper verlassen und das Weite suchen!“, kündigte Anya mutig an und griff nach ihrem Friedhof. „Denn wenn du es nicht tust, wirst du gleich eine Niederlage im Anya-Style erleben. Und glaub mir, das willst du nicht!“

„Es gibt nichts, was du tun könntest, um mir zu schaden, Anya Bauer“, erwiderte Isfanel allerdings ungerührt. „Ich kenne dich besser als du selbst.“

Anya spürte, wie die Wut in ihr schlagartig hoch kam. „Hör auf zu reden, als wärst du Levrier! Der ist tot!“

„Ich weiß, was er weiß.“

„Gar nichts weißt du!“ Anya biss die Zähne zusammen. Sie durfte sich jetzt nicht verunsichern lassen. „Du … bist nicht er. Und das werde ich dir jetzt beweisen! Ich verbanne von meinem Friedhof [Gem-Knight Tourmaline], um [Gem-Knight Fusion] auf die Hand zu bekommen, welche ich sofort aktiviere!“

Jetzt konnte sie sich für alles rächen, was Levrier und Isfanel ihr angetan hatten, dachte Anya entschlossen und nahm dabei [Gem-Knight Seraphinite] von ihrer Duel Disk, welche daraufhin vom Spielfeld verschwand. Für all das Leid, die Angst, ihren bevorstehenden Tod! Wenn sie schon nicht leben durfte, dann würde sie diesen Scheißkerl mit sich in den Abgrund ziehen!

Zusammen mit [Gem-Knight Fusion] und [Gem-Knight Seraphinite] hielt sie ihre anderen beiden Handkarten, [Gem-Knight Iolite] und [Gem-Knight Obsidian] in die Höhe. Über dem Mädchen entstand ein Wirbel aus dutzenden Edelsteinen, in denen die Abbilder der Monster hineingezogen wurden.

Sie war stärker als Levrier und Isfanel!

„Drei Lichter kreuzen den Weg des Lichts! Körper, Seele und Herz verschmelzen und werden zu der Macht, die in ihrer Reinheit einem Diamanten gleicht!“ Anya steckte den Arm mit den Karten noch höher in die Luft. „Werdet eins! Werdet [Gem-Knight Master Diamond]!“

Just in diesem Moment, als ihre drei Monster in den Wirbel gezogen wurden, begann Anyas rechte Hand in violetten Flammen aufzugehen.

„Whoa!“, stieß Henry überrascht hervor und beachtete gar nicht, das funkelnde Energiepartikel aus dem Wirbel durch die Luft glitten. Ebenfalls kam wirbelnd ein Breitschwert daraus hervor geschossen und versank einige Meter vor Anya im Kristallboden des Saals. Und während die sieben regenbogenfarbenen Edelsteine, die in der Schneide eingelassen waren, zu leuchten anfingen und damit die funkelnden Partikel anzogen, grinste Anya bösartig.

 

Das war es – das war der Teil ihres ersten Wunsches an den Jinn, den sie nicht ausgesprochen, sondern nur gedacht hatte. Aber der Kerl hatte ihn tatsächlich erfüllt!

Sie hatte sich Karten gewünscht, fünf Stück. Und wo vier von ihnen ganz normale Karten waren, sollte die stärkste von ihnen gleichzeitig auch etwas sein, das ihr Kraft gab. Eine Macht, die nur ihr gehörte und nicht etwa Levrier.

Anya nahm ihren Gegner fest ins Visier. Und das war diese Kraft: [Gem-Knight Master Diamond], der mächtigste aller Gem-Knights!

 

Und dieser entstand nun aus den tanzenden Lichtpartikeln. Erst formte sich der großgewachsene, in silberner Rüstung steckende Körper. Das rote Cape des Kriegers wehte, als er nach seiner, mit Edelsteinen besetzten, Waffe griff, sie aus dem Boden zog und trotz ihrer Größe mit nur einer Hand führen konnte. Mit der freien Hand ballte er eine Faust, in der violette Flammen loderten.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 DEF/2500 (9)]

 

„Das ist mein stärkstes Monster!“, rief Anya, die dabei mit der Hand Richtung Duel Disk fuhr. „Bestehend aus drei Gem-Knights, wird er sich für seine gefallenen Kameraden rächen! Bevor ich aber dazu komme, beschwöre ich erst dank [Gem-Knight Obsidians] Effekt [Gem-Knight Garnet] vom Friedhof, den -du- zu Beginn des Duells abgeworfen hast!“

In der Zeit, die sie damit verbrachte, den Ritter in bronzefarbener Rüstung aufs Feld zu bringen, staunte Henry beim Anblick von Anyas neuem Fusionsmonster. Denn selbst jetzt schien es auf wundersame Weise mit ihr verbunden zu sein, brannte an den rechten Händen beider die violette Flamme, welche wohl das Symbol ihrer geistigen Fusion sein musste – zumindest erklärte sich Henry das so. Woher hatte sie diese Karte nur!?

Schließlich tauchte der andere Ritter neben seinem Kameraden auf und bündelte zwischen seinen Handflächen eine Flammenkugel.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Doch Anya hatte nicht nur Garnet aus dem Friedhof hervor geholt, sondern auch [Gem-Knight Seraphinite], [Gem-Knight Iolite] und [Gem-Knight Obsidian], welche sie Isfanel mit einem finsteren Lächeln vorzeigte.

„Guck sie dir gut an, denn jeder von ihnen, den Gefallenen, wird Diamond um 100 Punkte stärker machen!“

Das war es! Damit hatte sie etwas geschaffen, das es mit diesem dämlichen Vogelvieh aufnehmen konnte!

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 → 3200 DEF/2500 (9)]

 

Die Ritter wieder auf den Friedhof gelegt, hob Anya ihren flammenden Arm über die linke Schulter, bereit, ihn für den Angriffsbefehl auszuschwingen. Dabei kniff sie die Augen fest zusammen. „Das ist die Rache für alles, was ich durchmachen musste wegen euch! [Gem-Knight Master Diamond]! Angriff auf sein Monster mit Shining Wave Breaker!“

Und genau wie sie in diesem Moment den Arm ausschwang, tat es auch ihr Ritter mit seiner Hand, wobei er das Schwert mit der anderen schulterte, um es schließlich weit ausholenden in einer horizontalen Linie zu schwingen. Mitten im Schwung löste sich weißes Licht von der Klinge, welches in seiner Bewegung zu einer handfesten Schockwelle mutierte und unweigerlich auf das Monster von Isfanel zuflog. Dabei splitterte sogar ein Teil des Kristallbodens auf, als die Welle sich ihren Weg bahnte.

Gleichzeitig begann der Maschinenadler, die Schwingen zu spreizen, um einen Gegenangriff vorzubereiten.

 

Celestial Gear – Synthetic Eagle [ATK/2500 → 3000 DEF/1000 (4)]

 

Doch die Schockwelle war zu schnell für ihn. Jene glitt einfach durch den Rumpf des riesigen Mechaadlers durch und brachte ihn dazu, unter lautem Getöse zu explodieren.

„Wenn ein Celestial Gear zerstört wird, kehrt es in mein Blatt zurück“, erklärte Isfanel gerade noch rechtzeitig, während die fallenden Einzelteile seines Monsters sich in weiße Partikel auflösten, die eine Karte formten. Dann wurde er auch schon von der Schockwelle mitgerissen und das Unfassbare geschah.

Die weißen Flammen um seinen Körper verzogen sich und gaben Marc Preis, der über das Spielfeld flog und hart auf dem Rücken landete. Dabei hielt er in der Hand [Celestial Gear – Synthetic Eagles] Karte.

 

[Anya: 1000LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 2000LP → 1800LP]

 

„Na endl-“, aber Anya brach in ihren Worten ab, als Marc sich langsam erhob.

Seine Stirn, da war kein Einschussloch! Es war, als ob er-

Doch in diesem Moment wurde seine Haut, seine Kleidung, einfach alles wieder von den weißen Flammen verschlungen und die engelhafte Gestalt, die Isfanel darstellte, war zurück.

„Ich hab keine Ahnung, woher du diese Karte hast“, stammelte Henry und starrte Isfanel ebenfalls irritiert an, „aber mit ihr können wir ihn töten! Du hast ihm physischen Schaden zugefügt und das ohne deinen Dämon! Wie hast du-!?“

„Marc könnte noch leben …“, murmelte Anya und betrachtete dabei ihre flammende Hand.

 

Eigentlich war es logisch! Dämonen können keine Toten kontrollieren!

Isfanel musste irgendwie dafür gesorgt haben, dass die Schusswunde geheilt wurde. Vielleicht mit Levriers Hilfe, denn den hatte er absorbiert? Oder … Wenn Levrier ein Gründer war, war dann nicht auch Isfanel einer? Immerhin konnten Gründer ihren Wirt unsterblich machen!

Das musste es sein! Und wenn dem so war, gab es noch Hoffnung für Marc!

 

„Worauf wartest du!?“, hallte da Henrys Stimme an ihr Ohr. Dieser hielt sich die Brust und verzog schmerzverzerrt seine Miene – der Faden, der von seiner Brust in Edens Richtung ging, war nun deutlich gewachsen und sichtbarer. „Wenn du jetzt direkt angreifst, können wir ihn vielleicht töten!“

Anya aber sah herüber zu Valerie, die weit abgeschlagen von ihnen regungslos am Boden lag. Auch bei ihr konnte man gut erkennen, dass der Lichtfaden in ihrer Brust an Intensität zugenommen hatte.

Sie würde ihn retten wollen, ging es Anya sofort durch den Kopf. Und dafür notfalls sogar die anderen in Gefahr bringen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie von ihr, Anya, Zuspruch dafür erhalten. Aber …

„... die Zeiten haben sich geändert. Ich bin nicht Redfield“, murmelte die Blondine und richtete sich an Henry, „du wirst ihr nichts hiervon erzählen, klar?“

Unsicher, was sie damit meinte, nickte er knapp.
 

Es war nicht so, dass Anya angreifen wollte. Aber hier ging es um mehr als nur Marc – um sie alle, oder zumindest um die anderen. Dass Isfanel Marcs Körper freiwillig räumen würde war zu bezweifeln und sie hatten jetzt keine Zeit für waghalsige Experimente. Die Zeit drängte, für jeden von ihnen!

Und Marc … sollte eigentlich schon gar nicht mehr hier sein! Wenn er starb, würde Redfield von ihrem Vertrag mit dem Sammler entbunden werden. Oder zumindest ging Anya davon aus. Es war das Beste, wenn er nicht mehr existierte – damit Redfield anfing, sich mit ihren eigentlichen Problemen auseinanderzusetzen.

Aber vielleicht war das nur eine Ausrede, gestand sich Anya ein. Und in Wirklichkeit wollte sie einfach nur irgendwie ihre Fehler von damals begradigen. Bloß ging das nicht so, wie sie es sich wünschte. Dieser Zug war längst abgefahren.

 

„Tch, wieso muss ich eigentlich für diese dämliche Ziege entscheiden!?“, rümpfte Anya wütend die Nase und wandte sich wieder dem Duell zu. „Fein! Also hältst du nun wegen Marc dicht, Henry?“

„J-ja. Hast du mich etwa gerade beim Namen gena-“

Anya jedoch streckte schon längst die flammende Hand aus. „Diamond, übertrag deine Kräfte auf Garnet!“

Sofort schwang der Krieger seinen Arm aus und schleuderte die violette Flamme in seiner Faust in die Flamme, die Garnet mit seinen eigenen Händen geschaffen hatte. Jene verfärbte sich daraufhin ebenso violett.

Das Mädchen hatte an alles gedacht. Auch daran, dass Diamond seine Macht übertragen konnte, damit notfalls sogar ihre anderen Monster realen Schaden zufügen konnte. Alles für den Kampf gegen Levrier!

„Also dann“, rief sie und zeigte auf Isfanel, „sprich dein Gebet, Mistkerl! [Gem-Knight Garnet], beende dieses dämliche Duell endlich! Direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! LOS!“

Der Ritter des Granats schleuderte seine neue Flamme in die Richtung des Wesens, das Marc in Beschlag nahm. Jedoch hallte im selben Augenblick ein Fingerschnippen durch den Saal und die linke Fallenkarte Isfanels sprang auf. „Gegenwirkung: [Synthetic Gear Recycling]. Ein verbanntes Celestial Gear wird mit halbierten Werten auf meine Spielfeldseite beschworen und kann nicht mehr im Kampf zerstört werden. Dafür zieht mein Gegner eine Karte.“

Anya stieß einen wütenden, gleichwohl auch überrumpelten Schrei aus, als die Flamme mitten in der Luft verpuffte und sich um Isfanel der mechanische Riesenalbatros erhob. Seine Oberfläche schimmerte wie gewohnt rötlich und durchsichtig, gab Blick auf die Zahnräder im Inneren preis.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 → 250 DEF/0 → 0 (4)]

 

„Kch, das gibt es doch nicht!“, fluchte Anya und zog nebenbei eine Karte, die sie mit einem noch wütenderem Fauchen zur Kenntnis nahm. „So nah dran!“

Aber war das wirklich schlecht? Immerhin war sie jetzt nicht diejenige, die Marc womöglich ein zweites Mal getötet hatte. Andererseits: Isfanel war gefährlich und musste so schnell wie möglich aufgehalten werden, ehe-

„Urgh!“ Vom aufkommenden Schmerz in ihrer Brust gepackt, knickte Anya ein und fiel auf die Knie. Sich die schmerzende Stelle mit der flammenden Hand haltend, stöhnte sie ärgerlich. „So ein Mist!“

Sie hatten nicht mehr viel Zeit! Warum beeilte sich diese Melinda nicht ein wenig mit ihrem dämlichen Plan!?

 

Henry, welcher den Zustand des Mädchens mit Sorge beobachtete, dachte Ähnliches. Wenn seine Schwester sich nicht ins Zeug legte, würden sie schon bald vom Tor Edens absorbiert werden.

Der brünette Kerl blickte skeptisch herüber zu Isfanel, welcher immer noch unbesorgt schien – ein Zeichen, dass sie noch etwas Zeit hatten. Aber wer wusste schon, wie viel?

Ihm war zudem klar gewesen, dass Isfanel nicht so leicht zu besiegen sein würde. Aber mit Anyas neuem Monster hatten sie eine Chance! Seine Macht war unglaublich!

 

„Ich übernehme“, entschied er schließlich, nachdem Anya nicht die Anstalten machte, noch irgendetwas mit ihrem Zug anzufangen. „Draw!“

Es gab nur ein großes Problem: wie wurden sie jetzt dieses Monster los? Es war im Kampf unzerstörbar und wenn es auf dem Feld blieb, würde nächste Runde [Celestial Gear – Synthetic Eagle] erneut die Bühne betreten – und dann fingen die Probleme von vorne an!

Zögerlich betrachtete er die gezogene Zauberkarte und flüsterte unschlüssig: „[Mythril Chain] … ?“

Diese Karte war unglaublich nützlich, aber auch sehr gefährlich! Sie konnte jedes Xyz-Material ersetzen, halbierte dafür aber die Kraft des beschworenen Xyz-Monsters. Jenes konnte im Gegenzug direkt angreifen – damit könnte er den Albatros umgehen! Aber wenn [Mythril Chain] als Xyz-Material auf dem Friedhof landete, würde ihr Besitzer am Ende des Zuges satte 3000 Lebenspunkte verlieren. Und die hatte er nicht mehr.

Allerdings war die Entscheidung für Henry nicht sehr schwer, denn eine andere Wahl als diese Karte auszuspielen hatte er ohnehin nicht. Damit konnte er zumindest das Duell vorantreiben. Zudem war da noch …

„Okay! Ich aktiviere den permanenten Zauber [Mythril Chain]! Damit ersetze ich ein Xyz-Material und erschaffe nun das Overlay Network!“ Mitten im Spielfeld öffnete sich ein schwarzes Loch, welches zuerst Henrys Vögelchen [Gusto Falco] als grünen Lichtstrahl einsaugte, ehe dann aus seiner Zauberkarte eine blausilberne Kette erschien, die ebenfalls in dem Wirbel verschwand. „Aus meinem Stufe 2-Monster und [Mythril Chain] wird ein Rang 2-Monster! Xyz-Summon! Erscheine, [Daigusto Phoenix]!“

Als der federlose, gelbbraune Vogel aus dem Wirbel heraustrat, fiel Henry etwas Ungewöhnliches auf. Womit nicht die Kette gemeint war, die um den Körper seines Monsters gewickelt war oder etwa die einzelne, grüne Sphäre, die um es kreiste. Nein, es war die Tatsache, dass das Mal an seinem Arm nicht kribbelte oder leuchtete. Und während Henry damit beschäftigt war, unter dem weggeschobenem Ärmel seines Trenchcoats das Mal zu betrachten, begannen Flügel und Schopf seines Monsters in smaragdfarbenen Flammen aufzugehen. Es gab einen gequälten Schrei von sich und wurde vom Gewicht der Kette auf den Boden gezogen.

 

Daigusto Phoenix [ATK/1500 → 750 DEF/1100 {2}]

 

„Also gehört dieses Ding dir!“, stellte Anya staunend fest, als sie [Daigusto Phoenix] erblickte. Schon im Duell mit dem Sammlerdämon war ihr dieses Monster begegnet, doch damals wusste sie nicht, wessen Paktkarte das war.

„Du kennst es?“ Henry zog überrascht die Augenbrauen hoch.

„Ist jetzt egal! Wir müssen diesen Typen besiegen!“

„Richtig …“

Der junge Mann nahm Isfanel ins Visier und kniff die Augenlider zusammen. Da Melinda offensichtlich vorhatte, alle Anwesenden zu retten, würde er ihr dabei so gut es ging unter die Arme greifen. Und mit seinem Paktmonster konnte er das!

Behände griff er sich [Gusto Falco], dessen Karte unter [Daigusto Phoenix] lag und riss sie hervor. Daraufhin schnappte sein Phönix nach der einzelnen, grünen Lichtsphäre, die um ihn kreiste und schluckte sie hinunter. „Wie du sicher weißt, kann ich durch das Abhängen eines Xyz-Materials von [Daigusto Phoenix] ein Wind-Monster in diesem Zug zweimal angreifen lassen! Und wie du sicherlich ebenfalls weißt, kann ein Xyz-Monster unter Einfluss von [Mythril Chain] direkt angreifen! Also mach dich auf was gefasst! Doppelter Direktangriff! Flame Of Life!“

Isfanel reagierte jedoch gar nicht, als der Phönix auf der anderen Seite des Spielfelds in seinem Schnabel eine smaragdgrüne Flamme hervorwürgte und sie in Form eines Feuerballs auf ihn abfeuerte. Doch nicht nur eine, gleich zwei davon kamen direkt auf das weiß lodernde Wesen zu. Kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, hob Isfanel den rechten Arm an und ließ die Kugel daran abprallen.

 

[Anya: 1000LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 1800LP → 300LP]

 

„Yeah!“, jauchzte Anya und machte eine siegessichere Geste mit ihrer Faust. „Er ist so gut wie am Ende! Wir haben es fast geschafft!“

Henry jedoch blinzelte verdutzt. Die Flammen seines Phönix' hatten keinerlei körperliche Wunden zugefügt, obwohl sie das, genau wie Anyas [Gem-Knight Master Diamond], hätten tun müssen.

„Ich dachte ja fast, du wärst nutzlos, aber-!“

Er unterbrach jedoch das triumphierende Geplapper seiner Partnerin unwirsch. „Noch haben wir nicht gewonnen! Das Blatt kann sich schnell wieder wenden, vergiss das nicht! Zug beendet!“

Ihm war nicht wohl bei der Sache. Dass Isfanel so gelassen blieb, verhieß gewiss nichts Gutes. Noch dazu hatte er ein verdammt schwaches Monster auf dem Feld. Hoffentlich ging sein Plan auf!

 

„Dann ist es nun mein Zug. Draw“, kündigte Isfanel an und zog von seiner abstrakt langen Duel Disk eine Karte, welche er kurz betrachtete. Dann wandte er sich seinen Gegnern zu. „Indem ich ein offenes Monster verbanne, kann ich [Celestial Gear – Synthetic Eagle] sowohl als Rückbeschwörung, als auch als Spezialbeschwörung in Einem aufs Feld rufen. Dabei nimmt er die Stufe des verbannten Monsters an.“

„Dacht' ich's mir doch!“, rief Henry ärgerlich.

Schon löste sich der Albatros, wie schon zuvor, in hellblaue Lichtpartikel auf, die sich zu größeren Punkten verbanden. Jene zeichneten dann mit blauen Linien den Mechanikadler, welcher kurz darauf in seiner gewaltigen Größe das Spielfeld betrat.

 

Celestial Gear – Synthetic Eagle [ATK/2500 DEF/1000 (5 → 4)]

 

Isfanel, der zwischen den Beinen des Monstrums stand, streckte den flammenden Arm aus. „Nun wirkt der Effekt meines Monsters, da es als Rückbeschwörung gerufen wurde. Nur einmal während des Duells annulliert es die Effekte aller gegnerischen Monster auf dem Spielfeld und im Friedhof!“

Anya fiel aus allen Wolken, genau wie ihre Kinnlade. „Was!?“

Die Augen des Adlers begannen rot aufzuleuchten, bis in regelmäßigen Abständen kaum sichtbare Wellen von ihnen ausgingen. Anyas Ritter gingen, kaum wurden sie von ihnen getroffen, in die Knie. Auch Henrys Phönix sank kraftlos in sich zusammen.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/3200 → 2900 DEF/2500 (9)]

 

Erschrocken bemerkte das Mädchen, wie die violette Flamme an ihrer Hand unruhig zu flackern begann.

Indes verkündete Isfanel: „Nun erfolgt meine Normalbeschwörung. Ich rufe [Celestial Gear – Synthetic Owl].“

Links vom Adler begannen braune Lichtsphären in der Luft aufzuleuchten. Mit geschwungenen Linien verlinkten sie sich miteinander und zeichneten eine massive Mechanikeule. Wie bei ihren Geschwistern, war das Innere einsehbar durch eine braune Lichtschicht.

 

Celestial Gear – Synthetic Owl [ATK/1000 DEF/1100 (4)]

 

„Noch so eins!“, presste Anya ärgerlich hervor. Das alles gefiel ihr überhaupt nicht!

Ihr Gegner jedoch schwang bereits den Arm aus. „Nun ist es Zeit, dass unsere Wege sich trennen. Die Fehler der Vergangenheit werden sich nicht wiederholen. Anya Bauer … leb wohl.“

Zu verdutzt, um etwas zu erwidern, sah die Blondine ihre Gegner fassungslos an. Dieser zeigte auf ihren [Gem-Knight Garnet] und sprach: „[Celestial Gear – Synthetic Eagle], greife ihr Monster an! Und mit der Kraft der verbannten Zauberkarte [Banished Power Gear] steigt seine Macht um 500 Angriffspunkte! Das ist das Ende! Celestial Stormburst!“

Das war es wirklich, erkannte das Mädchen, während der Mechanikadler bereits seine Schwingen spreizte. Sie hatte nur 1000 Lebenspunkte, welche den Kampfschaden nicht abdecken konnten! Sie würde … sterben!

 

Celestial Gear – Synthetic Eagle [ATK/2500 → 3000 DEF/1000 (4)]

 

„Anya!“, schrie Henry panisch. Gleichzeitig erzeugte Isfanels Monster zwei funkelnde Tornados, die sich ihren Weg in Anyas Richtung bahnten.

Doch das Mädchen bekam es kaum mit. Sie würde gleich sterben! Im Limbus landen, für immer allein sein! Warum hatte sie das nicht kommen sehen? Warum hatte sie das Duell nicht in ihrem letzten Zug gewinnen können!?

Plötzlich weiteten sich ihre Augen und einem Impuls nachgebend, schwang sie die violett brennende Hand aus, als würde sie Schmutz in der Luft wegwischen. „Move!“

Ihr bellender Ausruf hatte zur Folge, dass die Zwillingstornados nicht mehr ihren Garnet, sondern plötzlich [Gem-Knight Master Diamond] anzielten. Dieser, in seiner knienden Haltung, verneigte sich mit auf der Brust liegender Hand, ehe er von dem Sturm zerfetzt wurde. Anya wurde ebenfalls von den Sturmwinden getroffen und durch die Luft geschleudert, was einen harten Aufschlag nach sich zog. Und während das Mädchen der Länge nach auf dem Boden lag, erlosch das Feuer an ihrer Hand.

 

[Anya: 1000LP → 900LP Henry: 1000LP //// Isfanel: 300LP]

 

„Unmöglich!“ Es war das erste Mal, dass Isfanel eine derart emotionale Regung zeigte. „Wie kann das sein!? Mein Ziel war [Gem-Knight Garnet]!“

Stöhnend stemmte sich die Blondine mit den Händen vom Kristallboden ab und bemerkte, dass die Flamme erloschen war. „Huh!?“

„W-wie hast du das angestellt!?“, wunderte sich auch Henry lauthals über das, was eben geschehen war. „Du hättest-! Du solltest-!“

Das Mädchen sah zu ihm blinzelnd herüber. „Was gemacht?“

„D-du hast den Angriff einfach umgelenkt!“

„Ach wirklich? Cool!“ Langsam erhob Anya sich und presste stöhnend die Hand auf ihre Hüfte, welche fürchterlich schmerzte. „Verdammt, bin ich gut!“

 

Indes grübelte Henry hitzig. Es war unmöglich, dass sie das Ziel des Angriffs durch einen Karteneffekt verändert hatte! Sie besaß keine verdeckten Karten und ihre Monster konnten deren Effekte nicht einsetzen – [Gem Knight Garnet] besaß ja nicht einmal einen! Außerdem hatte sich ihr Diamantenritter nicht einfach in den Weg gestellt, nein, sie selbst hatte das Ziel bestimmt. War das etwa auch ein Teil ihrer Kraft?

 

„Selbst wenn du das Schicksal eben verändert hast, werdet ihr nicht siegreich sein!“, verkündete Isfanel nun deutlich aufgebrachter als zuvor während des Duells und zeigte auf Henry. „Seht! Der Effekt der verbannten Zauberkarte [Gears Forward] aktiviert sich nun. Wenn ein Celestial Gear Kampfschaden zufügt, vermag ich pro Zug einmal das schwächste Monster in Angriffsposition meines Gegners zu vernichten! Werdet Zeuge, wie ich die Paktkarte [Daigusto Phoenix] vernichte!“

Nun war es an Henry, erschrocken die Augen zu weiten. Wenn sein Monster verloren ging, würde ihn der Effekt von [Mythril Chain] in der End Phase treffen – sofern er nicht schon vorher außer Gefecht gesetzt wurde! Er musste das verhindern, unbedingt! Und wusste auch schon wie!

Sich nicht von den dutzenden Zahnrädern verunsichern lassend, die um ihn und seinen Feuervogel herum erschienen, streckte er den Arm aus. „Da habe ich aber noch ein Wörtchen mitzureden! Du sagtest Angriffsposition? Das lässt sich ganz schnell ändern! Werde du Zeuge, wie ich deine eigene Waffe gegen dich verwende! Ich rekonstruiere das Overlay Network!“

Dann winkelte er den Arm an, schob den Ärmel seiner Jacke beiseite und präsentierte sein verwaschenes, hellgrünes Mal. „Aus meinem Rang 2-Monster wird ein neues Rang 2-Monster! Erscheine, [Eternal Daigusto – Jade Phoenix] … im Verteidigungsmodus!“

Unter seinem flammenden Vogel öffnete sich ein schwarzer Schlund, welcher das Tier langsam in sich auf sog. Schwarze und grüne Blitze schlugen daraus empor.

„Damit entkomme ich dem Effekt von [Gears Forward]“, erklärte Henry und sah aus den Augenwinkeln herüber zu Anya. „Stattdessen trifft es jetzt [Gem-Knight Garnet], da er das schwächste Monster in Angriffsposition von uns ist.“

Als die Blondine das vernahm, wich sie einen Schritt zurück. „D-dann bin ich ungeschützt! Spinnst du!?“

„Mag sein, aber dadurch haben wir eine Chance!“, rechtfertigte sich Henry wild gestikulierend. „Ich kann mit Jade Phoenix direkt angreifen, verstehst du!? Außerdem ist er bei Weitem nicht so leicht zu knacken wie andere Monster, dank seines Incarnation-Status!“

Anya jedoch konnte es nicht fassen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du Scheißkerl willst mich opfern, um deinen Arsch zu retten! Du verdammter-!“

Wütend stampfte Henry auf. „Du bist wirklich die Falsche, irgendwelche Anschuldigungen zu machen! Wer war es, der uns überhaupt in diese Lage gebracht hat, huh!?“

„Die, die dir gleich ein Ticket in die Hölle spendieren wird, du widerlicher-!“

 

Allerdings wurde ihre Streiterei abrupt unterbrochen, als [Daigusto Phoenix] wieder aus dem schwarzen Loch geflogen kam. Der Phönix flatterte hilflos im Kreis und kreischte dabei, ehe der Wirbel sich unter ihm wieder schloss.

„W-was!?“, stammelte Henry erschrocken. „I-ich habe doch reinkarniert, wieso-!?“

„Das ist zwecklos. Entsinne dich“, erklärte Isfanel seelenruhig und hob seinen Arm, zeigte auf den Phönix. „Das Inkarnieren im Gegnerzug ist ein verborgener Effekt eines Paktmonsters. Und dieser wurde durch [Celestial Gear – Synthetic Eagle] annulliert.“

Fassungslos legte Henry seinen Kopf in den Nacken und starrte den riesigen Mechanikadler an. Und erinnerte sich dabei an das Duell mit Melinda in der Kanalisation – er hatte dieselbe Strategie verfolgt, um eine Inkarnation zu verhindern! Wie hatte er das nicht beachten können!?

„Und noch etwas. Ihr als Gefäße seid nicht in der Lage, auf unsere Macht zuzugreifen. Selbst wenn wir verbunden sind, gar eins sind, könnt ihr niemals hoffen, ohne unsere Hilfe die volle Kraft des Paktes zu entfalten.“ Isfanel ballte vor ihm eine Faust, als würde er damit Henrys Hoffnungen zerquetschen wollen. „Du hattest nie eine Chance.“

Noch während der das sagte, umringten die Zahnräder Henrys [Daigusto Phoenix] und zermahlten ihn in einer schnellen Bewegung zu nichts als Asche.

„Eins … nie eine … Chance?“

 

Der junge Mann sackte fassungslos auf die Knie. Statt Anya war er es nun, der völlig ungeschützt dastand. Der Effekt von [Mythril Chain] würde ihn unweigerlich treffen. Es war vorbei.

Anya, die das Ganze nicht weniger perplex mitverfolgte, fand schließlich ihre Stimme wieder und sah majestätisch auf Henry herab. „... geschieht dir recht! Ein Tipp für die Zukunft: leg dich nie mit Anya Bauer an! Und noch was! Bleib am Leben für Molly, wenn's geht! Mit dem werd' ich schon irgendwie klar kommen!“

Wie gelähmt sah er zu dem Mädchen herüber. Sie würde wirklich weiterkämpfen!? Obwohl sie eins mit dem Gründer war, Edens Dienerin, seine Feindin!?

Plötzlich realisierte Henry etwas. „Anya! Du-!“

„Direkter Angriff auf seine Lebenspunkte, [Celestial Gear – Synthetic Owl]. Celestial Nightburst!“

 

Celestial Gear – Synthetic Owl [ATK/1000 → 1500 DEF/1100 (4)]

 

Überrascht von Isfanels Ausruf, verstummte Henry und sah panisch zur riesigen Mechanikeule. Diese öffnete ihren kurzen Schnabel, gab ein hohles Uhu von sich, ehe sie einen schwarzvioletten Laserstrahl auf Henry abschoss.

Jener drehte sich schnell wieder zu Anya um, wissend, dass er nur noch wenige Herzschläge für seine Botschaft hatte: „Deine Kräfte sind nicht-!“

Doch der Einschlag kam zu schnell für ihn. Seine Partnerin kreischte erschrocken, als Henry in einer dunklen Explosion unterging. Sein Körper wirbelte meterweit durch die Luft. Dabei schloss er die Augen und sprach ein zerstreutes Gebet, ehe er unweit von Valerie aufkam. Es knackte laut, dann blieb er regungslos liegen.

 

[Anya: 900LP Henry: 1000LP → 0LP //// Isfanel: 300LP → 1800LP]

 

Mit offenem Mund betrachtete Anya Henrys Körper sprachlos. Sie ignorierte auch die Tatsache, dass weiße Zahnräder um Isfanel erschienen und sich wild gegen den Uhrzeigersinn zu drehen begannen.

„Einmal pro Zug, dank des Effekts der verbannten Zauberkarte [Gear Backwards] werden meine Lebenspunkte um den Kampfschaden erhöht, den ein Celestial Gear zugefügt hat.“

Perplex wandte sich das Mädchen ihm zu und sah ihn in einer Mischung aus Furcht und Abscheu an. Sie wusste nicht einmal, ob Henry den Fall überlebt hatte! Und auch wenn er ein ausgemachter Idiot war, hatte sie das zu verantworten.

„Nun sind es nur noch wir beide“, sprach Isfanel, „ich hatte nicht geplant, diese Konversation zu führen, aber du als Edens Sklavin solltest wissen, was Eden ist. Und wieso es nicht geöffnet werden darf.“

Das Mädchen brauchte einen Moment, ehe sie wieder auf der Höhe war. „Und damit fängst du jetzt an!? Wo es zu spät ist und du schon zwei meiner Freunde umgenietet hast!? Wer bist du überhaupt!? Du bist nicht Levrier, aber auch nicht dieser irre Isfanel, den ich kennengelernt habe! Warum ist es soweit gekommen, dass wir uns hier gegenüberstehen, wenn du nie wolltest, dass dieses beknackte Eden-Tor geöffnet wird!?“

Es sprudelte einfach aus ihr heraus. Die Verzweiflung, die Angst, der Schmerz um all das, was geschehen war. „Alles war sinnlos! Irgendwie wollte ich dir, ich meine Levrier helfen, andererseits wollte ich nicht im Limbus enden! Warum hat er-“

„Levrier ist nicht das geworden, was ich mir vorgestellt habe“, unterbrach Isfanel sie. „Wie du weißt, ist er kein eigenständiges Wesen, sondern nur einer meiner Abkömmlinge. Ich habe ihn aus dem einzigen Zweck erschaffen, ein passendes Gefäß zu finden, um Edens Erwachen zu verhindern.“

Sein Gegenüber schüttelte vehement den Kopf, hob wütend die Hände über den Kopf. „Dann hast du versagt, du verdammter Idiot! Er wollte Eden erwecken!“

„Ich weiß“, erwiderte Isfanel und schwang den linken Arm in ebenjene Richtung, „und das alles ist sein Werk.“

 

Anya folgte der Richtung und erkannte, dass der flammende Dämon auf Another zeigte, welcher gerade mit [Vylon Disigma] ein kleines Insektenmonster von Matt absorbierte. Perplex wandte sie sich wieder an Isfanel. „Sprich Klartext, 'kay!?“

„Ich, Isfanel, bin seit Jahrtausenden der Wächter des Turms von Neo Babylon, dem Sitz des Tores Eden“, erklärte jener ruhig und ließ den Arm sinken. „Doch vor vielen Jahrhunderten entfachte ein Kampf zwischen mir und, wie er sich heute nennt, Another. Sein Ziel war es, das Tor für seine Zwecke zu öffnen.“

„Soweit komm ich mit“, brummte Anya.

 

Ihr Herz klopfte wild. Im Grunde interessierte sie die Geschichte nicht im Geringsten, jetzt, wo sie alles hinausgelassen hatte, was ihr auf dem Gemüt lag. Oder vielleicht doch ein kleines Bisschen. Viel wichtiger war aber die Zeit, die sie damit schinden konnte. Diese dämliche Melinda sollte sich bloß beeilen! Vielleicht lebten Redfield und das Schnöselkind ja noch? Sie mussten, sonst war alles sinnlos!

 

„Das Schicksal wollte, dass Another als Sieger aus diesem Kampf hervor trat. Mit meiner letzten Kraft erschuf ich den Abkömmling Levrier, um mithilfe eines Gefäßes einen Soldaten zu erschaffen, der Another besiegen konnte.“

Langsam hob Anya den Daumen und zeigte auf sich. „Etwa mich?“

„Ich weiß es nicht, denn Anothers Magie hat sowohl meinen, als auch Levriers Verstand manipuliert. Er riss mein Bewusstseins entzwei, verfälschte beide Teile und pflanzte eines der Fragmente in Levrier ein.“ Isfanel verschränkte die Arme. „Alles zu dem Zweck, eines Tages Eden zu erwecken. Während ich den größten Teil meiner Erinnerungen verlor, wusste ich noch um meine Bestimmung, Edens Erwachen zu verhindern. Dennoch war ich ein instabiles Wesen. Was du jetzt siehst, ist meine vollständige Form.“

„Tch, das klingt so beschissen, dass ich gar nicht so viel essen kann, wie ich kotzen will!“, lautete Anyas galliger Kommentar dazu. „An deiner Stelle würde ich mich an ihm rächen, nicht an uns! Mach doch den scheiß Turm kaputt, da helf' ich dir sogar bei!“

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Unmöglich, der Turm darf nicht fallen.“

„Und was ist so schlimm daran, wenn Eden geöffnet wird?“

Keine Antwort.

Anya stöhnte genervt. Sie wollte nicht hier sein und mit diesem Typen Smalltalk halten. Einfach nur zuhause in ihrem Bett liegen und sich ausruhen, das wollte sie. Alles war seine Schuld!

„Was kann denn so schlimm sein, ein blödes Tor zu öffnen!? Sag's mir!“

 

Isfanel machte eine kurze Pause, ehe er antwortete. „Wegen der Möglichkeiten, die es bietet.“

„Möglichkeiten?“

„Ich werde nicht ins Detail gehen. Wisse, dass es nicht nur ein Tor gibt. Wir, die wir vor Jahrtausenden diese Welt betreten haben, kamen durch Eden.“ Um das zu verdeutlichen, zeigte er in Richtung des Tores über den Thron. „Und um eure Welt zu schützen, erschufen wir den Turm von Neo Babylon, der in einem festgelegten Zyklus und nur unter ganz bestimmten Umständen erscheint. Nur unsereins kennt diesen Zyklus.“

Anya verdrehte genervt die Augen und fuchtelte unwirsch mit den Händen. „Das beantwortet meine Frage nicht, Dummkopf!“

„Wir lebten seither unter den Mensch und berichteten einer Handvoll von ihnen das, was wir auf der anderen Seite unseres Tores erlebt haben – wodurch ein Plan gefasst wurde.“ Isfanel ließ den Arm wieder sinken. „Der Plan einiger weniger Menschen, eure Welt für immer zu verlassen. Sie nennen sich bis heute die Allerheiligsten.“

Sofort fiel Anya auf, dass ihr dieser Name bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment, ehe sie endlich raffte, wo sie ihn schon mal gehört hatte. „Was!? Die aus dem Spinnerbuch!?“

„Die heilige Stadt Eden, die verborgen hinter den Toren wartet, existiert wirklich. Sie ist eine Festung, die errichtet wurde, um sich gegen den 'wahren Feind' zu wappnen. Und während ich und einige wenige meiner Art hier blieben, um eines Tages erneut das Tor zu öffnen, gingen die meisten von uns mit diesen Menschen.“ Isfanel sah wieder zum Tor herüber. „Doch die hier Verbliebenen entschieden sich, das Tor nie wieder zu öffnen, um dem 'wahren Feind' den Einlass zu verweigern.“

„Schön und gut, ich kapiere nur Bahnhof! Was zur Hölle ist der 'wahre Feind'!?“, fauchte Anya den Wächter Edens aufgebracht an. „Ich dachte, Another ist unser Feind!?“

„Er tut nur das, was er für das Richtige hält. Aber ich habe bereits genug über die Vergangenheit gesprochen. Die Gegenwart und die Zukunft sind, was beschützt werden muss.“

 

Schlagartig streckte er beide Arme aus und spreizte die Finger dabei weit auseinander. „Doch genug davon! In meinem Besitz befinden sich das Stufe 4-Empfänger-Monster [Celestial Gear – Synthetic Owl] und das Stufe 4-Nicht-Empfänger-Monster [Celestial Gear – Synthetic Eagle].“

Anya stieß erschrocken hervor: „Oh crap, 'ne Synchro!“

„Ich erschaffe das Overlay Network!“

„Huh!?“

Zu Anyas Überraschung verwandelten sich die beiden mechanischen Riesenvögel in gelbe Lichtstrahlen, die von einem bunten Wirbel absorbiert wurden, welcher sich mitten im Spielfeld öffnete.

„Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Anya wollte gerade einen bissigen Kommentar dazu abgeben, da geschah etwas Ungewöhnliches. Aus dem Lichtwirbel heraus trat kein Monster, sondern vier grün leuchtende Sphären. Gleichzeitig legten sich um den Wirbel eine selbe Anzahl von gleichfarbigen Ringen.

„Jetzt“, rief Isfanel laut, „Incarnation Fork Summon! Ich stimme die für die Xyz-Beschwörung genutzten Materialien aufeinander ein! White light creates the path to supremacy! Divine arises!“

„Was zur Hölle wird das!?“, schrie Anya geblendet von dem Licht, das aus dem Wirbel trat.

„Xyz-Summon, Herald of Salvation, [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale]! Synchro Summon, Herald of Damnation, [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk]! Arise!“

Ein greller Blitz schoss durch den bunten Strom und ging durch die Sphären hindurch. Anya gab einen erschrockenen Schrei von sich, als eine Schockwelle aus dem Overlay Network sie beinahe von den Füßen riss. Zuvor geblendet, wagte sie es, die Lider langsam zu öffnen – und erstarrte.

Vor Isfanel flogen zwei gewaltige Mechavögel in der Luft. Beide waren mit einer weißen Panzerung bedeckt und anders als bei ihren Artgenossen, konnte man nur an Flügeln und Beinen in das Innere sehen.

Der linke Vogel war von schlanker Figur. Eine violette Aura umhüllte ihn, wie er seine weiten Schwingen schützend vor sich hielt, wobei zwei goldene Sphären um ihn kreisten. Der andere war wesentlich größer und kräftiger, umhüllt von orangefarbener Aura und erzeugte mit seinem beständigen Flügelschlag jedes Mal kleine Druckwellen. Kugelrunde, pupillenlose Augen fixierten sich auf Anya – beide Vögel starrten sie an.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale [ATK/2400 DEF/2600 {4}]

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]

 

„Kneif mich bitte jemand“, stammelte Anya im Angesicht der beiden Monster.

„Das ist die wahre Stärke einer Paktkarte“, erklärte Isfanel ungerührt, „mit der Kraft von [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale] war es mir möglich, mit ihrem Xyz-Material die Synchrobeschwörung eines dazu passenden Synchromonsters zu simulieren, dem Stufe 8 [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk]. Jedoch kann ich dafür Nightingales Effekt nicht aktivieren in diesem Zug. Deshalb beende ich jenen nun.“

 

Anya stand jedoch der Mund offen. Dieser Typ hatte nicht ein, sondern gleich zwei Paktmonster und das noch von diesem Kaliber aufs Feld gebracht!?

Wie sollte sie an denen jemals vorbeikommen, sie besaß schließlich nur [Gem-Knight Garnet] und eine lausige Handkarte!

Allein der Anblick dieser beiden Viecher jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Wenn die nur halb so gut waren, wie Isfanels bisherige Monster, saß sie mächtig in der Tinte!

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte dieser: „An diesen beiden Monstern gibt es kein Vorbei für dich, Anya Bauer. Ich empfinde Mitleid dafür, dass das Schicksal dich betrogen hat, doch kann ich darauf keine Rücksicht nehmen. Dein Tod ist besiegelt.“

Und gerade wollte Anya in ihrer Panik etwas Patziges darauf antworten, da hörte sie einen Schrei und wirbelte in Matts Richtung. Sie sah nur noch, wie er in einer Explosion, ausgelöst durch [Vylon Disigmas] Speer, unterging.

„Matt!“

 

 

Turn 34 – Another's Mind

Gerade so dem Tod entkommen, gibt Matt sein Bestes, um Anothers Fängen zu entkommen. Dieser enthüllt endlich seine Absichten und sorgt damit dafür, dass Matt zu zweifeln beginnt. Gleichzeitig setzt er ihn durch die Inkarnation von Alastairs Paktmonster, [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma] heftig unter Druck. Aber auch Anya muss sich, nun ganz allein, gegen den übermächtigen Isfanel behaupten, welcher mit jedem Zug seinen vorherigen überbietet …

Turn 34 - Another's Mind

Turn 34 – Another's Mind

 

 

„Wo … bin ich?“

Matt öffnete langsam die Augen und erschrak. Er schwebte durch eine Art … Tunnel? Oder eher eine Röhre. Ihre Wände leuchteten in bunten Farben, vornehmlich gelb und pink.

„Was ist das?“

 

Der Pfad, durch den wir einst gekommen sind.

 

„Another!“ Nun erinnerte sich Matt. Im Kristallsaal, sie hatten gekämpft. „Was ist das hier!?“

 

Eine Vision, die ich dir zeige. Du hast nach meinen Absichten gefragt.

 

Matt indes überlegte fieberhaft. Das Duell, er hatte gekämpft und verloren – nein, hatte er noch nicht! [Vylon Disigmas] Angriff hatte ihn zwar getroffen, aber …

„Warum zeigst du mir das jetzt? Hast du deine Meinung geändert?“

 

In der Tat. Vielleicht, wenn ich von Anfang an aufrichtiger gewesen wäre, hätten sich die Dinge anders entwickelt. Aber ich habe keine Wahl gehabt und bereue nichts.

 

Matt drehte sich einmal um die eigene Achse, doch flog er weiter durch diesen scheinbar niemals endenden Tunnel.

„Du sagtest, man würde dir niemals freiwillig helfen. Warum?“

Er musste irgendwie einen Ausweg finden, dachte der Dämonenjäger dabei. Aus dem Elysion, denn vermutlich befand er sich gerade in ebendiesem.

 

Du weißt, dass fünf menschliche Opfer plus ein Gründerindividuum gebraucht werden, um das Tor zu öffnen. Wir, die wir keine eigenen Körper besitzen, können es nicht allein öffnen. Das war eine Abmachung, die wir einst mit den Menschen getroffen haben, die diese Welt für immer verließen.

 

Matt blinzelte verdutzt, als es in eine Kurve ging. Wohin führte dieser Tunnel ihn?

„Abmachung?“

 

Die Dinge hatten sich jedoch nach ihrem Fortgang verändert. Es war angedacht, das Tor noch ein einziges Mal zu öffnen, damit …

 

„Damit?“
 

Auch der Rest der Menschheit flüchten kann.

 

In diesem Augenblick kam Matt ein grelles, blendendes Licht entgegen. Er schrie auf, hielt sich die Arme vor das Gesicht und doch fühlte es sich an, als würde er erblinden. Ruckartig wurde er nach vorn geschleudert, fand mit den Füßen Halt und stolperte vorwärts, ehe er einbrach und auf die Knie fiel.

„Argh!“

Blinzelnd öffnete er die Augen – und staunte.

 

Er lag inmitten einer prächtigen Blumenwiese. In den verschiedensten Farben erstreckte diese sich bis an den Horizont, welcher Ausblick auf riesige Berge gab. Was Matt jedoch so erstaunte waren die fremdartigen Blumen selbst, denn einige leuchteten von innen heraus, während andere gar bizarre Formen besaßen.

Das war aber noch nicht alles, denn mitten in der Luft schwebten überall um ihn herum kleine, funkelnde Partikel.

 

Langsam raffte der junge Mann sich auf und bestaunte die ihm fremde Welt. „Was ist das hier?“

„Das, was an einem der Enden des Nexus liegen könnte.“

Überrascht wirbelte der Dämonenjäger herum und stand sich selbst gegenüber. Beziehungsweise Another, der sein Abbild perfekt imitiert hatte.

„Nexus?“, wiederholte Matt skeptisch.

Another trat neben ihn und nickte. „Das, was zwischen den Toren liegt, wird als Nexus bezeichnet. Tore wie Eden, die in jeder Welt zu finden sind, gewähren Zugang zum Nexus. Einem Ort, mit dem man überall hinreisen kann – wenn man weiß wie, heißt es.“

Überrascht von so vielen Informationen wich der Schwarzhaarige zurück von seinem Ebenbild. „Toren!? Es gibt mehrere!?“

„In jeder Welt, Dimension, wie auch immer ihr es nennen möchtet, eins.“

„Jeder Welt?“

 

Matt musste einen Moment überlegen. Zwar war er nie der Meinung gewesen, es gäbe nur eine einzige Dimension, aber aus Anothers Mund hörte sich das so an, als gäbe es unzählig viele. Und der Nexus … davon hatte er noch nie gehört.

 

„Wie viele es gibt, ist ungewiss. Der Nexus selbst ist das Bindeglied zwischen allem, was existiert, existieren wird oder einst existiert hat“, erklärte Another und blickte stur an Matt vorbei, „er ist weit mehr, als einfach nur ein Tunnelnetzwerk für die Reisenden zwischen den Welten. Wie uns …“

„I-ich verstehe nicht ganz.“

Nun blickte sein Ebenbild dem jungen Dämonenjäger in die Augen. „Wir, die wir von euch Dämonen genannt werden, kommen aus einer Welt jenseits des Nexus. Jenseits eures Tores.“

„D-die Dämonen … stammen ursprünglich aus einer anderen Welt?“, rekapitulierte Matt, der sich schon in der Vergangenheit über so etwas Gedanken gemacht hatte. „Alle?“

„Wer weiß? Unsere Art, die Immateriellen, in jedem Falle.“ Plötzlich hob Another seinen rechten Arm und ballte ihn langsam zu einer Faust, während er diese dabei intensiv beobachtete. „Wobei selbst das Immaterielle … sterblich ist.“

Matt schwieg.
 

Daher drehte sich Another zur Seite und richtete seinen Blick auf die Berge am Horizont. „Was du hier siehst ist nur eine Möglichkeit, was an einem der unzähligen Enden des Nexus existieren könnte. Eine Welt voller Schönheit. Vergänglich. Wie die unsere.“

Der Dämonenjäger, seinem Blick folgend, rieb sich am Kinn. „Verstehe. Ihr wurdet vertrieben und seid zu uns gekommen, nicht wahr?“

„Vertrieben?“ Another lachte höhnisch auf und schüttelte den Kopf. „Abgeschlachtet.“

„Was ist passiert?“

„Das … haben wir bis zuletzt nie wirklich begriffen. Es hatte einfach begonnen. Kameraden, Freunde, Familie – auch wir hatten diese Dinge. Bis sich alles gegen uns gewandt hat. Bis wir uns selbst gegen uns gewandt haben.“

Matt blinzelte verdutzt. „Was soll das heißen?“

„Der wahre Feind. Das ist, wie wir das Phänomen bezeichnet haben, welches uns nahezu ausradiert hat – unsere ganze Welt.“ Mit trauriger Mimik bückte sich Another und pflückte behutsam eine Blume. „Unsere Welt ist für euch unvorstellbar gewesen, ihr hättet dort gar nicht existieren können. Aber der wahre Feind konnte es und hat sie verschlungen. Die wenigen Überlebenden sind durch den Nexus geflüchtet – in eure Welt. Und nachdem einige von uns von der Erde zu einer weiteren Reise aufgebrochen sind, zusammen mit ein paar Menschen, entschied man sich dazu, das Tor eurer Welt zu versiegeln.“

Fassungslos schüttelte Matt den Kopf und packte sein anderes Ich an den Schultern, welches daraufhin die Blume fallen ließ. „Ihr habt es geschlossen, damit eure Verfolger nicht hier rein können? Und jetzt willst du es allen Ernstes öffnen!?“

Während Another von seinem Gegenüber geschüttelt wurde, antwortete er tonlos: „Der wahre Feind vernichtet systematisch Welten. Wir haben das Tor daraufhin versiegelt, das ist korrekt. Aber …“

„Aber!?“, brauste Matt nur auf und grub seine Finger fester in Anothers Schultern. „Was aber!?“

„Meiner Ansicht nach bietet das Tor keinen Schutz. Deswegen“, sagte er und mit einem Schlag wurde alles um Matt herum schwarz, „will ich das, was von meiner Art noch übrig ist, aus der untergehenden Welt retten, die ihr Erde nennt!“

 

[Matt: 1500LP / Another: 4000LP]

 

Erschrocken stellte der Dämonenjäger fest, dass sein Abbild vor ihm verblasste und er nicht mehr mitten auf einer Blumenwiese stand, sondern im Kristallsaal des Turms von Neo Babylon. Vor ihm waren zwei Fallenkarten aufgedeckt, doch er beachtete sie nicht weiter.

Another stand ihm in Alastairs Gestalt gegenüber und funkelte seinen Gegner entschlossen an. „Nun weißt du, was mein Anliegen ist! Dasselbe wie vor Tausenden von Jahren!“

„Flucht“, wiederholte Matt und erkannte, was das bedeutete, „diese Welt wird bald untergehen, fallen durch den wahren Feind!?“

„Vielleicht in zehn, vielleicht in hundert Jahren! Aber irgendwann wird er kommen!“, rechtfertigte sich Another aufgebracht. „Und ich werde nicht länger warten! Selbst die heilige Stadt Eden ist nichts anderes als einer von vielen Zielpunkten des Nexus, sie ist nicht sicher! Sie war die Utopie für die Menschen und für uns, eine unerreichbare Festung! Aber … das ist sie nicht!“

„Selbst wenn du Recht hast und dieser wahre Feind einen Weg kennt, das Tor zu umgehen, hieße das Öffnen für uns, dass sie diese Welt viel einfacher und schneller betreten können!“ Matt wurde zunehmend lauter „Ist doch so, oder!?“

„Dieses Risiko muss ich in Kauf nehmen!“

Die Stimme des jüngeren Dämonenjägers überschlug sich förmlich. „Ach ja!? Du meinst wohl -wir-, die Menschen!“

„Ich werde das nicht mit dir ausdiskutieren, Matt Summers!“, fauchte Another hitzig. „Wenn mich eure Spezies eines gelehrt hat, dann Egoismus! Ich werde jedes Opfer erbringen, was für mein Volk nötig ist, um zu überleben!“
 

„Das sagt sich leicht, huh!?“, hallte eine andere Stimme durch den Kristallsaal.

Anya, die nun alleine Isfanel gegenüber stand, zeigte mit dem Finger auf Another. „Immerhin sind wir ja das, was geopfert wird! Oder sogar die Menschheit, wenn dieser wahre Feind durch das Tor kommt!“

Dann richtete sich die Blondine an Matt und zeigte ihm den erhobenen Daumen. „Den letzten Angriff hast du schon recht cool abgewehrt – weiter so! Tret' ihm in den Hintern, Summers!“

Matt grinste verschlagen, nickte und erwiderte die Geste. „Werd' ich!“
 

Was ihn daran erinnerte, wie knapp er den Angriff von [Vylon Disigma] doch überlebt hatte. Noch in der Explosion, die ihn erfasst hatte, konnte er vom Friedhof die Falle [Discord Trap] aktivieren.

So erklärte er Another nun: „Normalerweise verbannt [Discord Trap] eine deiner Handkarten, wenn du eine Falle aktivierst. Wenn [Discord Trap] aber zerstört wird, kann ich sie und eine andere Falle von meinem Friedhof verbannen, um den Effekt Letzterer zu aktivieren.“

„So bist du also entkommen“, erkannte Another und zeigte auf die zweite Falle, die vor Matt offen stand. „Mithilfe von [Defense Draw].“

„Richtig! [Defense Draw] annulliert einmalig Kampfschaden und lässt mich eine Karte ziehen!“ Und das tat Matt nun, nachdem er die beiden Fallen von seinem D-Pad genommen und in seine Hosentasche gesteckt hatte.

„Das wird dich am Ende dennoch nicht weiterbringen. Mein Ziel ist seit Jahrhunderten klar definiert. Bisher habe ich jedes Hindernis aus dem Weg geräumt, was auch weiterhin der Fall sein wird. Ich setze eine Karte verdeckt und beende meinen Zug!“

Der mit Brandnarben übersäte Mann, der einst Alastair gewesen war, ließ vor sich die gesetzte Karte erscheinen. Vor ihm breitete die widerliche Kreatur namens [Vylon Disigma] seine klingenbesetzen Arme aus, als wollte sie Matt provozieren. Um sie herum kreisten zwei Lichtsphären, von denen eine violett glimmte.

 

Vylon Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

„Es spielt keine Rolle, wann du dich entschlossen hast, uns für dein eigenes Volk in Gefahr zu bringen!“, erwiderte Matt aufgebracht und zog nebenbei. „Deine Absichten sind nicht böse, aber denk daran, was du uns damit antun könntest! Wenn dieser wahre Feind wirklich existiert, dann-“

„Er existiert!“, donnerte Another aufgebracht. „Und er wird euch früher oder später heimsuchen, ob durch das Tor Eden oder einen anderen Zugang zu eurer Welt! Es spielt keine Rolle!“

„Das rechtfertigt nicht-“

Another übertönte ihn jedoch mit Alastairs tiefer Stimme. „Ihr würdet dasselbe tun! Wieso glaubt ihr Menschen, das Recht zu haben, über andere Wesen zu bestimmen!?“

„Wir-!“

„Sechs!“, rief Another und zeigte eine flache Hand vor plus den Daumen der anderen. „Nur sechs Opfer und ich werde imstande sein, einen Ausweg zu finden! Vielleicht auch für euch Menschen!“

Der Dämonenjäger geriet ins Stocken. „Aber wenn das Tor solange offen steht, dann könnten sie-!“

„Alles könnte passieren! Vergiss das Tor, Matt Summers! Ich brauche nur euch sechs, um mein Volk zu retten!“ Enttäuscht seufzte Another auf und schüttelte den Kopf. „ Aber so egoistisch wie ihr seid, würdet ihr niemals euer eigenes Leben für das von anderen opfern! Deshalb sagte ich, dass es keinen Sinn hat, jemanden von eurem Schlag um Hilfe zu bitten!“

 

Matt schnaufte wütend. Das hatte so wirklich keinen Sinn, Another verstand nicht – oder wollte nicht verstehen. Es ging nicht nur um das Tor und den wahren Feind. Die Leute, die er in das alles hineingezogen hatte, waren unschuldig! Er besaß verdammt noch mal ebenso wenig das Recht, über ihre Leben zu bestimmen. Und wer war er, für sein Volk ein anderes in Gefahr zu bringen.

Er war nicht besser als die Menschen, die er regelrecht zu verabscheuen schien!

 

„Dann ist das jetzt ein Kampf der Menschheit gegen Immaterielle“, deklarierte Matt und zeigte mit dem Finger auf Another, „denn wir sind nicht eure Fußabtreter vor der Tür in eine andere Welt! Du bist nicht besser als wir!“

Höhnisch lachte sein Gegenüber auf. „Dann halt mich auf, wenn du kannst!“

„Werde ich!“

Daraufhin richtete der schwarzhaarige, junge Mann seinen Blick auf die gezogene Karte und weitete die Augen. Das war doch der Zauber, den er von Henry bekommen hatte? Aber was sollte er mit dem anfangen!?

Er musste Disigma irgendwie loswerden, da half diese Karte nicht. Dank Disigmas Effekt waren Kämpfe undenkbar, aber vielleicht ging es auch anders! Er besaß fünf Handkarten, sein Gegner nur zwei – er konnte das Spiel also noch drehen!

„Ich rufe [Steelswarm Gatekeeper] auf das Spielfeld!“

Eine gepanzerte, auf vier Beinen laufende Kreatur gesellte sich vor Matt. Zwar hatte sie Ähnlichkeit mit einem Käfer, wirkte jedoch in seiner schwarzen Aufmachung gleichzeitig dämonisch.

 

Steelswarm Gatekeeper [ATK/1500 DEF/1900 (4)]

 

„Und nun reanimiere ich [Steelswarm Sting] von meinem Friedhof! Mit der Zauberkarte [Monster Reborn]!“

Neben seinem Käfermann tauchte die schwarze Hornissengestalt auf.

 

Steelswarm Sting [ATK/1850 DEF/0 (4)]

 

Matt atmete tief durch und streckte den Arm aus. „Und jetzt überlagere ich meine beiden Stufe 4-Monster! Ich erschaffe das Overlay Network!“

Sein Gegner gab ein abwertendes Pfeifen von sich, als sich die Monster des Dämonenjägers in violette Lichtstrahlen verwandelten. Mitten im Spielfeld öffnete sich ein schwarzer Wirbel, der sie absorbierte.

„Xyz-Summon! Zeig dich, [Steelswarm Roach]!“, rief Matt und knallte die Karte seines Monsters auf das D-Pad.

Aus dem Strom entstieg ein eleganter, schwarzer Kakerlakenritter, dessen goldene Flügel wie ein Umhang um seine Schultern lagen. Er zückte sein Rapier und nahm eine kämpferische Pose an.

 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

„Sinnlos“, kommentierte Another den Anblick des von ihm einst erschaffenen Paktmonsters. „Diese Karte nützt dir nichts. Denkst du, ich habe sie so geschaffen, dass du sie gegen mich einsetzen kannst?“

Matt grinste verschlagen. „Selbst das hast du geplant?“

„Natürlich. Es war nur ein Gefühl, aber ich ahnte, dass wir uns hier gegenüber stehen würden.“

„Mal sehen, ob du auch hierfür vorgesorgt hast“, erwiderte Matt, hob den Arm an und bildete mit seiner Hand eine Faust. „Ich rekonstru-“
 

„Idiot!“, hallte es plötzlich von der anderen Seite des Saals zu ihm herüber.

Mit in den Hüften gestemmten Armen stand Anya dort drüben und funkelte ihn böse an. Dabei wich Matts Blick jedoch überrascht zu den beiden Monstern ihres Gegners. Das waren doch nicht etwa-!?

„Du kannst keine Inkarnation im selben Zug durchführen, in dem du das Basis-Xyz-Monster beschworen hast“, rügte sie ihn wütend, „wusstest du das nicht!?“

 

„Sie hat recht“, sprach Another und lenkte Matts Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. „Das ist unmöglich. Und selbst wenn, würde ich es dir nicht gewähren. Du brauchst meine Macht dazu, Matt Summers.“

Kurz überlegte sein Gegner. So war das also? Nun gut, in etwa hatte er das kommen sehen, zumindest was Anothers Einwilligung betraf. Wenn es allein schon regeltechnisch nicht möglich war jetzt schon zu inkarnieren, konnte er sich -das- noch aufheben für später.

„Ach wirklich?“, reagierte Matt dann schnippisch und zückte eine Karte aus seinem Blatt. „Zu schade aber auch! Denn eigentlich wollte ich ohnehin etwas ganz anderes tun!“

Überrascht zog Another eine Augenbraue hoch.

Gleichzeitig legte Matt seine Zauberkarte auf das D-Pad. „Und zwar das hier: [Xyz Energy]! Indem ich ein Xyz-Material von Roach abhänge, kann ich dein Monster zerstören. Kommt dir die Situation bekannt vor, Another!?“

„Es ist“, murmelte der Hüne, „wie damals im Kampf gegen deinen Freund.“

Matt nickte.

„Aber die Dinge sind anders! Ich kann das hier!“ Ruckartig streckte Another seinen Arm aus. Das Overlay Network öffnete sich abermals, doch diesmal absorbierte es [Vylon Disigma] als Ganzes. „Ich rekonstruiere das Overlay Network! Aus meinem Rang 4-Monster wird ein neues Rang 4-Monster!“

Der Dämonenjäger rieb sich hilflos am Hinterkopf. „Hier kommt es … wie erwartet.“

„Steige empor aus der tiefsten Finsternis! Xyz-Summon! [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma]!“

Schwarze und gelbe Blitze brachen aus dem Wirbel hervor, als dieselbe unheimliche Kreatur wieder aus ihm heraustrat. Doch sie war anders als zuvor. Sechs gleißende Schwingen aus buntem Licht befanden sich nun hinter Disigma, ohne jedoch mit diesem verbunden zu sein. Und während die schwarzen Klingenarme sich nicht weiter verändert hatten, bestand sein Unterkörper nun aus einem würfelartigen Segment, das durch eine Glasschicht abgeschottet war. In seinem Inneren befanden sich zwei leuchtende, goldene Sphären.

 

Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

Matt schluckte beim Anblick der Kreatur. „Großartig, immer wenn ich denke, ich wüsste was mich erwartet, beweist du mir das Gegenteil …“

Dabei war sein Blick auf den Ring gerichtet, der den überdimensionalen Kopf Disigmas und den Kubus miteinander verband. Auf ihm waren nebeneinander gereiht verschiedene Fratzen zu sehen, die diverse negative Emotionen wie Furcht oder Wut darstellten.

„Du wirst überrascht sein“, versprach Another geheimnisvoll und grinste, wobei Alastairs Lippen durch die Narben regelrecht schief wirkten.

 

„Hey“, hallte es da wieder von Anyas Spielfeldseite herüber, deren Situation noch nahezu unverändert war, wenn man außen vor ließ, dass sie es jetzt nur noch mit einem Mechavogel zu tun hatte. Dafür sah sie mit einem Mal ganz schön mitgenommen aus. Besonders eine seltsame Wunde an ihrer Wange fiel ihm auf, aber aus der Ferne konnte er sie kaum erkennen.

Die Blondine zeigte auf den neuen Disigma. „Lass dich nicht davon beeindrucken. Ich weiß, wie du das Vieh kinderleicht klein kriegen kannst!“

Der Dämonenjäger horchte überrascht auf. „Huh?“

„Ganz einfach.“ Das Mädchen nickte den Kopf in Disigmas Richtung. „Diese Incarnation-Dinger können doch Xyz-Material recyclen.“

„Das weiß ich.“

„Aber nur die Monster, die für das Original als Xyz-Material gedient haben. Sprich, wenn die vom Friedhof verschwinden würden …“

Zur Verdeutlichung zog sich Anya mit dem Daumen über den Hals.

 

Woraufhin Matt sich wieder auf sein Blatt konzentrierte. Wie sollte er jetzt gegen Disigmas neue Form vorgehen? Er besaß keine weiteren Zerstörungskarten mehr. Und Anyas Tipp war auch nicht gerade hilfreich!

In dem Moment fiel ihm wieder Henrys Zauberkarte ein.

„Das ist es!“, stieß er hervor, als er endlich erkannte, welchen Zweck sie erfüllen sollte. Sofort fischte er den Zauber aus seinem Blatt hervor und hielt ihn in die Höhe. „Erlebe sie jetzt, Another! Die Macht der Anti-Incarnation-Waffe!“

„Der was?“, wiederholte sein Gegner skeptisch. „So etwas gibt es nicht.“

„Doch, sieh her! Ich aktiviere die Ausrüstungszauberkarte [Legendary Victory Spear – Lord Fafnir]! Nur ein Xyz-Monster kann damit ausgerüstet werden!“

Gespannt sahen er und Another, gar Anya und Isfanel zu, wie sich in Roachs Hand ein zwei Meter langer, weißer Speer materialisierte. Mit goldener Verzierung geschmückt, wurde sofort klar, dass diese Waffe etwas Besonderes war – denn statt einer normalen Speerspitze ragte am Ende des Schafts ein Drachenkopf hervor, aus dessen Maul die goldene Spitze lugte.

Sofort als die Waffe mit beiden Händen ihres Trägers angenommen wurde, leuchtete diese weiß auf.

 

Steelswarm Roach [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

Doch sonst geschah nichts weiter mit dem Kakerlakenritter, um den eine leuchtende Sphäre kreiste.

„Kein Angriffsbonus?“, wunderte sich Another und lachte auf. „Jämmerlich.“

„Typisch!“, blies Anya ins selbe Horn. „Alles, was von dem Pennerkind kommt, ist totaler Schrott!“

Matt jedoch grinste vielsagend, verzog dann vor Schmerz die Miene, da die Wunde an seiner Schulter ihm zu schaffen machte. Dennoch gluckste er. „Haha. So ganz stimmt das nicht, Anya. Denn wenn ich Lord Fafnir ausrüste, verbanne ich ein Attribut meiner Wahl vollkommen aus dem Friedhof meines Gegners!“

Erschrocken wich jener daraufhin zurück. „D-das ist-!?“

„Und ich sage Licht!“

Damit richtete Roach den Speer auf Anothers D-Pad. Ein leuchtender Strahl schoss aus dem Schlund des Drachenkopfs und traf besagten Apparat, aus dem sämtliche Vylon-Monster geflogen kamen. Mit Entsetzen fing Another sie in der Luft auf.

„Tja, mit Recycling ist jetzt nicht mehr viel“, grinste Matt und schob nebenbei seine letzte Handkarte, eine Falle, in den entsprechenden Slot seines D-Pads. „Jetzt weiß ich, wofür Lord Fafnir gut ist! Diese hier verdeckt, Zug beendet!“

Seine Falle materialisierte sich vor seinen Füßen und Matt hoffte inständig, dass Another sich diesmal nicht an ihr vergreifen würde, denn nochmal würde er sich nicht mit [Discord Trap] retten können.

 

„Glaub nicht, dass das allein reichen wird, um mich zu besiegen!“, kündigte Another aufgebracht an und schob die beiden [Vylon Pentachloro] in die Hosentasche seiner Jeans. Dann riss er die nächste Karte von seinem Deck. „Draw!“

Beruhigt stellte Matt fest, dass das Monster seines Gegners während der Standby Phase tatsächlich seine maximale Xyz-Material Anzahl von vier nicht wiederherstellen konnte.

Gleich darauf griff Another unter Disigmas Karte und riss eines der Xyz-Materialien hervor. „Effekt von [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma] aktivieren! Den ersten! Du wirst überrascht sein, aber es ist derselbe wie der des Originals! Mit ihm wird er -meine- Paktkarte jetzt absorbieren!“

„Derselbe!?“, schoss es aus Matt heraus. „Aber normalerweise-!“

„Ich sagte doch, du wirst überrascht sein! Und nun sieh zu! [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma], benutze Gate Of The Outsider!“

Die finstere Engelsmaschine öffnet das Maul und versuchte mit einem heftigen Sog [Steelswarm Roach] zu absorbieren. Dieser rutschte ungewollt über das Spielfeld. Gleichzeitig löste sich eine der beiden Sphären im Inneren des Glaswürfels auf.

„Nicht so hastig!“, befahl Matt, woraufhin sein Monster den Speer mit der spitzen Unterseite in den Boden rammte, um so Halt zu finden. „[Legendary Victory Spear – Lord Fafnir] hat auch noch eine kleine Überraschung für dich!“

„Was!?“

„Man kann das ausgerüstete Monster nicht als Ziel für Effekte wählen!“

Mit wehenden, goldenen Flügeln trotzte Roach so dem Sog, der schließlich verebbte.

„Du kleiner-!“, fauchte Another vor Wut und griff nach dem Knopf an seines D-Pads, welcher seine gesetzte Karte aktivieren sollte. „Denkst du, das reicht aus!? Diese kleine Schabe!? Um dich zu beschützen!?“

Matt grinste jedoch nur verschlagen. „Was fragst du mich das? Du hast sie doch geschaffen!“

„Ich zeige dir jetzt, welchem Irrtum du erlegen bist, Matt Summers!“

„Irrtum?“ Der Schwarzhaarige rümpfte die Nase. „Mein einziger Irrtum war es, dir zu vertrauen!“

„Ich aktiviere meine gesetzte Ausrüstungszauberkarte [Vylon Component]!“, fuhr Another einfach fort. „Damit rüstete ich Disigma aus!“

Sein Monster leuchtete kurz weiß auf, veränderte sich aber nicht weiter.

 

Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

„Mit dieser Karte kann er Durchschlagschaden anrichten“, überlegte Matt laut. „Was soll das …?“

„Das wirst du jetzt sehen“, drohte Another und hielt zwei Monsterkarten namens [Vylon Tesseract] und [Vylon Stigma] in die Höhe. „Du dachtest, meine Kreatur würde wie alle anderen ihre Materialien vom Friedhof regenerieren, nicht wahr?“

„Huh?“

„Aber ich muss dich dummerweise enttäuschen.“ Der besessene Alastair setzte sein finsteres Grinsen auf. „Deine Aktion war vergebene Liebesmüh. Disigma in seiner Seraphimform erlangt seine Energie nicht etwa durch einen endlosen Kreislauf, sondern durch direkte Zuführung! Sieh her!“

Damit schob Another die beiden vorgezeigten Karten unter sein Xyz-Monster, woraufhin in dessen Innerem sofort zwei weitere goldene Sphären erschienen, womit es drei waren.

Matt fiel aus allen Wolken. „Du hast-! Du hast das geplant, nicht wahr!?“

„Natürlich“, erwiderte sein Gegner und zuckte unbedarft mit den Schultern. „Die größte Schwäche der Incarnation-Monster, etwas, das jeder mit etwas Grips herausfinden würde. Ich habe sie beseitigt.“

 

Verwirrt fasste Matt sich an die Stirn. Anstatt eines Recycling-Kreises, benutzte diese Version von Disigma stattdessen Monster von der Hand? Dann gab es keine Möglichkeit vorherzusehen, wann Another wie viele Xyz-Materialien erzeugen würde!

Aber das hatte auch sein Gutes, denn damit dezimierte er sein Blatt! Immerhin besaß er jetzt nur noch eine Handkarte.
 

„Du denkst jetzt sicher, dass die direkte Zufuhr von Handkarten sich nachteilig für mich auswirken wird, nicht wahr?“ Wieder lächelte Another falsch und bitterböse. „Du irrst. Denn dein sinnloser Kampf ist gleich vorbei! Ich aktiviere Disigmas zweiten Effekt, der zwei Xyz-Materialien und das Verbannen einer an ihn ausgerüsteten Karte erfordert!“

Der Hüne riss die beiden eben erst unter sein Monster gelegten Materialien und [Vylon Component] von seinem D-Pad und entsorgte sie. Gleichzeitig lösten sich zwei der drei goldenen Sphären in Disigmas Innerem auf.

„Zu schade, dass der mächtigste Effekt von Disigma erst zu einem späteren Zeitpunkt aktiviert werden kann, da er sehr viel Vorbereitung erfordert“, lachte Another dabei und streckte den Arm aus, „deshalb wirst du ihn auch nicht mehr erleben! Doch siehe dem positiv gegenüber, Matt Summers! Dein Leid ist gleich vorüber! Los, meine Kreatur, Blades Of Zero!“

Matt schrie panisch, als die Klingen an den Armen der grotesken Kreatur plötzlich golden zu leuchten begannen. Mit einem Mal schoss es jene auf seinen Schabenritter ab, welcher die Attacken mit seinem Schwert zwar blockieren konnte, danach aber erschöpft in die Knie ging, während die Klingen wie ein Bumerang zu Disigma zurückkehrten.

 

Steelswarm Roach [ATK/1900 → 0 DEF/0 → 0 {4}]

 

„Ah!“

„Wie du siehst, duldet mein Seraphim keine anderen Monster mit Angriffs- oder Verteidigungspunkten auf dem Feld und reduziert sie mit dieser Technik zu nichts mehr als einer fernen Erinnerung.“

Another hob langsam den Arm an und zeigte mit dem Finger auf Matt. „Nun tauche ein in einen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Aber gräme dich nicht, denn du wirst ihn nicht alleine träumen. Meinen Traum.“

„Es ist ein Traum, ein Volk für ein anderes zu opfern!?“ Matt schüttelte den Kopf. „Dein Traum soll das sein!? Welcher Anführer würde so etwas tun? In der Rolle siehst du dich doch, oder?“

„Ein starker Anführer.“ Another lachte auf. „Denn so etwas brauchen wir jetzt am dringendsten. Also vergehe im Schlaf, auf dass deine Träume das Tor Eden öffnen mögen! [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma], greife sein Monster an! Sacred Black Annihilation!“

Disigma reichte mit beiden Armen in die Luft und ergriff aus dem Nichts zwei schwarze Speere.

„So leicht mache ich es dir nicht!“, rief Matt und streckte den Arm aus. „Ich rekonstru-!“

„Schon wieder!? Narr, wie oft willst du noch denselben Fehler machen!? Ich bin Herr über meine Fähigkeiten, nicht du! Ohne meine Einwilligung kannst du nicht inkarnieren!“

 

„Du irrst.“

Another schreckte ob der mit solcher Selbstsicherheit gesprochenen Worte zusammen.

„Es ist wahr. Ich kann deine Kräfte nicht so ohne Weiteres kontrollieren, auch wenn du noch ein Teil von mir bist.“ Matt schloss die Augen, zog den Arm zurück und griff nach etwas in der Innenseite seines Mantels. „Aber zu sagen, ich wäre nicht auf so etwas vorbereitet gewesen, wäre wohl gelogen. Unsere noch bestehende Verbindung wird gleich zu deinem Verhängnis werden.“

Überrascht horchte Another auf. „Was sagst du da?“

Ein Schmunzeln huschte über die Lippen seines Gegners. „Lange bevor wir beide einen Pakt geschlossen haben, haben Alastair und ich darüber diskutiert, wie wir Anya töten wollen. Mein Vorschlag lautete, einen Dämon auf sie zu hetzen. Und insgeheim habe ich daran gedacht, mit einem geeignetem Exemplar einen Pakt zu schließen.“

„Du-“

„Aber“, unterbracht Matt ihn scharf und zog das Objekt langsam aus der Innentasche heraus, „ich bin eben nicht der Typ für solche Dinge. Wollte nicht die durch Alastair verursachten Probleme mit seinen Methoden des Tötens lösen. Bevor ich jedoch zu dieser Einsicht kam, habe ich etwas geschaffen, das mir nun sehr nützlich wird. Betrachte den letzten Versuch daher als Testlauf, um Informationen über unsere Verbindung zu sammeln.“

 

Grinsend zückte der junge Mann plötzlich eine weiße Karte, auf der ein stehendes Unendlichkeitszeichen abgebildet war. Eine Hälfte davon war blau gefärbt, die andere rot, sodass diese zwei Farben sich in der Mitte kreuzten.

„Ta da! Mein super geheimer Paktumkehr-Mechanismus! Naja, der Name ist nicht gleich Programm, aber in diesem Zauber schlummert die Möglichkeit, die Rollen der Dominanz und Unterlegenheit eines Paktes umzukehren. Zumindest für einen kurzen Augenblick!“

„Was!?“

Ein gleißendes Leuchten begann von der Karte auszugehen. Inbrünstig rief Matt: „Damit kann ein Besessener für wenige Sekunden die Macht über seinen Körper zurückgewinnen! Ich aber will deine 'Kontrolle'!“

Another wich mit geweiteten Augen zurück, doch aus seiner Brust und auch der von Matt schoss neben den Lichtlinien, die mit Eden verbunden waren, jeweils ein zweiter Strahl. Aus der Brust des Hünen glühte dieser rot, aus Matts hingegen blau und in der Mitte verschmolzen die beiden Linien.

„Was tust du da!? Wie ist so etwas möglich!?“, begehrte Another auf und schlug durch seinen Strahl aufgebracht hindurch.

„Wozu sind wir denn Dämonenjäger!? Auf solche Situationen müssen wir vorbereitet sein!“, rief der Schwarzhaarige und streckte den Arm aus. „Und jetzt schau her! Ich rekonstruiere das Overlay Network mit deiner Kraft!“

Die Verbindung der beiden glühte noch stärker auf.

„Nein!“

„Doch! Aus meinem Rang 4-Monster wird ein neues Rang 4-Monster inkarniert! Komm herbei und schütze mich! Incarnation Mode aktiviert!“
 

Ein schwarzer Wirbel tat sich unter [Steelswarm Roach] auf. Jener ließ den weißen Speer in ihrer Hand los, welcher daraufhin in der Luft zu schweben begann, und wurde verschluckt.

„Steh mir bei“, rief Matt laut, „[Steelswarm Vanguard – Roach Styx]!“

Rote, violette und schwarze Blitze schlugen aus dem Strom, als der Kakerlakenritter muskulöser denn je wieder daraus empor stieg. Sein goldener Umhang flatterte unstet, als er sich den Speer griff und dann auf eine Größe anwuchs, die gefährlich nahe an das Ende der Decke der Turmkuppel reichte. Zwei violette Sphären umkreisten den Giganten.

 

Steelswarm Vanguard – Roach Styx [ATK/1900 DEF/0 {4}]

 

Zwischen seinen Beinen konnte man Matt grinsen sehen, ehe Roach Styx schließlich in die Knie ging und damit die Sicht auf seinen Besitzer blockierte. Dies sorgte jedoch dafür, dass der Energiestrahl, der Another und Matt verband, nun unterbrochen wurde und zusammen mit der Karte in den Händen des jüngeren Dämonenjägers verschwand.

„Tja, dank meinem letzten Duell und Anyas Tipps weiß ich jetzt, wie ich mit diesen Dingern umzugehen habe!“, triumphierte Matt überglücklich hinsichtlich seines gelungenen Beschwörungsversuches und sah an Roach Styx hinauf.

Auch der Speer Lord Fafnir, den jener an sich genommen hatte, war beachtlich gewachsen.

„Eins solltest du wissen“, sagte er dabei gelassen, „wenn der ursprüngliche Besitzer des [Legendary Victor Spear – Lord Fafnir] das Feld verlässt, sucht sich diese Waffe ein neues Xyz-Monster aus, welches zu seinem Träger wird.“

„Sinnlos!“

„Finde ich nicht, denn dadurch kannst du mein Monster weiterhin nicht mit deinem absorbieren. Außerdem werden alle Licht-Monster aus deinem Friedhof verbannt, da Lord Fafnir neu ausgerüstet wurde und ich dieses Attribut bannen möchte!“

Roach Styx richtete in seiner knienden Position den Drachenkopf des Speers auf Another und schoss damit einen Lichtstrahl auf dessen D-Pad ab, welche daraufhin die Vylon-Monster ausspuckte. Wie beim letzten Mal fing dessen Besitzer sie auf. „Narr!“

„Hast du mir was zu sagen?“ Matt grinste verschlagen.

„Ja! Dein Paktmonster wird dich nicht retten, denn auch wenn Inkarnationen nahezu unbesiegbar im Kampf sind, gibt es eine Monsterart, die sie vernichten kann. Xyz-Monster! Und deshalb setzt Disigma seinen Angriff auf dein Monster jetzt fort! Sacred Black Annihilation!“

Matt wich einen Schritt zurück, als der finstere Maschinenengel die zwei Speere in seinen Händen nun auf das Ziel feuerte. Zwar konnte er es nicht sehen, dafür aber an einem surrenden Geräusch hören.

„Vergiss es! Das habe ich einkalkuliert! Verdeckte Falle aktivieren, [Impenetrable Attack]! Sie macht mich entweder gegen Kampfschaden immun oder eines meiner Monster gegen Zerstörung im Kampf für diesen Zug!“ Die Falle klappte vor Matt auf. „Du kannst dir denken, was mir lieber ist!“

Die zwei Speere prallten daraufhin an einer unsichtbaren Barriere ab, die vor Roach Styx entstanden war. Dabei verursachten sie zwei heftige, finstere Explosionen, die den Kristallboden in der näheren Umgebung regelrecht zersplittern ließen.

„Du!“, knurrte Another außer sich vor Wut und drückte dabei seine letzte Handkarte zusammen. „Das ist noch nicht das Ende! Im Gegenteil, jetzt hat der wahre Kampf zwischen uns erst begonnen, nun wo jeder seine Inkarnation auf dem Spielfeld hat! Zug beendet!“

 

Der fing langsam an zu nerven, dachte Matt ärgerlich und wünschte sich, seinem besessenen Freund in die Augen sehen zu können.

Besonders anstrengend war die Situation schon deshalb, weil er jetzt in einer Zwickmühle saß. Sein Roach Styx war leider schwächer als der Vylon Seraphim, da gab es nichts zu diskutieren. Irgendwie musste er das Blatt wenden! Wenn es dem echten Alastair doch wenigstens gelänge, kurz die Kontrolle an sich zu reißen, aber bei Another war das wohl hoffnungslos.

Schließlich richtete Matt seinen Blick auf das D-Pad an seinem Arm und wollte gerade ziehen, da fiel ein gewaltiger Schatten auf ihn und sein Monster.

Er wandte den Kopf um zu Anyas Duell, wobei ihm vor Faszination der Mund offen stehen blieb.

 

Was um alles in der Welt war das!?

 

~-~-~

 

Keuchend tippte Melinda auf einem der Sprengstoffapparate, die an der Innenwand des Turms angebracht waren, den Detonationszeitpunkt ein. Sie wusste nicht einmal mehr, wie viele Male sie das schon getan hatte. Dieser Turm schien einfach kein Ende zu nehmen!

„Halte noch etwas durch, Benny! Und ihr anderen auch!“, flehte sie leise und wandte sich von der Apparatur ab.

 

Ihr waren mittlerweile starke Zweifel an ihrer Idee gekommen. Die anderen dort oben gegen diese zwei Verrückten kämpfen zu lassen war Wahnsinn! Aber wenn sie den Weg schon jetzt frei gemacht hätte, hätten jene sie und die anderen nur verfolgt. Und besonders Isfanel sollte nicht in die Nähe des Sprengstoffs gelangen, da kein Zweifel daran bestand, dass er jenen sofort zünden würde, nur um Edens Erwachen zu verhindern.

Aber war sie dennoch nicht etwas voreilig mit diesem Einfall gewesen? Was brachte es schon, wenn alle tot waren, bevor sie hier fertig war!?

 

Melinda mahnte sich, nicht daran zu denken und weiter zu machen.

Der nächste Sprengsatzapparat war etwa zwanzig Stufen von ihr entfernt, sodass sie zu rennen begann.

„Ah!?“

In ihrer Eile rutschte sie von einer Stufe ab und begann plötzlich zu fallen. Unter einem Schmerzensschrei rollte sie mindestens vierzig Stufen hinab, ehe sie sich ein wenig drehte und kopfüber weiter schlitterte. Erst, als sie sich mit dem Fuß versehentlich an einer Geländerstange verhakte, stoppte der Fall und sie blieb mitten auf der Treppe liegen.

An ihrer Stirn prangerte eine große Platzwunde, welche das Mädchen betastete und erschrocken das Blut an ihren Fingern betrachtete. Ihre Sicht verschwamm zudem.

„Benny …“

 

Vorsichtig zog sie ihr Bein aus der rettenden Verankerung und bemühte sich aufzustehen. Doch sie verlor das Gleichgewicht und fiel abermals mehrere Stufen in die Tiefe. Und diesmal, während sie so auf den Treppen lag, stand sie nicht mehr auf.

 

~-~-~

 

Bangend starrte Anya auf die Stelle, an der Matt von [Vylon Disigmas] finsterem Speerangriff getroffen wurde. In einer Energiekuppel war er untergegangen.

„Nicht auch noch du!“, murmelte sie fassungslos.

Aus den Augenwinkeln sah sie herüber zu Henry und Valerie, die, hoffentlich nur bewusstlos, weit entfernt von ihr auf dem Kristallboden lagen und sich nicht rührten. Isfanel hatte sie gnadenlos ausgeschaltet.

Und nun war auch noch Matt diesem Another zum Opfer gefallen. Das war alles ihre Schuld, dachte Anya fassungslos.

Doch in dem Moment löste sich die Explosion auf und Matt stand aufrecht. Sein Blick war jedoch abwesend, geradezu leer. Zwei Fallenkarten waren vor ihm hochgeklappt, obwohl sie zuvor zerstört worden waren, wie Anya nebenbei mitbekommen hatte.

Stöhnend wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. „Jag' mir nicht nochmal so einen Schreck ein, Mistkerl!“

Als er jedoch nicht auf ihren Ausruf reagierte, wandte sich Anya naserümpfend ihrem eigenen Gegner zu.

 

Und der stand ihr in flammender Gestalt mit zwei mechanischen Riesenvögeln gegenüber.

„Shit!“, brummte sie wütend angesichts ihrer Lage.

Hier war sie nun, mit nichts weiter als [Gem-Knight Garnet], dem Feuerritter des Granats, auf dem Feld und einer Karte in der Hand.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Dagegen besaß ihr weiß flammender Gegner zwar keine Handkarten, dafür aber eine verdeckte Karte. Und natürlich [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale] und [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk].

Während Ersterer, der linke der beiden riesigen Mechavögel, von schlanker Figur und in violetter Aura gehüllt war, besaß der rechte einen wesentlich kräftigeren Körperbau und glühte in orangefarbener Aura auf. Beide hatten gemein, dass man durch die Auren in ihr mechanisches Inneres sehen konnte, zumindest an Beinen und Flügeln, denn der Rest war mit weißer Panzerung bedeckt. Dazu kreiste um die Nachtigall ein Paar goldener Energiekugeln.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale [ATK/2400 DEF/2600 {4}]

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]

 

Das Mädchen konnte immer noch nicht fassen, wie es Isfanel gelungen war, gleichzeitig eine Xyz- und eine Synchrobeschwörung durchzuführen. Also waren das seine neuen Paktkarten?

Auf den ersten Blick mochten sie vielleicht harmlos anmuten, aber Anya wusste, dass ihr Gegner sie allein dank seiner verbannten Zauberkarten stärken konnte. Dabei waren das nur die offensichtlichen Dinge, die Effekte der beiden Maschinen kannte sie nicht einmal.

Dazu waren ihre Lebenspunkte auch noch verdammt niedrig!

 

[Anya: 900LP / Isfanel: 1800LP]

 

„Heute ist echt ein Scheißtag!“, brummte sie und rief, während sie nach ihrem Deck griff: „Draw!“

Noch während der ausholenden Ziehbewegung spürte sie für einen kurzen Moment einen fiesen Stich im Brustkorb. Das hatte sie schon öfters erlebt, besonders wenn sie Levriers Kräfte eingesetzt hatte. Aber warum gerade jetzt!?

Als Anya sich die gezogene Karte ansah, stockte sie verblüfft. „D-das ist genau, was ich gebraucht habe!“

Ihr Gegner musterte sie ruhig, doch schwieg. Skeptisch sah das Mädchen aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, wobei sie die Zauberkarte gleichzeitig in die alte Battle City-Duel Disk einschob. „Ich aktiviere [Pot Of Avarice]! Damit mische ich fünf Monster von meinem Friedhof in mein Deck zurück und ziehe danach zwei Karten!“

Und sie brauchte jetzt dringend Nachschub an guten Karten! Was für eine günstige Fügung des Schicksals!

Eilig legte sie [Gem-Knight Obsidian], [Gem-Knight Iolite], die am Anfang des Duells durch [Infinite Pressure] abgeworfene [Gem-Turtle] auf ihr Deck sowie [Gem-Knight Master Diamond] und [Gem-Knight Seraphinite] in ihr Extradeck und ließ ihren Kartenstapel dann durchmischen, ehe sie zweimal aufzog. Das Blöde war allerdings, dass sie nun keine Gem-Knights mehr im Friedhof hatte, um [Gem-Knight Fusion] daraus zu extrahieren.

„Immerhin“, murmelte sie beim Anblick der neuen Karten, da sie in ihnen Potential sah. „Ich setze ein Monster und eine weitere Karte! Außerdem wechsle ich Garnet in die Verteidigung!“

Die beiden Karten materialisierten sich vor ihr, während ihr Granatritter in die Knie ging.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Sie konnte nicht riskieren, auch nur einen Angriff durchgehen zu lassen, dachte Anya angestrengt. Wenn wenigstens Redfield oder das Pennerkind noch im Spiel wären. Aber die waren wie die Fliegen gefallen und nun blieb die ganze Arbeit an ihr hängen.

„Tch!“ Anya fühlte für einen kurzen Augenblick Schuld, da sie die anderen erst in den Turm gelockt hatte. Eigentlich war sie es allein, die das nun alles geradezubiegen hatte.
 

Als sie herüber zu Matt sah, bemerkte sie, dass jener wieder zu sich gekommen war und wild mit Another diskutierte. Kaum hatte sie verstanden, worum es ging, schaltete sie sich wutentbrannt ein.

„Das sagt sich leicht, huh!? Immerhin sind wir ja das, was geopfert wird! Oder sogar die Menschheit, wenn dieser wahre Feind durch das Tor kommt!“

Dann richtete sie sich an Matt und zeigte ihm den erhobenen Daumen. „Den letzten Angriff hast du schon recht cool abgewehrt – weiter so! Tritt ihm in den Hintern, Summers!“

Matt grinste verschlagen, nickte und erwiderte die Geste. „Werd' ich!“

Anya schnaufte. Dieser Another hatte doch einen Knall zu glauben, er wäre im Recht!

 

Abgelenkt rief sie Isfanel zu: „'kay, mein Zug ist beendet, Mistkerl!“

Doch noch während sie den Kopf wieder in seine Richtung drehe, fiel ihr der dünne Energiestrahl auf, der von Matts Brust mitten in dem Tor über dem Kristallthron verschwand. Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass es ebenso bei Valerie und Henry der Fall war.

Als Anya nachsehen wollte, ob mittlerweile auch sie so ein Ding besaß, schrie sie erschrocken auf. Denn erst jetzt erkannte sie, dass ihre Hände glitzerten, gar langsam durchsichtig wurden und wie Kristall wirkten.

„Edens Erweckung ist bereits weit vorangeschritten“, hallte Isfanels Stimme zu ihr, „die Zeit rennt uns davon. Anya Bauer, hör auf Widerstand zu leisten!“

Doch die war nur damit beschäftigt, ihre Hände anzusehen. Sie tastete sich mit ihnen das Gesicht ab und stellte fest, dass kein Gefühl mehr in ihnen war. „Shit!“

Sie musste sich beeilen, ehe sie noch zu einer Statue wurde, oder was auch immer gerade mit ihr vorging!

 

„Ich bin am Zug. Draw“, entschied sich derweil ihr Gegner, seinen Zug zu beginnen. Kaum hatte er sein Blatt aufgestockt, gab er einen überraschten Laut von sich, murmelte kaum verständlich: „… tt des Endes!?“

„Was redest du da!?“, fauchte Anya ihn an. Sie bemerkte gar nicht, dass auch Teile ihrer Wangen zu durchsichtigem Kristall wurden und undeutlich rotes Fleisch darunter zeigten.

Isfanel zögerte bei seiner Antwort. „Es ist nichts.“

Er legte seine flammende Hand auf die längliche Duel Disk und drehte das schwarze Xyz-Monster darauf in die vertikale Lage. „Ich wechsle [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale] in den Angriffsmodus.“

Sein schlanker Mechavogel folgte der Anordnung mit einem roten Leuchten in den pupillenlosen, weißen Augen.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale [ATK/2400 DEF/2600 {4}]

 

„Nun nutze ich den Effekt dieses Monsters, indem ich ein Xyz-Material abkopple“, setzte Isfanel seinen Zug fort und zog [Celestial Gear – Synthetic Owl] unter der Karte hervor. Gleichzeitig verschwand eine der goldenen Lichtkugeln in die Mitte der Brustpanzerung der Nachtigall, wo sich ein grünes Kernstück in Form eines Dreiecks befand.

Der Boden fing plötzlich an zu beben.

„So ein Scheiß!“, fluchte Anya, die Böses ahnte.

„Mit diesem Effekt beschwöre ich ein verbanntes Celestial Gear-Monster und aktiviere dabei seinen Rückbeschwörungs-Effekt, der sonst nur einmal während des Duells aktiviert werden könnte“, verkündete Isfanel und streckte den rechten Arm in die Luft. „Erscheine aus der vierten Dimension, [Celestial Gear – Synthetic Albatross]! Mit dessen Effekt darf ich nun zwei Karten ziehen.“

Fassungslos sah Anya mit an, wie aus dem Boden der mechanische Riesenalbatros aus einem Dimensionsriss entstieg und sich zwischen die beiden anderen Vögel drängte. Dabei flimmerte seine Oberfläche gewohnt rot auf.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 DEF/0 (4)]

 

„Schon wieder!?“, fauchte Anya, die den Anblick dieses Monsters langsam satt hatte.

Zeitgleich zog Isfanel da schon zwei Karten, von denen er eine sogleich in seine Duel Disk einlegte. „Ich aktiviere den Zauber [Halted Gear], mit dem ich den Namen eines Monsters benenne. Befindet sich dieses in deinem Deck oder Extradeck, musst du es auf den Friedhof legen, Anya Bauer.“

„Huh!? Warum so eine Karte!?“

„Ich rufe [Gem-Knight Master Diamond] aus.“

In dem Moment erkannte Anya perplex, was Isfanel damit bezweckte. Er wollte verhindern, dass sie Diamond erneut beschwor, da dieser eine Gefahr für ihn darstellte, weil er realen Schaden zufügen konnte! „Du elender-!“

Schon erschienen um ihre Duel Disk sechs kleine Zahnräder, die in ihr verschwanden und dafür sorgten, dass das Fusionsmonster automatisch aus Anyas Extradeck geschoben wurde. Die nahm Diamond widerwillig und legte ihn auf den Friedhof.

„... fast vollständig.“

„Huh!?“

Wieso laberte dieser Typ neuerdings dauernd mit sich selbst?

Jedoch störte sich Isfanel nicht an Anyas verwirrten Gesichtsausdruck, sondern streckte majestätisch den Arm aus. „Nun greife ich deine Monster an! [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale], attackiere ihr gesetztes Monster! Celestial Lullaby!“

Der violett leuchtende Mechavogel öffnete den Schnabel und erzeugte damit eine Reihe von Schockwellen, die direkt auf Anyas Monster zusteuerten. Diese runzelte ärgerlich die Stirn.

„Nichts da! Verdeckte Falle aktivieren, [Negate Attack]!“, rief sie und ließ ihre gesetzte Falle aufspringen. „Sie beendet bei einem Angriff deine Battle Phase!“

Ohne Weiteres verpufften die Schockwellen. Und Anya atmete tief durch, denn ohne diese Karte wäre sie verloren gewesen.

„Verstehe. Dann beende ich meinen Zug“, kündigte Isfanel an. Dabei löste sich sein Albatros in blauen Funken auf. „Da [Celestial Gear – Synthetic Albatross] als Rückbeschwörung gerufen wurde, wird er in der End Phase verbannt.“

Anya rümpfte wütend die Nase. „Ist auch besser so!“

 

Dennoch! Dadurch konnte Isfanel dieses Ding nächste Runde wieder beschwören und neue Karten ziehen, wenn es Anya nicht gelang, vorher die Nachtigall loszuwerden. Dabei richtete sie ihren Blick skeptisch auf [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk], das Synchromonster. Der stolze Falke hatte bisher gar nicht weiter in das Duell eingegriffen – was verbarg er wohl? Sicher nichts Gutes, schätzte die Blondine. Und fürchtete dabei, bald herauszufinden, was es mit dem Ding auf sich hatte.

Doch noch etwas beunruhigte sie. Das Duell ging nun schon eine ganze Weile, aber von Henrys Schwester hatten sie bisher nichts mehr gehört. Sie war die Einzige, die den anderen einen Ausweg verschaffen konnte aus dem Turm. Mit Unbehagen sah Anya über die Schulter zu der Kristallansammlung, die das Loch im Boden zu den Treppen blockierte. Hoffentlich war die blöde Schnepfe nicht auf die Idee gekommen, ihre eigene Haut zu retten!

Anya konnte das im Endeffekt eh egal sein, immerhin hatte sie sowieso nichts von dieser ganzen Aktion. Sollte sie sich jedoch den Arsch ganz umsonst für diese Deppen aufreißen, so schwor sie sich, dieser Melinda einen mächtigen Anya-Haken powered by Eden zu verpassen, wenn sie sie jemals in die Finger kriegen sollte!

 

Mit abfälliger Mimik wandte sie sich Isfanel zu und funkelte ihn böse an. „Ist wohl blöd für dich gelaufen, huh? Eine Anya Bauer lässt sich nicht so leicht besiegen!“

„Immerhin bin ich nicht so närrisch wie dein Freund. Sieh, was er versucht.“

Anya folgte dem Hinweis ihres Gegners und erkannte, dass er sein Paktmonster beschworen hatte und doch tatsächlich den Arm ausstreckte. Matt rief: „Ich rekon-!“

„Idiot!“, schrie sie und klatschte sich die Hand an die Stirn, ehe sie die Hände in die Hüften stemmte. Überrascht sah er zu ihr herüber. „Du kannst keine Inkarnation im selben Zug durchführen, in dem du das Basis-Xyz-Monster beschworen hast! Wusstest du das nicht!?“

 

Genervt stöhnend ließ sie wieder von dem verzweifelten Dämonenjäger ab. Der würde auch ohne sie klar kommen, wenn er nicht gerade solche Fehler machte. Sie selbst hatte ihren eigenen Kampf auszutragen und konnte sich nicht dauernd bei ihm einmischen!

„Mein Zug! Draw!“, schrie sie und spürte eine Hitze unter ihrem Mal, wie sie sie selten erlebt hatte, als sie schwungvoll zog. „Huh!?“

Überrascht wollte sie dem sofort nachgehen, weil sie glaubte, das schwarze Kreuz im Dornenring weiß aufleuchten gesehen zu haben, aber als sie es betrachtete, war dort nichts weiter.

„Seltsam, warum gerade jetzt?“

„Ignoriere es. Es sind nur Nachwirkungen der Verbindung zwischen dem Gründer Levrier und dir.“

Anya sah auf und grinste plötzlich. Wenn Isfanel das sagte, musste es etwas Gutes für sie bedeuten. Neugierig drehte sie die gezogene Karte zwischen ihren Fingern um und gab einen ehrfürchtigen Seufzer von sich. „Alter, ist mein Cheating-Drawskill zurück oder was!?“

Mit dieser Karte konnte sie-!

Selbstbewusster denn je griff sie nach ihrer Duel Disk und drehte ihr gesetztes Monster in die offene Angriffsposition. „Flippbeschwörung! [Gem-Turtle], erscheine!“

Und während vor ihr eine Schildkröte auftauchte, deren Panzer aus einem Smaragd bestand, grübelte das Mädchen. Es war schon seltsam, dass sie diese Karte aufgezogen hatte, obwohl sie sie doch vom Friedhof ins Deck gemischt hatte. Insbesondere deshalb, weil der Effekt von [Gem-Turtle] ihr jetzt helfen würde, die dazugezogene Karte zu aktivieren und ihren Plan durchzuführen. Fast, als wäre alles gesteuert.

„Wenn [Gem-Turtle] geflippt wird, erhalte ich [Gem-Knight Fusion] von meinem Deck aufs Blatt. Und da ich mehr als eine Kopie dieser Karte spiele, befindet sich noch eine in meinem Deck!“, rief Anya und zeigte besagte Fusionskarte auch schon vor.

 

Gem-Turtle [ATK/0 DEF/2000 (4)]

 

Eins war dennoch seltsam. Es fühlte sich nicht für sie an, als würde sie Levriers Kräfte benutzen, da war kein ekstatisches Gefühl, eher Schmerz. Und anders als sonst stellte sie sich keine Karten vor, die sie dann ziehen würde. Sie kamen einfach. Es war einfach nicht dasselbe.

Nein, das konnte unmöglich von ihrem Pakt herrühren!

 

Konnte dies alles wirklich nur ein Zufall sein, fragte sie sich und betrachtete die drei Zauberkarten auf ihrer Hand.

„Egal, wenn ich gewinnen kann, spielt es keine Rolle“, sprach sie ihren Gedanken laut aus und schob ihren 'Cheat Draw' zufrieden in die Duel Disk ein. Dabei richtete sie sich mit gehässigem Grinsen an ihren Gegner. „Weißt du, was ich mit meiner eben erhaltenen [Gem-Knight Fusion] jetzt mache? Ich werfe sie ab! Und zwar dank der Zauberkarte [Lightning Vortex]!“

„Unmöglich!“, entglitt es Isfanel erschrocken.

„Total möglich, du Krümelhirn“, widersprach Anya und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn, „jetzt heißt es Goodbye für deine Monster! Adios Amigos!“

Während sie sich mit besagtem Zeigefinger nun über die Kehle fuhr, schossen aus der Decke von links nach rechts dutzende Blitze. Zuerst bombardierten sie die Nachtigall, bis diese explodierte, danach vernichteten sie den Mechafalken. Obwohl überall um Isfanel herum Trümmerteile auf den Boden fielen und sich auflösten, machte dieser keine Anstalten auszuweichen.

„Und da deine Viecher Extradeck-Monster sind, können sie nicht einfach rückbeschworen werden, weil sie nicht auf die Hand kommen!“, flötete Anya schadenfroh.

„... du irrst.“

„Huh!?“

In dem Augenblick erkannte auch die Blondine, dass irgendetwas nicht stimmte. Aus den um Isfanel liegenden Trümmern entstiegen braune Lichtfunken, die in die Höhe stiegen und zwischen einander Linien zeichneten. Noch während der Prozess im Gang war, erkannte Anya, dass gerade der gewaltige Falke erneut entstand.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]
 

Kaum war dieser in seiner vollen Pracht zurück, leuchtete die rote Sphäre in der Mitte seines Brustpanzers auf.

„Wenn [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk] zerstört wird“, erläuterte ihr Isfanel, „kehrt er nur einmal während des Duells als Rückbeschwörung wieder und wird in meiner nächsten End Phase verbannt.“

„Verdammter Kackmist!“

„Das ist aber noch nicht alles. Bei dieser Art von Beschwörung halbiert er die Lebenspunkte meines Gegners.“

Anya wich erschrocken zurück, als sie das vernahm. Von der Brustmitte des Mechafalken ging nun ein gleißendes Licht aus. Gerade noch konnte Anya ihre Arme schützend vor den Körper halten, da wurde sie auch schon von einem heftigen Laserstrahl erfasst und fortgerissen. Unter qualvollem Geschrei knallte sie auf den Rücken und dampfte am ganzen Leibe, ihre Kleidung und die noch von der nur langsam voranschreitenden Kristallisierung nicht betroffenen Stellen der Haut waren gerötet und mit Brandblasen versehen, heilten aber bereits auf magische Weise wieder ab.

 

[Anya: 900LP → 450LP / Isfanel: 1800LP]

 

„Ahhh“, stöhnte sie und rappelte sich mühselig auf. „So eine Scheiße, aua!“

Der Schmerz erinnerte sie an damals, als sie mehr tot als lebendig gegen Marc beziehungsweise Isfanel gekämpft hatte. Das Mädchen schleppte sich zurück zu ihrer alten Position und verfluchte ihren Gegner still dafür, einen Hang fürs Grillen anderer Leute zu haben.

Jedoch hätte sie das noch verkraften können, wenn da nicht dieser elende Vogel wäre! Sie hatte fest damit gerechnet, ihn loszuwerden und jetzt hatte er all ihre Pläne durchkreuzt!

„Das wirst du büßen“, brach sie hervor und sah aus den Augenwinkeln herüber zu Matt, der doch tatsächlich schon wieder Mist verzapfte.

 

Nun stand er der inkarnierten Version von Alastairs [Vylon Disigma] gegenüber. Wie hatte der Idiot es dazu kommen lassen!? Er besaß doch selbst so ein Ding und musste wissen, wie gefährlich die waren. Anya konnte nur hoffen, das Wissen, welches der Sammler ihr verschafft hatte, noch rechtzeitig an diesen Deppen weiterzugeben, damit er etwas unternehmen konnte.

„Hey“, rief sie ihm daher lauthals zu, „lass dich nicht davon beeindrucken. Ich weiß, wie du das Vieh kinderleicht klein kriegen kannst!“

Der Dämonenjäger horchte überrascht auf. „Huh?“

„Ganz einfach.“ Das Mädchen nickte den Kopf in Disigmas Richtung. „Diese Incarnation-Dinger können doch Xyz-Material recyclen.“

„Das weiß ich.“

„Aber nur die Monster, die für das Original als Xyz-Material gedient haben. Sprich, wenn die vom Friedhof verschwinden würden …“

Zur Verdeutlichung zog sich Anya mit dem Daumen über den Hals. Hoffentlich verstand der Typ den Wink. Andernfalls sah sie schwarz für ihn.

Aber da er plötzlich angestrengt sein Blatt musterte, schien er es gerafft zu haben.

Kurz darauf aktivierte er die Zauberkarte, die ihm Henry vor dem Duell gegeben hatte, doch Anya quittierte die Tatsache, dass das Ding keinen Angriffsbonus gab, mit einem genervten Spruch. Als Matt aber den Effekt erklärte, ließ sie es gut sein. Der würde schon klar kommen.

 

Wodurch Anya sich wieder auf ihr eigenes Duell konzentrieren konnte. Jetzt hatte sie sich wieder von Matt ablenken lassen!

Sie besaß nur noch eine Handkarte und [Gem-Knight Garnet] sowie [Gem-Knight Turtle]. Nebenbei fiel ihr auf, dass sie, wäre sie nicht so kopflos an die Sache herangegangen, jetzt vielleicht schon den Gnadenstoß hätte austeilen können.

„So ein Mist“, fluchte sie. Sie durfte sich doch keine Fehler erlauben, nicht bei diesem Mistkerl!

Levrier wäre das bestimmt nicht passiert! Aber der war Geschichte!

„Naja, nicht zu ändern“, brummte sie unzufrieden und streckte plötzlich den Arm in die Höhe, „aber das ändert nichts daran, dass ich -es- jetzt ein letztes Mal tun werde.“

Isfanel verschränkte abwartend die Arme, wobei seine Gegnerin gleichzeitig die Augen schloss. Sie wartete einen kurzen Augenblick, ehe sie rief: „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird jetzt ein Rang 4-Monster!“

In dem Moment verwandelten sich ihre Monster in braune Lichtstrahlen und verschwanden in dem schwarzen Loch, welches sich inmitten des Spielfeldes auftat. „Xyz-Summon! Komm herbei, meine letzte Chance! [Gem-Knight Pearl]!“

Er musste das Kind jetzt schaukeln, dachte Anya dabei angespannt.

Aus dem Wirbel trat der schlichte, weiße Ritter hervor, um den genau sieben überdimensional große Perlen sowie zwei Lichtkugeln kreisten. Stolz stellte er sich vor Anya und verschränkte die Arme, genau wie es Isfanel getan hatte.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Du hast ihn also letztlich doch noch gerufen“, sprach der flammende Dämon ruhig, „dein Paktmonster mit Levrier.“

„Kch! Eine andere Wahl habe ich leider nicht, als dieses nutzlose Ding zu rufen!“

Immerhin waren die beiden Monster gleichstark, dachte Anya. Nein, nicht ganz, denn dank Isfanels Zauberkarte [Banished Power Gear], welche sich in seiner verbannten Zone befand, würde sein Synchromonster um 500 Punkte stärker werden, wenn man es angriff.

„... aber dafür habe ich das“, murmelte Anya und schob ihre letzte Handkarte in den dazugehörigen Slot der Duel Disk, „[Gem-Knight Power Bracelet]!“

Sogleich materialisierte sich am rechten Arm ihres Pearls ein goldenes, mit Juwelen besetztes Armband, welches ein strahlendes Licht von sich gab.
 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 3400 DEF/1900 {4}]

 

„Wie du siehst, erhöht diese Ausrüstungszauberkarte die Angriffskraft eines Gem-Knights um 800“, erklärte Anya das Offensichtliche und war dankbar für die vierte von fünf Karten, die sie vom Jinn als Umsetzung ihres Wunsches erhalten hatte. „Damit ist Pearl stärker als dein Monster!“

Das Mädchen würde nicht zulassen, dass dieser elende Dreckskerl sie alle umbringen würde! Wutentbrannt schwang sie den Arm aus. „Sag ade zu deinem Vogelvieh! [Gem-Knight Pearl], greif es an! Blessed Spheres Of Purity!“

Wie ein Schwarm wild gewordener Wespen schossen die sieben Kugeln von Anyas Paktmonster auf den feindlichen Mechavogel zu. Anya wusste, dass jener den Kampf verlieren würde, egal, ob [Banished Power Gear] die Angriffskraft des Falken auf 3100 erhöhte. Eine nach der anderen durchlöcherten die leuchtenden Perlen den Feind und sorgten so dafür, dass dieser letztlich in einem lauten Knall unterging.

 

[Anya: 450LP / Isfanel: 1800LP → 1500LP]

 

„Ein Hallelujah für meine Rache!“, jubelte Anya, als die letzten Trümmerteile sich auflösten. Keck streckte sie ihrem Gegner die Zunge heraus. „Soviel dazu! War ja gar nicht so schlimm wie ich dachte!“

Dummerweise hatte sie das Duell damit noch nicht gewonnen. Ihre Hand war blank und außer Pearl besaß sie keine einsatzfähigen Karten mehr, darüber war sich Anya im Klaren. „Zug beendet!“

 

Isfanel, der das alles scheinbar nicht allzu schwer nahm, zog sogleich auf.

„In der Tat eine lobenswerte Leistung, Anya Bauer“, kommentierte er ihren Zug, „du hast mich an den Punkt gebracht, an dem keines meiner Celestial Gear-Monster noch eine Gefahr für dich darstellt.“

Seine Gegnerin wiederum zog erstaunt die linke Augenbraue an. „Ach ja?“

Dabei bemerkte sie gar nicht, dass die darüber liegende Stirn bereits teilweise kristallisiert war und das so weit, dass man das Weiß ihres Schädels durchschimmern sah.

„Das Duell hat einen Punkt erreicht, an dem ein gewöhnlicher Pakt nicht mehr ausreicht“, erklärte Isfanel weiter und streckte seinen Arm aus. „Dennoch gibt es eine letzte Karte, die mächtiger ist als alles, was du bisher gesehen hast. Und dein Angriff mit [Gem-Knight Pearl] war das letzte Puzzlestück, das noch gefehlt hat.“

„Huh!?“

„Die Karte, die durch meinen Pakt mit Eden entstand! Verdeckte Falle aktivieren, [Negative Gate]!“

Erschrocken fiel Anyas Blick auf die Falle, die nun vor ihrem Gegner aufsprang. Die hatte sie völlig vergessen, er hatte sie ja mit [Synthetic Gear Recycling] gesetzt und seither ruhen lassen!

Aus dem Kristallboden vor Isfanel wuchs langsam ein hohes Gebilde, einer perfekt rechteckigen Wand gleich. Genau wie die Turmspitze, war auch diese Art Spiegel ganz aus Kristall gemacht. Jedoch platzte ein großer Teil in seiner Mitte unerwartet ab.

Die Blondine schluckte, ihr wurde plötzlich ganz mulmig zumute. „Scheiße, was soll das!?“

Denn durch das entstandene Loch konnte man nicht etwa Isfanel sehen, sondern nur einen schwarzen Sog. Isfanel selbst, der noch undeutlich durch die Ränder des Materials sichtbar war, streckte den Arm aus und zeigte auf etwas. Erst verstand Anya nicht, doch dann wirbelte sie impulsiv um und erstarrte.
 

Valerie und Henry, sie schwebten reglos in der Luft! Doch nicht nur das, aus den Duel Disks der beiden drang plötzlich blaues und in Henrys Fall schwarzes Licht, welches kurz darauf in einem gewaltigen Strahl in das schwarze Loch gezogen wurde, das im Kristallmonument entstanden war.

Sich wieder an Isfanel wendend, schrie Anya förmlich: „Was machst du mit ihnen, du Dreckskerl!?“

„Ich bediene mich ihres Friedhofs. [Negative Gate] hat die Eigenschaft, Monster, die normalerweise für die Beschwörung einer Kreatur vom Spielfeld verbannt werden müssen, stattdessen aus dem Friedhof der jeweiligen Spieler zu verbannen.“

Mit einem Schwenk seines Arms ließ Isfanel vor sich die Abbilder der Karten des Ritualmonsters [Evigishki Soul Ogre] und [Daigusto Phoenix] erscheinen, die von seiner Seite aus ebenfalls in den Sog gezogen wurden und verschwanden.

„Das erklärt nicht-! Huh!?“

Auch Anyas Duel Disk glühte plötzlich. In violetter Farbe schoss ein Strahl aus ihr direkt in das Loch, wobei kurz das Abbild von [Gem-Knight Master Diamonds] Karte zu sehen war, ehe diese ebenfalls verschwand. In dem Moment erkannte Anya, warum Isfanel jenen in seinem letzten Zug wirklich auf den Friedhof gelegt hatte. Somit war er jetzt endgültig unerreichbar für sie, dachte sie bitter!

Umso überraschter schaute sie auf, als sogar Isfanels Duel Disk zu strahlen begann und ein weißes Licht in dem schwarzen Tor verschwand, begleitet vom Abbild des [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk].

 

Plötzlich streckte Isfanel eine Karte von seiner Hand hoch in die Luft. „Im Ritual liegt das Opfer der Beschwörung …“

Anya blinzelte verdutzt. Was redete der da?

„... durch das Überlagern verbinden sich zwei Seelen, zwei Welten …“

Rituale? … Xyz-Beschwörung?

„... abgestimmt aufeinander, agieren sie synchron …“

Und jetzt Synchros? Anya glaubte sich zu verhören! Dann fehlte ja nur noch-!

„... und verschmelzen zu einer Einheit! Aus [Negative Gate] wird die höchste Gottheit beschworen, durch das Verbannen je eines Ritual-, Xyz-, Synchro- und Fusionsmonsters! Das mächtigste Paktmonster, das je existiert hat! Der Pakt mit Eden, den die Allerheiligsten eingegangen sind! Erscheine-“
 

Mit einem Mal schwang Anya energisch den Arm aus. „Und verschwinde gleich wieder, was auch immer da kommen mag!“

Schlagartig begann das Armband [Gem-Knight Pearls] in allen Farben des Regenbogens aufzuleuchten, während das Mädchen es aus ihrer Duel Disk nahm.

„Was redest du da, Anya Bauer?“, fragte Isfanel tonlos.

Doch diese lachte nur höhnisch auf. „Du willst wohl dein bestes Monster beschwören, was? Mächtigste Paktkarte my ass, [Gem-Knight Power Bracelet] hat neben dem Angriffsschub noch eine zweite Fähigkeit!“

„Das Negieren einer Beschwörung im Tausch gegen die Ausrüstungszauberkarte“, schloss Isfanel den Kreis. „Levriers Wissen ist auch das meine, vergiss das nicht.“

Anyas Kinnlade klappte hinunter. „Du wusstest-!?“

„Natürlich. Und im Gegenzug solltest du wissen“, sagte Isfanel und sprach die letzten Worte mit besonderer Kälte aus, „dass, was ich im Begriff bin zu rufen, nicht durch so eine simple Scharade aufgehalten werden kann!“

Vor Schreck ließ das Mädchen ihren letzten Trumpf glatt fallen. „Das ist nicht wahr … !“

Dann geschah es. Anya erstarrte regelrecht vor Fassungslosigkeit.
 

Vor ihren Augen entstand aus dem Monument ein breiter Dimensionsriss, der weit über Isfanel hinaus zu ragen begann. Durch den Spalt huschten nach und nach lange, weiße Finger, die mit silbernen, spitzen Aufsätzen bedeckt waren. Allein einer von ihnen war so lang wie Anyas ganzer Unterarm. Langsam rissen die beiden Hände die Anomalie im Raum-Zeit-Gefüge auseinander, bis sich ein gar fürchterlicher Anblick bot.

„Shit! Was ist das denn!?“, keuchte Anya. In ihren Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen wieder. Und wie langsam etwas seinen Weg in eine Welt fand, in die es nicht gehörte.

Ein Ziegenkopf schob sich langsam durch den Spalt, der nun von alleine anwuchs. Nach und nach drang nun auch der lange Oberkörper nach außen, offenbarte nur eine Art Kleid auf der weißen Haut des Wesens. Dessen langes, entflammtes rotes Haar breitete sich vom Schopf der Kreatur immer weiter aus. Kaum war jene bis zur Hüfte aus dem Spalt entstiegen, erschien über ihrem Rücken eine Reihe von Symbole, die zusammen an Schwingen erinnerten. Eine Seite violett, eine golden – genau wie die beiden Lichtkugeln, die über den Handflächen des Wesens entstanden.

„D-das ist-!“

„Das ist die allmächtige Gottheit, die stärkste Paktkarte, die je existiert hat! [Sophia, Goddess Of Rebirth]!“, rief Isfanel und streckte den Arm in die Höhe zu seinem Monster, welches sogar seine Mechavögel noch an Größe übertraf.

Das Monument hatte derweil seinen Zweck erfüllt und zersprang in tausend Stücke, die klirrend auf den Kristallboden fielen.

 

Sophia, Goddess Of Rebirth [ATK/3600 DEF/3400 (11)]

 

„Und jetzt setze dem ein Ende! Genesis Waves! Damit werden sämtliche Karten der Vergangenheit und Gegenwart gebannt, von Feld, Hand und Friedhof! Die einzige Ausnahme ist die Gottheit des Endes selbst!“

„Nicht!“, schrie Anya fassungslos.

Doch Sophia sendete bereits violette und goldene Wellen von ihren Handflächen aus, die beide Spieler gleichermaßen erfassten. Während sich die Karten von Isfanels Blatt in goldenem Licht auflösten, wobei gleichzeitig aus dem Friedhofsschacht seiner Duel Disk gleichfarbige Lichtfunken aufstiegen, klappte Anya die Kinnlade abermals herunter.

Unter einem Schrei wurde ihr Pearl von den violetten Wellen mitgerissen, die über dem Mädchen nach und nach verschwanden. Sie selbst hingegen wurde schließlich von den goldenen erwischt und durch die Luft geschleudert, wobei auch aus dem Ablagestapel ihrer Duel Disk Funken sprühten.

„Argh!“, keuchte Anya beim Aufprall auf dem Rücken, machte eine Rückwärtsrolle und schlitterte noch ein Stück weiter, ehe sie schließlich bäuchlings liegen blieb.

Aber nicht nur sie war gefallen, auch Henry und Valerie waren dadurch fort geschleudert worden und knallten beide zeitgleich gegen die Kristallwand der Dachkuppel.

 

In Anyas Augen stand blanke Panik, als sie sich mit ihrem linken Arm abstützte und den Oberkörper anhob. Dieses Wesen hatte soeben alles vernichtet! Einfach alles! Nicht mal mehr auf ihren Friedhof konnte sie zugreifen, da alle Karten daraus verbannt worden waren. Ihr Feld war leer, ihre Hand ebenso!

Sie war verloren! Der Mistkerl hatte das Blatt ein letztes Mal gewendet, diesmal gab es kein Entkommen!
 

„Der Effekt von [Negative Gate] untersagt es mir, in diesem Zug anzugreifen. Daher beende ich diesen und überlasse dich dem Terror Sophias“, sprach Isfanel. An seinem Ton erkannte man, dass er nicht daran zweifelte, dieses Duell zu gewinnen.

 

Anya biss sich auf die Lippen. Toll, sie hatte damit vielleicht einen Zug gewonnen, aber nichts in ihrem Deck konnte es mit diesem Mistvieh ohne Weiteres aufnehmen! Das war nicht fair!

„Ich war so nah dran!“, jammerte sie und schlug mit der Faust auf den Kristallboden. „Scheiße! Scheiße, scheiße, scheiße!“

Was sollte sie denn jetzt tun!?

Wieso hatte sie denn nicht kommen sehen, dass diese anderen beiden Viecher nur zur Ablenkung dienten, um die Beschwörung seines richtigen Ass-Monsters vorzubereiten? Alles war von Anfang an darauf ausgelegt gewesen! Er hatte Valeries Ritualmonster gleich zu Beginn auf den Friedhof geschickt, mit Henrys Phönix und seiner Nachtigall für Xyz-Monster gesorgt, gar ihren Diamond für diesen Zweck zurück aus dem Extradeck geholt und nur auf die Zerstörung seines Synchromonsters gewartet! Dieser elende Dreckskerl hatte von Anfang an nur mit ihr gespielt!

 

Tränen der Wut standen in den Augen des Mädchens. Sie wollte doch allen vor ihrem Eintritt in den Limbus noch beweisen, dass sie ihre Freunde nicht im Stich gelassen hatte! Wie konnte sie das jetzt noch tun!?

„Verdammt!“, schrie sie und schlug wieder auf den Kristall, unterdrückte gleichwohl die Welle des Schmerzes in ihren Knochen, welcher trotz der Kristallisierung zurückgekehrt war.

Alle würden sterben, weil sie Isfanel nicht aufhalten konnte!
 

„Anya!“, hallte plötzlich Matts Stimme zu ihr. „Keine Ahnung, was du jetzt wieder angestellt hast, aber noch hast du nicht verloren! Halte noch ein bisschen durch, dann helfe ich dir!“

Verblüfft sah sie zu ihm herüber, erwiderte aber gleichwohl nichts darauf.

Der hatte leicht reden, immerhin lieferten sich seine und Anothers Paktmonster-Inkarnation scheinbar einen ausgeglichenen Kampf.

„Sorry, aber du musst wohl ohne mich weitermachen“, murmelte das Mädchen leise, so, dass er es nicht hörte. „Ich bin erledigt …“

 

Bist du dir da sicher? Seit wann gibst ausgerechnet du so schnell die Hoffnung auf, Anya Bauer?

 

Das Mädchen zuckte regelrecht zusammen, als sie glaubte, eine ihr wohlvertraute Stimme gehört zu haben. Konnte es sein?

War das … „Levrier!?“

 

 

Turn 35 – Pearl's Will

Anya, die nun wieder mit Levrier kommunizieren kann, rafft sich ein letztes Mal zum Kämpfen auf. Gleichzeitig muss auch Matt seine letzten Kraftreserven sammeln, denn Another kämpft unnachgiebig weiter. Die letzte Phase ihres Kampfes hat begonnen …

Turn 35 - Pearl's Will

Turn 35 – Pearl's Will

 

 

Ein Blinzeln genügte, um festzustellen, dass sie sich nicht mehr im Turm von Neo Babylon befand. Das Mosaik der Erde unter ihr flackerte nur schwach, es gelang ihm kaum, Licht in die unendliche Dunkelheit des Elysions zu bringen. Auch drehte es sich nicht mehr, wie sonst üblich.

Anya raffte sich auf. Wieso war sie plötzlich hier?

 

Schritte ertönten, ihre Quelle lag direkt gegenüber der Blondine. Doch dort kam nichts auf sie zu. Der Klang der Schritte verstummte.

„Hast du jemals die Geschichte der jungen Frau gehört, die sich bis zum letzten Atemzug gegen ihr Schicksal wehrte? Anya Bauer?“

Es raubte dem Mädchen für einen Moment glatt die Stimme. Egal wie verzerrt, undeutlich, unmenschlich die Stimme auch klingen mochte, sie würde sie unter tausenden wiedererkennen.

„Levrier? Du bist zurück!?“

„Ich war nie fort. Oder wer dachtest du, hat dich eben noch beschützt, als du Isfanels Blutdurst zum Opfer zu fallen drohtest?“

Augenblicklich drehte sich Anya mehrmals um die eigene Achse, doch da war nirgendwo ein Ebenbild von ihr oder eine andere Gestalt, in der sich Levrier ihr präsentierte.

„Du warst das? Als der Idiot meinen Garnet angegriffen hat?“ Anya drehte sich wieder in die Ausgangsrichtung, aus der sie die Schritte glaubte gehört zu haben. „Wie hast du das gemacht? Und wo bist du überhaupt!?“

„In diesem Moment bin ich Teil Isfanels. Doch nicht alles von mir vermochte er zu absorbieren. Denn ein Fragment meiner Existenz … gehört nur dir, Anya Bauer.“

Jene weitete die Augen und fasste dabei unbewusst an ihre Brust. „Du bist noch in mir!?“

„Als wir eins wurden, um Eden zu erwecken … nein, schon früher, verankerte sich ein Teil von mir in dir. Etwas, das nur geschehen konnte, weil wir einander akzeptieren. Erinnere dich. Du wolltest mir trotz deiner Angst vor dem, was geschehen wird, wenn du Eden wirst, helfen. Dies hat uns verbunden, denn auch mein Wunsch ist es, selbst in diesem Moment, dich zu beschützen.“

 

Das Mädchen sank fassungslos auf die Knie, als sich strahlendes Licht vor ihr ausbreitete. Dort war er. Levrier. Und er war …

„[Gem-Knight Pearl]?“

Stolz verschränkte der weiße Ritter die Arme vor ihr, während er mitten in der Luft schwebte. Die sieben Perlen um ihn herum begannen das Elysion zu erleuchten, während sich gleichzeitig in ihrem Inneren jeweils ein Gesicht widerspiegelte. Die besorgte Abby, der nachdenkliche Nick, der kämpferische Matt, die bewusstlose Valerie, genau wie Henry und Melinda zusammen in einer Perle, ein schlafender Marc und letztlich Alastair, um dessen Hals Ketten geschlungen waren.

„W-was soll das alles? Wenn du noch lebst, warum hast du dich nicht gemeldet!? Warum hast du einfach zugesehen!?“, jammerte Anya verletzt. „Ich hätte deine Hilfe wirklich brauchen können, aber jetzt ist es zu spät!“

„Ich habe dir schon geholfen, auf meine Weise. Isfanel und ich sind verbunden und diese Verbindung ermöglichte es mir erst, seinen Angriff umzulenken.“

„Kannst du das noch mal!?“, begehrte Anya sofort auf. Langsam erhob sie sich. „Wenn wir es so probieren, können wir noch gewinnen! Sorg' einfach dafür, dass er nicht angreift, solange-!“

„Das wird nicht zweimal funktionieren, denn er weiß jetzt darum“, erwiderte Levrier. „Es tut mir leid, Anya Bauer. Alles was geschehen ist.“

„Red' keinen Stuss! Du wurdest manipuliert! Wir alle wurden das!“ Sie schwang wütend den Arm aus und ballte eine Faust. „Aber keine Sorge, Another wird dafür von Matt auf die Fresse bekommen!“

 

„Es ist fast Zeit.“

Der bedrückte Tonfall ließ Anya verstummen.

„Sowohl für dich, als auch für mich. Wenn wir deine Freunde noch retten wollen, müssen wir uns beeilen.“

„Und wie sollen wir das anstellen!? Bei dir sind ja offensichtlich die Batterien leer und bei mir das Feld!“ Anya schnaufte wütend und reckte das Kinn vor. „Deine Lösung, Einstein?“

Levrier in Pearls Gestalt streckte den Arm aus, welcher zu leuchten begann. Dabei hielt er ihr die flache Hand vor Augen. „Ich bin ein schwaches Wesen, nur ein Abkömmling Isfanels. Meine Bestimmung war es, Another aufzuhalten, doch jener manipulierte mich bis zu dem Grad, dass ich für statt gegen Eden arbeitete. Wer mich also einen Fehlschlag nennt, ist im Recht.“

Anya legte den Kopf in den Nacken und sah ihr Gegenüber herausfordernd an. „Mir doch egal, von mir aus kannst du dich auch Frieza nennen! Du hast meine Frage damit aber nicht beantwortet! Was nun, Einstein?“

„Als Abkömmling besitze ich nicht dieselbe Kraft wie mein Schöpfer. Wer einen Pakt schließt, gibt einen Teil seiner Kraft auf, seiner selbst.“ Levrier machte eine kurze Pause. „Je nachdem, welche neue Kraft entstehen soll, muss eine entsprechende Menge der eigenen Existenz aufgegeben werden.“

Das Leuchten an seiner Hand wurde stärker.

„Ist [Gem-Knight Pearl] deshalb effektlos? Weil du nichts von dir aufgeben wolltest?“

„Du irrst, Anya Bauer. Ich habe eine Menge aufgegeben. Oder warum nanntest du mich sonst immer nutzlos?“ Er drehte seine strahlende Hand und forderte damit Anya nun auf, diese zu nehmen. „Deswegen muss ich dieses Mal alles geben, nicht wahr? Denn ich will nun meinem eigenen Willen folgen und das Wort Bestimmung hinter mir lassen.“

„Ahja?“ Die Blondine lachte und kratzte sich am Hinterkopf. „Und was ist dein Wille?“

„Dich zu beschützen, denn du bist meine Partnerin. Dich und deine Freunde. Deswegen muss ich dieses Mal ein größeres Opfer bringen. Damit wir …“

„... unseren Pakt verstärken können“, schloss das Mädchen und ein spitzbübisches Grinsen huschte über ihre Lippen. „Klingt gut! Bin dabei! Partner!“

 

~-~-~

 

Matt weitete seine Augen, als er sah, dass sich die ohnmächtig geworden geglaubte Anya langsam erhob. Was ihn dabei überraschte war die Tatsache, dass das Mal an ihrem Arm bräunlich glühte. Aus der Entfernung war es schwer einzuschätzen, aber er hatte das Gefühl, dass sich etwas in jenem bewegte. Veränderte es sich etwa!?
 

„Wann wirst du endlich lernen, nicht dauernd zu schauen, was die anderen gerade machen?“, fragte Another gereizt. „Ich bin immer noch dein Gegner, schon vergessen? Was immer sie da tut, es ist nicht von Belang, bei so einer Witzfigur als Paktpartner.“

 

Allerdings zeigte sich Matt gänzlich uninteressiert und ließ seinen Blick stattdessen wieder über das bestialische Monster wandern, was dort aus einem Dimensionsspalt in diese Welt vorgedrungen war. Hoffentlich würde sie mit diesem Ungetüm klar kommen!

Etwas in Matt war sich dessen jedoch gewiss, sodass er sich wieder seinem Duell widmen konnte.

 

Er kontrollierte nur seinen riesigen, niederknienden Schabenritter [Steelswarm Vanguard – Roach Styx] mit dem weißen Drachenspeer Lord Fafnir in den Händen, wobei zwei goldene Sphären um sein Monster kreisten. Another stattdessen besaß ebenfalls nur sein Incarnation-Monster [Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma]. Aber Another besaß wenigstens noch eine Handkarte, Matt nicht einmal das.

 

Steelswarm Vanguard – Roach Styx [ATK/1900 DEF/0 {4}]

Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma [ATK/2500 DEF/2100 {4}]

 

Im gläsernen Unterleib des finsteren Maschinenengels befand sich eine goldene Sphäre.

Matt runzelte die Stirn. Er musste jetzt etwas Tolles ziehen, ansonsten sah es schlecht für ihn aus!

„Also“, rief er an seinen Gegner gewandt, „auf geht’s! Mein Zug, Draw!“

Doch nachdem er gezogen und die neue Karte betrachtet hatte, machte sich Enttäuschung breit. Genau so etwas war jetzt weniger sinnvoll!

„Verdammt und das, obwohl wir keine Zeit mehr verlieren dürfen!“
 

Denn der Lichtstrahl, der von seiner Brust in das Tor Eden überging, welches wiederum über dem Thron am Ende des Saals dank elektrischen Seilen in der Luft gehalten wurde, war bereits gut sichtbar. Gleichwohl fühlte Matt sich zunehmend müder und schwächer.

Was wohl nicht zuletzt daran lag, dass sich sehr langsam, aber beständig die Schichten vor dem Eingang des Tores wie Blütenblätter nach und nach zur Seite bewegten.

 

„Nichts Gutes gezogen? Dann gib auf und versinke in den Schlaf des Tores.“

„Niemals!“, widersprach Matt dickköpfig. „Als ob ich es dir so leicht machen werde! Effekt von Roach Styx aktivieren! Während der Standby Phase versammelt er alle Xyz-Materialen um sich, die er oder seine Vorstufe besessen haben, bis er auf drei Stück kommt!“

Matt zog den zuvor abgelegten [Steelswarm Gatekeeper] aus seinem Friedhofsschacht und legte ihn unter sein Monster, wodurch nun drei goldene Sphären um dieses kreisten.

 

Jetzt hieß es überlegen, dachte der junge Mann und betrachtete die schwarze Karte auf seiner Duel Disk.

Mit dem ersten Effekt von Roach Styx konnte er ein Monster mit mindestens fünf Stufensternen verbannen. Aber Disigma besaß keine Stufe, sondern einen Rang und jener war ohnehin zu niedrig.

Der zweite Effekt konnte Karteneffekte bis zum Ende des Zuges lahmlegen, aber das brauchte Matt in seiner derzeitigen Situation nicht.

Aber das hieß-!

 

„Erkennst du es endlich? Ich habe Roach Styx so geformt, dass er nicht gegen andere Inkarnationen eingesetzt werden kann“, holte Another seinen Gegner höhnisch aus den Gedanken. Mit einem Schulterzucken quittierte er den fassungslosen Blick, der ihm daraufhin entgegen gebracht wurde. „Aber du kannst natürlich gerne den letzten Effekt aktivieren, wenn du meinst, es bringt dich weiter. Immerhin besitzt du jetzt genug Material und der Zug von Roach Styx' Beschwörung ist bereits vergangen. Also?“

„Du nimmst -das- einfach so hin, als wäre es nichts!?“

Dabei war dieser Effekt doch mächtig! Wie konnte er Another nichts ausmachen? War er so selbstsicher, dass es ihn nicht störte!?

„Eine andere Wahl habe ich nicht“, murmelte Matt ärgerlich, „aber es wird mir mehr Zeit verschaffen! Ich aktiviere Roach Styx' letzten Effekt und hänge drei Xyz-Materialien ab! Dafür, dass ich seinen Effekt in Zukunft negiere, kann ich einmalig den Lebenspunktestand vertauschen!“

„Ich weiß“, erwiderte Another mit einem süffisanten Lächeln. „Tu es ruhig, es ändert nichts.“

„Das werden wir erst noch sehen! Roach Styx!“, schrie Matt förmlich und streckte den Arm in die Höhe. „Benutze Soul Reversal!“

Dem Befehl seines Besitzers folgend, richtete der Kakerlakenmann seinen Speer in die Höhe und absorbierte damit die drei goldenen Sphären, ehe ein violettes Licht von der Drachenkopfspitze auszugehen begann.

Plötzlich würgten Matt und Another einen violetten Dunst hervor, der von dem Leuchten angezogen, durchgemischt und wieder in die Münder der beiden Feinde zurücktransportiert wurde. Beide husteten und hielten sich die Hälse.

 

[Matt: 1500LP → 4000LP / Another: 4000LP → 1500LP]

 

„Ist Verzweiflung nicht im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend?“, scherzte Another und richtete sich in Alastairs Hülle wieder stramm auf. „Wirf ruhig weiter Wattebällchen nach mir.“

„Du elender-! Ich aktiviere von meiner Hand die Zauberkarte [Swords Of Revealing Light]! Damit kannst du drei Runden nicht angreifen!“

Drei grüne Energieschwerter tauchten rund um Another und seinen absonderlichen Maschinenengel auf. Doch der lachte nur. „Lebenspunkteumkehr? Schutzzauber? Willst du mich langweilen, Matt Summers?“

„Wart nur ab! Zug beendet!“

 

Genüsslich, mit einem dünnlippigen Lächeln, zog Another auf zwei Karten auf.

„Zeit ist kostbar und ihr habt keine mehr. Also muss ich nur warten, mehr nicht.“ Er lachte auf. „Ich denke, ich ändere daher meine Strategie. Wenn du nicht angreifen kannst, nur gut. Alles was ich tun muss ist warten, bis Eden dich in sich aufgenommen hat. Ich passe.“

Das grün leuchtende Lichtschwert zu seiner Rechten löste sich auf.

 

Jetzt will er das Duell hinauszögern, dachte Matt verzweifelt und besah sein D-Pad. „Mein Zug. Dra-“

„Ah ah ah!“, gluckste Another und wedelte mit erhobenem Zeigefinger, was Matt wegen seiner Riesenschabe jedoch nicht sehen konnte. „Nicht so hastig, Kleiner. Du hast Roach Styx' mächtigsten Effekt benutzt, daher kannst du diese Runde nicht ziehen.“

„Was!?“

„Lies dir deine Karte doch genauer durch. Oh! Ich habe dich doch nicht etwa verführt, etwas Dummes zu tun?“

Matt konnte das Grinsen des Dreckskerls förmlich spüren. Das war alles in seinem Sinne gewesen! Dieser elende-!

„Ich kann nichts tun, also passe ich auch!“

 

Another füllte sein Blatt daraufhin um eine dritte Karte auf. „Na so ein Zufall, das wollte ich auch gerade sagen! Zug beendet!“

Noch eines der Lichtschwerter verschwand. Diesmal jenes links neben ihm, womit nur noch das letzte blieb, welches Disigma im Wege stand.

Kaum hörte Matt dies, brachte ihn ein fieser Stich in seinem Herzen dazu, in die Knie zu sinken.

„Argh!“

Das Licht vom Energiestrahl, das ihn mit Eden verband, war nun so grell, dass es langsam blendete.

Verdammt! Dieser Mistkerl machte mit ihm was er wollte! Er konnte nichts gegen dieses Monster unternehmen und musste sich hinter den Lichtschwertern vor einem Angriff verstecken. Und das Schlimmste daran war, dass Another dies nicht einmal behinderte, sondern eher noch in die Karten spielte!

Unter diesen Bedingungen blieb im Grunde nur Eines … aber, sollte er wirklich?

 

Mit zusammengekniffenen Augen sah Matt herüber zu Anya und erschrak, da er erst jetzt erkannte, dass ihr Körper langsam zu Kristall wurde.

„Was immer du da treibst, beeil' dich, ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen!“

 

~-~-~

 

Matts verzweifelter Ruf erreichte Anya zwar, doch schenkte diese ihm keine Beachtung.

 

[Anya: 450LP / Isfanel: 1500LP]
 

„Mein Zug“, verkündete sie leise mit gesenktem Blick und griff nach ihrem Deck. Mit einem Schlag brannte ihre Hand in weißem Licht auf. „Draw.“

„Du veränderst das Schicksal dank Levriers Kraft“, mutmaßte Isfanel, „interessant.“

Das Mädchen schob die gezogene Karte augenblicklich sowie wortkarg in die Duel Disk, woraufhin die Falle vor ihren Füßen auftauchte. „Zug beendet.“

Ansonsten war Anyas Spielfeldseite und Hand leer. Anders als Isfanels Spielfeld, denn dieser kontrollierte die mächtigste Paktkarte, wie er selbst behauptete. [Sophia, Goddess Of Rebirth], so nannte sie sich und hatte im Zug davor sämtliche anderen Karten auf den Händen, Spielfeldern und Friedhöfen der beiden erbitterten Feinde verbannt.

 

Sophia, Goddess Of Rebirth [ATK/3600 DEF/3400 (11)]

 

Die grässliche, riesige Ziegengestalt entwuchs einem Dimensionsspalt. Über ihrem Rücken glühten Symbole, die Schwingen darstellen sollten. Ein Angriff von diesem Monstrum vermochte alles zu zerstören, so viel wusste Anya.

 

„Du denkst, du kannst deinem Schicksal entfliehen, doch du irrst“, sprach Isfanel unbekümmert, „selbst ein reformierter Pakt kann dich nicht retten, denn in solchen Fällen bleibt das alte Versprechen bestehen. Du musst Eden werden, auch wenn Levrier die Konditionen geändert hat.“

„Ich weiß“, kam es tonlos von Anya zurück.

Die weiße, flammende Gestalt, die einst Marc gewesen war, hatte aber noch nicht geendet. „Und in noch etwas liegst du falsch, Anya Bauer. Nämlich darin, dass Levriers Eingreifen etwas ändern wird!“

Mit einem Schlag ging ein strahlendes, weißgoldenes Licht von seiner Hand ab, als er nach seiner Duel Disk griff. „Das werde ich nicht erlauben! Draw!“

Mit Schwung zog Isfanel die Karte. Anya verspürte daraufhin ein so heftiges Ziehen in der Brust, dass sie sich im Affekt röchelnd nach vorne beugte. Er hatte es ihr gleich getan und das Schicksal verändert!

 

Isfanel zeigte den gezogenen Zauber sofort vor. „Ich aktiviere [Destructo Gear], welches augenblicklich eine Zauberkarte von meinem Deck verbannen wird!“

Zahnräder aus purem Licht erschienen um die rote, längliche Duel Disk und begannen sich über und unter ihr zu drehen. „Die Karte, die ich verbanne, heißt [Reversal Gear]. Ich weiß, was du vorhast, Anya Bauer. Du willst, dass ich angreife, damit du mit deiner Falle den Schaden auf mich zurückwerfen kannst.“

Das Mädchen mit dem gesenkten Blick zeigte keine Regung, außer: „Ist das so?“

„Levrier ist einfach zu lesen. Natürlich ist dem so. Daher wisse, dass [Reversal Gear] einmalig jede Art Schaden umkehren kann und damit zurück auf meinen Gegner wirft, wenn ich es und zwei verbannte Celestial Gear-Monster ins Deck zurücksende.“

„Soll heißen?“

„Selbst wenn du jetzt noch versuchst, mir zu schaden“, sprach Isfanel leise, „wirst du ultimativ scheitern.“

Anya reagierte nicht.

„Dann zeig mir, wofür du Levriers Überreste zu nutzen gedenkst!“ Isfanel legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zu seinem Monster. „Los, allmächtige Göttin, die mit Eden im Pakt steht! Vernichte sie! Direkter Angriff mit Two World Collision!“

Sophia ließ daraufhin über ihren Handflächen jeweils eine weiße und eine schwarze Lichtkugel erscheinen, welche sie unter Tosen zusammenführte.

„Stirb, Anya Bauer!“

Aus der neu entstandenen Sphäre feuerte Isfanels mächtigstes Monster kurz darauf einen schwarzweißen Laserstrahl auf Anya ab.

Ohne sich davon jedoch beeindrucken lassen, schwang diese mit einem unterschwelligen Lächeln auf den Lippen den Arm aus. „Du liegst daneben. Wir hatten nicht vor, Spielchen bezüglich irgendwelchen Schadens zu spielen. Alles was wir wollten, war -ihn- aus der Verbannung zu holen. Mithilfe dieser Fallenkarte, [Gem-Knight Barrier]! Erhebe dich vor mir, [Gem-Knight Pearl]!“

Die Karte sprang auf. Aus ihr schossen die sieben rosafarbenen Perlen, welche auf ihr abgebildet waren, umkreisten sie wie ein Schwarm Bienen einmal, bis sie vor ihr verharrten. In ihrer Mitte nahm eine prächtige Gestalt Form an und kurz darauf kniete vor Anya besagter weißer Ritter nieder.

„Willkommen zurück, Pearl“, murmelte diese, holte ihn aus ihrer Hosentasche hervor und legte das Xyz-Monster in horizontaler Lage auf ihre Duel Disk.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Er wird dich nicht lange schützen“, entgegnete Isfanel. Dennoch schwang etwas Verwirrung in seiner Stimme mit. „Wieso er?“

Allerdings antwortete Anya nicht und senkte wieder den Blick, als ihr Pearl von dem Laserstrahl erfasst wurde und in einer Explosion unterging.

„Damit hast du- Ah!“

Das Mädchen knickte zur Seite um und blieb reglos liegen.

 

~-~-~

 

„Es ist jetzt soweit, nicht wahr?“

Anya und Levrier in [Gem-Knight Pearls] Erscheinungsbild standen einander in Anyas Elysion gegenüber.

„Willst du das wirklich tun?“, setzte Anya nach. „Im Ernst, ich wäre nicht böse, wenn du jetzt noch kneifst.“

Nein, in Wirklichkeit wäre sie stinksauer, dachte sie dabei. Aber es war seine Entscheidung.

„Wie ich bereits sagte, Anya Bauer. Die Zeit der Bestimmungen ist vorbei. Ich bin mein eigener Herr und mein Ziel ist es, dich zu beschützen.“

„Yeah“, erwiderte die Blondine und rieb sich verlegen am Kopf, „ich will auch weiterkämpfen. Nicht für die Menschheit oder ein 'Was wäre wenn', sondern für diejenigen, die selbst jetzt im Turm gefangen sind, obwohl sie die Chance zum Gehen hatten. Und das nur, weil sie mir … helfen wollten.“

Der Edelsteinritter nickte. „Du hast dich verändert, Anya Bauer. Früher wäre dir das Schicksal der anderen gleich gewesen.“

„Vielleicht … ah, egal! Wehe, du erzählst denen was!“, fauchte das Mädchen aufgebracht, um vom Thema abzulenken. „Sonst kannst du dich darauf gefasst machen, dass ich deine Karte in tausend Stücke schneide, anschließend verbrenne und die Asche unser Klo runterspüle! Kapiert!?“

„Dazu wird es nicht mehr kommen, fürchte ich.“ Unerwartet reichte Levrier ihr seine Hand. „Lass uns diesen letzten Weg gemeinsam gehen und Isfanels Zerstörungswut ein Ende bereiten.“

„Klar …“

Als Anya nach seiner Hand griff, ging von jener Mitte ein grelles Strahlen aus, dasselbe wie vorhin. Statt aber wegzusehen, starrte sie in das warme Licht und erkannte, wie sich in dessen Inneren die Form einer Karte abzuzeichnen begann.

„Hell yeah!“

 

~-~-~

 

Das Mädchen öffnete blinzelnd die Augen und erhob sich hastig. Dabei sah sie noch die letzten Partikel von Pearl dahinschwinden, welcher von Sophias Angriff zerstört worden war.

„'kay, ready to go?“

 

Preparations complete!

 

„Besser ist's für dich!“, rief das Mädchen und streckte den Arm weit aus, als wolle sie nach etwas greifen. „Hey, Isfanel, kennst du den schon?“

„Was!?“

Geschickt drehte Anya die Hand und zeigte ihm ihren Lieblingsmittelfinger. „Du hast leider grad ziemlichen Mist gebaut, du hohle Nuss! Denn als du Pearl zerstört hast … hast du -ihn- auf den Plan gerufen!“

Isfanel wich zurück. „Was ist das? Dein Elysion, in ihm-!“

„Mach dich bereit“, rief Anya, riss den Arm mit erhobenem Zeigefinger nach oben, welchen sie weit in die Luft ausstreckte, „für die Inkarnation, die sämtliche Regeln missachtet! Ich rekonstruiere das Overlay Network!“

„Nein! Wie kannst du-!?“

Vor Anya tat sich ein schwarzer Wirbel auf, aus dem eine braune Lichtsäule bis zur Decke schoss. Aus der Duel Disk des Mädchens schossen sieben pinke Lichter, die in dem Strom verschwanden.

„Wenn der letzte Krieger fällt“, sprach Anya feierlich, „wird das Licht der Hoffnung in ihm erwachen! Eine neue Kraft wird geboren, geformt von Kameradschaft und Stolz! Steige wie Phönix aus der Asche!“
 

Ich kann nicht glauben, dass du selbst jetzt mit solchen Sprüchen kommen musst. Besonders, wenn sie so schlecht sind wie dieser.

 

„Schnauze, Levrier! Mir ist spontan nichts Besseres eingefallen“, fauchte Anya und sah dabei zum Überlagerungsnetzwerk, ehe sie hastig wieder den Blick hoch zur Lichtsäule richtete. „Im Sinne des neuen Paktes, komm jetzt hervor und zeig dich! Erwache aus deinem Schlaf, [The Last Gem-Knight – Pearl Radiance]!“

Die Lichtsäule explodierte förmlich, als Anya den Namen von Pearls Inkarnation gerufen hatte. Das Mal an ihrem Arm brannte fürchterlich, doch da sie eh im Begriff war, zu einer Kristallstatue zu mutieren, war es dem Mädchen gleich. Jetzt stand Isfanel Ärger ins Haus!

Aus der braunen Säule trat nämlich ein Krieger hervor, der auf den ersten Blick nur noch wenig mit Pearl gemein hatte. Denn die sieben Perlen, die nun über seinem Rücken schwebten, formten dank leuchtender Verbindungslinien lange, flügelhafte Gebilde. Die Rüstung war nicht mehr weiß, sondern pechschwarz, auf dem Helm thronten verschiedenfarbige Federn. In der Panzerung waren sämtliche Edelsteine eingelassen, die unter den Gem-Knights zu finden waren und in der Brustmitte war eine achte, kleine Perle eingelassen, von der goldenes Licht ausging.

Stolz verschränkte der über dem Kristallboden schwebende Ritter seine Arme.

 

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Heimtückisch glucksend schob Anya die Karte des ursprünglichen Pearls unter die seiner Evolution, wodurch eine goldene Sphäre um diesen zu kreisen begann.

Isfanel war fassungslos. „Du hast es also geschafft, eine Incarnation Summon durchzuführen. Und sie ist … anders als alle bisherigen. Die Zerstörung des Ursprungsmonsters hat sie ausgelöst! Welchen Preis musste Levrier dafür zahlen?“

Der Blick seiner Gegnerin verdunkelte sich. „Labere nicht, sondern spiele weiter, es ist dein Zug!“

„Da ich bereits angegriffen habe, kann ich nichts weiter unternehmen. Zug beendet!“

Kaum waren diese Worte jedoch ausgesprochen, schoss aus Anyas Duel Disk ein wahres Funkengewitter. Lauter golden leuchtende Sphären stiegen aus ihr empor.

„Ansage für dich“, rief die Blondine laut und hielt dabei sechs Karten in die Höhe, die sie aus der Hosentasche gefischt hatte, „in der End Phase meines Gegners schart Pearl Radiance sämtliche meiner verbannten Monster um sich, damit sie ihm als Xyz-Material beistehen können!“

 

Kameradschaft, die über das Leben hinausgeht. Ein schönes Motiv hast du dir da ausgesucht, Anya Bauer.

 

„Wir beide“, korrigierte diese ihn mit einem Zwinkern. Dabei legte sie [Gem-Knight Garnet], [Gem-Knight Lazuli], [Gem-Knight Tourmaline], [Gem-Knight Master Diamond], [Kuriboss] und [Gem-Turtle] unter Pearl Radiance, wodurch um diesen nun ganze sieben Xyz-Materialien zu kreisen begannen und Anyas ganzes Feld in goldenes Licht tauchten.

„Was bezweckst du mit dieser Karte?“, fragte Isfanel verwundert. „Sie ist- aber wie?“

„Lass dich überraschen“, gluckste Anya.

Plötzlich gab sie einen erschrockenen Schrei von sich, als der gesamte Turm ruckartig erschüttert wurde und sie beinahe stolperte.

„Was soll das jetzt!?“

„Der Sonnenaufgang ist nicht mehr fern“, erklärte Isfanel deutlich unruhiger, „immer zu Sonnenaufgang verschwindet der Turm, damit ein neuer Zyklus beginnen kann!“

„Was!?“ Sofort sah Anya zu Matts Duell herüber. „Beeil' dich mal ein bis- Ah!“

 

~-~-~

 

Perplex starrte Matt die Karte an, die er gezogen hatte, nachdem Another nun zweimal hintereinander gepasst hatte. Nur noch ein Lichtschwert befand sich vor ihm und seinem Monster.

„Das ist-!“

[Steelswarm Longhorn], ein Stufe 9-Tributmonster, mit dem er Disigma dank Longhorns Effekt zerstören könnte! Aber dafür brauchte er zwei Tribute, hatte jedoch nur Roach Styx anzubieten.

„Verdammt!“

Nur mit Longhorn auf der Hand und seiner Inkarnation auf dem Feld konnte er nichts ausrichten!

Plötzlich fiel es ihm jedoch wie Schuppen von den Augen. Er konnte sehr wohl etwas damit ausrichten, bald schon! Wenn die [Swords Of Revealing Light] in der nächsten End Phase Anothers verschwunden waren, konnte er [Steelswarm Scout] von seinem Friedhof beschwören! Und dann hatte er genug Opfer für Longhorn beisammen!

„Ich muss ebenfalls wieder passen.“

In dem Moment erbebte der Turm, wodurch Matt auf Isfanel und Anya aufmerksam wurde.

„Beeil' dich mal ein bis-“, begann Anya, schrie dann aber unter einer Erschütterung auf. „Ah!“

„Ich würde mich ja beeilen, aber mir gehen langsam die Ideen aus!“

„Tch, dann schau mir mal zu, wie ich das Kind jetzt schaukle!“

Das Mädchen wandte sich wieder ihrem Gegner zu.

 

Gleichzeitig kicherte Another plötzlich. Um Alastairs Hand begann eine weiße Flamme aufzubrennen, ehe er nach dem Deck griff und schrie: „Ich bin dran, Draw!“

Keuchend zuckte Matt zusammen, denn es fühlte sich an, als würden sich seine Eingeweide zusammenziehen. Sein Gegner benutzte seine Fähigkeiten!

„Mehr als nur die Ideen sind dir am ausgehen, mein Lieber. Ich fürchte, unser kleines Spielchen wird langsam langweilig“, sprach der Puppenspieler selbstherrlich. „Gewiss hat es seinen Reiz, dich in Verzweiflung winden zu sehen, aber da uns wirklich die Zeit davon läuft und ich mich noch um Isfanel kümmern muss, kann ich leider nicht mehr deinen Babysitter mimen.“

„Was soll das heißen!?“, begehrte Matt aufgebracht auf.

Statt Worten, nahm Another drei von vier Karten aus seiner Hand und zeigte sie vor. Es waren die Monster [Vylon Hept], [Vylon Vanguard] und [Vylon Soldier].

„Sieh dir das mal an“, gab Another vergnügt von sich, „drei Monster in meinen letzten drei Zügen habe ich gezogen. Mit dem Xyz-Material, das Disigma schon besitzt, macht das vier Stück. Ah, und die Wartezeit auf den letzten Effekt, welche bei Disigma ja im Vergleich zu anderen Inkarnationen länger ausfällt, ist auch längst verstrichen.“

Matts Kinnlade fiel hinab. „Soll das heißen-!?“

„Ja“, erwiderte Another und schob die drei Vylon-Monster unter die schwarze Karte, „erlebe die volle Kraft des Seraphims!“

Im gläsernen Unterleib seiner grausigen Kreatur tauchten drei weitere goldene Lichter auf. Plötzlich ging von jenem ein grelles Strahlen aus, das Glas zersplitterte laut.

 

Another stöhnte mit einem Mal traurig auf.

„Da dies den Wendepunkt markiert, ein paar letzte Worte an euch.“

Er richtete seinen Blick melancholisch an die Decke.

„Anya Bauer, höre nun zu, was ich zu sagen habe, bevor ich deinen Freund vergehen lasse“, sprach er an Anya gewandt und fasste sich an die Stirn. „Als die 'Flut' begann, kämpften wir zuerst. Ohne jede Aussicht auf Erfolg. Wir wussten nicht, wer Freund oder Feind war. Sie können alles imitieren, selbst uns Immaterielle. Uns blieb nur die Flucht.“

„W-was ist passiert, dass ihr-!“, stammelte Matt verwirrt. „Gab es einen regelrechten Krieg? Mit diesem 'wahren Feind'?“

„Nein. Ein Gemetzel. Der 'wahre Feind' hat uns ausgelöscht. Dank unseres Tores konnten wir fliehen, über den Nexus, der alles verbindet. Eures trägt den Namen Eden, unseres hieß Layriat.“

Another sah herüber zu Isfanel. „Als wir unsere Heimat verließen, gingen viele meiner Art im Nexus verloren. Aber wir waren entkommen, so dachten wir zumindest. In Wirklichkeit stammte der 'wahre Feind' jedoch nicht aus unserer Welt und war in der Lage, durch den Nexus zu reisen.“

„Deshalb haben wir das Tor Eden im Turm von Neo Babylon versiegelt, damit sie niemals diese Welt betreten können“, erklärte Isfanel.

Another sprach gefasst weiter.

„Um jedoch in eurer, einer materiellen Welt zu bestehen, müssen wir auf kurz oder lang Pakte eingehen. Ich konnte meine Welt nicht beschützen, auch nicht diese. Nicht einmal die, die mir am nächsten waren. Aber zumindest“, er sah wieder auf, entschlossener denn je, „kann ich sie aus dieser Hölle befreien, zu der diese Welt bald werden wird. Auch dich, Isfanel!“

„Das Tor ist aus gutem Grund verschlossen“, antwortete dieser kalt, „dies auch weiterhin sicher zu stellen ist meine Aufgabe. Du weißt das, ich weiß es. Ich werde jeden deiner Zeugen töten.“

„Dann bist du nicht besser als sie, unsere Schlächter!“

„Das zu entscheiden obliegt weder dir noch mir. Ich tue nur, was mir aufgetragen wurde.“

Der besessene Alastair stampfte wütend auf. „Von wem!?“

„Darüber zu reden ist ebenfalls nicht meine Aufgabe.“

Wütend schwang Another den Arm aus. „Verräter! Wieso tust du deinem eigenen Volk das an!? Willst du die letzten Reste von uns sterben sehen!?“

 

Anya indes hatte große Schwierigkeiten, die Geschichte der beiden zu verstehen. Demnach war Anothers Volk geflüchtet aus irgendeiner anderen Welt in diese hier. Aber nun glaubten sie, Letztere würde untergehen? Warum?

„Kann mich jemand aufklären, was für ein Scheiß eigentlich in euren Krümelhirnen vor sich geht!? Was ist der 'wahre Feind', wieso soll unsere Welt bald untergehen und warum zum Geier müssen wir, insbesondere -ich-, unseren Hals dafür hinhalten!?“

„Ich hatte die Wahl“, erklärte Another und schnaubte dabei wütend, „entweder eine erzwungene Öffnung des Tores, bei der Millionen von Leben geopfert werden müssen, oder die planmäßige Öffnung, die nur -fünf- Zeugen und ein Gründerindividuum erfordert! Was wäre dir lieber, Anya Bauer?“

Für das Mädchen war die Sache jedoch klar. „Keins von beidem, deswegen werde ich euch mächtig in den Arsch treten.“

Damit wandte sie sich wieder ihrem Gegner zu. „Und mit dir fang' ich an, Brutzelbirne!“

 

Wodurch sich Another aus den schmerzvollen Erinnerungen riss und ebenfalls das Duell fortsetzte.

„Was mit deinem Volk geschehen ist, tut mir leid“, redete Matt einfühlend auf ihn ein, „allerdings gefährdest du mit deinem Tun nun uns. Willst du, dass dasselbe womöglich mit meinem Volk passiert, wenn das Tor sich öffnet?“

„Es ist mir mittlerweile gleich“, erwiderte Another jedoch kalt, „ich bin so weit gekommen, habe so viele Lügen gesponnen, um euch hierher zu locken. Denkst du, ich gebe jetzt auf, Matt Summers? Weißt du, wie schwer es war, das Gerücht des Blutzolls in Umlauf zu bringen, nur damit meine Bauernopfer sich nicht gegenseitig bekriegen?“

„Aber der Blutzoll existiert!“

Jeder Dämonenjäger wusste doch davon! Wenn immaterielle Dämonen in Gefäßen sich bekriegten, konnten sie nicht eher auseinander gehen, ehe ein Wirt vernichtet worden war. In den seltensten Fällen überlebten das die Dämonen, daher war es eine effektive Art sie zu bekämpfen!

„Weil ich diese Geschichte vor Jahrtausenden in Umlauf gebracht habe“, erklärte Another, „nur meinesgleichen weiß, dass es eine Lüge ist. Daher musste ich Isfanel manipulieren, um ihn gleichzeitig als Paktschließer zu gewinnen und dennoch dafür zu sorgen, dass er meine Zeugen nicht umbringt.“

„Eine Lüge … !?“

„Isfanel war aber selbst in seiner geschwächten Form noch ein Hindernis, da er offenbar davon ausging, Eden würde seinen Tod bedeuten.“ Another lachte bitter auf. „Ich muss zugeben, dass ich wohl zu umsichtig mit ihm war. Wer hätte gedacht, dass dieser Verräter so wenig für sein Volk übrig hat?“

Matt schüttelte entsetzt den Kopf. „Du hast das alles seit tausenden von Jahren geplant!? Alles!?“

„Sagen wir, ich habe vorausgeschaut und Vorarbeit geleistet. Aber du solltest dich jetzt lieber um andere Dinge sorgen.“

 

Dies gesagt, erhob Another den Arm und zeigte auf seine grässliche Engelsgestalt. Dessen gläserner Unterleib war zerplatzt, die vier goldenen Sphären begannen sich auszubreiten.

„Ich hänge die vier Xyz-Materialien ab, um den letzten Effekt Disigmas zu aktivieren! Ring Of Golden Rule!“

„Was-!?“

Überrascht sah Matt mit an, wie die goldenen Sphären unter Disigma sich langsam im Kreis zu drehen begannen und damit einen goldenen Ring schufen, von dem kontinuierlich Schockwellen ausgingen. Jene gingen durch Matt und Another hindurch, ohne sie zu verletzen, dafür geschah etwas anderes. Das letzte Lichtschwert vor Another löste sich auf, ebenso der weiße Drachenspeer Lord Fafnir in den Händen der niederknienden Roach Styx.

„Oh verdammt, nicht auch noch das!“

„Dieser Ring schickt alle Karten auf unseren Feldern auf den Friedhof, bis wir beide genau ein Monster kontrollieren“, erklärte Another dazu majestätisch und streckte die Arme aus. „Diese beiden Monster werden dann kämpfen. Oder sollte ich sagen, der Vylon Seraphim wird für Ordnung sorgen und die Finsternis verbannen?“

„Was soll-!“

Matt fehlten die Worte, als er erkannte, dass Disigma nun in goldener Aura zu glühen begann, während der Ring unter ihm weiterhin gleißende Wellen aussendete.

 

Vylon Seraphim – Embodiment Of Order, Disigma [ATK/2500 → 5000 DEF/2100 {4}]

 

„Oh verdammt!“, schrie Matt beim Anblick der Angriffspunkte Disigmas.

„Du siehst richtig! Um das Böse zu bannen, mobilisiert meine Kreatur all ihre Kräfte!“ Another grinste, als er den Arm ausstreckte. „Und noch etwas. Kein Monster dieser Welt könnte jetzt deine Lebenspunkte schützen, denn der Seraphim fügt in seiner kompletten Form Durchschlagschaden zu! Seine heilige Kraft durchschlägt jede Rüstung, durchdringt selbst die dunkelste Finsternis!“

„Durchschlagschaden!?“, wiederholte Matt fassungslos. „Mein Monster hat 0 Verteidigungspunkte! Dann-!“

„Richtig! Du bist erledigt, mein Lieber! Diesmal kann dich nichts mehr retten!“ Laut lachend hob der besessene Alastair seinen Arm in die Höhe. „Es war schön, dich gekannt zu haben! Doch nun vergehe im Schlaf Edens! Angriff auf Roach Styx, mein Seraphim! Sacred Black Annihilation!“

Mit geweiteten Augen beobachtete Matt, wie die Kreatur seines Gegners in die Höhe stieg und wieder zwei schwarze Speere in seinen Händen erscheinen ließ. Doch dieses Mal färbten sie sich weiß, ehe Disigma sie von oben herab auf die riesige Schabe schleuderte.

Der junge Mann schloss seufzend seine Augen. „Ich habe echt kein Glück, huh?“

Dann gingen er und Roach Styx schreiend in zwei kuppelartigen, weißen Explosionen unter.

 

[Matt: 4000LP → 0LP / Another: 1500LP]

 

„Endlich“, murmelte Another und richtete sein Blick herüber zu Anyas Duell. „Nun zu euch.“

 

~-~-~

 

Nachdem Anya sich zum Thema des 'wahren Feindes' ausgelassen hatte, richtete sie sich an Isfanel.

„Sorry für die kleine Unterbrechung“, gab sie giftig von sich, „keine Sorge, du kriegst schon das, was du verdient hast! Mein Zug, Draw!“

Doch das Mädchen beachtete kaum, was sie da gezogen hatte, sondern legte ihr Augenmerk einzig auf ihr neues Monster, welches sie mit einer für sie äußerst untypischen Ehrfurcht anstarrte.

„Ist dir wirklich gut gelungen, Levrier! So muss das aussehen!“

Der neue, schwarze Pearl drehte den Kopf zu ihr und nickte.
 

Ich wusste, er würde dir gefallen. Warum probierst du seine Effekte nicht gleich aus? Immerhin hast du genug Xyz-Materialien für jeden von ihnen.

 

Etwas verdutzt stellte Anya fest, dass die Stimme von Pearl Radiance gekommen war. Steckte Levrier jetzt etwa da drin!?

„Gut!“, fasste sie sich schnell wieder. „Nichts lieber als das!“

Stolz hob das Mädchen den Arm mit der Duel Disk an und warf einen Blick auf Pearl Radiance. Sie brauchte den Effekttext jedoch nicht lesen, da sie es fühlte. Das, was sie, ihn und Levrier verband – der Pakt.

Schließlich griff sie unter die Karte und rief: „Gehen wir das Ganze mal nicht der Reihenfolge nach an, sondern beginnen gleich mit dem zweiten Effekt! Ich hänge zwei Xyz-Materialien ab! Chains Of Virtue!“

Pearl Radiance hob seine Unterarme und absorbierte mit den Edelsteinen an seinen Panzerhandschuhen, Rubin und Saphir respektive, zwei der goldenen Sphären. Die Hände dabei zu Fäusten geballt, öffnete er diese und ließ zwei kristallische Ketten daraus emporschießen, die sich um die Duel Disk des verblüfften Isfanels und dessen Körper schlangen.

„Was tust du da!?“, wollte der wissen und versuchte gegen seine Fesseln anzukämpfen, doch vergebens.

„Dafür sorgen, dass deine komische [Reversal Gear]-Karte mir keinen Strich durch die Rechnung macht“, erwiderte Anya gallig, „was sonst, Spatzenhirn? Die Chains Of Virtue sorgen nämlich dafür, dass diese Runde nur Monstereffekte aktiviert werden können. Dein ganzer Zauberkram muss daher passen!“

Isfanel gab einen erschrockenen Laut von sich und gab den Kampf gegen die Ketten auf.

„Ich bin noch nicht fertig! Jetzt der erste Effekt von Pearl Radiance, für ein Xyz-Material! Half Gem!“

Sofort hob der schwarze Krieger mit den stilisierten, rosa leuchtenden Engelsflügeln die Faust und schlug sich damit selbst in die Brust, direkt auf die leuchtende Perle. Diese zersprang in zwei Hälften und gab ein gleißendes Licht frei, welches [Sophia, Goddess Of Rebirth] blendete. Jene schrie grunzend auf und schützte sich mit einem Arm vor dem Leuchten. Dabei fing ihre weiße Haut an, langsam schwarze Stellen zu bekommen und zu zerfallen.

 

Sophia, Goddess Of Rebirth [ATK/3600 → 1800 DEF/3400 (11)]

 

„Half Gem halbiert den Angriffswert eines Monsters einmal pro Zug“, erklärte Anya und streckte langsam den Arm aus. „Jetzt ist Pearl Radiance stärker als dieses Mistvieh von Gottheit!“

„Das wird nicht reichen!“, widersprach Isfanel wütend. „In meinem nächsten Zug werde ich dich vernichten, Anya Bauer!“

„Es wird keinen mehr geben, Dummkopf!“

Anya atmete tief durch.
 

Das war das Ende. Sie würde es ihm zeigen und diesen Albtraum ein für alle Mal beenden. Damit hätte sie ihre Schuld beglichen und konnte ohne schlechtes Gewissen in den Limbus eintreten.

Vielleicht war dieser Ort gar nicht so schlimm wie Levrier sagte? Wenn ihn immerhin noch nie jemand gesehen hatte, woher sollte man dann wissen, wie es in seinem Inneren aussah?

Die Alternative, ewig als dieses dämliche Tor zu existieren, war ohnehin nicht gerade besser.

„Schicksal“, murmelte das Mädchen und ließ den Kopf hängen, „ich hab echt kein Glück, huh?“

 

Das ist der Fluch des Tores, Anya Bauer. Niemand, der je in seinen Bann geraten ist, konnte glücklich werden. Sieh dir Isfanel und Another doch an. Jeder ist auf seine Weise davon besessen. Auch ich war eines seiner Opfer und habe euch alle ins Unglück geführt. Das ist der Preis, den man zu zahlen hat, wenn man durch den Nexus reisen will.

 

Der schwarze Ritter sah zu Anya herüber.

Jene nickte schwach. „Ich weiß. Levrier … lass uns dafür sorgen, dass nie wieder jemand so leiden muss wie wir, 'kay?“

 

Wie du wünscht.

 

Daraufhin nickte Anya nochmals, diesmal aber entschlossener. Sie blickte wieder auf, wobei feurige Entschlossenheit in ihren Augen geschrieben stand.

„Dann lass es uns beenden! [The Last Gem-Knight – Pearl Radiance], greife [Sophia, Goddess Of Rebirth] an! Divine Sword Of Purity!“

„Nein!“, rief Isfanel fassungslos. „Ich werde nicht so leicht verlieren!“

Allerdings ließ Pearl Radiance bereits eine schwarze, lange Klinge in seiner Hand erscheinen, in der sämtliche Edelsteine der Gem-Knights eingelassen waren.

Anya streckte den Arm aus und zeigte auf den flammenden Marc. „Doch, wirst du! Los!“

Wie ein Pfeil schoss der schwarze Ritter daraufhin auf die gewaltige Gottheit zu, sie dabei immer noch mit den gleißenden Strahlen aus seiner Brust blendend. Er schwebte hoch bis zu ihrem Kopf und ließ sich und das erhobene Langschwert dann niedersausen. Damit teilte er die gewaltige Kreatur mit einem Streich in zwei Teile und ließ sie unter lautem Klagegesang explodieren.

Die daraus entstandene Schockwelle riss Isfanel von den Beinen und warf ihn meterweit entfernt auf den Rücken, die Fesseln um seinen Körper lösten sich beim Aufprall auf.

 

[Anya: 450LP / Isfanel: 1500LP → 700LP]

 

Isfanel wollte sich gerade erheben, da wurde ihm eine schwarze Klinge vor die Nase gehalten. Pearl Radiance stand vor ihm und hatte seine Waffe auf ihn gerichtet. Doch nicht nur das, Anya schritt langsam durch den Kristallsaal und gesellte sich neben ihren Krieger.

„Nun zum letzten Effekt meiner Inkarnation“, sagte sie mit finsterem Blick und zeigte die letzten vier Xyz-Materialien vor, welche sie in den Friedhofsschacht schob. Gleichzeitig absorbierte Pearl Radiance die vier goldenen Sphären um ihn herum mit seiner Klinge.

„Letzter Effekt?“, wiederholte Isfanel zögerlich.

„Klar.“ Anya sah eiskalt auf ihn herab. „The Last Strike. Damit musst du, wenn Pearl Radiance-!“

Ein lauter, gequälter Schrei erklang und brachte das Mädchen aus dem Konzept. „Huh!?“
 

Matt Summers! Er hat das Duell verloren!

 

„Was!?“

Sofort wirbelte sie um und sah, wie Matts Spielfeldseite in zwei weiße Explosionen gehüllt war.

„Dieser Idiot! Der kann doch nicht-!“

 

Als der Rauch sich verzog, stand Matt in gebeugter Haltung. Sein Mantel war zerfetzt worden, überall am Körper wies er blutige Verletzungen auf. Doch er hielt sich fest, an einem weißen Speer, der neben ihm im Boden steckte.

„Mir geht’s gut“, ächzte er mit Blick auf Anya und zeigte ihr den Daumen nach oben. „Ich hab's geschafft!“

Das Mädchen sah herüber zu Another, der bereits halb abgewandt regungslos verharrte und Matt nicht aus den Augenwinkeln ließ. Dabei murmelte er unzufrieden: „Du kannst noch stehen, obwohl deine Lebenspunkte auf 0 gefallen sind?“

„Yeah … aber genau das war von Anfang an der Plan!“

„Wie meinst du das?“, fragte Anya ihn irritiert. „Wer verliert denn freiwillig!?“

„Ich habe nicht verloren“, erwiderte Matt und zog unter Mühen den Speer aus dem Boden. Der Drachenkopf war einer langen, goldenen Spitze gewichen. „Im Gegenteil.“

„Erkläre dich!“, verlangte Another.

„Ganz einfach. [Legendary Victory Spear – Lord Fafnir] hat einen dritten, besonderen Effekt. Wenn er fünf Züge auf dem Feld verweilt und dann im selben Zug auf den Friedhof wandert, in dem meine Lebenspunkte zu 0 werden“, antwortete Matt, hob den Speer demonstrativ auf Brusthöhe an und kniff dabei seine Augen fest zusammen, „wird sein Name Realität. Und was einst Niederlage war, wird in einen Sieg umgekehrt. Sorry, aber unser kleines Verzögerungsspiel war nur ein Vorwand, die Zeit bis zur Nutzbarkeit dieses Effekts zu überbrücken. Du warst ein wirklich guter Partner, Another, weil du dich genauso duellierst wie Alastair!“

„Das ist nicht wahr! Du lügst!“ Panisch breitete Another die Arme aus. „Du hast verloren und solltest schlafen!“

Matt jedoch reckte das Kinn in die Höhe und warf aus den Augenwinkeln einen Blick herüber zu der Blondine, die ein breites Grinsen aufsetzte. „Anya, hier ist alles bereit. Gemeinsam auf drei?“

„Yeah!“

 

Das Mädchen wandte sich mit düsterem Blick wieder Isfanel zu, der vor ihr und Pearl Radiance auf dem Boden lag. Sie nahm einen kleinen Schritt, stellte sich endgültig neben ihren Ritter und griff mit einer Hand das Schwert, sodass sie es zusammen hielten.

„Hey, Kumpel, der Mistkerl dort drüben ist nicht der Einzige, der auf einen Spezialsieg setzt.“

„Was!?“

„Ganz richtig! Pearl Radiance braucht vier Xyz-Materialien für seinen letzten Effekt. Wenn er Kampfschaden zufügt, musst du eine Monsterkarte von deiner Hand abwerfen.“ Ihr Blick verdüsterte sich. „Andernfalls heißt es Game Over! Und jetzt guck mal einer an, wer da so leichtsinnig für seine Supergottheit sein Blatt aufgegeben hat? Ist das nicht urkomisch, Is-fa-nel?“

„Nein! Du kannst-!“

„Du hast genug Leid angerichtet!“, schrie Anya und erhob zusammen mit Pearl Radiance das Schwert über seinem Kopf. „Jetzt hat alles ein Ende, wir werden endlich frei sein von euch verdammten Idioten!“

 

„Niemand wird heute irgendwem geopfert werden!“, rief auch Matt und nahm langsam Anlauf.

„Das haben wir euch ja versprochen!“ Anya sah herüber zu dem Dämonenjäger. „Alles klar? 1!“

„2!“, setzte Matt im Lauf nach.

Another rief mit erhobenen Armen: „Halt! Denk an mein Volk! Du darfst nicht-“

„3!“, übertönte Anya ihn jedoch lauthals. Und synchron schrien beide: „Los!“

„Golden Dragon Spear!“

„The Last Strike!“

Damit warf Matt den Speer in Anothers Richtung, während Anya und Pearl Radiance ihre Klinge in Isfanels Brust versenkten. Lauter Schreie, vor Wut, Entschlossenheit, Angst, Verzweiflung ertönten im Kristallsaal und vermischten sich.

 

[Matt: 0LP / Another: 1500LP → 0LP]

 

[Anya: 450LP / Isfanel: 700LP → 0LP]

 

Lord Fafnir schoss zielgenau in die Brust Alastairs und verschwand vollkommen dort drinnen, statt aus dessen Rücken wieder hinauszuragen.

„Oh, ein Hinweis aus der Gebrauchsanleitung: diese Waffe tötet Immaterielle!“, rief Matt hinterher.

Anya wollte gerade dasselbe sagen. „Genau wie Pearl Radiances Klinge!“

„Nein! Eden!“, schrie Another und wirbelte um, sah panisch hinauf zum leuchtenden Tor.

Doch die verschiedenen Kristallplatten in dessen Inneren, die sich während des Duells nach und nach fort geschoben hatten, um Blicke auf das zu gewähren, was hinter dem Tor lag, schoben sich nun wieder wie Blütenblätter vor das Tor und versperrten es.

„Nein- Argh!“

Another fasste sich an die Brust und musste feststellen, dass sich überall an seinem beziehungsweise Alastairs Körper goldene Risse auftaten. Er wirbelte um, seinen letzten Atemzug tätigend und rief: „Ihr habt mein Volk auf immer verdammt, ihr verachtenswerten Kreaturen!“

Den Arm nach Matt ausstreckend, sank er in die Knie, blieb dann etwas vor sich hin murmelnd liegen. Bis eine goldene Lichtsäule aus ihm empor schoss.

 

„Anya Bauer“, presste derweil auch Isfanel hervor, der die Klinge des Langschwertes in den Händen des Mädchens und Pearl Radiance festhielt, obwohl sie sich durch seinen Brustkorb gebohrt hatte. „Du hast mich besiegt.“

„Kinderspiel“, rümpfte die die Nase und sah verächtlich auf ihn herab.

Endlich waren diese beiden Monster Geschichte!

„Another … ist tot“, brach Isfanel hustend hervor, „seine Pakte sind damit aufgelöst, Eden wird nicht mehr erwachen können. Auch ich werde gehen und deine Freunde freilassen. Aber du …“

„Ich weiß“, erwiderte das Mädchen kalt, „Levrier hat es mir doch schon gesagt.“

Die flammende Gestalt streckte seinen anderen Arm nach ihr aus, zögerlich nahm Anya seine Hand in die ihren, ließ Pearl Radiance das Schwert hinausziehen. „Anya Bauer, es tut mir leid, was Another und ich dir angetan haben.“

„Sorry, aber das kommt zu spät“, blieb sie unerbittlich, „viel zu spät. Du wolltest lieber uns töten, als dich deinem Freund zu stellen. Ich kann's verstehen, aber verzeihen werde ich dir deshalb nicht.“

„Ich weiß. Du hast mich also durchschaut?“ Isfanel lachte leise. „Dennoch möchte ich dich um eins bitten. Du musst verhindern, dass …“

Allerdings konnte er seine letzten Worte nicht mehr aussprechen. Sein Kopf knickte zur Seite weg, mit einem lauten Fauchen verschwanden die weißen Flammen um Marc. Es war vorbei.

 

Es dauerte einen Moment, ehe das Mädchen realisierte, was geschehen war. Geschwächt wie sie war, sank sie auf die Knie und stieß einen lauten Jubelschrei aus. Sie und Matt hatten gewonnen! Sie konnten-

Ohrenbetäubend knallte es im hinteren Ende des Kristallsaals und mit diesem Knall erzitterte der ganze Turm, als wolle er eine Warnung aussprechen.

Anya sah über die Schulter und bemerkte das klaffende Loch dort, wo die Treppe nach unten führte. Hatte diese Melinda sie also doch nicht im Stich gelassen!

„Genau zum rechten Zeitpunkt!“

Irritiert sah sie auf und bemerkte, wie Alastair und Matt neben ihr standen, Letzterer eher schlecht als recht.

„Gut gemacht, Schlangenzunge“, lobte ausgerechnet der vernarbte Dämonenjäger sie aufrichtig, „ich kann nicht in Worte ausdrücken, wie dumm ich war-“

„Ja ja, spar' dir das für später“, erwiderte Matt genervt und zeigte herüber zu Valerie und Henry, „wir haben nicht mehr viel Zeit. Die da sind total weggetreten, du musst uns helfen, sie nach unten zu bringen.“

 

„Urgh!“

„Ah!“, gab die halb kristallisierte Anya erstaunt von sich, als Marc sich neben ihr aufrichtete und die Stirn rieb.

„Endlich ist er weg! Danke, Anya!“

„Du lebst!? Die Narbenfresse lebt!? Was hab ich verpasst!?“

Verblüfft blinzelte sie der schwarzhaarige Footballspieler an. „Gerade mal so, aber wer bin ich, mich darüber zu beklagen? Isfanel hat mich beschützt, als dieser Mistkerl Henry mich erschossen hat! Wo wir gerade dabei sind! Valerie!“

Sofort sprang er auf und rannte an Anya vorbei, um Alastair dabei zu helfen, die beiden schwer Verwundeten aufzurichten. Dabei griff er sich selbstverständlich seine Verlobte und nahm sie auf die Arme, war sie schließlich immer noch bewusstlos.

Henry hingegen war langsam zu Sinnen gekommen, musste jedoch von Alastair gestützt werden.

„Beeilt euch!“, rief dieser forsch und schleppte sich zusammen mit Henry zum Ausgang.

Jener rief dabei: „Gut gemacht, ihr beide! Unsere Male sind weg, wir sind wirklich frei!“

Kurz darauf waren die Vier verschwunden, wenig später bebte der Turm erneut.

 

„Wir sollten jetzt auch die Beine in die Hand nehmen“, sagte Matt leise und reichte Anya die Hand, um ihr aufzuhelfen, „für lange Reden haben wir später noch Zeit.“

„Geht nicht. Du musst alleine abhauen, fürchte ich.“

„W-was?“

Anya sah zu ihm hinauf und zeigte ihm ihren rechten Oberarm. Das schwarze Kreuz mit dem Dornenkranz war noch darauf abgebildet, auch wenn jenes Kreuz sich nun weiter über den Kranz erstreckte im Vergleich zu vorher. „Sieh mich doch an, ich passe bald super in jede Vitrine! Du weißt doch, was passiert, wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle.“

„Wieso ist das Mal noch da, Isfanel ist doch tot!?“, verstand Matt nicht und zeigte seinen Arm vor, von dem das violette Zeichen vollends verschwunden war. „Als Another gestorben ist, hat sich mein Mal aufgelöst.“

„Aber ein Teil von Levrier lebt in mir weiter“, erwiderte Anya traurig, „damit konnte ich ihn erschaffen“, womit sie zu Pearl Radiance deutete, der immer noch neben ihnen verharrte, „aber das heißt auch, dass ich nach wie vor die Gründerin bin. Ist also egal, ob ich mitkomme oder nicht, bald bin ich im Limbus gefangen.“

„Du kannst trotzdem mitkommen, vielleicht, wenn der Turm-!“

„Nein!“, donnerte Anya nun und sprang wütend auf, schubste Matt von sich weg. „Der Turm hat damit gar nichts zu tun! Hau endlich ab, ich will dein Mitleid nicht!“

„Anya, wenn du-“

Sofort drehte Anya missbilligend den Kopf zur Seite. „Ich weiß, was passiert, wenn ich hier bleibe! Aber ich sterbe lieber in einer epischen Explosion, als in einem Kreis voller Menschen, denen ich-!“

Sie brach erstickt ab. „Matt … das ist das Leb wohl zwischen uns. Geh jetzt, sonst schaffst du es nicht mehr rechtzeitig! Wir können ja wetten was als Erstes passiert, die Explosionen oder das Verschwinden des Turms. Aber wenn du das Ergebnis sehen willst, musst du jetzt abhauen!“

Langsam nahm der junge Mann ein paar Schritte rückwärts, ehe er mit betrübter Miene antwortete: „Okay. Dann … leb wohl, Anya. Ich werde dich nicht vergessen, versprochen.“

„Klar, nun zisch endlich ab!“, fauchte sie mit einer scheuchenden Handbewegung und Tränen in den Augen.

Dies gesagt, wandte Matt sich um und rannte zur Öffnung, die Melinda geschaffen hatte. Noch ein letztes Mal drehte er sich um, doch Anya hatte ihm den Rücken zugekehrt und schritt langsam auf den Thron zu, über den das verschlossene Eden schwebte. Pearl Radiance war in der Zwischenzeit verschwunden.

Dann nahm Matt einen Satz und landete auf den Stufen nach unten. In dem Moment gab es eine erneute Erschütterung, die den beschädigten Teil gefährlich rumpeln ließ. Vom dadurch losgelassenen Staub bedeckt, machte der junge Mann sich schweren Herzens auf den Weg.

 

Gleichzeitig seufzte Anya bitter, ehe sie sich auf den Thron setzte, ihre Hände auf die Lehnen legte und die Augen schloss.

„Wie viel Zeit habe ich noch, Levrier?“

 

Bis der Turm verschwunden ist. Vielleicht eine Stunde noch? Aber …

 

„Aber was?“

Doch Anya hatte die Worte kaum ausgesprochen, da stand sie schon im Elysion. Und sich selbst gegenüber, denn diesmal Levrier hatte ihre Form gewählt.

„Es gibt etwas, das ich dir seit unserem Pakt verheimlicht habe, Anya Bauer“, gestand ihr Ebenbild und senkte den Kopf, „über uns beide. Ich wurde geschickt, um die stärkste Kriegerin zu suchen, damit ich Edens Erwachen durch Anothers Hand verhindern kann.“

„Ich weiß“, erwiderte sie erstaunt, „warum erzählst du mir das jetzt?“

„Zwar habe ich durch seine Intervention mein Ziel aus den Augen verloren, aber“, sagte er und sah nun nachdenklich auf, „nicht die Tatsache, dass ich das stärkste verfügbare Gefäß dafür finden soll. Und, Anya Bauer, ich weiß nicht warum, aber ich glaube, du wirst in deiner Welt noch gebraucht werden.“

Das Mädchen zuckte genervt mit den Schultern und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. „Tch, warum sollte man mich noch brauchen? In einer Stunde bin ich Geschichte. Etwas spät, mir das zu sagen, Levrier.“

Ihr Gegenüber schüttelte allerdings den Kopf. „Nein, es ist der richtige Zeitpunkt. Denn unsere Wege werden sich jetzt trennen. Du musst … leben. Deswegen entlasse ich dich aus unserem Pakt, wenn du dasselbe möchtest.“

„Was!?“, fiel Anya aus allen Wolken und beugte sich ruckartig nach vorn. „Ich dachte, Pakte kann man nicht brechen!?“

„Wir brechen ihn nicht, wir lösen ihn basierend auf gegenseitigem Einverständnis auf“, erklärte Levrier ihr angespannt. „Aber es hieße auch, dass ich …“

Etwas verwirrt, dann sichtlich erleichtert atmete Anya auf. Dennoch schwang in ihren Worten deutlich Wehmut mit. „Dann willst du … für mich? Ist das okay? Ich meine, wir sind … auch Freunde.“

„Du bist die erste und letzte Freundin, die ich hatte und haben werde, Anya Bauer. Mehr als mich selbst zu opfern, um dich zu befreien, kann ich nicht für dich tun.“ Plötzlich ergriff die falsche Anya die Hände der echten. „Nur wenn ich komplett aus dir verschwinde, kannst du von unserem Pakt befreit werden.“

„Können wir uns dann noch wiedersehen?“, fragte Anya verhalten, ehe sie aufbrausend relativierte: „Ich meine, so schlimm warst du ja irgendwie doch nicht, nur ziemlich nutzlos!“

Levrier lächelte das Mädchen jedoch nur an, ließ sie los und drehte sich um. „Ich denke, es wäre das Beste für uns beide, wenn dem nicht so wäre. Und da ich weiß, was dein Herz sich wünscht … leb wohl, Anya Bauer!“

„Lev-!“
 

Und beeile dich!

 

Sehnsüchtig streckte Anya ihren Arm nach Levrier aus, doch griff sie ins Leere. Sie saß auf dem Thron, der ganze Turm erzitterte wieder einmal heftig. Leuchtende Splitter tanzten um sie, waren abgeplatzt von ihrer Haut und hatten ihr normales Erscheinungsbild binnen eines einzigen Herzschlages wiederhergestellt.

Irritiert sah sie sich einen Moment um, begriff erst jetzt des Ausmaß des letzten Kampfes, der den Kristallsaal an allen möglichen Enden aufgesplittert, versengt oder gar auseinander gerissen hatte.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte, daher sprang sie auf und rannte auf den von Melinda geschaffenen Ausgang zu. Mitten auf dem Weg dahin stoppte sie jedoch fassungslos und sah mit geweiteten Augen, wie Trümmer den Weg blockierten. Sie mussten durch die Erschütterungen in den Weg gelangt sein!

Trotzdem eilte Anya dort hin und versuchte eine Lücke zu finden, aber die Kristallplatten stammten entweder aus der Decke oder direkt von den Außenwänden, Anya war es im Endeffekt gleich.

Es gab keinen Weg hinaus, weil sie einfach zu wuchtig waren!

„So leicht gebe ich nicht auf“, fauchte sie ehrgeizig und versuchte die Trümmer trotzdem wegzuräumen. Jene stellten sich wie erwartet als unfassbar schwer heraus, sie konnte sie nicht einmal anheben!

„Nein, scheiße!“, fluchte sie.
 

Das konnte doch nicht wahr sein! Jetzt war sie frei und in diesem beschissenen Turm eingesperrt!

Wenn sie doch nur mit Matt gegangen wäre! Hätte Levrier sie nicht früher aus dem Pakt entlassen können!?
 

Trotzdem versuchte sie es weiter, allerdings war sie einfach zu erschöpft, um die schweren Kristallplatten aus dem Weg zu räumen. Eine konnte sie ein wenig bewegen, welche unter lautem Krachen zur Seite kippte. Der Turm bebte inzwischen erneut.

„Scheiße, scheiße, scheiße!“

„Anya!?“

„Huh!? Matt!?“

Das konnte nicht sein!

„Was machst du denn hier!?“, rief sie ihm zwischen den Trümmern zu.

„Ich wollte dich nicht hier allein zurücklassen und bin zurückgekommen! Geh aus dem Weg!“

Ohne lange darüber nachzudenken, sprang Anya zurück und gewann Abstand zu den Trümmern.

Gleichzeitig rannte der Dämonenjäger ein paar Stufen abwärts, schnappte sich im Vorbeigehen drei Sprengsätze und eilte zurück, um sie an den Hindernissen zu platzieren.

„Ich jage das Zeug in die Luft“, rief er gehetzt und verstellte den Zündmechanismus auf wenige Sekunden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann gingen die von Melinda eingestellten Sprengsätze hoch, sie hatten keine Zeit zu verplempern.

„Achtung!“, rief Matt, als er fertig war und das Weite vor dem Explosionsradius suchte.

Unter einem ohrenbetäubenden Knall explodierten die Trümmer und legten einen kleinen Spalt frei. Matt, der bei der Explosion abermals mit Ruß und Staub eingedeckt worden war, kämpfte sich an den Brocken vorbei, die die Treppe hinunterrollten und sah am anderen Ende Anya. Jene machte einen Satz und landete vor ihm.

„Wieso bist du zurückgekommen, du Idiot? Ich sagte, ich-!“

„Halt die Klappe und nimm die Beine in die Hand“, wies er sie forsch an, schnappte sich einfach ihre Hand und zog sie mit sich.

 

Und während der Turm immer öfter in unregelmäßigen Intervallen erbebte, nahmen die beiden Stufe und Stufe, rannten die Treppe hinab an den ganzen Sprengsätzen vorbei, die Melinda scharf gemacht hatte.

„Sollten wir die nicht abstellen?“, fragte Anya im Rennen.

„Nein, das schaffen wir nicht rechtzeitig, dazu sind es zu viele!“, erwiderte Matt, der schon ganz außer Atem war von all den Anstrengungen der letzten Stunden. Nicht zuletzt machten ihm auch seine Verletzungen zu schaffen.

Ebenso zehrte der scheinbar endlos lange Weg nach unten bereits binnen kurzer Zeit förmlich an Anya, welcher der Schweiß auf der Stirn stand.

„Können wir nicht deinen Teleportzauber nach unten nehmen?“, nörgelte sie.

„Das hier ist ein magischer Turm, der weder Eindringlinge noch Ausreißer duldet, was denkst du wohl!? Außerdem hat Alastair das eben schon probiert. Die Antwort lautet also nein!“

„Man“, jammerte Anya, „wie weit ist es denn noch!? Ich habe keinen Bock, dass uns auf den letzten Metern die Decke auf den Kopf fällt!“

„Wir haben Ewigkeiten für den Weg hinauf gebraucht, so schnell geht das nicht!“

„Aber nach unten geht es schneller als nach oben, oder?“

Matt stöhnte genervt, während sie weiter rannten. „Soll ich dich die Treppe runterschubsen? Das wäre der schnellste Weg, wenn du mich fragst! Sind bestimmt nur ein paar tausend Stufen und kaputt gehen kann bei dir eh nicht viel!“

„Willst du jetzt 'nen beschissenen Streit mit mir anfangen, Summers!?“

„Guck lieber da!“, meinte Matt und zeigte auf die Lichtsäule in der Mitte des Turms, von dessen Innenwand sich die Treppe wie eine Spirale nach unten wand.

Anders als zu dem Zeitpunkt, als sie den Turm von Neo Babylon betreten hatten, leuchtete jene Säule nur noch schwach und spendete kaum Licht. Sie mussten demnach vorsichtig sein, damit sie nicht stolperten.

„Wenn das Ding ein Indikator dafür ist, wie viel Zeit wir noch haben, sieht es düster aus“, brummte Matt ärgerlich.

Anya gab einen Wutschrei von sich. „Fuck! Warum muss alles immer so kompliziert sein!?“

„Red' nicht, renn' lieber!“

Und so ging es weiter, Stufe um Stufe, es nahm kein Ende. Die Minuten vergingen zäh und doch rasend schnell zugleich, immer häufiger bebte der Turm.

 

~-~-~

 

„Werden sie es schaffen?“

Melinda stand abwartend vor dem Eingangstor aus dem leuchtenden Mosaik. Nur wenige Schritte trennten sie von der Freiheit. Ihre Stirn blutete, doch zum Glück war die Wunde nur äußerst schmerzhaft. Rechtzeitig hatte sie das Bewusstsein wiedererlangen und die restlichen Sprengladungen aktivieren können.

„Benny, beeil' dich!“

Sie saß wie auf heißen Kohlen. Die Lichtsäule im Turm wurde immer dunkler, bald würde er verschwinden und unerreichbar für die Außenwelt sein.
 

Aber da! Sie hörte Schritte auf sich zueilen.

„Melinda!“, hörte sie jemanden ihren Namen rufen.

Henry beugte sich von etwa zwanzig Metern Höhe über das Geländer, wobei er von Alastair gestützt wurde. Glücklich winkte er seiner Schwester zu, die daraufhin in Tränen ausbrach. Hinter den beiden stand der schwarzhaarige, junge Mann, den ihr Bruder erschossen hatte. Auf dem Rücken trug er dieses andere Mädchen, das noch bewusstlos war.

Wenig später waren sie vor dem Tor vereint.

 

Beide humpelnd, schlossen sich Bruder und Schwester in die Arme.

„Du lebst!“, nuschelte Melinda überglücklich und schniefte. „Ich dachte, ich hätte einen Fehler gemacht, als ich-!“

„Alles ist gut. Dank Anya und Matt haben wir es geschafft. Isfanel und Another sind tot.“ Sanft streichelte er dabei über das braune, nach unten in einer Welle verlaufende Haar seiner Schwester. „Wir müssen nur noch hier raus.“

 

Daraufhin ließ Melinda ihn los und rieb sich eine Träne aus den Augen. Ihr fiel auf, dass die von Henry genannten beiden nicht hier waren. „Wo sind Anya und Matt?“

„Er holt sie, weil sie bleiben wollte“, antwortete Alastair ungewohnt besorgt, „sie wollte lieber dort oben in der Explosion sterben, aber er wollte das nicht. Es … ist meine Schuld. Ich habe mich die ganze Zeit von Refiel … Another manipulieren lassen.“

„Wie wir alle“, versuchte Marc ihn unbeholfen zu trösten und sah mitfühlend über die Schulter seine bewusstlose Freundin an.

Isfanel hatte sie als Erste aus dem Duell geworfen, damit sie nicht zu ihm durchdrang, dachte er dabei unglücklich. Die ganze Zeit hatte Another sie in Joans Gestalt gelenkt und sogar dazu gebracht, ihn von den Toten zurückzuholen. Wie sehr würde sie jetzt leiden müssen, sich verraten fühlen, weil ein falscher Engel sie manipuliert hatte? Das hatte sie nicht verdient!

Wie gut, dass dieser Mistkerl dafür seine gerechte Strafe bekommen hatte!

„Alles, was von Isfanel noch geblieben ist, ist das hier“, sprach Marc und zeigte die rote Duel Disk an seinem Arm vor, die in deaktivierter Form einem V glich. „Das Teil samt Deck schenke ich Anya als Siegestrophäe, wenn sie es hier lebend raus schafft. Das hat sie sich verdient.“

„Sie sind sicher schon auf dem Weg.“ Melinda sah hinauf zu den Treppen. „Bestimmt.“

 

~-~-~

 

Sie hörten es weit über sich laut knallen. Wenige Sekunden später erneut. Und kurz darauf wieder.

„Scheiße, die Sprengsätze gehen langsam hoch! Renn', Anya!“

„Das musst du mir nicht zweimal sagen, du Idiot!“, keuchte das Mädchen erschöpft.

Wie lange waren sie überhaupt schon gerannt? 30 Minuten? Eine Stunde? Das Mädchen hatte jegliches Zeitgefühl verloren, genau wie das Gefühl in ihren Beinen, die wie Pudding waren.

In regelmäßigen Abständen knallte es über ihnen, das Geräusch kam langsam, aber beständig näher.

Jede Stufe war ein Schritt näher zu Freiheit. Raus aus dem Turm, fort von Pakten, Dämonen, fort von Eden. Anya wollte leben!

 

Matt, der hinter Anya rannte, beugte sich über das Geländer. „Ich kann den Boden sehen! Es ist nicht mehr weit!“

„Endlich!“

Das Donnern und Knallen, das Rumpeln der Trümmer kam immer näher.

Schritt für Schritt schafften sie es, die Tür, jetzt konnte auch Anya sie schräg gegenüber der Treppe sehen. Nur noch wenige Stufen! Die Hitze im Nacken!
 

Sie rannten gleichzeitig durch das Tor, welches sie wie Wasser durchließ.

Die frische Luft draußen war so klar! Und die erdige Landschaft der Zerstörung, die der Turm aus dem Campus und der Livington High geschaffen hatte, sie war real!

Anya und Matt rannten auf die anderen zu, die in weiter Entfernung auf sie warteten und zu sich riefen.

Hinter ihnen der Turm, der unter lauter kleinen Explosionen in sich zusammenbrach. Trümmerteile fielen von ihm hinab, während er unstet zu flackern begann. In einer gewaltigen Schockwelle verschwand er plötzlich binnen eines Lidschlages mit einem letzten Donnern.

Dabei wurden Matt und Anya von der Schockwelle mitgerissen und meterweit hinfort geschleudert, landeten mit einem Ruck in der aufgewühlten Erde.

 

Es war endgültig vorbei. Bis auf ein paar Trümmern war von dem Turm nichts mehr übrig geblieben.

 

Und Anya, nun … sie lag auf Matt, der sie sich im Fall geschnappt hatte. Fest umarmte er sie und öffnete blinzelnd die Augen. „Alles noch dran?“

„J-ja“, stammelte sie verstört, richtete sich ein wenig auf und warf einen Blick zurück.

Bis auf einen Krater war wirklich nichts mehr da, was an den Turm von Neo Babylon erinnerte. Und Eden? Was war wohl damit geschehen?

„Dann bin ich ja froh“, murmelte Matt und ließ den Kopf wieder in den Dreck sinken.

„Hey, Finger weg von mir, du Perversling!“, fauchte Anya, als sie merkte, dass seine Hände über ihre Hüften gerutscht waren und knallte ihm sofort eine.

„Au, was soll das!?“ Sofort bäumte er sich wieder auf. Hatte man denn nie Ruhe vor ihr!?

„Fass mich nicht so an, Mistkerl!“, donnerte Anya und schlug ihm mit der Faust nahezu KO. Dabei überschlug sich ihre Stimme regelrecht. „Das ist alles deine Schuld! Ooooohhh, wir lassen den Turm explodieren! Was für eine Schnappsidee, ich wäre deswegen fast krepiert!“

Matt, sich die Wange reibend, schubste das Mädchen augenblicklich von sich runter. „Was!? Ich kann mich aber noch erinnern, dass -du- davon sehr begeistert warst! Und wegen dir hab ich das doch erst arrangiert, undankbares Miststück!“

„Ach ja!? Kann ich was dafür, dass am Ende alles anders gelaufen ist!?“

„Ja!“ Matt war rot vor Zorn, während die beiden im Dreck miteinander zu ringen begannen. „Du hast uns doch verarscht und in den Turm gelockt! Wenn du denkst, du kommst so leicht davon, dann-!?“

Sie bemerkten gar nicht, wie die Sonne über ihnen aufging.

„Da verwechselst du was! Ich habe nur …“

 

„Nun sieh sich mal einer die beiden an“, staunte Melinda, die sich zusammen mit den anderen unbemerkt von den beiden um sie geschart hatte. „Kaum sind sie außer Lebensgefahr, streiten sie schon wieder.“

„Ich denke, ich schenke ihr die Duel Disk lieber später“, meinte Marc resignierend und lächelte dabei die geschulterte, bewusstlose Valerie an. „Typisch Anya.“

„Sie hat eindeutig schlechten Einfluss auf ihn!“, wetterte Alastair aufbrausend. „Wenn sie so weiter macht, verschlimmert sie noch seine Wunden!“

Henry jedoch seufzte nur genervt, während Melinda ihn stützte. „Sie merkt ja nicht mal, dass das Mal an ihrem Arm verschwunden ist. Sie ist wirklich der dümmste Mensch, der mir je begegnet ist. Wobei mir einfällt … was machen wir mit ihr wegen der Sache mit dem Verrat? Wir sollten sie bei der Polizei anzeigen!“

Marc sah ihn perplex an. „Und was willst du denen erzählen?“

Henrys Schwester, die ihren eigenen Arm betrachtete, welcher nun ebenfalls frei von ungewünschten Verzierungen war, kicherte. „Man sollte nie jemand nach dem Äußeren beurteilen, Benny.“

„Sie ist dumm, glaub mir. Allein deswegen sollte sie bestraft werden.“

„Ungewöhnlich“, kommentierte Marc Henrys Spitze scharf. „Wenn wir schon dabei sind, wie willst du dich für die Kugel revanchieren, Kurzer? Wenn sie in den Bau wandern muss, dann du erst recht!“

„Hey, ich hatte keine Wahl!“, verteidigte Henry sich sofort kleinlaut.

 

Und während die Gruppe sich in freundschaftlicher Manier zu zanken begann, begrüßte die Sonne Livington zu einem neuen, dämonenfreien Tag.

 

 

Turn 36 – The End Of The Dream

Mehrere Monate später. Die Wogen haben sich geglättet, in Livington geht alles wieder mehr oder weniger seinem gewohnten Gang nach. Doch die Abschlussfeier naht und ganz zu Anyas Ärgernis findet diese auch noch bei ihrer ewigen Rivalin statt. Schlimmer noch, dort angekommen, beginnen schnell wortwörtlich Duelle um die Krone der Ballkönigin, nachdem der Direktor Mr. Bitterfield jene ursprünglich an Valerie vergeben wollte. Aber Anya wäre nicht Anya, wenn sie dies so einfach auf sich sitzen lassen würde …

Turn 36 - The End Of The Dream

Turn 36 – The End Of The Dream

 

 

Als der Turm von Neo Babylon vor unseren Augen in die Luft ging, war es wie ein Feuerwerk. Der Albtraum war vorbei, nach so langer Zeit. Und ich, ich war am Leben, obwohl alle Hoffnung zuvor als verloren galt. An diesem Tag habe ich vieles gelernt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Levrier sich für mich geopfert hat, damit ich den Sonnenaufgang erleben durfte.
 

Ich habe jetzt Freunde. Viele. Manche mögen mich mehr, manche weniger. Manche haben mir den Verrat selbst jetzt, über ein halbes Jahr später, immer noch nicht richtig verziehen. Ja, ich meine das Pennerkind und die Narbenfresse. Aber wenn sie sich mit mir anlegen wollen, nur zu, ich warte. Hier in Livington.
 

Die Stadt hat sich verändert. Ich hätte nie gedacht, das noch zu erleben, aber ja, das Erscheinen des Turms hat letztlich dafür gesorgt, dass unser ruhiges, verschlafenes Städtchen nun zu einer Touristenattraktion geworden ist. Natürlich hat die Regierung eine Erklärung für alles finden können, aber unter vorgehaltener Hand sind Aliens an allem Schuld.

Ja, klar … Idioten. Das Schulgelände wurde in der Zwischenzeit in eine Art Ausgrabungsstätte umfunktioniert, aber die wirklich interessanten Sachen werden diese Langweiler nicht finden.

Das Tor Eden ist zerstört, daran gibt es nichts zu rütteln. Und das ist auch gut so.

 

Aber nicht nur Livington hat sich verändert. Auch seine Bewohner. … was rede ich da, die sind immer noch genauso nervig wie eh und je.

Man muss sich doch nur Redfield ansehen. Oh ja, unsere kleine Schwanenprinzessin hat es tatsächlich geschafft, die beste unseres Jahrgangs zu werden. Soll sie sich drüber freuen, solange sie noch kann. Wenn sie erst mein Geschenk bekommt – gefakte Nacktfotos von ihr – dann wird sie schon sehen, was sie davon hat, Abby um ihren Ruhm gebracht zu haben!

Hab ich übrigens erwähnt, dass sie und Marc vor einiger Zeit ihre Verlobung offiziell bekannt gegeben haben? Zufällig dann, als Redfield drohte, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen? Pah! Die Hochzeit soll irgendwann später in diesem Jahr stattfinden, aber ich werde garantiert nicht kommen!

Was Masters wiederum angeht, was soll man zu der auch noch sagen? Ich glaube, selbst wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht, wird sie trotzdem noch auf Friedensdemonstrationen gehen und im Kreis mit anderen Hippies Gitarre spielen. Nicht, dass ich was dagegen hätte, Abby kann so bleiben, wie sie ist.

Anders als Nick … hat dieser Depp es doch tatsächlich geschafft, durch sämtliche Abschlussprüfungen zu fliegen!? Und die Schule deswegen abgebrochen!? Was Grund genug war für mich, ihm mal ordentlich die Meinung einzudreschen. Hmpf.

Schade, dass das Dämonenjäger-Duo nicht mehr da war, um das zu sehen. Ich hätte gerne ein paar Tricks von den beiden gelernt, aber sie sind bereits einige Tage nach den Geschehnissen abgereist. Ich stehe zwar noch per Mail mit ihnen in Kontakt, aber ganz ehrlich: für die nächsten hundert Jahre hab ich doch irgendwie genug von den beiden. So schnell vergesse ich nicht, dass die Narbenfresse der Auslöser für alles war!

Auch die Schnöselkinder sind nicht mehr in der Stadt, sondern letztlich nachhause zurückgekehrt. Bah, wie ätzend das war! Tagelang waren die Zeitungen gefüllt von der Rückkehr der beiden vermissten Kotzbrocken. Zu schade, dass ihnen bei der Explosion kein Steinbrocken auf den Kopf gefallen ist … aber ich denke, ohne die beiden hätte ich es nicht geschafft. Also lass ich es ihnen diesmal durchgehen.
 

Und ich?

Ach … alles so wie immer. Eine Anya Bauer verändert sich nie. Warum auch? Ich bin perfekt so wie ich bin.

 

„God dammit!“, fauchte Anya und presste wie wild geworden auf die Knöpfe ihres Controllers ein. Doch der Game Over-Bildschirm huschte bereits über ihren neuen Flachbildfernseher und verkündete ihr, dass sie immer noch nicht geschickt genug war, Rambo VS Terminator auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad durchzuspielen.

„Anya! Beeil' dich, wir müssen los!“, drang es von ihrer Mutter dumpf durch die Tür.

Frustriert warf das Mädchen den Controller in die Ecke und sprang auf, schritt gemächlich zu ihrem Schreibtisch. Sie griff nach ihrem Deck und schob es in den Gürtel an ihrer Jeans. Ihr Blick gewann einen gewissen Zorn.
 

Sie waren weg. Das Deck samt der Duel Disk, die sie von Marc bekommen hatte, Isfanels letzte Überreste. Eines Tages hatten sie einfach nicht mehr in ihrer Schublade gelegen. Zunächst hatte Anya Nick verdächtigt, sie gestohlen zu haben, aber die Schublade war abgeschlossen und niemand außer ihr kannte das Versteck des Schlüssels.

Abby hatte gemeint, dass Deck und Duel Disk vermutlich verschwunden waren, weil Isfanel nicht mehr existierte, aber Anya war sich da nicht so sicher. Denn wenn dem so wäre, müssten sie doch in dem Moment verschwunden sein, als Isfanel gestorben war. Stattdessen sind sie erst wesentlich später nicht mehr da gewesen.

Und jemand war an ihrer Schublade gewesen, das wusste Anya. Denn in derselbigen hatte auch der Abschiedsbrief gelegen, den sie kurz vor Erscheinen des Turms geschrieben hatte. Jenen fand sie am selben Tag, an dem die Duel Disk verschwunden war, zerrissen in ihrem Papierkorb – nur, dass sie diesen Brief seither nicht angerührt hatte!

Jedoch hatte sie im Endeffekt nie herausfinden können, wer dafür verantwortlich war. Aber sollte sie eines Tages auf das Celestial Gear-Deck stoßen, würde sie ihre Antwort finden. Und Anya hatte alle Zeit der Welt dafür!

 

„Nun mach schon“, drängte ihre Mutter von unterhalb der Treppe.

Das Mädchen stampfte eilig ebenjene hinunter und zog sich dabei ihre schwarze Lederjacke über, während Sheryl sie mit taxierendem Blick in Empfang nahm. „So willst du zum Abschlussball? Anya, das geht nicht!“

„Klar geht das“, widersprach Anya und zischte an ihrer Mutter vorbei zur Haustür. Sie drehte sich um und grinste verschlagen. „Das Thema des Abschlussballs ist 'Freedom'. Bedank' dich bei Redfield, die hat das vorgeschlagen!“

Die dunkelblonde Frau im Fellmantel fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Teenager …“

„Mum, ich bin 20!“

„Schon gut, du hast recht.“ Die Mimik der Frau hellte sich auf. „Heute ist dein großer Tag.“

Anya nickte heftig. „Ganz genau. Mum, darf ich fahren?“

„Nein!“

„Wieso nicht!?“

„Dein Fahrstil ist … radikal und gefährlich! Es ist ein Wunder, dass du den Führerschein überhaupt besitzt, nachdem du Fahrlehrer plus Prüfer gleichermaßen erpresst hast!“

Und es war ein Wunder, so dachte sich Sheryl, dass sie jahrelang hatte verhindern können, dass Anya sich überhaupt um einen Führerschein kümmerte. Leider hatte diese sich das am Jahresanfang in den Kopf gesetzt und letztlich auch durchgezogen.

Keck grinste das Mädchen sie an und riss die Tür auf. „Wieso, hat doch funktioniert!“

„Deswegen fahre trotzdem ich!“, entschied Sheryl und stampfte an Anya vorbei, die laut aufstöhnte und ihr zum neuen, roten Sportwagen folgte, der vor der Garage der Familie Bauer stand. Allerdings war Anya ihrer Mutter nicht wirklich böse. Das Wichtigste war, dass sie noch lebte, nachdem Anya schon glaubte, sie verloren zu haben, als der Turm damals erschienen war.

 

~-~-~

 

Nachdem Sheryl den Wagen vor der Villa der Familie Redfield geparkt hatte, sah sie auf ihre Armbanduhr. „Um 18 Uhr soll es anfangen? Dann sind wir ja pünktlich auf die Minute.“

„Tch. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen …“

Anya sah wütend aus dem Fenster des Wagens und nahm das Gebäude samt prächtigem Garten ins Visier, das sich vor ihnen erstreckte.

 

Da die Livington High nicht länger als Austragungsort benutzt werden konnte, hatte das Komitee sich dazu entschieden, stattdessen Valeries Vorschlag anzunehmen und die Feier bei ihr auszurichten. Anya hätte sich keinen schlimmeren Ort dafür vorstellen können als dieses pseudo-Weiße Haus.

Es war ätzend gewesen, für den Rest des Schuljahres in den nächstgelegenen Ort fahren zu müssen, um dort zur Schule zu gehen. Aber die Bauarbeiten für eine neue Schule am Stadtrand hatten noch nicht einmal begonnen.

Aber Anya hatte es ohnehin hinter sich. Nur noch heute und sie würde nie wieder die Schulbank drücken müssen!
 

Ihr Blick verdüsterte sich bei dem Gedanken. Denn das bedeutete auch, dass … sie bald niemanden der anderen mehr sehen können würde.

Abby hatte ein Stipendium für die Oxford-Universität erhalten und würde demnach bald nach England ziehen. Ähnlich ging es auch Valerie und Marc. Die beiden würden irgendwo in Florida studieren, natürlich auch mit Stipendien. Anya ärgerte es zutiefst, dass jene neuerdings wie Werbegeschenke verteilt wurden. Und da spielte gewiss kein Neid mit, weil ihre Noten gerade mal gut genug für ein Abgangszeugnis waren!

Deren Verleihung war bereits letzte Woche gewesen, heute ging es nur um die Feierlichkeiten. Aber Anya war nicht in Stimmung dazu. Alle würden ihren Weg gehen und Livington verlassen, nur sie nicht. Dass Nick ebenfalls bleiben würde, tröstete sie nur wenig.

 

„Okay, bringen wir es hinter uns“, brummte sie und stieg schließlich aus dem Wagen. „Es gibt da sowieso noch was, was ich regeln muss!“

 

~-~-~

 

Kaum hatte Mr. Redfield die beiden Bauerdamen empfangen, sah Anya sich im mit dunklem Palisanderholz verkleideten Flur nach dem Weg zum Wohnzimmer um. Von dort drang bereits laute Musik zu ihnen – dummerweise mal wieder kein finnischer Death Metal, sondern irgendwelches Pop-Gewäsch.

Während ihre Mutter sich den sündhaft teuren Fellmantel von Mr. Redfield abnehmen ließ, lauschte Anya mit gespitzten Ohren dem Gespräch, das die beiden führten.
 

„Mrs. Bauer, Sie sehen hervorragend aus“, lobte der an den Schläfen bereits ergraute, schwarzhaarige Gastgeber. „Ganz bezaubernd. Valerie sollte sich in Acht nehmen. Nicht, dass Sie am Ende noch zur Ballkönigin ernannt werden.“

Sheryl lachte herzhaft und machte einen Knicks vor ihm in ihrem roten Abendkleid. „Sie alter Charmeur. Aber trotzdem danke.“

Sofort schob sich Anya, bei der bereits alle Alarmsirenen schrillten, zwischen die beiden und packte ihre Mutter am Handgelenk. „Sorry, Mr. Redfield, aber Mum ist bereits vergeben!“

„An wen?“, verlangte Sheryl zu wissen und wehrte sich dagegen, von Anya weg gezerrt zu werden.

„An mich, wenn's sein muss!“

„Anya Bauer, ist es zu viel verlangt, mich einmal nicht zu blamieren in aller Öffentlichkeit!?“

 

Als Anya darauf etwas sehr Unfreundliches antworten wollte, erklang hinter ihr wildes Gekicher. Das Mädchen drehte ihren Kopf mit einem Ruck zur Seite und nahm die Ursache ins Visier: der schlaksige Ernie Winter und die blondgelockte Willow Taub hatten alles mit angesehen. Mittlerweile gingen die beiden miteinander, was aber niemanden interessierte – schon gar nicht eine Anya Bauer.

„Wollt ihr Ärger!?“, faucht sie und ließ von ihrer Mutter ab, stampfte auf die beiden zu.

Sofort schaltete sich Sheryl an. „Anya!“

„Ja, Anya!“, grinste Ernie breit und ließ eine Zahnspange aufblitzen, für die er eigentlich schon viel, viel zu alt war. „Benimm- AHHH!“

„Ernie!“, kreischte Willow und wich zurück.

Mit einem Arm hatte Anya ihn am Kragen des Sakkos gepackt und in die Höhe gerissen. Dabei grinste sie diabolisch. „Was denn? Hast du dir Mut angesoffen, oder was? Wenn du spielen möchtest, hättest du das vorher sagen sollen, dann hätte ich Barbie mitgebracht.“

„Anya, lass ihn los!“

Und während Sheryl zu zetern begann, fasste sich Mr. Redfield nur peinlich berührt an die Stirn und lachte bitter beim Gedanken, wie diese Party mit Anya ausgehen würde.

 

Allerdings wurde der Szene ein jähes, unblutiges Ende bereitet, als Abby dazu kam und Anya kurzerhand in das Wohnzimmer entführte.

Das war von nicht zu verachtender Größe, auch wenn es zu einem Partysaal samt Buffet, Stereoanlage und Lounge umgewandelt worden war. Letztere bestand aus einer halbmondförmigen Couch und mehreren Barhöckern, die jeweils zu zweit an einem hohen, kleinen Tisch standen. Letztlich verriet nur der rote Teppich, wozu dieser Raum normalerweise genutzt wurde.

 

„Anya, keine Szene so früh am Abend!“, klagte Abby empört und schleifte Anya in eine Ecke neben dem Buffet, für das extra arrangiertes Personal zuständig war.

Nur die erlesensten Kostbarkeiten wurden angeboten, Kavier, frischer Salat, diverse Fleisch- und Geflügelsorten – alles was das Herz einer Society-Schickse begehrte. Obwohl Anya aus genau diesem Grund nichts davon probieren wollte, lugte sie doch immer wieder mit gierigen Blicken herüber. Und hörte Abby kaum bei ihrer Moralpredigt zu.

„… nicht mal ein Kleid hast du angezogen. Anya, das Motto lautete Freiheit, weil wir so frei sein sollten, mal aus unseren Rollen herauszuschlüpfen. Für einen Abend können wir die sein, die wir wollen. Schau, die meisten Jungs tragen Anzüge wie James Bond. Nancy Steward geht glatt als Marylin Monroe durch!“

„Häh?“ Anya drehte sich zu Abby um und blinzelte verdutzt. „Ich dachte, die wäre tot? Also Nancy mein ich, denn ich habe ihr mal-“

Allerdings brach sie ab und machte noch viel größere Augen, als sie sah, wer da vor ihr stand.

„Sorry, muss dich verwechselt haben, dachte du wärst Abby.“

„Ich bin Abby!“, klagte jene beleidigt und hielt Anya am Arm fest, ehe die nach dem vermeintlichen Original suchen konnte.

Die Blondine lachte höhnisch auf. „Nie im Leben würde meine Abby sich wie eine Märchenprinzessin anziehen! Schau dir doch nur den Glitzerhaarreif und das Kleid an, das würde sie, oh Crap, du -bist- Abby!“

„Ja“, knirschte die schon mit den Zähnen.

 

Tatsächlich war sie wie ausgewechselt, trug eine dezente, quadratische Brille, ein weißes Ballkleid und sogar gleichfarbige Stiefel. Kurzum: sie war wirklich hübsch, wenn auch etwas blass um die Nase.

„N-nettes Outfit. Steht dir“, log Anya, um ihre Freundin nicht noch weiter zu kränken. „Ich hatte keine Ahnung, dass du'n Faible für Cinderella hast.“

„Hab ich auch nicht!“, rümpfte Abby die Nase und verschränkte wütend die Arme. „Das Kleid habe ich mal in einem Theaterstück gesehen und wollte es schon immer mal tragen. Und lieber das hier, als gar nichts! Meine Mum wollte nämlich, dass ich nackt hierher komme, um gegen Kinderarbeit in-“

 

„Getränke?“

Die beiden drehten sich um, als Marc ihnen jeweils ein Sektglas reichte. Auch er war für die Abschlussfeier herausgeputzt wie ein Filmdarsteller. Sein schwarzer Anzug, die Krawatte, alles saß straff und betonte sein breites Kreuz.

Während Abby ihm dankend das Glas abnahm, riss Anya es ihm förmlich aus der Hand und leerte es in einem Schluck, ehe sie es am Rand des Buffets abstellte.

„Butcher, das Thema heißt Freiheit! Wo ist deine verdammte Football-Uniform!?“

Sich an der Wange kratzend, lachte Marc auf. „Valerie hat mir verboten, in was anderem als einem Anzug zu kommen. Ich hasse dieses Teil, ich komme mir vor wie in einem Sarg.“

„Na mit Särgen kennst du dich ja aus“, gab Anya gallig zum Besten und stampfte an beiden vorbei, völlig ignorant gegenüber der Tatsache, wie pietätlos ihre Aussage war. Aber Marc nahm es scheinbar gelassen und vertiefte sich in ein Gespräch mit Abby.

 

„Kann mal jemand ordentliche Musik spielen!?“, schrie Anya in der Mitte des Raumes und erregte damit die Aufmerksamkeit der überall um sie herum tummelnden Gäste. „Oder wenigstens die Lautstärke hochdrehen? Scheiße, das ist ja ein verdammter Kindergeburtstag hier! Und wo ist der Alkohol, ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass-“

„Na, haben wir Spaß?“

Anya wirbelte herum und verengte ihre Augen derart zu Schlitzen, dass nicht einmal mehr eine Rasierklinge zwischen die Lider passte. „Nein, spätestens jetzt nicht mehr, Redfield.“

„Ich habe auch einen Vornamen, Anya“, belehrte die Gastgeberin die Blondine unterkühlt, „und wenn dir die Feier nicht gefällt, kannst du gerne gehen.“

„Das hättest du wohl gern!“

„Man wird doch wohl noch träumen dürfen?“

„Wie siehst du überhaupt aus, Redfield!? Willst du dich beim Playboy bewerben!?“

Damit spielte sie auf Valeries enge Hotpants, das knappe, weiße Tanktop und den Cowboyhut an, den das Mädchen auf ihrem offenen, langen schwarzen Haar trug.

„Die zahlen zu wenig“, kommentierte Valerie das mit einem verschmitzten Grinsen. „Du dachtest wohl, ich würde im Ballkleid kommen, wie alle anderen? Anfangs wollte ich mich als du verkleiden, aber da ich dich unmöglich deiner Existenzgrundlage berauben kann, habe ich mir etwas anderes überlegt. Daher dieses Outfit.“

Anyas Augen drohten aus ihren Höhlen zu schießen wie Gewehrkugeln. Sie beugte sich vor die etwas größere Valerie und fletschte mit den Zähnen. „Willst du mich ärgern, Redfield!?“

„Natürlich. Sonst wäre die Party doch nur halb so spaßig“, gab jene offen zu und legte ihre Stirn an die von Anya. „Du weißt, ich muss doch immer im Mittelpunkt stehen!“

„Na wie praktisch, Redfield, denn der hat sich gerade zum Friedhof verlagert! Und wo steht man schon mehr im Mittelpunkt als auf der eigenen Beerdigung!?“ Vor Wut flog bei Anya schon der Speichel durch die Luft.
 

Die anderen Partygäste, selbst die geladenen Lehrer, lachten herzhaft über den Zickenkrieg der beiden.

Abby stand am Rand und kam nicht umher, peinlich berührt den Kopf zu schütteln. „Die scheinen das ja richtig zu genießen …“

Marc neben ihr lachte. „Ich wette, Valerie hat sich den ganzen Abend darauf gefreut.“

„Ich bin ein Indianer!“, gluckste Nick und drängte sich mit nacktem Oberkörper, Kriegsbemalung und Federhaube zwischen die beiden.

„Nein, bist du nicht“, murmelte Abby und warf ihm einen giftigen Blick zu. „Du bist mein Prom-Date, also benimm' dich entsprechend!“

„Aber nur, weil alle anderen dich nicht wollten, hehe.“

„Anya“, schrie Abby durch den Saal, „verprügelst du bitte Nick für mich!?“

Doch die hörte gar nicht zu, sondern lieferte sich mit Valerie ein Wortgefecht, welches sie unmöglich gewinnen konnte.

 

„Haha, die sind echt eine dolle Gruppe“, lachte jemand bärbeißig an einem der Tische und nahm einen Schluck aus seinem Sektglas. Der Mann im orangefarbenen Poncho leerte es und seufzte glücklich. „Wie schön, dass alles ein gutes Ende genommen hat.“

„In der Tat“, erwiderte sein Gegenüber mit britischem Akzent, doch sein desinteressierter Tonfall strafte seiner Worte Lügen. „Ich hatte nicht erwartet, dass alles so glimpflich ausgeht für sie.“

„Du weißt, Strife“, erwiderte Drazen und beugte sich näher zu seinem Gesprächspartner, „dass es im Endeffekt alles auf deine Kappe geht. Was hättest du getan, wenn Eden geöffnet worden wäre?“

Der rothaarige Brite im schwarzen Anzug hatte ein Bein übers Knie geschlagen und verfolgte die Streitereien der Fünfergruppe gelangweilt. Aus den Augenwinkeln starrte er herüber zu dem alten Mann, der sein weißes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Es war ein abfälliger Blick, gleichgültig. „Die Frage ist: was hättest du getan? Freund?“

„Du weißt, warum entschieden wurde, dass das Tor verschlossen bleibt, nachdem wir diese Welt verlassen hatten.“

„Was dein Volk beschließt ist seine Sache, nicht meine. Ich bin nicht daran gebunden, auf euch zu hören. Und auch niemand sonst.“

Drazen kniff die Augen hinter seiner kreisrunden Brille eng zusammen. „Aber etwas Vernunft schadet niemandem. Ich weiß genau, was du vorhattest. Freund.“

„Du weißt gar nichts.“ Der Sammler nahm das eigene Sektglas vom Tisch und betrachtete darin sein Spiegelbild. „Das war nichts weiter als ein Spiel für mich. Irgendwie unterhaltsam, aber letztlich nichts weiter als ein Zeitvertreib. Wer so alt ist wie wir, weiß jedes bisschen Abwechslung zu schätzen.“

Daraufhin lachte Drazen laut auf und schlug gut gelaunt mit der Faust auf den Tisch.

„Haha, da sagst du was!“ Plötzlich beugte er sich noch weiter vor und nahm den Rothaarigen mit ernstem Blick ins Visier. „Aber dabei sollte man es auch belassen.“

„Natürlich“, erwiderte ihm jener hochnäsig und nahm einen Schluck aus dem Glas. „Oder was meinst du, Orion?“

Der kleine Schattengeist lehnte am Stuhlbein von Strifes Sitzgelegenheit und gaffte mit sabberndem Maul zu Valerie herüber, die Anya zur Weißglut trieb. „Hotpants!“

„Haha, er weiß die Vorzüge einer Frau wirklich zu schätzen!“ Drazen grinste. „Aber bei einem so drallen Weib wäre alles andere auch eine Todsünde! Hey, Strife, warum suchst du dir nicht eine Freundin als Zeitvertreib?“

Der Sammler verschütte fast sein Glas, als er einen heftigen Schlag auf den Rücken bekam. Pikiert erwiderte er daraufhin: „Ich denke, das ist meine Angelegenheit.“

„Langweiler.“ Seufzend ließ Drazen den Kopf hängen und schwenkte das leere Glas in seiner Hand hin und her. „Aber es ist zum Heulen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich jetzt nicht mehr nachhause.“

„Warum solltest du zurück wollen?“ Der Sammler sah nachforschend zu seinem Freund herüber. „Jener Ort wurde von der Zeit vergessen, die ihr selbst angehalten habt. Außerdem gehörst du in diese Welt. Du weißt warum.“

Ächzend legte der Weißhaarige sein Kinn auf die Handflächen und schmollte weiter. „Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht. Es ist nie gut, nicht mehr zurück nachhause zu können.“

Strifes Blick fiel bei diesen Worten auf Orion, der begeistert nach einem Stripduell zwischen Anya und Valerie verlangte. „... in der Tat.“

 

Und während die beiden von niemandem sonst überhaupt wahrgenommen wurden, stritt sich die illustre Runde um Anya, Abby, Nick, Marc und Valerie munter weiter.

„Anya, hast du überhaupt eine andere Jacke außer diese?“, stichelte Valerie und deutete auf die Lederjacke, die Anya nicht im Traum gedachte, an irgendjemanden aus diesem Haushalt bei der Garderobe abzugeben.

„Ich glaube nicht. Wenn ich mal mit ihr einkaufen gehe, nörgelt sie immer an allem 'rum“, klagte Abby.

„Auf welcher Seite bist du eigentlich, Masters!?“

„Auf der des guten Geschmacks. Sieh den Tatsachen ins Auge, Anya, wir sind Todfeinde.“

„Das hätte von mir stammen können!“, kicherte Valerie ausgelassen und schlug mit Abby freudestrahlend ab.

Nun waren Anyas Augen wirklich bedrohlich nahe daran, ihr Zuhause zu verlieren. Etwa so weit, wie zwei junge Frauen ihr Leben. „Ich werde euch-!“

 

Allerdings wurde Anya in ihrem Unterfangen, Abbys Hals um ein paar Blessuren zu verschönern, unterbrochen, als der rundliche Mr. Bitterfield in Begleitung von Mr. Redfield das Wohnzimmer betrat und sich räusperte. Letzterer hielt eine große Pappschachtel in den Händen.

„Ich habe gerade die Gästeliste überprüft und durfte feststellen, dass alle gekommen sind. Wie schön. Ich hoffe, ihr genießt diese Feier, die nur dank unseres lieben Bürgermeisters hier im schönen Livington stattfinden kann.“

Viele der Schüler und Lehrer klatschten aufgeregt in die Hände.

„Natürlich“, sprach der Direktor hochoffiziell weiter, „darf bei einem Abschlussball auch die Wahl der Ballkönigin nicht außer Acht gelassen werden.“

Das Geklatsche verstummte, stattdessen wurde nun wild gemurmelt.

Mr. Redfield schaltete sich nun ein. „Da ja die ursprünglichen Pläne eures Direktors durch die unverhofften Ereignisse von damals komplett über den Haufen geworfen worden sind, hat das Abschlusskomitee sich beraten und ist zu dem Schluss gekommen-“

„Dass Valerie Redfield“, schnitt ihm Mr. Bitterfield da grinsend das Wort ab, „aufgrund ihrer perfekten schulischen Leistungen, ihrer harten Arbeit in Zeiten der Not und ihrem vorbildlichen Verhalten zur Ballkönigin ernannt wird.“

Das Gemurmel verwandelte sich in lauten Jubel, der Valerie galt. Allerdings schien ihr Vater, wie auch sie selbst, gar nicht damit gerechnet zu haben. „Direktor, wir hatten doch vereinbart-“

Jedoch winkte Mr. Bitterfield ab und zwinkerte seinem alten Freund zu. „Das geht schon in Ordnung so.“

 

Gleichzeitig wurde Valerie von ihren Mitschülern regelrecht belagert.

Unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte, hob sie die Arme auf Brusthöhe. „D-danke für eure Glückwünsche, aber-“

Doch Ernie Winter, Lily McDonald, Willow Taub und all die anderen ließen nicht von ihr ab.

Nur eine war alles andere als begeistert von der Vorstellung, dass auf Valerie Redfield Haupt gleich die silberne Krone liegen würde, die Mr. Bitterfield aus der Schachtel des verdutzten Mr. Redfields hervor holte.

„Beiseite, Kinder. Ich möchte unsere Ballkönigin krönen“, gluckste der rundliche Mann dabei vergnügt und versuchte sich an den Schülern vorbei zu zwängen, die sich um Valerie tummelten.

Jedoch stellte sich ihm die Eine, die das niemals zulassen würde, augenblicklich in den Weg.

 

„Ich glaub, es hackt wohl!?“, herrschte Anya ihren Direktor an, der ihr gerade einmal bis zum Kinn ging. „Das ist Betrug! Redfield selbst ist im Abschlusskomitee!“

Der Mann mit der Halbglatze kniff böse die Augen zusammen. „Aus dem Weg, Mrs. Bauer.“

„Anya, lass es!“, rügte Abby ihre Freundin von der Seite und zerrte an ihrem Arm, doch die Blondine rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.

„Habt ihr die Krone einfach so zugeschoben, was!?“, raunte diese jedoch weiter und stampfte wütend auf. „Aber nicht mit mir! ICH habe genauso ein Recht auf dieses beschissene Teil!“

„Du interessiert dich doch gar nicht für sowas!“, platzte es aus Abby heraus.

Anya rückte ihren Kopf so schnell zur Seite, dass ihr Gegenüber vor Schreck quietschte. Vornehmlich deshalb, weil der Gesichtsausdruck des Mädchens finsterer als die Nacht war. „Jetzt schon, Masters!“

Sich wieder an Mr. Bitterfield richtend, stemmte Anya die Hände in die Hüften. „Ich verlange ein faires Auswahlsystem! Jetzt!“
 

Valerie trat plötzlich an Anyas Seite. „Ich auch! Was denkt ihr euch dabei, einfach über meinen Kopf hinweg zu entscheiden?“

Ihr Vater stellte sich neben Mr. Bitterfield und lächelte vergnügt. „So kenne ich meine Tochter.“

Diese fasste sich stöhnend an den Kopf. „Ich danke euch, dass ihr mich für würdig erachtet. Aber der eigentliche Plan sah vor, dass wir zum Abschluss ein Duel Monsters-Turnier um den Titel des Abschlusspaares veranstalten. Wer die Krone gewinnt, wählt seinen Partner, so hatten wir es vereinbart.“

„Aber, aber … Valerie!“, klagte der Direktor enttäuscht. „Wer hätte es mehr verdient als du?“

„Jemand, der mich schlagen kann“, zwinkerte das Mädchen und stieß dabei Anya mit dem Ellbogen in die Seite.

Diese zischte. „Richtig!“

Dann schnappte sie sich den Arm ihrer ewigen Rivalin und zerrte sie Richtung Hinterhof davon, direkt über die Terrasse, die an das Wohnzimmer grenzte. „Mitkommen, Redfield!“

 

Plötzlich griff sich auch Abby jemanden und zwar niemand Geringeres als Nick. „Wenn das so ist, habe ich eine Chance auf den Titel! Komm!“

Verwirrt stolperte der hoch gewachsene, halbnackte junge Mann an den anderen vorbei, wehrte sich jedoch nicht. „Was soll das?“

Aus den Augenwinkeln warf Abby ihm einen eisigen Blick zu, als sie ihn durch den Flur führte. „Jetzt gibt es 'ne Revanche für damals auf dem Spielplatz! Und gib alles, was du hast! Nochmal lasse ich dich nicht absichtlich verlieren!“

Woraufhin ihr Freund kurz mit dem Mundwinkel zuckte. Sie hatte es also herausgefunden. „Wie du willst. Dann auf dem Dachboden, wo uns keiner sieht!“

 

„Das gibt’s doch nicht!“, beklagte sich Mr. Bitterfield mit der Krone in der Hand, als sich nach und nach alle Schüler ihre gewählten Gegner schnappten und sich im Haus und auf dem Grundstück der Redfields zu verteilen begannen.

Beruhigend legte Mr. Redfield ihm eine Hand auf die Schulter. „Ihre Geste war gut gemeint, aber ich stimme Valerie zu. Wir hatten ausgemacht, die Schüler für das verhunzte Tag Turnier zu entschädigen.“

Der Direktor seufzte. „Wenn es sein muss …“

„Ja, muss es.“

Überrascht schauten die beiden auf.

Marc stand vor ihnen und legte sich seine Duel Disk an. Dabei lächelte er glücklich. „Das ist meine Chance, meinen Ruf endgültig reinzuwaschen. Mal sehen, wer mutig genug ist, sich mit mir anzulegen! Danke für ihr Verständnis, Mr. Bitterfield!“

Schon rauschte er an den beiden vorbei, auf der Suche nach einem geeigneten Gegner.

„Diese Jugend“, lachte Mr. Redfield zufrieden, „das Wichtigste ist, sie haben Spaß. Und das wissen sie auch, warum sonst haben sie alle ihre Duel Disks mitgebracht? Im Grunde kämpft niemand um eine bedeutungslose Auszeichnung wie diese Krone.“

Jedoch seufzte der Direktor nur, während er das dezente, aber prachtvolle Stück ansah. „Warum muss scheinbar alles in dieser Welt mit einem dämlichen Kartenspiel entschieden werden?“

„Wir beide könnten uns doch auch duellieren“, schlug Valeries Vater glucksend vor.

„Das ist nicht witzig!“

 

~-~-~

 

„Das ist es“, murmelte Anya leise.

Valeries Augen blitzen auf. „Die Revanche.“

„Mach dich auf was gefasst, Redfield! Die Krone gehört mir!“

„Die Idee mit dem Turnier kommt von mir. Und ich habe den Vorschlag nur gemacht, weil ich wusste, dass es hierauf hinauslaufen würde“, erklärte Valerie herausfordernd. „Nur deswegen, um genau zu sein. Ich will endgültig wissen, wer die Bessere von uns beiden ist.“

Anya rümpfte die Nase. „Das wirst du gleich sehen, Redfield.“

„Allerdings. Aber“, murmelte jene und sah an sich herab, „wieso müssen wir uns ausgerechnet hier duellieren!?“

 

Die beiden befanden sich nämlich jeweils an einem Ende des großen Pools auf dem Hinterhof der Redfields. Genauer gesagt auf je einem der beiden Sprungbretter der beiden Seiten, die direkt in das kalte, klare Nass führten.

Um sie herum fanden noch ein paar andere Duelle statt, doch keines direkt am Swimmingpool.

„Ganz einfach“, erklärte Anya dies und hob besserwisserisch den Zeigefinger. „Der Loser wird nicht nur die Krone verlieren, sondern auch ins Wasser springen müssen.“

„Wie albern“, kommentierte Valerie dies gelangweilt. Grinste dann aber doch. „Als ob ich dich nicht durchschauen würde. Du willst den Titel doch nur, damit ich ihn nicht haben kann. Du willst mich nach allen Regeln der Kunst blamieren.“

„Bingo“, zischte Anya und kniff böswillig die Augen zusammen.

Valerie tat das Gleiche. „Aber ich sage dir Eines: damit wirst du …“

„Ja?“

„... baden gehen.“

„Was!? Das glaubst doch nur- Ahhh!“ Wütend stampfte Anya auf und sorgte so am Ende fast dafür, dass sie vom schwankenden Sprungbrett ins Wasser fiel. Ihre Gegnerin brach dabei in einem lauten Lachanfall aus.

„Das gibt Rache, Redfield!“

„Dann zeig, was du in den letzten Monaten gelernt hast!“

 

„Duell!“, riefen die beiden jungen Frauen schließlich voller Eifer und ließen ihre Duel Disks ausfahren.

Kurz darauf murmelte Anya mit einem verspielten Grinsen: „Also gut, auf geht’s, Partner.“

Dafür erntete sie von den um sie herum duellierenden Schülern verwunderte Blick. Valerie blinzelte verdutzt, da sie keine Ahnung hatte, wen ihre Gegnerin damit meinte.

 

[Anya: 4000LP / Valerie: 4000LP]

 

Beide lieferten sich regelrecht einen Wettkampf, wer zuerst sein Startblatt aufgezogen hatte.

„Ungeschriebenes Gesetz: ich beginn-“

Valerie zog jedoch blitzschnell ihre sechste Karte nach und lächelte zufrieden, das seltsame Verhalten ihrer Konkurrentin vergessend. „Diesmal nicht, Anya. Ich mache den ersten Zug!“

Umgehend knallte sie ein Monster auf ihre blaue Duel Disk. „Mit diesem gesetzten Monster beende ich meinen Zug!“

Die horizontal liegende Karte tauchte mit dem Rücken nach oben über dem Poolwasser vor Valerie auf.
 

„Mehr nicht?“, raunte Anya beinahe enttäuscht. „Mach es mir nicht zu leicht, Redfield! Draw!“

Die Schwarzhaarige schmunzelte, während Anya nachzog. „Mitnichten …“

Mit nicht weniger Ehrgeiz legte auch jene ihr Monster auf den Apparat an ihrem Arm. „Erscheine, [Gem-Knight Garnet] und greif gleich mal an!“

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Kaum war der Ritter des Granats in der bronzenen Rüstung erschienen, schleuderte er schon einen Feuerball aus seinen Handflächen auf Valeries gesetzte Karte.

Diese schmunzelte wieder. „Immer mit dem Kopf durch die Wand, was? Arme [Gishki Ariel].“

Jene, ein blauhaariges Mädchen in dunkler Priesterrobe, sprang nun aus Valeries Karte hervor und schützte sich mit ihrem Zauberstab vor der Flamme – vergebens. In einer Explosion ging sie unter.

 

Gishki Ariel [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

„Flippeffekt von Ariel aktivieren! Wenn sie aufgedeckt wird, erhalte ich ein Gishki-Monster von meinem Deck. Und dessen Name ist [Gishki Shadow]!“

Kaum war dieser genannt, schnellte aus der Mitte von Valeries Deck eine einzelne Karte hervor, die sie vorzeigte und dann in ihr Blatt nahm. Automatisch wurde ihr Kartenstapel anschließend gemischt.

„Schön für dich, Redfield“, giftete Anya und schob dabei eine Falle in den dazugehörigen Slot unter Garnets Karte. „Die da verdeckt. Zug beendet!“

Schon tauchte die gesetzte Karte vor ihren Füßen auf.

 

Valerie fuhr sich erst lässig durchs Haar und genoss dabei Anyas wütende Blicke, da sie genau wusste, wie sehr diese Geste sie provozierte, ehe sie zog. Sie wollte wissen, ob ihre Gegnerin ihr Temperament mittlerweile so zügeln konnte, dass es ihren Duellfertigkeiten nicht mehr im Weg war.

„Ist es auch“, ging sie auf Anyas Satz ein und zückte eine Zauberkarte aus ihrem Blatt. „Denn dadurch kann ich endlich [Gishki Aquamirror] aktivieren. Du dürftest nach all unseren Duellen mittlerweile wissen, was er bewirkt.“

Anya verschränkte missbilligend die Arme. „Eine Ritualbeschwörung …“

In dem Moment tauchte aus dem Wasser des Pools ein in goldener Verzierung eingefasster Spiegel auf und erhob sich daraus bis etwa zur Höhe von Valeries Kopf.

„Genau! Und ich opfere dafür [Gishki Shadow]! Damit kann ich nun [Evigishki Levianima] beschwören!“

Valerie legte das blau umrandete Ritualmonster freudestrahlend auf die Duel Disk.

Kurz spiegelte sich in dem Objekt ein amphibisches Wesen in Robe wieder, als-

„Hey! Das ist Betrug! Dieses Levianidingens ist Stufe 8, dein Opfer nur Stufe 4! Da fehlen noch-“

Doch schon hatte sich Valerie stöhnend die Hand vor den Kopf geschlagen. Anscheinend stand Anyas Temperament ihr immer noch im Weg! Oder eher ihr schlechtes Gedächtnis. „Anya! Wie oft habe ich dir schon erklärt, dass [Gishki Shadow] alle Kosten für die Ritualbeschwörung eines Wasser-Monsters übernimmt!?“

Ihre Gegnerin zuckte provokativ mit den Schultern. „Erinnere mich nicht …“

„Dann merk es dir endlich!“

Das gesagt, zersprang Valeries Spiegel. Und aus dem Wasser entstieg augenblicklich eine amphibische, drachenähnliche Gestalt, die mit einem Schwert bewaffnet war. Die dunkelblaue Haut schimmerte regelrecht, doch wirklich ungewöhnlich waren die blassgrauen Haare und die Kleidung, die dieses Wesen trug – fast, als wäre es einmal ein Mensch gewesen.

 

Evigishki Levianima [ATK/2700 DEF/1500 (8)]

 

„Zumindest ist das Ding mal was Neues“, brummte Anya und fixierte das Monster mit zusammengekniffenen Augen. Sollte es ruhig kommen!

Valerie indes war bereits dabei, die nächste Zauberkarte in ihre Duel Disk einzulegen. „Ich aktiviere jetzt [Contact With The Aquamirror], was nur geht, wenn ich im Besitz eines Wasser-Monsters bin! Damit kann ich entweder deine verdeckten Karten checken oder die obersten zwei Karten von einem unserer Decks ansehen und neu anordnen, wenn ich möchte.“

Anya wurde hellhörig. „Und was wählst du?“

„Beides …“

„Du hast doch grad gesagt-!“

„... weil ich ein Wasser-Ritualmonster kontrolliere und somit beide Effekte auslösen kann“, beendete Valerie ihren Satz unbekümmert.

Schon zog sie zwei Karten, [Salvage] und [Gishki Vision], lächelte wissend und legte sie in verdrehter Reihenfolge auf ihr Deck. Dann zeigte sie auf Anyas gesetzte Karte, die aufsprang und sich als violett umrandete Falle [Justi-Break] entpuppte.

„Verstehe. Wie ich mir dachte“, taktierte Valerie zufrieden, „wenn ich ein normales Monster angreife, so wie Garnet eines ist, zerstörst du meine Monster damit. Ich wäre fast drauf hereingefallen. Aber weißt du was?“

Ihre Gegnerin, die langsam Probleme mit der Selbstkontrolle bekam ob der offenkundigen Überlegenheit ihrer Erzrivalin, schnaubte wütend. „Was denn, Redfield!? Dass deine Hupen gemacht sind!? Nichts Neues!“

Valerie lächelte heimtückisch. „Nein. Deine Falle ist nichts, was ein kleiner [Mystical Space Typhoon] nicht in den Griff bekommt! Mein Zauber wird deine Karte einfach zerstören!“

Schon zischte ein Wirbelsturm über das Feld, der Anyas [Justi-Break] mit sich riss, ehe er verschwand. Jene schäumte regelrecht vor Wut. „Du-!“

„Ich? Ich werde dich jetzt angreifen“, gluckste Valerie vergnügt beim Anblick ihrer fuchsteufelswilden Gegnerin, die es nicht ertragen konnte, so leicht durchschaut worden zu sein. „Levianima! Soul Crasher!“

Schon schoss ihr Seeschlangen-Drachen-Hybrid auf Anyas Ritter zu und verpasste ihm einen deftigen Schwerthieb, der ihn dazu brachte, in tausend Stücke zu zerspringen. Dessen Besitzerin schrie vor Wut auf.

 

[Anya: 4000LP → 3200LP / Valerie: 4000LP]

 

„Effekt von Levianima!“, rief Valerie da und riss eine Karte von ihrem Deck. „Wenn er angreift, darf ich eine Karte ziehen. Diese zeige ich vor und sollte es dabei ein Gishki-Monster sein, musst du mir eine zufällig gewählte deiner Handkarten zeigen.“

In den Fingern drehte sie die gezogene Karte um und präsentierte [Gishki Vision].

„Tch!“ Mehr brachte Anya nicht hervor, als vor ihr das Abbild der Karte von [Gem-Knight Alexandrite] auftauchte.

Das lief alles wie am Schnürchen, dachte Valerie stolz und zog eine weitere Zauberkarte aus ihrem Blatt. „Prima! Dann aktiviere ich jetzt [D.D. Designator]. Ich sage, dass sich [Gem-Knight Alexandrite] auf deiner Hand befindet.“

Erschrocken stellte Anya fest, dass ihrer Gegnerin auf einmal alle Handkarten von ihr gezeigt wurden. Und da sie den Effekt jener Zauberkarte schon einmal am eigenen Leib erlebt hatte, überraschte es sie nicht mehr, dass Alexandrite aus der Aufzählung verschwand. Er wurde einfach von der Hand verbannt.

„Mieses Stück“, brummte Anya und schob ihren Ritter in die hintere Hosentasche, „dafür wirst du zahlen.“

„Ich warte“, lächelte Valerie etwas überheblicher, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.

„Dein Zug, Anya“, gab sie den ihren mit zwei verbliebenen Handkarten und ihrem Ritualmonster ab, während ihre Gegnerin drei Handkarten und kein Feld besaß.

 

Was sich schleunigst ändern sollte, schwor Anya sich, als sie ausholend zog. „Draw!“

„Jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben, Redfield“, schrie sie förmlich. Sie griff nach ihrem Friedhof und holte Garnets Karte von dort hervor, hielt sie zusammen mit zwei Zauberkarten und [Gem-Knight Lazuli] in die Höhe. „Ich aktiviere erst [Silent Doom], um ein normales Monster wie [Gem-Knight Garnet] vom Friedhof in Verteidigung zu reanimieren!“

„Eine Fusion …“, schloss Valerie bereits mit Blick auf die anderen Karten.

„Verdammt richtig! Ich verschmelze ihn gleich darauf mit [Gem-Knight Lazuli] dank meiner Lieblingskarte [Gem-Knight Fusion]! Garnet, du bist das Herz, [Gem-Knight Lazuli], du die Rüstung! Vereint euch!“

Gerade erst war ihr Ritter vor dem Mädchen erschienen, da wurde er auch schon in einen Wirbel aus Edelsteinen über Anya gezogen, zusammen mit einer weiblichen Ritterin. Ein Blitz schoss daraus hervor, welchem ein edler Krieger in roter Rüstung folgte.

„Erscheine, [Gem-Knight Ruby]!“, donnerte Anya und legte dessen Karte auf die Duel Disk.

Über dem Wasser schwebend, bezog der Ritter mit wehendem, blauem Umhang und gezückter Lanze Stellung.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Aber das ist nicht alles!“, erklärte Anya weiter mit ihrem lauten Organ und zückte Garnets Karte abermals vom Friedhof. „Wenn Lazuli durch einen Karteneffekt, sagen wir zum Beispiel eine Fusion, auf den Friedhof gelegt wird, erhalte ich von dort ein normales Monster auf die Hand!“

Zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt die Blondine die Karte ihres Gem-Knights ganz nah an ihrem Gesicht und warf aus den Augenwinkeln einen Blick darauf.

Grinsend ließ sie die Hand aber sinken und steckte den Ritter zu ihrer anderen Handkarte. Letztere zückte sie stattdessen und legte sie in die Duel Disk ein. „Pass schön auf, Redfield! Ich aktiviere [Fusion Weapon]! Damit rüste ich ein Fusionsmonster der Stufe 6 oder weniger aus und erhöhe seine Werte um 1500!“

Valerie weitete die Augen vor Schreck. Sie hatte damit gerechnet, dass Anya ihren Krieger stärken würde – aber so sehr!?

An einem von dessen Armen erschien ein Elektroschocker.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4000 DEF/1300 → 2800 (6)]

 

„Don't fuck with me, Redfield!“, tönte Anya und schwang den Arm aus. „Los, Ruby! Attackiere diesen Nessie-Verschnitt! Sparkling Lance Thrust!“

Ihr Krieger ließ dessen Lanze erst etwas über sein Haupt wirbeln, ehe er sie ausholend auf Valeries Levianima warf. Dieser wurde in der Brust getroffen und explodierte umgehend.

 

[Anya: 3200LP / Valerie: 4000LP → 2700LP]

 

Als der Rauch sich verzog, befand sich die Lanze bereits wieder auf mirakulöse Weise in Rubys Besitz.

Valerie blinzelte verblüfft. „Nicht schlecht, Anya.“

„Tch, spar' dir das! Ich setze ein Monster zu meinem Schutz in den Verteidigungsmodus und beende diesen Zug! Das war erst der Anfang, Redfield!“

Neben [Gem-Knight Ruby] tauchte die gesetzte Karte auf. Damit besaß Anya nun keine Handkarten mehr.

 

Während Valerie irritiert zog, grübelte sie über Anyas ungewohntes Verhalten.

Denn die gesetzte Karte dort war eindeutig [Gem-Knight Garnet], welcher 0 Verteidigungspunkte besaß. Es ergab keinen Sinn, ihn defensiv zu spielen, zumal Anya mit ihm noch mehr Schaden hätte anrichten können!

Was sollte das? Hielt sie sich absichtlich zurück? Oder fürchtete sie sich so sehr vor dem Gegenschlag, dass sie in ihm ein Risiko sah?

„Du willst es wohl in die Länge ziehen?“, erkannte sie jedoch leise für sich selbst und atmete glücklich auf. „Es noch etwas auskosten, was?“

Wie Anya auf dem Sprungbrett stand, so tapfer und entschlossen zu gewinnen, musste Valerie grinsen. Es war ihr letztes Duell als Schülerinnen der Livington High. Und vielleicht das letzte in einem sehr langen Zeitraum. Wenn sie und Marc erst in Florida studierten, würde es so schnell keine Gelegenheit mehr für ein Duell geben.

Natürlich wäre es also schade, wenn dieser Kampf zu schnell vorbei wäre.

 

„Go, Valerie!“

„Anya, du schaffst das!“

„Wenn Bauer nicht gewinnt, wird sie uns das Fest ruinieren!“

„Valerie hat die Krone verdient, niemand sonst!“

Überrascht sah Valerie sich um und bemerkte, dass all die anderen Duelle um sie herum längst geendet hatten. Stattdessen standen nun scheinbar ausnahmslos alle Schüler und Lehrer, ja selbst ihr Vater, Mrs. Bauer und Mr. Bitterfield um den Pool und wohnten gespannt ihrem Duell bei.

Abby, die sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, wen sie anfeuern sollte. Nick, der das Mädchen dabei komischerweise stolz ansah. Und Marc, der ihr, als er ihren Blick bemerkte, den Daumen nach oben zeigte. Auf irgendeine Art und Weise schienen sie sich alle darauf geeinigt zu haben, dass die Ballkönigin nur in diesem einen Kampf gewählt werden konnte. Warum?

Lily, Willow, Ernie. Sie alle schienen damit einverstanden, dass entweder sie oder Anya die Krone am Ende tragen würde.

Was Valerie nur noch mehr anspornte.

 

„Dann werden wir ihnen eine Show liefern, die sie nie vergessen werden“, sprach Valerie wieder zu sich und schob dabei eine ihrer Monsterkarten in den Friedhofsschlitz. „Effekt von [Gishki Vision]! Ich werfe es ab, und erhalte dafür ein Gishki-Ritualmonster von meinem Deck.“

Stolz zeigte sie [Gishki Zielgigas] anschließend vor – ihre mächtigste Kreatur! Aber selbst sie war zu schwach, es mit Ruby aufzunehmen. Zwar wäre [Evigishki Soul Ogre] die bessere Wahl gewesen, doch den hatte sie kurzfristig für Levianima ausgewechselt, um die Spielstärke von Letzterem zu erproben – ein Fehler, wie sie jetzt zugeben musste.

„Ich aktiviere anschließend den Zauber [Salvage], mit dem ich zwei Wasser-Monster von meinem Friedhof mit maximal 1500 Angriffspunkten zurückerhalte!“

Das gesagt, schnappte sie sich [Gishki Shadow] und [Gishki Vision] und zeigte sie ebenfalls vor. Damit könnte sie Zielgigas nun jederzeit beschwören.

Aber etwas hielt sie davon ab. Denn auch wenn dieses Monster einen mächtigen Effekt besaß, der besagte, dass sie einmal pro Zug für 1000 Lebenspunkte eine Karte ziehen und – sofern die gezogene Karte ein Gishki-Monster war – eine Karte auf dem Feld ins Deck zurückschicken würde, konnte sie sich nicht darauf verlassen.

Was, wenn sie etwas Falsches zog? Dann wäre sie Anya ausgeliefert. Und es war auch nicht ihr Stil, sich auf das Glück zu verlassen, wenn es auch Alternativen gab. Sich mit dem Schicksal anlegen war eher Anyas Fachgebiet.

„Sorry Zielgigas, ich habe es mir anders überlegt, nicht heute“, murmelte sie und zückte eine weitere Zauberkarte. „Ich aktiviere [Moray Of Greed]! Ich mische zwei Wasser-Monster von meinem Blatt in mein Deck zurück und ziehe drei Karten!“

Mal sehen, wie die Antwort ihres Decks aussehen würde!

Valerie ließ von ihrer Duel Disk [Gishki Zielgigas] und [Gishki Vision] einziehen, das Deck durchmischen und zog anschließend drei neue Karten, womit sie wieder auf vier kam. Und was sie da sah, entlockte ihr einen freudigen Seufzer.

„Perfekt“, richtete sie ihr Wort an Anya. „Das war die richtige Entscheidung!“

„Ach ja? Na dann zeig's mir doch!“, giftete die zurück.

„Gerne doch! Wieder eine Zauberkarte, diesmal [Preparation Of Rites], mit der ich eine Ritualzauberkarte von meinem Friedhof und ein Ritualmonster mit maximal Stufe 7 von meinem Deck erhalte!“ Schon zeigte Valerie ihren [Gishki Aquamirror] vom Ablagestapel und, viel wichtiger, [Evigishki Tetrogre] vor. „Und soll ich dir was sagen? Ich führe das Ritual auch gleich durch! Dafür opfere ich [Gishki Shadow], der – wie du jetzt hoffentlich weißt – sämtliche Kosten trägt! Erscheine aus dem ewigen Strudel, [Evigishki Tetrogre]!“

Wie schon bei Levianima, tauchte aus dem Pool unter dem Jubel der Zuschauer der Ritualspiegel auf, welcher sogleich zersprang. Anschließend begann sich ein Strudel im Wasser zu bilden, welcher Hort einer reptilienartigen Meereskreatur auf zwei Beinen war, welche nun daraus empor sprang.

 

Evigishki Tetrogre [ATK/2600 DEF/2100 (6)]

 

„Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen, Redfield!“, tönte Anya von sich selbst überzeugt.

„Darf ich auf das antworten, was du eben zu mir gesagt hast, Anya?“, fragte deren Kontrahentin plötzlich und zeigte eine Ausrüstungszauberkarte vor.

Die Blondine blinzelte verdutzt. „Huh?“

„Ich aktiviere [Ritual Weapon] – sie bewirkt dasselbe für Ritualmonster, was deine [Fusion Weapon] für Fusionen bewirkt!“

Am Arm von Valeries Monster tauchte eine goldene Armbrust auf.

 

Evigishki Tetrogre [ATK/2600 → 4100 DEF/2100 → 3600 (6)]

 

„Huh!? Ach du-!?“

„Anya“, sagte Valerie mit zufriedener Miene, ehe sie laut ausrief: „Don't fuck with me either! Tetrogre, greife Ruby an! Golden Shot!“

Ehe Anya auch nur reagieren konnte, schoss der Reptilienmann einen Pfeil von der Armbrust, welcher ihren Ritter direkt ins Herz traf. Das Mädchen wich auf dem sehr schmalen Sprungbrett zurück, als dieser in einer Explosion unterging.

 

[Anya: 3200LP → 3100LP / Valerie: 2700LP]

 

„Das gibt’s doch nicht!“ Anyas Augen standen sperrangelweit offen. „Mach mich nicht nach, Redfield!“

„Ich mache dich nicht nach“, erwiderte die belustigt und setze nebenbei ihre letzte Handkarte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. „Ich bin einfach einen Ticken besser. In dem Fall ganze 100 Punkte sogar.“

„Das glaubst aber auch nur du!“

Während die gesetzte Falle vor Valeries Füßen auftauchte, richtete die wieder ihr Augenmerk auf Anya und zeigte auf [Evigishki Tetrogre]. „Bevor ich meinen Zug beende, werde ich noch den Effekt meines Monsters aktivieren. Ich bestimme einen Kartentyp, von dem wir dann jeweils eine Karte vom Deck auf den Friedhof senden. Du könntest das durch das Abwerfen einer Handkarte natürlich verhindern, aber du hast ja keine. Also sage ich: Monster!“

Denn für das, was Valerie vorschwebte, würde sie jedes mögliche Monster in ihrem Friedhof brauchen! Man wusste schließlich nie, wann man die noch brauchen könnte. Also schickte sie [Gishki Marker] auf den Ablagestapel, während Anya dasselbe mit einem ihrer Monster tat.

„Zug beendet!“

 

„Draw!“, fauchte Anya ihr da schon entgegen, noch bevor sie überhaupt mit den Fingern die oberste Karte ihres Decks berührt hatte.

Es musste jetzt etwas Gutes kommen, oder sie war im Eimer! Wie hätte sie auch ahnen können, dass Valerie derart heftig zurückschlagen würde!? Andererseits war das so typisch für sie!

Dabei hatte Anya doch eigentlich gehofft, Garnet als Köder zu benutzen, damit ihre Rivalin für einen Angriff offen stehen würde. Stattdessen hatte sie jetzt selbst nichts mehr zum Angreifen!

Für einen Moment wünschte sich Anya Levriers Fähigkeit, dem Schicksal eine neue Wendung zu verleihen, zurück. Aber … nein. Hier wäre das einfach fehl am Platz, selbst Anya wusste das.

„Ich krieg's auch so hin!“, spornte sie sich dennoch selbst an und zog schließlich. „Lass es bloß was Vernünftiges sein!“

Als sie die Karte in ihrer Hand umdrehte, atmete sie durch. Nicht viel, aber etwas. Eine neue Chance!

„Flipp! Ich decke [Gem-Knight Garnet] in den Angriffsmodus auf!“, rief sie und drehte ihr Monster von der verdeckten, horizontalen Lage auf der Duel Disk in die vertikale.

Sofort sprang ihr Bronzeritter aus der Karte und bündelte in seiner Hand eine Flamme.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

Valerie kommentierte dies milde beeindruckt: „Interessant.“

„Ich aktiviere [White Elephant's Gift]!“, erklärte das Mädchen diese Aktion und hielt die Zauberkarte in die Höhe. „Damit opfere ich ein normales Monster, um zwei Karten zu ziehen!“

Ihr Ritter löste sich in weißen Lichtkügelchen auf und hinterließ einen gleichfarbigen, großen Knochen. Als Anya zweimal gezogen hatte, verschwand auch dieser.

„Hmm“, brummte das Mädchen ärgerlich. Nicht gerade das, was sie sich erhofft hatte. „Ich setze ein Monster und eine verdeckte Karte. Viel Spaß mit deinem Zug, Redfield!“

Schon tauchten die beiden Karten vor Anya auf.

 

„Scheinbar reicht dein Glück nicht aus, um das Spiel zu wenden?“ Valerie zuckte seufzend mit den Schultern. „Schade eigentlich, dich so defensiv spielen zu sehen.“

„Machst du dich über mich lustig, Redfield!?“

„Ein bisschen“, antwortete die und zwinkerte verspielt. „Sieh es als Rache für den Beutel Hunde-AA an, den du letzte Woche in unseren Briefkasten gesteckt hast.“

Die umstehenden Schüler lachten heiter, doch Anya protestierte: „Das war ich nicht! Nick war's!“

„Ich hab ihr nur beim Sammeln geholfen!“, verteidigte der sich panisch mit erhobenen Händen. „Sie hat mich gezwungen! Bitte hau mich nicht, Valerie!“

Die lächelte jedoch beschwichtigend. „Keine Sorge. Anya kriegt dafür die Abreibung, die sie verdient hat, nicht du.“

Wieder lachten die Schüler, woraufhin die Verunglimpfte beinahe vor wütendem Herumgefuchtel mit den Händen ins Wasser gefallen wäre. „Das werden wir erst noch sehen, Redfield!“

„Wie oft hast du das jetzt gesagt? Egal … mein Zug, Draw!“, gab Valerie sich bewusst gelangweilt und nahm ihre Karte auf. Strahlend präsentierte sie diese Anya anschließend. „Oh, ich hab gut gezogen! Ich beschwöre [Gishki Beast]! Und wenn es gerufen wird, holt es ein Gishki-Monster mit maximal Stufe 4 aus dem Friedhof aufs Feld! Also erscheint, [Gishki Beast] und [Gishki Shadow]!“

Vor dem Mädchen tauchten eine amphibische Gestalt, halb Seeungeheuer, halb Echse und ein alter Fischmann, gekleidet in einer schwarzen Robe, auf.

 

Gishki Beast [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

Gishki Shadow [ATK/1200 DEF/1000 (4)]

 

„Du weißt doch, was das bedeutet, oder?“, fragte Valerie ihre Gegnerin verspielt.

Die stöhnte genervt auf. „Ach geh doch sterben, Redfield!“

„Pardon, heute nicht“, erwiderte die und streckte den Arm in die Höhe. Begeistertes Raunen ging durch die Zuschauermenge, als sie rief: „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird nun ein Rang 4-Monster!“

Mitten über dem riesigen Pool tat sich ein schwarzes Loch auf, welches Valeries eben beschworene Monster in zwei blauen Lichtstrahlen absorbierte. „Xyz-Summon! Höre meinen Ruf, oh Wesen aus tausend Legenden! Zeige dich, [Evigishki Merrowgeist]!“

„... und geh anschließend sterben!“, fügte Anya verärgert hinzu, als aus dem Wirbel Valeries Kreatur erschien.

Die wunderschöne Meerjungfrau mit dem roten, welligen Haar schwebte wie ein Geist um das Spielfeld und machte vor Valerie schließlich Halt, direkt neben dem Seeungeheuer. In der Hand hielt sie einen mächtigen Zauberstab, um den ihre beiden Xyz-Materialien in Form von zwei Lichtkugeln kreisten.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

Siegessicher streckte Valerie den Arm aus. Anyas Monster würde wohl kaum genug Verteidigungspunkte haben, um einem Angriff von Merrowgeist zu trotzen. Sie konnte dieses Spiel also noch in diesem Zug gewinnen, vorausgesetzt, Anyas Falle war ein Bluff. Aber das würde sie gleich herausfinden!

„[Evigishki Merrowgeist], greife ihr gesetztes Monster auf gut Glück an! Sceptre Of Foresight!“

Ihre Meerjungfrau stieß einen verständigen Laut aus, ehe sie ihr Zepter in die Luft hielt, es dann auf Anyas Monster richtete und daraus eine Salve von riesigen Seifenblasen abschoss.

Aus deren gesetzter Karte sprang ein Ritter in saphirblauer Rüstung, welcher mit einem Schwenk seiner Hand einen Eiswall zwischen sich und den Blasen schaffte. Jene zerschellten daran, ohne weiteren Schaden anzurichten.

„Da hast du dich wohl verschätzt, Redfield“, flötete Anya und zeigte auf ihren Ritter. „[Gem-Knight Sapphire] hat genauso viele Verteidigungspunkte wie dein Monster Angriffspunkte hat! Sich aufs Glück zu verlassen funktioniert nur bei mir. Sorry, du musst dir was anderes suchen!“

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

„Da hast du wohl recht“, stimmte Valerie ihr zu und lachte heiter.

Auch nicht schlecht, dachte sie dabei insgeheim zufrieden. Es wäre doch schade, wenn Anya nicht wenigstens eines ihrer wirklich großen Geschütze auspacken würde. Nun hatte sie einen Zug mehr, um das zu bewerkstelligen.

„Das reicht aber dennoch nicht, um [Evigishki Tetroge] aufzuhalten! Los, Golden Shot!“

Schon schoss ihr 4100 Punkte starker Amphibienmann einen goldenen Pfeil von der Armbrust ab, der sich durch den Eiswall direkt in Sapphires Brustmitte bohrte. Dieser zerplatzte mit einem lauten Schrei.

„Tch!“

„Bevor ich meinen Zug beende“, erklärte Valerie, „nutze ich den Effekt von Tetrogre erneut, und lasse uns beide ein Monster vom Deck auf den Friedhof schicken.“

So geschah es, dass sie sich von [Gishki Vanity] trennte, wohingegen Anya auf [Gem-Knight Crystal] verzichtete, welchen sie nur ungern aufziehen wollte.

„Das wäre alles“, meinte die Schwarzhaarige abschließend ohne weiteren Handkarten. Aber sie hatte zwei Monster, die Anya das Leben zur Hölle machen würden. Mehr brauchte sie nicht.

 

Indes brauchte Anya dringend etwas. Ein Wunder zum Beispiel.

„So schnell geb' ich nicht auf“, raunte sie mürrisch, „Draw!“

Kaum hatte sie ihre Karte gezogen, betrachtete sie diese und kniff kurz darauf wütend die Augen zusammen. „In einer Situation wie dieser ziehe ich das!?“

Mit 'das' meinte sie [Gem-Knight Emerald].

„Hat das Glück dich verlassen?“, stichelte Valerie amüsiert unter dem Gekicher einiger Zuschauer.

Und erntete dafür eine doppelte Dosis von Anyas Mittelfingern, nachdem diese ihr Monster auf die Duel Disk geknallt hatte. „Davon träumst du!“

Schon tauchte der in eine blassgrüne Rüstung gekleidete Ritter des Smaragds vor ihr auf und hob den Rundschild an seinem Arm.

 

Gem-Knight Emerald [ATK/1800 DEF/800 (4)]

 

„Ich habe gewonnen, Redfield“, erklärte Anya plötzlich mit einem geheimnisvollen Lächeln und schwang den Arm aus. „Falle aktivieren! [Fragment Fusion]!“

Überrascht sah Valerie zu, wie die Karte vor ihrer Gegnerin aufklappte. Jene erklärte: „Mit [Fragment Fusion] verbanne ich Fusionsmaterialien einer Gem-Knight-Fusion und rufe dieses Monster dann aufs Feld. Allerdings stirbt es in der End Phase wieder!“

Überall um Anya herum erschienen die verschiedensten Edelsteine. Aus jedem von ihnen schossen dutzende Lichtstrahlen, die ihn mit den übrigen verbanden. Wie ein Spiegel brach das Lichtgebilde plötzlich in sich zusammen und gab ein Schwert preis, welches vor Anya in der Luft schwebte.

Diese hielt drei Monster in der Hand. „Indem ich [Gem-Knight Garnet], [Gem-Knight Lazuli] und [Gem-Knight Sapphire] verbanne, lasse ich -ihn- erscheinen!“

Die sieben regenbogenfarbenen Edelsteine in der Klinge leuchteten auf. „Drei Lichter kreuzen den Weg des Lichts! Körper, Seele und Herz verschmelzen und werden zu der Macht, die in ihrer Reinheit einem Diamanten gleicht!“

Anya stieß den Arm mit den Monstern in der Hand weit in die Luft. „Werdet eins! Werdet [Gem-Knight Master Diamond]!“

Und schon ging ein wirbelnder Sturm aus funkelnden Partikeln um das Spielfeld und formte sich vor dem Schwert zu einem Krieger in silberner Rüstung und wehendem, rotem Umhang, welcher stolz die Klinge an sich nahm. Gleichzeitig ging Anyas rechte Hand in einer violetten Flamme auf.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 DEF/2500 (9)]

 

„Ah, was ist das für ein Monster!?“

„Cool!“

„Wieso brennt ihre Hand auf einmal!? Ist das irgendein Trick?“

Die Blondine warf mit zusammengekniffenen Augen einen Blick in die Menge ihrer Mitschüler, die alle entweder sie oder ihren Ritter verwundert angafften.

„Das ist nicht gut“, murrte sie leise, „mir ist heute nicht danach, Redfield zu massakrieren. Was meinst du?“

Sie richtete den Blick dabei auf ihre Duel Disk. „Wenn's sein muss …“

Schon verpuffte die violette Flamme an ihrer Hand.

 

„Mit wem redet sie da?“, fragte Abby irritiert Nick, der zusammen mit ihr in einer der hinteren Reihen stand.

„Mit Diamond, wem sonst?“ Nick seufzte schwer und zuckte mit den Schultern. „Schon vergessen? Das ist das Monster, das sie sich vom Jinn gewünscht hat. Es hat besondere Kräfte, fast, als wäre es eine Verkörperung ihres Willens. Er kann realen Schaden anrichten, aber das wäre hier keine gute Idee.“

„Natürlich, das weiß ich.“ Abby drehte sich zu ihm um und sah ihn skeptisch an. „Aber wieso spricht sie dann mit ihrer Duel Disk?“

„Vielleicht“, begann Nick, brach dann aber seinen Gedanken ab. „Ach vergiss es. Sie ist manchmal eben etwas … komisch.“

„Das sagt genau der Richtige“, stichelte Abby und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Duell. „Aber wahrscheinlich hast du recht.“

 

Derweil war auch Valerie schwer begeistert von [Gem-Knight Master Diamond], hatte sie ihn schließlich damals nicht mehr in Aktion sehen können. „Großartig! Endlich hast du deine stärkste Karte aufs Feld gebracht, Anya. Das wird spannend!“

Die Blondine schnalzte nur genervt mit der Zunge. „Das sagst du jetzt. Übrigens solltest du wissen, dass Diamond für jeden Gem-Knight auf meinem Friedhof 100 Angriffspunkte bekommt.“

Sie holte [Gem-Knight Ruby], den einzig dort verbliebenen, aus dem Friedhof hervor und zeigte ihn demonstrativ.

„Das ist zu wenig“, kommentierte Valerie, wobei Enttäuschung in ihrer Stimme mitschwang.

„Wer sagt denn, dass er dort bleibt?“ Anya verzog ihre Augen zu schmalen Schlitzen. „Ich werde jetzt das nachholen, was ich damals im Turm nicht tun konnte …“

„Wovon redest du?“

„Ich aktiviere [Gem-Knight Master Diamonds] Effekt! Ich kann damit ein Gem-Knight-Fusionsmonster vom Friedhof verbannen, damit Diamond bis zum Ende des Zuges dessen Effekt übernimmt!“ Mit fest entschlossenem Blick schob sie ihren [Gem-Knight Ruby] in die Hosentasche.

Daraufhin hob Diamond sein Schwert mit beiden Händen an und absorbierte mit dem Rubin, welcher ganz oben an der Klinge befestigt war, einen Lichtstrahl, welcher aus Anyas Friedhofsschacht geschossen kam. Anschließend begann der stolze Ritter in einer roten Aura zu glühen.

„Das ist-!“, erkannte Valerie geschockt, als sie verstand, was Anya damit beabsichtigte.

„Dein Ende! Denn Ruby kann andere Gem-Knights opfern, um sich selbst zu stärken! Los, absorbiere Emerald! Und durch Diamonds ersten Effekt bekommt er noch 100 Angriffspunkte zusätzlich, weil Emerald auf dem Friedhof landet!“

Auch Anyas anderer Ritter löste sich in einen grünen Lichtstrahl auf, welcher mit dem Smaragd am Schwert des Gem-Knight Meisters absorbiert wurde.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 → 4800 DEF/2500 (9)]

 

„Ah!“

Valerie wich überrumpelt zurück, als sie sah, wie stark Anyas Ritter plötzlich war.

„Ganz recht, Redfield!“, donnerte Anya mit ausgestrecktem, auf sie gerichtetem Zeigefinger. „Deine hübsche Meeresprinzessin hat 2100 Angriffspunkte, du noch 2700 Leben. Schon fertig gerechnet, huh!?“

Jedoch kam aus Valeries Kehle kein Laut, anders als bei den nicht weniger überrumpelten Schülern. Sie war einfach nur beeindruckt, wie gut Anya in den letzten Monaten geworden war. Und das ohne besondere Kräfte eines Paktdämons. Zufrieden schloss das Mädchen die Augen. „Ich denke, jetzt habe ich alles gesehen …“

„Du siehst jetzt Sterne und anschließend Poolwasser, Redfield!“, schrie Anya lauthals.

Wissend, dass die Inkarnationen fort waren und sich ihr nicht mehr in den Weg stellen würden – und selbst wenn sie es täten, konnte Diamond dank Rubys zweiter Fähigkeit immer noch Durchschlagschaden zufügen – befahl sie: „Angriff, Diamond! Shining Wave Breaker!“

Ihr Ritter hob die Klinge mit beiden Händen an und schwang sie in einer horizontalen Linie aus. Von ihr löste sich Kristallstaub, der sich in eine gleißende Schockwelle verwandelte, die direkt auf [Evigishki Merrowgeist] zu raste.

Valeries Mundwinkel zuckten. „Gut gespielt, Anya … aber nicht gut genug!“

„Huh!?“

„So leicht kriegst du mich nicht klein! Ich aktiviere meine Falle! [Aquamirror Cycle]!“

Die gesetzte Karte sprang vor dem schwarzhaarigen Mädchen in der knappen Bekleidung und dem Cowboyhut auf dem Kopf auf. Jener stand der Schweiß auf der Stirn. „Mit ihr schicke ich ein Wasser-Monster in mein Deck zurück und erhalte dafür zwei Wasser-Monster von meinem Friedhof!“

Unter einem erschrockenem Schrei sah Anya mit an, wie sich Merrowgeist in weiße Partikel auflöste. Diamonds Angriff ging daneben, machte einen Bogen um Valerie und traft nun stattdessen den 4100 Angriffspunkte starken [Evigishki Tetrogre] in den Rücken. Welcher laut kreischend explodierte.

 

[Anya: 3100LP / Valerie: 2700LP → 2000LP]

 

Valerie indes zeigte die beiden Monster vor, die sie sich vom Friedhof ausgesucht hatte. Es waren [Gishki Beast], welches auf den Friedhof zurückgelegt wurde, als sie [Evigishki Merrowgeist] ins Extradeck geschickt hatte und [Gishki Marker].

Dank Tetrogres Effekt war es ihr möglich gewesen, für [Aquamirror Cycle] Vorarbeit zu leisten, um die verschiedensten Optionen auskosten zu können, falls Anya sie zu überrumpeln versucht. Sie hatte das alles in etwa vorhergesehen, dachte Valerie zufrieden.

Ihre Gegnerin indes war regelrecht zur Salzsäule erstarrt vor Schreck.

„Hat's dir die Sprache verschlagen, weil du das falsche Monster erwischt hast?“, hakte Valerie stichelnd nach. „Kopf hoch, das war trotzdem ein großartiger Move!“

„Halt die Klappe, Redfield! Warum kannst du nicht einfach ster- ich meine verlieren!?“

„Ich bin halt“, grinste ihre Rivalin und hob provozierend den Daumen und zeigte damit auf ihre Brust, „einfach gut.“

„Das sind mein Spruch und meine Geste!“

„Eher deine End Phase. Und aufgrund des Effekts von [Fragment Fusion] wird dein [Gem-Knight Master Diamond] jetzt verschwinden!“

Anyas Augen weiteten sich, als sie erkannte, dass das stimmte. Ihr mächtigster Ritter zersprang in tausend Teile und hinterließ sie mit einem völlig leeren Feld und ohne Handkarten. Sie war komplett aufgeschmissen!

Die Zuschauer murmelten wild und schlossen bereits Wetten ab, dass Anya den nächsten Zug nicht überstehen würde.

 

„Mein Zug! Draw!“, rief Valerie und zog ausholend. Ihre gezogene Zauberkarte betrachtend, nahm sie anschließend eine andere Karte zufrieden aus ihrem Blatt und legte sie auf die Duel Disk. „Monsterbeschwörung! Ich rufe [Gishki Beast]!“

„Nicht das schon wieder!“

„Doch! Und es ruft abermals [Gishki Shadow] im Verteidigungsmodus vom Friedhof!“

Wie schon in Valeries letztem Zug tauchten die Amphibienkreatur und der Fischmann in der schwarzen Robe vor Valerie auf.

 

Gishki Beast [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

Gishki Shadow [ATK/1200 DEF/1000 (4)]

 

„Sorry Anya, meine kleine Merrowgeist hat noch nicht genug gespielt!“ Valerie streckte den Arm mit ihren Monstern zwischen den Fingern weit in die Höhe. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

„Hab ich ein beschissenes Déjà-vu oder was!?“

„Ein bisschen“, antwortete Valerie zwinkernd, als sich ihre beiden Monster in blaue Lichtstrahlen verwandelten und vom Überlagerungsnetzwerk, welches sich vor ihnen als schwarzer Wirbel auftat, aufgesogen wurden. „Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Kehre zurück, [Evigishki Merrowgeist]!“

Ein feierliches Lied in einer unbekannten Sprache singend, erhob sich die rothaarige Meerjungfrau mit ihrem langen Leib und den flügelartigen Flossen aus dem Strom und gesellte sich mit gezücktem Zauberstab vor Valerie. Zwei Lichtkugeln tanzten um sie.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 DEF/1600 {4}]

 

„Jetzt aktiviere ich den Effekt meines [Gishki Aquamirrors] auf dem Friedhof!“, tönte Valerie selbstbewusst und zeigte den Ritualzauber vor. „Ich mische ihn ins Deck zurück, um ein verlorenes Gishki-Ritualmonster auf die Hand zu bekommen!“

Kaum hatte ihre Duel Disk den Zauber von selbst ins Deck eingezogen und jenes durchgemischt, hielt Valerie schon [Evigishki Tetrogre] in der Hand.

„Was wird das, wenn's fertig ist?“, wollte Anya irritiert wissen.

„Ach, ich sammle nur etwas Abwurfmaterial … für diese Karte! [Card Destruction]!“ Ihre Rivalin rammte die Zauberkarte regelrecht in den dazugehörigen Slot der Duel Disk. Jene Magie tauchte in vergrößerter Form vor ihr auf und zeigte eine dämonische Hand, die nach Karten reichte, welche sich von ihr entfernten. „Durch sie werfen wir beide unser Blatt ab und ziehen dieselbe Zahl an entsorgten Karten wieder auf. Da du keine Hand hast und meine zwei Karten umfasst, ziehe ich also zweimal!“

Valerie schob ihre beiden Monster, [Gishki Marker] und [Evigishki Tetrogre], in den Friedhofsschlitz und zog anschließend zweimal hastig auf. Sie wollte es beenden, jetzt! Und zwar als Siegerin!

Und als sie ihre Karten betrachtete, wusste sie, dass sie dieses Ziel auch umsetzen konnte.

„Das war ein guter Kampf, Anya. Vielleicht der beste, den ich je hatte“, meinte sie stolz.

„Er ist noch nicht vorbei!“

„Leider schon! Ich aktiviere von meiner Hand eine letzte Zauberkarte! [Aqua Jet]! Sie erhöht die Angriffskraft eines meiner Aqua-, Seeschlange- oder Fisch-Monster um 1000 und das dauerhaft!“

Anya klappte die Kinnlade herunter. „Eh!?“

Doch schon erschienen an den Flossen von Valeries Meerjungfrau zwei mächtige Jetdüsen.

 

Evigishki Merrowgeist [ATK/2100 → 3100 DEF/1600 {4}]

 

Valerie verschränkte die Arme. „Das reicht genau aus, um deine restlichen Lebenspunkte auszulöschen!“

Jubel drang von den Zuschauerreihen zu ihnen. Nicht wenige freuten sich darüber, dass Anya jeden Moment eine kalte Dusche bekommen würde, wenn sie ihre eigene Wette verlor und ins Wasser springen musste.

Jedoch dachte jene im Moment gar nicht an das, was sie vor dem Duell bestimmt hatte. „Wie machst du das nur!? Wie kannst du jedes Mal, wenn ich einen guten Zug hinlege, mit einem noch besseren kontern!? Das ist nicht fair!“

„Hör auf zu schmollen, Anya. Es ist einfach nur ein Spiel. Hab Spaß daran!“

„Wo macht verlieren bitte Spaß!?“

Valerie grinste sie frech an. „Mir wird es auf jeden Fall Spaß machen, dich gleich pitschnass zu sehen! Wenn du nicht möchtest, dass deine Kleidung nass wird, kannst du sie natürlich vorher ablegen … wenn du die Figur dazu hast.“

„Redfield, du miese-!?“

 

Jedoch lachte die köstlich amüsiert über die Empörung ihrer Gegnerin. „Ich mach doch bloß Witze, von mir aus musst du nicht ins Wasser springen. Aber verlieren wirst du dennoch! Los, [Evigishki Merrowgeist], greife ihre Lebenspunkte direkt an! Sceptre Of Foresight!“

Die Meerjungfrau hob ihren Zauberstab und hielt ihn hoch in die Luft. Aus seinem Kernstück an der Spitze schoss mit einem Schlag ein ganzes Geschwader an Seifenblasen, die auf Anya zielten. Und sie spiegelten sich in den weit aufgerissenen Augen des Mädchens wieder, als sie ihm entgegen kamen. Das hieß, bis sie jene fast bis zum Anschlag zusammenkniff. „Vergiss es, Redfield!“

Mit einem lauten, inbrünstigen Kampfschrei streckte sie den Arm mit der Duel Disk vor.

Aus dem Friedhofsschacht zwängte sich urplötzlich ein kugelrundes, braunes Fellknäuel, nicht größer als Anyas Kopf, und stellte sich dem Angriff mutig in den Weg. Sein kleiner, grauer Umhang und die schwarze Sonnenbrille gaben unschwer zu erkennen, dass es sich nur um ein Monster handeln konnte.

„[Kuriboss]! Erinnerst du dich, Redfield!? Dein dämlicher Oger hat mich gezwungen, Monster von meinem Deck abzuwerfen und das erste von beiden war er! Und indem ich ihn vom Friedhof verbanne, annulliere ich den Kampfschaden!“

„Kuri!“, rief der Boss der Kuriboh-Familie stolz und ließ sich mit ausgebreiteten Pfötchen von den Blasen treffen, ehe die letzte ihn mit ins Unglück riss. „Kuriiii!“

Zusammen mit ihr verpuffte das Fellknäuel.

„Da ich meinen Kampfschaden annulliert habe, darf ich dummerweise keine Karte durch [Kuriboss'] anderen Effekt ziehen“, gab Anya gallig von sich. „Aber du hast versagt, Redfield! Mal wieder …“

Valerie indes schlug sich fassungslos an die Stirn. Dieses Mädchen war so hartnäckig wie kein anderer Gegner, gegen den sie sich jemals duelliert hat. Und genau das machte das Duell so spannend.

„Du magst ja meinen Angriff abgewehrt haben, aber an deiner Situation ändert sich dadurch nichts! Ich setze diese Karte verdeckt und beende den Zug“, rief Valerie entschlossen. Die Falle materialisierte sich vor ihren Füßen. „Ich lasse dich nicht gewinnen, Anya!“

Wofür sie von den meisten Schülern lauten Zuspruch erhielt. Aber längst nicht von allen, denn manche waren regelrecht begeistert davon, wie gut sich Anya gegen Valerie behauptete.

 

Tief durchatmend schloss das blonde Mädchen die Augen. Irgendwie war dieses Duell das beste, das sie seit langer Zeit hatte. Natürlich kam es vom Nervenkitzel her nicht an das gegen Isfanel heran, aber nur sie und Redfield, das war die letzte Hürde. Wenn sie die besiegen konnte, hatte sie alles erreicht. Erst danach würde sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Ersatz als Erzrivalin machen können.

Und deswegen musste die nächste Karte die beste sein, die sie jemals gezogen hatte.
 

„Ich brauche deine Hilfe, Partner“, murmelte sie leise und fasste mit noch immer geschlossenen Lidern nach ihrem Deck. „... ich weiß. Aber du verstehst, was ich meine.“

Dann griff sie die Karte, öffnete die Augen und riss sie mit vollem Schwung vom Deck. „Draw!“

Valerie glaubte für eine Sekunde, einen Stich in ihrer Brust gefühlt zu haben, aber er verging so schnell, dass sie nicht wusste, ob er überhaupt real gewesen war.

„Das ist es“, murmelte Anya und betrachtete ehrfürchtig ihre gezogene Karte. „Hast du … ? Ich!? Unmöglich, das kann ich schon lange nicht mehr!“

„Mit wem redest du da, Anya?“, fragte Valerie äußerst verwirrt.

Ihre Gegnerin wurde aus ihrem merkwürdigen Selbstgespräch gerissen und erwiderte gallig: „Das geht dich gar nichts an, Redfield! Aber wenn du schon deine operierte Nase in meine Angelegenheiten stecken willst, warum nimmst du dann nicht einfach eine Kostprobe!?“

Wütend knallte sie die Karte auf ihre alte Battle City-Duel Disk. „Ich beschwöre [Gem-Knight Turquoise]!“

Die letzte der fünf Karten des Jinns! Und eine der besten in ihrem ganzen Deck!

Vor dem Mädchen materialisierte sich ein Ritter in hellblauer Rüstung. In sie eingelassen waren an Armen und Beinen feingeschliffene Türkise. Als Waffe benutze er einen Bogen.

 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]

 

„Egal woher er kommt“, murmelte Anya, „ich nehme ihn dankend an! Ich verbanne [Gem-Knight Emerald] von meinem Friedhof und erhalte so [Gem-Knight Fusion] von dort zurück auf meine Hand!“

Zwischen Mittel- und Zeigefinger zeigte das Mädchen den Zauber vor.

„Du willst wieder fusionieren?“, wunderte sich Valerie. „Mit einem Monster geht das nicht! Und du besitzt außer Turquoise weder auf der Hand noch auf dem Feld andere Monster!“

„Vielleicht will ich was anderes damit anstellen?“, entgegnete Anya mit herausgestreckter Zunge. „Effekt von Turquoise aktivieren! Indem ich [Gem-Knight Fusion], und zwar nur die, abwerfe, beschwört er einen verbannten Gem-Knight auf mein Feld. Erscheine, Garnet!“

Neben Anyas Ritter tauchte aus einer Stichflamme sein Kamerad in bronzener Rüstung wieder auf.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Also doch eine Fusion“, mutmaßte Valerie nachdenklich. „Aber was könnte … ?“

„Falsch!“ Anya nahm ihre beiden Monster von der Duel Disk und legte sie übereinander gestapelt wieder drauf. „Ich erschaffe das Overlay Network! Die zwei Stufe 4-Monster …“

Welche sich in braune Lichtstrahlen verwandelten und von einem schwarzen Galaxienwirbel absorbiert wurden, der sich mitten über dem Pool auftat.

„...werden zu einem Rang 4-Monster! Gib alles, Partner! [Gem-Knight Pearl]!“

Aus dem Wirbel entstieg ein schlichter, weißer Ritter mit verschränkten Armen. Um ihn herum kreisten sowohl sieben überdimensional große Perlen, als auch zwei Lichtsphären. Stolz gesellte er sich an Anyas Seite.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Valerie blinzelte verdattert. „Aber Pearl hat keinen Effekt, oder!? Anya, du hättest besser eine Fusion machen sollen, nicht-!“

„Tch“, zischte Anya und drehte hochnäsig den Kopf zur Seite. Aus den Augenwinkeln warf sie jedoch einen bitterbösen Blick auf ihre Rivalin. „Denkst du, ich weiß nicht, wie ich mein Deck spielen muss?“

„Dann klär mich auf!“

„Gerne doch.“ Anya griff unter Pearls Karte und zog die beiden Xyz-Materialen hervor, die sie Valerie stolz präsentierte. „Ich aktiviere den Effekt …“

„Von Pearl!? Unmöglich, er hat-!?“

„... von [Gem-Knight Turquoise]! Wenn ich ihn und ein anderes Gem-Knight Xyz-Material von einem Xyz-Monster abhänge, verdopple ich die Angriffskraft meines Pearls temporär!“

Valerie fiel aus allen Wolken. „Verdoppeln!?“

Pearl streckte plötzlich seine Glieder so weit es ging durch und begann in blauer Aura aufzuleuchten. Aus seiner Brust wuchs ein Pfeil, der die beiden um ihn kreisenden Sphären absorbierte und dann wieder in dem Krieger verschwand. Dabei schwebte er höher und höher über Anya hinaus.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 5200 DEF/1900 {4}]

 

„Rechne, Redfield“, gurrte Anya genüsslich und wandte sich ihrer Gegnerin wieder zu, „rechne gut!“

 

[Anya: 3100LP / Valerie: 2000LP]

 

Valeries Augen weiteten sich. [Evigishki Merrowgeist] besaß dank [Aqua Jet] 3100 Angriffspunkte, was nicht ausreichte, um sie vor einem Angriff Pearls zu schützen!

„Wie machst du das!? Wie findest du immer wieder ins Spiel zurück!?“ Die Schwarzhaarige war beeindruckt von so viel Hartnäckigkeit. „Und da beschwerst du dich über mich, Anya?“

Anya zuckte unbedarft mit den Schultern. „Ich bin halt besser geworden. Dank ein bisschen Hilfe von gewissen Leuten …“

Ihre Gegnerin stöhnte resignierend. „Wen du damit wohl meinst …“

„Ist auch egal, Redfield. Da das nun geklärt ist“, murmelte Anya und sah hinauf zu ihrem Pearl, „blow her to bits, Levrier! Blessed Spheres Of Purity!“

„Levrier!?“, schoss es aus der verdutzten Valerie heraus.

 

Wenn es unbedingt sein muss.

 

Die Perlen rund um Anyas Ritter begannen nach und nach aufzuleuchten, ehe sie wie Kanonenkugeln auf Valeries Meerjungfrau abgefeuert wurden. Doch sie wich ihnen nach und nach aus, stieg dabei immer höher mit ihren Jetantrieben durch die Luft. Allerdings verfolgten sie die Lichtsphären dabei gnadenlos.

„Levrier“, murmelte Valerie. Plötzlich huschte ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht. „Ihr seid also immer noch Partner? Aber ich dachte, er wäre fort?“

„Er ist jetzt 'ne Karte“, brummte Anya und rümpfte die Nase. „Das letzte Krümelchen, was von ihm übrig geblieben ist, steckt jetzt in seiner nutzlosen Paktkarte. Und ich dachte schon, ich wäre ihn endlich los …“

„Dann ist er jetzt wie ein Duellgeist aus den Fernsehserien? Wie schön.“

Verärgert ballte Anya eine Faust und keifte Valerie an. „Daran ist nichts schön, gar nichts! Dauernd taucht er auf und geht mir auf die Nerven! Nicht mal schlagen kann ich ihn, weil er immer noch keine physische Gestalt hat!“

Die Schwarzhaarige schmunzelte vergnügt. „Ist das so? Dann greife ich dir mal etwas unter die Arme, was das angeht!“

„Huh? Was meinst-!?“

Doch vor Valerie sprang bereits die gesetzte Fallenkarte auf. „Ich aktiviere [C-]“

 

Anya Bauer! Warum hast du nicht daran gedacht, mich zu schützen!?

 

[Gem-Knight Pearl] drehte sich zu Anya, änderte aber trotz vorwurfsvollem Tonfall nicht seine stolze Körperhaltung.

„Hey! Ist doch nicht meine Schuld, dass sie da noch was liegen hatte! Was hätte ich sonst tun sollen!?“

„Anya, der Effekt meiner Falle!“

„Schnauze, Redfield! Wenn die Kekse reden, haben die Krümel still zu sein!“

 

Wir müssen ein ernstes Wort darüber reden, wie du mich richtig einzusetzen hast! Denk daran, dass-

 

„Schnauze, Levrier!“

„Meine Falle, Anya! Passt du bitte auf!?“

„Ich sagte, du sollst warten, Redfield!“

Anya raufte sich schon vor Wut durch die Haare, weil sie sich nicht um beide gleichzeitig kümmern konnte.

 

„Wovon reden die da?“

„Pakt?“

„Duellgeist?“

Abby seufzte ob der Ahnungslosigkeit ihrer Noch-Mitschüler. „Musste Anya das jetzt so hinausposaunen?“

Überrascht beugte sich Nick mit dem Kopf über ihre Schulter. „Du wusstest davon?“

„Nein, aber irgendwie habe ich es gefühlt. Und jetzt, wo er auf dem Feld ist, höre ich ihn, zumindest schwach. Du nicht?“

Nick lachte kurz auf. „Nein, in mir fließt eben kein Dämonenblut. Sofern es daran liegt. Schade … dass Anya uns das nicht erzählt hat.“

„Das kommt noch. Irgendwann, wenn sie über dich die Wahrheit weiß und mir mehr zutraut, als ihre Hausaufgaben zu machen. Bis dahin sollten wir froh sein, dass jemand ein Auge auf sie wirft, wenn wir mal verhindert sind.“

Die beiden sahen sich kurz an, ehe sie stumm und freudestrahlend nickten.

 

~-~-~

 

„... Ernie Winter!“

Stolz trat der schmächtige, weißblonde junge Kerl vor Mr. Bitterfield und nahm seine Urkunde entgegen. Und das völlig unverletzt, wo er sich doch nach dem Ausgang des Duells über Anya lustig gemacht hatte.

„Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Teilnahme am Livington High Duel Cup. Du hast dein Bestes gegeben.“

„Danke, Mr. Bitterfield“, piepste Ernie und schüttelte die Hand des rundlichen Mannes zaghaft.

„Damit sind wir durch“, meinte Mr. Redfield, der zusammen mit dem Direktor diese kleine Überraschung an die Schüler verteilte. „Mit diesem Zeugnis könnt ihr euch um einen Platz an einer der Duel Akademien für Erwachsene bewerben.“

Die Schülerschaft, die im Raum verteilt stand, klatschte begeistert. Daraufhin setzte fetzige Punkmusik ein und die Schüler begannen ausgelassen zu tanzen.
 

„Das ist wirklich nett von ihnen“, schwärmte Abby, „uns noch eine kleine Hilfestellung auf den Weg zu geben …“

Anya pfiff verächtlich. „Ja, unglaublich toll.“

„... für diejenigen von uns, die nicht ganz so gute Zeugnisse haben, Anya!“, setzte ihre Freundin mit düsterem Tonfall hinterher. „Sei dankbar!“

Die Blondine hielt ihre Urkunde, die eigens für den heutigen Tag angefertigt worden war, in beiden Händen und warf einen missbilligenden Blick darauf. „Was für'n Scheiß! Die Hälfte derer, die eine bekommen haben, hat verloren! So, wie das hier auf dem Wisch draufsteht, hat es sich doch gar nicht abgespielt! Vorgedruckter Dreckskack!“

„Es geht nicht um Sieg oder Niederlage“, antwortete Abby altklug, während sie ihre mit einer Hand hinter dem Rücken verbarg, „sondern um die Geste. Sie haben sich das extra für uns ausgedacht. Ist doch egal, ob vielleicht nicht alles stimmt, was da drin steht.“

„Seit wann duldest du denn kleine Flunkereien?“, fragte Anya stutzig und legte dabei ihren Rucksack vor sich ab, um die Urkunde zu verstauen.

Abby seufzte verträumt. „Heute ist es okay, schätze ich.“

„Gegen wen hast du überhaupt gekämpft?“

„Nicht so wichtig“, gluckste ihre Freundin vergnügt, „unser Duell hat zwar nicht solange gedauert wie deines, aber es war sehr … unterhaltsam, hihi.“

„Erinnere mich nicht daran!“, fauchte Anya und schulterte ihren Rucksack. „Wie dem auch sei, ich gehe jetzt! Wir sehen uns, Masters!“

„Jetzt schon!? W-warte!“

 

Anya zog bereits an den Schülern vorbei, die sich überrascht umdrehten, weil das Mädchen die Party als Erste verließ. Der eigens bestellte DJ, welcher in der Ecke des Zimmers sein Zeug aufgebaut hatte, ließ sogar die Musik verstummen. Abby folgte ihr hastig, blieb dann aber stehen.

„Das war ein tolles Duell!“, rief sie Anya hinterher, da diese sie scheinbar ignorierte. „M-machs gut!“

„Ja, super, Anya!“

„Ich wusste gar nicht, dass du so gut bist!“

„Wiederholt das doch mal!“

„Ja, ein Stripduell!“

Anya wirbelte mit vor Wut geweiteten Augen ob des letzten Ausrufs um und erkannte, dass alle sie anstrahlten. Manche vielleicht aus Furcht vor ihr etwas gekünstelt, aber egal. Selbst Redfield, die gerade in ein Gespräch mit ihrem Vater verwickelt war, winkte Anya zwinkernd zum Abschied zu.

„Man bin ich froh, nie wieder eure Fratzen sehen zu müssen“, giftete Anya und drehte sich wieder um. Ohne lästige Verfolger durchschritt sie den Flur und war gerade an der Haustür angelangt, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

„Willst du schon gehen, Schatz?“, fragte Sheryl enttäuscht.

„Ist okay, Mum“, erwiderte Anya, ohne sich umzudrehen, „sowas ist eh nicht mein Ding. Ich gehe zu Fuß nachhause.“

„Wie du meinst“, antwortete ihre Mutter mit dem Wissen, dass sie ihre sture Tochter ohnehin nicht zum Bleiben überreden können würde. „Ich bring dir etwas vom Buffet mit, wenn ich wiederkomme.“

„Danke. Dann bis später.“

„Ja. Pass auf dich auf, Schätzchen.“ Sheryl ließ ihre Tochter los und ging zögerlich zurück ins Wohnzimmer, aus dem jetzt wieder laute Musik drang. Dabei murmelte sie noch: „Diese Anya …“

 

Warum willst du schon gehen?

 

Pearls durchsichtiges Abbild erschien neben Anya mit verschränkten Armen.

„Klappe, Levrier … ist besser so. Ich hab bekommen, was ich wollte.“

Das Mädchen zog aus der Innentasche ihrer Lederjacke ein Foto, auf dem sie, Abby, Nick, Redfield, Marc und all die anderen abgebildet waren. Es war nach dem Duell geschossen worden. Und außer ihr lächelten alle darauf fröhlich.

„Hmpf!“

Sie steckte es wieder zurück in die Tasche.

Nachdem sie sich sicher war, dass niemand mehr in ihre Richtung blickte, sah Anya doch noch einmal über die Schulter. Und lächelte glücklich.

 

Wie man sieht, ist alles anders und doch so wie immer. Die Zeiger der Zeit drehen sich für mich weiter, obwohl ich diesen Tag nicht hätte erleben dürfen. Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, werde ich die Schule ein bisschen vermissen. Eishockey, nervige Knirpse, unmöglich schwere Geschichtstests und vielleicht sogar ein kleines Bisschen Redfield.

nein, nie im Leben, streicht das Letzte! Die blöde Ziege kann von mir aus ruhig nach Florida auswandern, mir doch egal!

Aber dass mein Leben weiter geht, habe ich nur ihnen zu verdanken. Meinen Freunden. Danke, ihr alle.
 

Damit drehte sie sich um und verschwand endgültig aus der Haustür. Um den ersten Schritt Richtung Zukunft zu gehen, denn ihr hatte sich ein vollkommen neuer Pfad eröffnet …

 

 

[SEASON 1: THE END]

The Last Asylum Movie "Second Coming" - Part I

Zur Info: Dieses Special spielt zwischen Folge 35 und 36.

 

Yu-Gi-Oh! The Last Asylum – The Movie Part I

 

 

Unter lautem Getöse machte der Zug Halt am Livingtoner Bahnhof. Als die Türen sich öffneten, sprang augenblicklich eine junge Frau aus dem Waggon und gluckste vergnügt. Die vielen Leute um sie herum störten die Blondine gar nicht. Zumindest nicht bis zu dem Augenblick, als ein anderer Fahrgast neben ihr aus dem Zug trat und sie dabei anrempelte.

„Hey, pass' doch auf und steh nicht im Weg 'rum!“, pflaumte der kahl rasierte Jugendliche sie an und zog mit Händen in den Taschen von dannen.

„Entschuldigung, war nicht mit Absicht!“, rief sie ihm aufrichtig schuldbewusst hinterher.

„Tara“, sagte da ein hoch gewachsener, schwarzhaariger Mann und packte sie sanft am Oberarm, „du stehst wirklich im Weg. Gehen wir ein Stück beiseite, ja?“

Nickend stimmte sie ihm zu und schritt mit ihm zu den Treppen, die hinab zu den Schließfächern, Fahrkartenautomaten und nicht zuletzt zum Ausgang führten.
 

Dabei gaben die zwei ein wirklich seltsames Paar ab.

Tara Hartwell, ihres Zeichens Tollpatsch Nummer 1, blond, blauäugig und naiv, mit ihrem schulterlangen Haar und dem schwarzweiß-linierten Kleid, stellte noch ein ganz normales Mädchen dar. Vielleicht war da noch etwas Babyspeck im Gesicht, aber die freundlichen Züge und das ewige Strahlen vermittelten den Eindruck eines aufgeschlossenen, lebensfrohen Menschen.

Wäre sie zudem die Sonne, hätte ihr Begleiter – der im Übrigen die wenig glanzvolle Aufgabe des Gepäckträgers innehatte – einen perfekten Mond abgegeben. Schwarz war sein kurzes, nach oben gegeeltes Haar, genau wie sein Mantel und das darunterliegende Hemd. Selbst seine Augen hielt er hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Und wo Tara lächelte, verzog dieser junge Mann keine Miene.

„Andrew“, begann das Mädchen zögerlich, während es sich an dem Geländer festhielt, welches die Treppe nach unten in zwei Hälften trennte, „meinst du, er ist wirklich noch hier? In dieser Stadt?“

„Das ist, was ich herausgefunden habe. Die Leute hier haben jemanden gesehen, der auf seine Beschreibung passt, erst vor ein paar Tagen.“

Da Andrew Shanks allerdings ein hoffnungsloser Realist war, konnte er nicht gegen die folgende Antwort ankämpfen: „Aber wenn er es wirklich ist, dann stehen die Chancen schlecht, dass wir ihn noch finden werden.“

„Warum?“

Tara blieb auf der letzten Stufe stehen und sah ihren Begleiter unsicher an.

Dieser erwiderte, an ihr vorbeiziehend: „Entweder weil er dann schon längst im Gefängnis sitzen wird. Oder, und das hoffe ich für ihn, weil er abgehauen ist, nachdem dieser Turm in sich zusammenbrach. In dem Chaos hat er sicher gute Chancen gehabt, unentdeckt zu bleiben.“

Zurück zum Bahnsteig sehend, konnte sich die Blondine einen betrübten Seufzer nicht verkneifen.

„Oh Matt, du hast dich doch nicht erwischen lassen, oder?“

„Das herauszufinden ist der Grund, warum wir hier sind“, sagte Andrew, der schon ein ganzes Stück weiter die Treppe herab gegangen war und hielt an, „wir sind hier, um meinen Freund aus Kindheitstagen … deinen Freund zu finden.“

Sich gut zuredend, dass sie Matt schon finden würde, eilte das Mädchen dem Schwarzhaarigen hinterher bis zum Ausgang des Bahnhofs.

 

Jahrelang hatte sie ihn nicht gesehen, weil er wegen Mordes gesucht wurde und untergetaucht war. Er, ihr Freund Matt Summers, hatte seinen eigenen Vater umgebracht.

Tara wusste, warum er das getan hatte. Mr. Summers war ein schrecklicher Mensch gewesen, der selbst vor Gewalt gegenüber seiner Familie nicht zurückgeschreckt war. Und selbst nach seinem Tod hatte er es noch geschafft, seinen Sohn zu entwurzeln. Wie sehr musste Matt gelitten haben in dieser Zeit?

Das schlechte Gewissen plagte Tara seither, denn sie hatte nie versucht, ihn ausfindig zu machen. Erst als Andrew nach sechs langen Jahren vor Kurzem wieder in seine alte Heimat zurückgekehrt war und erfuhr, was sich in der Zeit seiner Abwesenheit zugetragen hatte, sind aus Gedankenspielen Pläne für die Zukunft geworden. Ohne ihn würde sie jetzt wohl nicht hier stehen.

Ehe Tara sich versah, war sie zusammen mit Andrew, der Hinweise auf Matts Verbleib gesammelt hatte, nach Livington aufgebrochen. Dort, wo Matt zuletzt gesehen worden war.
 

„Ist er immer noch er? Nach all der Zeit?“, fragte Tara leise, als sie durch die offen stehende Flügeltür nach draußen traten. Das Abendrot stand bereits am Himmel.

„Wer weiß das schon. Er könnte jemand ganz anderes sein“, überlegte Andrew und ließ die beiden Koffer in seiner Hand nach unten sinken, sah sich kurz nach einem Taxi um. „Ein Mord verändert Menschen, Tara.“

 

~-~-~

 

Einige Stunden zuvor …

 

„Anya, hör auf damit! Er wird noch ersticken!“

Doch die Blondine mit dem Pferdeschwanz ließ sich auch auf Bitten ihrer besten Freundin Abigail Masters, kurz Abby, nicht davon abbringen, das vor ihr klaffende, etwa zweieinhalb Meter lange und einen Meter breite Loch im Boden zuzuschippen.

Der Garten der Familie Bauer hatte erst vor Kurzem durch einen Brand gelitten, der einen Teil der Rasenfläche versengt hatte. Anya nutzte diese Fläche in jenem Moment nun dafür, ihren anderen besten Freund, Nick Harper, zu verbuddeln. Was sie bereits so gut wie geschafft hatte.

„Ich wollte- buargh!“, begann der groß gewachsene, brünette Mann, der rücklings in dem fein säuberlich vorbereiteten Loch lag, bekam aber mitten im Satz eine Schippe voll Dreck ins Gesicht.

Während Nick prustete und spuckte, ereiferte sich Anya über alle Maße zornig: „Ja, was wolltest du? Mich umbringen!? Hättest du fast geschafft, du gehirnamputierter Höhlentroll!“

„Er hat dich nicht erkannt! Niemand hätte das!“, versuchte das brünette Hippiemädchen Abby zu schlichten und hüpfte dabei, unschlüssig was sie tun sollte, von einem Bein aufs andere.

„Und deswegen ist das Erste was er macht, nachdem der kack Turm explodiert ist, mit dir und einem Skalpell bewaffnet dahin zu rennen!?“

 

Die Geschichte dazu ist simpel wie kurz erzählt.

Es war gerade erst ein paar Tage her, dass Anya um ein Haar gestorben wäre. Gestorben deshalb, weil die übernatürliche Wesenheit Levrier etwa vor drei Monaten einen Pakt mit ihr geschlossen hatte, welcher besagte, dass sie beide am 11. November 20XX Eden werden sollten – was Anyas Tod bedeutet hätte.

Diesem Schicksal war sie aber kurz vor Zwölf doch noch entkommen. Zusammen mit denen, die ebenfalls für das Öffnen des Tores Eden geopfert werden sollten, denn wie sich herausstellte, wollte eine andere Wesenheit namens Another jenes Tor öffnen, um sein Volk zu retten. Und hätte dabei wohl fast eine Katastrophe herbei beschworen.

Nach dem Sieg über den Puppenspieler Another und dem Wächter Edens, Isfanel, waren sie alle aus dem Turm von Neo Babylon geflüchtet. Beinahe wäre ihnen dabei der Plan, den Turm in die Luft zu jagen, in der Hoffnung dadurch Anya zu retten, zum Verhängnis geworden. Was natürlich totaler Schwachsinn war, wie hätte sie das auch retten können? Eher das Gegenteil war der Fall gewesen. Denn im Endeffekt hatte Anya mit diesem Vorwand nur versucht, die anderen Opfer in den Turm zu locken, damit ihr der Limbus – eine qualvolle Existenz nach dem Tod – erspart blieb. Da war Eden zu werden dann doch die bessere Option, so dachte sie sich natürlich völlig frei jeglicher Schuldgefühle, die sie am Ende auch überhaupt nicht daran gehindert hatten, den Plan umzusetzen.

Wie auch immer, das war Schnee von gestern. Die Gruppe es letztlich noch geschafft zu entkommen, bevor der Turm in seine Einzelteile zusammen fiel. So weit, so gut.

 

Der Turm war also nicht mehr, die Sonne gerade aufgegangen, alle hatten sich in den Haaren wegen Anyas Taten, als Nick auftauchte, mit Abby im Schlepptau.

Er hatte vom Krankenhaus aus die Explosion gesehen und war sofort mit einer gerade erst durch eine Schussverletzung lahmgelegten, aber inzwischen verarzteten Abby zum Schauplatz des Geschehens geeilt. Scheinbar hatte Nick das Schlimmste befürchtet und von irgendwoher ein Skalpell stibitzt, mit dem er mögliche Feinde aus einer anderen Welt töten wollte – was für ein Spinner! Denn irgendwer hatte ihm wohl geflüstert, dass Eden ein Tor in eine andere Welt war.

 

Wie dem auch sei, als er schließlich an der Stelle angekommen war, wo einst die Livington High gestanden hatte, war niemand mehr zu sehen – zumindest behauptete er das.

Allerdings entsprach dies nicht der Wahrheit. Anya und die anderen hatten die beiden bemerkt, waren freudestrahlend auf sie zugegangen, als Nick … seine beste Freundin beinahe erstochen hätte, im Glauben, sie wäre ein unsichtbares Alien. Wie gesagt, Spinner.
 

„Du warst halb unsichtbar und verzerrt, ich schwöre es!“

„Ach ja!? Erzähl das deiner Großmutter, du überdimensionale Amöbe!“, fauchte Anya und gab eine weitere Schippe hinterher. „Jeder hat mich gesehen. Stimmt's Abby!?“

„Ja, naja, außer den anderen gab es ja nur mich und Nick, aber … aber vielleicht konnte ich euch sehen, weil ich eine Sirene bin? Meine Wahrnehmung ist anders als eure.“

„Von wegen! Raumverzerrungen am Arsch, dass ich nicht lache! Diesmal bist du zu weit gegangen, Harper! Friss Dreck-“

Abby trat hinter ihre Freundin und riss ihr unter dem Aufbringen all ihres Mutes die Schippe aus der Hand, ehe jene noch mehr Unheil damit stiften konnte. „Anya, das ist kein Spaß, sondern todernst! Irgendetwas ist dort passiert!“

„Hehe, ja! Schade, dass ich nicht unsichtbar war, sonst hätte ich gerne mal- wuargh, ptscht!“

Nicks anzügliche Bemerkung ging im Sand unter, den Anya mit einer geschickten Bewegung ihrer Fußspitze in seinen Mund katapultiert hatte. Dabei legte sie ihre Stirn kraus. „Tch! Da war gar nichts!“

„Doch!“, widersprach Abby aufgelöst. „Die ganzen Fahrzeuge der National Guards! Leer! Als wir angekommen sind, war außer euch kein Mensch zu sehen! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die alle mitten in der Nacht auf einen Snack bei Wendy's ihren Posten verlassen haben und seitdem nicht wieder aufgetaucht sind!?“

Anya wirbelte schnaubend zu ihrer Freundin um. „Herr Gott, Masters, da war außer mir, Matt, Redfield, Marc, der Narbenfresse, dem Schnöselkind und dessen Schwester niemand, auch keine Fahrzeuge und Helikopter, nicht mal ein beschissenes Fahrrad, verdammt! Bis ihr halt dazu gestoßen seid!“

„Du sahst aus wie so ein glibbriger, kaum sichtbarer Geist, deswegen hab ich zugestoch- pfääh!“

Wieder ging Nicks verzweifelter Versuch der Verteidigung unter, als Anya mit dem Hacken mehr Sand in seine Richtung wirbelte. „Sei ruhig und stirb endlich!“

„... er hat dich doch gar nicht getroffen“, murrte Abby, die das alles ungerecht Nick gegenüber empfand, „du hast ihn doch aufs Kreuz gelegt.“

„Ja, das war ja auch mein gutes Recht! Außerdem, wie kann ich in einer anderen Dimension gewesen sein, wenn ich ihn gleichzeitig mit meinen Moves platt gemacht habe!? Nick hat das alles nur erfunden um mir Eins auszuwischen!“

 

Zu Anyas Unmut ließ Abby sich aber selbst dadurch nicht davon abhalten, weiter auf das Thema der verschwundenen National Guards herum zu reiten. „Anya, Nicks Fehltritt mit dem Messer mal außen vor gelassen, sind die verschwundenen Leute immer noch nicht wieder aufgetaucht! Seit fast einer Woche!“

Die Arme verschränkend, sah Anya ruckartig zur Seite. „Na und? Nicht mein Problem. Ich weiß nur, dass alles so war, wie es hätte sein sollen. Was Nick erzählt hat, von wegen Geister, ist Schwachsinn! Dass du uns gesehen hast, hat damit zu tun, dass dein Gehirn noch so funktioniert wie es soll, mehr nicht!“

„Denk doch mal nach“, versuchte das brünette Hippiemädchen es auf ruhigere Art und Weise, packte die Blondine sanft an den Schultern, „der Turm von Neo Babylon muss aus einer anderen Dimension stammen, da er ja nur alle 400 Jahre aufgetaucht ist. Wo war er die ganze Zeit über, hast du dich das jemals gefragt?

Anya kniff die Augen fest zusammen. „Nein, weil's mich nicht die Bohne interessiert.“

„Als er zerstört wurde, muss es im Raum-Zeitkontinuum einen Riss gegeben haben, in den wir alle hineingezogen worden sind. Daher wart ihr für Nick unsichtbar, für mich als Sirene aber nicht. Dementsprechend müssen die National Guards auch irgend-“

 

Aber Anya hatte sich längst losgerissen und stampfte unverrichteter Dinge über den grünen Teil des Rasens der Familie Bauer. „Man, da kriegt man ja Kopfschmerzen. Ich geh zocken.“

„W-warte doch, Anya, ich bin doch mit meiner Theorie noch gar nicht fertig!“, eilte Abby ihr hinterher.

Ohne sich umzudrehen, brummte ihre Freundin: „Wenn du so scharf drauf bist, herauszufinden was dort abgegangen ist, dann geh doch nachsehen.“

„Äh, also, nein, so war das nicht … ähähähä … wollen wir shoppen gehen?“, fragte sie plötzlich unverblümt. Natürlich keineswegs heiser oder ähnliches. „Ich wollte sowieso mal ein bisschen nach Klamotten schauen. Meine alten gefallen mir nicht mehr, haha …“

Anya spähte über die Schulter zu ihr herüber. „So wechselt man das Thema, huh, Masters? Naja, meinetwegen … aber nur, wenn du nicht wieder davon anfängst! … Schisserin!“

Sofort machte Abby einen Ruck und stand kerzengerade, mit Hand an der Schläfe. „Jawohl, Sir! Aber vorher müssen wir erst Nick ausgraben. Wir können ihn doch nicht da liegen lassen.“

Beide sahen herüber zu dem Loch, aus dem Nicks Arm ragte und ihnen einen Daumen zeigte.

„... fein“, stöhnte Anya schließlich resignierend.

 

Nachdem es neulich schon nicht geklappt hatte, ihm nachts die Haare anzuzünden, wäre es vielleicht das Beste, wenn sie ihren Rachefeldzug vorerst aufs Eis legte. Denn scheinbar hatte sie bei der Flucht aus dem Turm ihr Mojo verloren. Keine böse Tat wollte mehr gelingen, ihre sonst so kreativen Einfälle blieben aus und vor allem … sie hatte gar keine Lust, anderen Menschen wirklich zu schaden. Bestenfalls mal Anflüge, mehr nicht.

Was war mit ihr los!? Und da machte Abby sich Sorgen um Geister, National Guards und Raumverzerrungen, die es nicht gab!

 

~-~-~

 

„Oh man“, stöhnte wenig später die penetrante Stimme Anyas förmlich durch das Einkaufscenter von Livington, „kaum sind ein paar Tage vergangen und es geht mir endlich besser, da muss ich plötzlich Modeberaterin spielen. Wie ätzend!“

Missmutig schlurfte sie hinter Abby und Nick hinterher, die zügig und bereits mit den verschiedensten Einkaufstaschen beladen durch das gläserne Einkaufszentrum von Livington zogen.

Da Anya Bauer kein zuvorkommender Mensch war, war es die Aufgabe des hochgewachsenen Nick, welcher jetzt so aussah, als wäre er frisch aus dem Grabe entsprungen, den Großteil von Abbys Einkäufen zu tragen. Wobei man zugeben musste, dass Nicks zerzauster Look nicht wirklich neu war.

„Beklag' dich nicht, Anya“, maßregelte die sonst immer so sanfte, friedvolle Abby ihre Freundin streng und blieb vor einer kleinen Boutique stehen, die sich am rechten Rand des ovalen, riesigen Einkaufszentrums befand. Welches von den Bewohnern Livingtons allgemein auch als Glas-Kolosseum betitelt wurde, woran die Fassade aus Fenstern schuld war, aus dem die Außenschicht des Gebäudes bestand.
 

Fasziniert von den Angeboten des kleinen Ladens durch das Schaufenster starrend, hatte Abby keinen Blick mehr für ihre Freunde übrig.

„Die ist heute seltsam drauf“, gab Anya unzufrieden von sich. „Erst ihre dämlichen Theorien und nun ist sie auf dem besten Weg zur Shopping-Queen! Was hab ich bloß falsch mit ihr gemacht?“

Nick, an den die Worte gerichtet waren, erwiderte hinter seinem Berg von Einkaufstaschen: „Sie ist immer noch sauer, weil du deine Freunde opfern wolltest. Das, oder sie ist beleidigt, weil ich ihr noch keinen Antrag gemacht habe, hehe.“

Das dümmliche Gegluckse ihres Freundes ignorierend, schnaufte die blonde, einen Kopf kleinere Anya wütend. „Ach deswegen …“

 

Ja, deswegen, dachte sie dabei säuerlich.

Wer hätte denn auch ahnen können, dass diese blöde Kuh Valerie Redfield Abby alles gesteckt hatte, was in diesem verdammten Turm von Neo Babylon passiert war!? Knapp eine Woche war das jetzt her und schon wusste die halbe Nachbarschaft Bescheid, oder was!?

Ja, sie wollte die fünf Zeugen der Konzeption opfern, um zusammen mit dem Dämon Levrier Eden zu werden. Aber der hatte sie ja förmlich dazu gezwungen durch diesen seltendämlichen Pakt, den die beiden geschlossen hatten. Nicht ihre Schuld!

Ja, sie hat die anderen vielleicht ein wenig hinterhältig in den Turm gelockt. Aber am Ende waren die Bösen gestorben. Alles war wieder im Lot!

Und ja, sie hatte sich bis jetzt noch nicht bei den anderen dafür in aller Form entschuldigt. Denn das hatte sie bereits im Turm getan. Sie konnte doch nun wirklich nichts dafür, dass die alle so verdammt nachtragend waren und fast keiner von denen noch ein Wort mit ihr reden wollte – als ob sie das interessieren würde!

 

„Anya“, wirbelte Abby um, „hör auf so ein Gesicht zu machen. Nutze deine zweite Chance weise und entschuldige dich endlich bei Henry, Marc und Valerie. … und frag bei Gelegenheit nach, was sie von meiner Theorie wegen der Raumverzerrung halten!“

Wie üblich trug sie eines ihrer sogenannten Reissackkleider, ein Stirnband und dunkel getönte Brillen – ein waschechtes Hippiemädchen eben, mit entsprechenden Wurzeln. Beziehungsweise waren ihre Zieheltern Hippies. Scheinbar wollte Abby sich jedoch von diesem Image losreißen, daher der Einkaufsbummel … obwohl Anya eigentlich keinen Grund hatte, sich über ihre Freundin zu beklagen. Die Moralpredigten waren zwar nervig, aber sie war eine der wenigen, die überhaupt die Eierstöcke hatte, zu Anya zu halten. Abby musste sich gar nicht verändern!

Ihre echten Eltern waren schon seit Langem tot und erst vor drei Monaten hatte jene entdeckt, dass ihre Mutter eine waschechte Sirene gewesen war. Und somit auch Abby selbst. Anya war selbst dabei gewesen, als ihre Freundin ihre Kräfte entdeckt hatte, die im Übrigen sehr beeindruckend waren. Deshalb war es mittlerweile auch nicht mehr klug, sich mit ihr anzulegen. Besonders wenn sie so besessen war wie jetzt.
 

Demonstrativ den Kopf zur Seite drehend, erwiderte Anya gallig: „Warum sollte ich? Die hätten an meiner Stelle genauso gehandelt! Außerdem leben wir alle noch, alles ist gut, bla bla bla! Wo ist das verdammte Problem!?“

„Das Problem“, erwiderte Abby eiskalt, „steht vor mir und ist uneinsichtig. Nick! Sag du was dazu!“

„Los, prügelt euch darum! Schlammcatchen“, gluckste dieser aber nur verträumt. „Ahhhhh … Schlammcatchen …“

Beide Mädchen seufzten ob der anzüglichen Gedanken ihres Freundes genervt.

„Ich hab kein Problem!“, erwiderte Anya trotzig und verschränkte die Arme voreinander.

Wäre da nicht das schwarze Totenkopfshirt, die gleichfarbige Lederjacke und die Tatsache, dass Anya Bauer Livingtons ganz eigene Terrormaschine war, hätte man sie in diesem Moment tatsächlich für ein beleidigtes Kleinkind halten können. Wobei sich in dem Fall Äußeres und Inneres nicht zwangsweise ausschließen musste.

Abby seufzte und versuchte es auf ihre sonst übliche, sanfte Tour. Auf die Freundin zugehend, nahm sie deren Hände und starrte sie durch die Brille mitfühlend an. „Ich weiß doch, dass du unglücklich bist, weil die anderen dich nach der Zerstörung des Turms fertig gemacht haben. Henry hat ein paar sehr böse Sachen gesagt, nachdem wir euch gefunden haben und ich bin mir sicher, er bereut es mittlerweile.“

„Hmpf!“

„Ach Anya! Valerie hat mir doch alles erzählt. Wie du dich umentschieden hast, lieber dich als sie zu opfern, es dann aber zu spät war und du trotz aller Umstände tapfer gegen Isfanel gekämpft hast, der euch umbringen wollte“, sagte sie beschwichtigend, „aber dein Verrat hat die anderen trotzdem gekränkt. Du kannst mir ja viel erzählen, aber innerlich wissen wir beide, dass du sie mittlerweile als Freunde betrachtest. Dich für andere zu opfern hättest du früher höchstens für uns gemacht.“

Sofort riss Anya sich von Abby los und wirbelte um. Dabei blickte sie regelrecht verächtlich über ihre Schulter und sprach leise: „Misch dich da nicht ein, Masters! Das geht dich gar nichts an!“

Mit diesen Worten rannte sie einfach in die entgegengesetzte Richtung davon.

 

„... sie ist ganz schön gekränkt, weil die anderen sie jetzt ablehnen“, sagte Nick hinter den Einkaufstüten ernst, nachdem das Mädchen außer Reichweite war.

Denn was Anya nicht wusste: Nick war nicht der Idiot, für den ihn seither jeder hielt. Tatsächlich war er hochintelligent und spielte die Rolle des Trottels nur, um Anya bei Laune zu halten. Um sie glücklich zu sehen, was ihm jedoch seither nie gelungen war. Abby wusste als eine der wenigen von dieser Scharade, aber auch erst seit etwa zwei Wochen.

„Ich will doch nur, dass sie sich bei ihnen entschuldigt“, meinte das Hippiemädchen resignierend, „und dass sie die Sache wegen dem Turm etwas ernster nimmt.“

„Sie hat Angst davor. Vor beidem, meine ich“, mutmaßte Nick und drehte sich zu seiner Begleiterin um, „dass die anderen sie trotzdem ablehnen werden. Und egal wie gleichgültig sie tut, die Sache mit dem Turm von Neo Babylon lässt sie gewiss nicht kalt. Was ich gesehen habe, das war gewiss keine Einbildung.“

Abby nickte knapp. „Vielleicht hast du recht. Für sie war der Horror gerade erst vorbei. Dass die Soldaten verschwunden sind, muss ihr fürchterliche Angst bereiten, weil es bedeuten könnte, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist. Auch wenn Levrier nun fort ist.“

Nachdenklich erwiderte Nick: „Das ist noch so ein Punkt. Seit Levrier tot ist, ist sie besonders gereizt. Natürlich würde sie das niemals zugeben, aber sie muss ihn vermissen. Er war immerhin drei Monate lang immer bei ihr und hat sie beschützt. Das hat vorher nie jemand für sie getan, auch wenn er es sicherlich aus eigennützigen Gründen gemacht hat.“

„So betrachtet … bin ich eine schlechte Freundin.“ Abby drehte sich zu dem Schaufenster um und betrachtete betrübt ihr durchsichtiges Spiegelbild darin. „Ich wollte eigentlich mit euch hierher, um sie etwas aufzuheitern. Aber natürlich konnte ich mich mal wieder mit meinen Moralpredigten nicht beherrschen …“

„Sie wird sich schon wieder einkriegen“, gab sich Nick zuversichtlich, „was sie die letzten Monate erlebt hat, ist nur schwer zu verdauen und braucht seine Zeit.“

 

Abby lachte schwach auf. „Hoffentlich. Matt und Alastair wollen bald abreisen. Henry und Melinda übrigens auch … morgen schon, hat er gesagt.“

„Jeder hat sein eigenes Leben, um das er sich kümmern muss. Die beiden Geschwister sind nur wegen Anothers Komplott nach Livington gekommen.“ Er trat neben sie und lächelte sie aufmunternd an. „Auch wenn Henry abreist, ist er deswegen nicht aus der Welt. Es gibt Telefone, Internet. Und arm ist er auch nicht, wenn er dich wiedersehen will, dann wird er das.“

„D-danke“, stammelte Abby und errötete, „du hast recht. T-trotzdem fände ich es besser, wenn er noch etwas bleiben würde. U-und natürlich muss Anya sich auch persönlich bei ihm entschuldigen, das hat absoluten Vorrang!“

Den Kopf schüttelnd, stöhnte Nick vergnügt: „Manche Dinge ändern sich wohl nie.“

 

„Nick … kann ich dich um etwas bitten?“, begann Abby zögerlich.

Überrascht von ihrer verhaltenen Frage schaute Nick mit angezogenen Augenbrauen auf.

„Begleitest du mich -da- hin? Ich weiß, dass es eigentlich nicht nötig ist, aber ich würde mich wesentlich besser fühlen, wenn du dabei wärst.“

„Natürlich“, erwiderte er mit fester Entschlossenheit.

 

~-~-~

 

Kurze Zeit später hatten die beiden den Ort erreicht, der um ein Haar zu Anyas Grab geworden wäre – die Stelle, an der der Turm von Neo Babylon vor einiger Zeit erschienen war. Wenig hatte sich seitdem um sie herum verändert. Dort, wo einst die Livington High gestanden hatte, waren jetzt nur noch aufgewühlte Erde, Trümmer und Schutt zu sehen und das in einem kilometerweiten Radius.

Zur Sicherheit hatte man einen Zaun um das Gelände aufgestellt, an der Südseite gab es zudem ein Militärlager, das natürlich offiziell für Ausgrabungszwecke genutzt wurde. Aber es war offensichtlich, dass die Regierung verhindern wollte, dass noch weitere Leute einfach verschwanden. Und dass sie keine Ahnung hatten, was überhaupt vorgefallen war.

 

Als die beiden an den hohen Zaun heran traten, klammerte sich Abby mit den Fingern in ihm fest und lehnte ihren Kopf an.

„Ich bin mir nicht sicher, aber … es fühlt sich anders an, als noch vor ein paar Tagen. Du weißt ja, als Sirene nehme ich bestimmte Dinge anders wahr.“

„Als noch vor ein paar Tagen?“, hakte Nick nach und sah sie an. „Warst du öfter hier?“

„Jeden Tag. Nenn' mich Angsthase, aber dieses Thema lässt mich seither nicht los …“

Der hochgewachsene junge Mann richtete seinen Blick auf die Mitte des Trümmerfelds, dort wo der Turm erschienen war. „Dann haben wir uns wohl immer verpasst.“

„Du warst auch hier?“

„Ja. Es … für Anya existiert das alles nicht. Sie weiß, dass hier etwas nicht stimmt, aber da hört ihr Denkprozess auch auf.“ Plötzlich nahm er einen Schritt zurück und sah seine Hand an. „Ich weiß nicht mal mehr genau, was ich mir dabei gedacht hab, als ich das Skalpell genommen habe und mit dir hierher gekommen bin. Vielleicht war es ein Drang, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und die Angst, das etwas den Turm verlassen könnte, was einst Anya war, nun aber eine allgemeine Bedrohung darstellte.“

Abby sah ihn von der Seite aus mitfühlend an. „Ich verstehe das. Wir beide haben das Warten nicht ausgehalten. Sich nutzlos, hilflos zu fühlen ist eines der schrecklichsten Dinge, die ein Mensch fühlen kann.“

„Es war mehr als das. Ich wusste nicht mehr, was ich überhaupt wollte. Wo mein Standpunkt war.“ Er machte eine kurze Pause. „Als ich dann das sah, diese … Wesen, die unsere Freunde waren. Ich dachte, es wäre alles schief gegangen. Und habe einfach gehandelt, wollte zustechen. Was Anya beinahe umgebracht hätte, wären ihre Reflexe nicht so gut.“

Seine Freundin, die den Blick über das zerstörte Land schweifen ließ, antwortete nachdenklich: „Das war nicht deine Schuld. Diese Verzerrung war die Ursache. Ich wette, jeder andere hätte dasselbe gesehen wie du und sich erschrocken.“

Nick trat wieder neben sie, hob die Hand um gegen den Zaun zu hämmern, ließ es dann aber sein und schwieg einen Augenblick. „... aber dafür hasst sie mich jetzt. Weil sie sich verraten vorkommt.“

„Nick“, sagte Abby nun im strengen Tonfall, „jetzt interpretierst du wirklich zu viel in Anya hinein. Sie glaubt dir das schon, aber du kennst sie doch. Nachtragend bis zum Ende der Welt. Jetzt, wo ihr Leben nicht mehr in unmittelbarer Gefahr ist, muss sie irgendwie wieder ihren Tag füllen. Die kriegt sich schon wieder ein.“

Was ihm ein Schmunzeln abrang, wo er vorhin doch noch dasselbe zu Abby gesagt hatte. „Vielleicht hast du recht.“
 

„Aber sie macht sich offensichtlich viel weniger Sorgen um die Sache als wir, das stimmt schon“, murmelte Abby, „andererseits ist das wohl ihr typischer Verdrängungsmechanismus.“

„Kann man es ihr verdenken?“

Das brünette Hippiemädchen schüttelte den Kopf. „Nein. Vielleicht ist es auch nur ein Gefühl und diese Verzerrung, die verschwundenen Soldaten … das alles sind nur Nachwirkungen, weil der Turm zerstört wurde.“

„Aber du hast gehört, was Anya erzählt hat. Isfanel sagte, der Turm darf nicht vernichtet werden und wenn selbst Another darauf Rücksicht genommen hat, muss es einen guten Grund gegeben haben“, gab Nick zu bedenken und sah mit Abby zusammen ein besonders weit hervor ragendes, schwarzes Stück des Turms an. „Hoffen wir mal, dass es ein gutes Zeichen ist, dass du weniger spürst als noch vor ein paar Tagen.“

„Ja. Hoffen wir's.“

 

~-~-~

 

Als Andrew und Tara aus dem Taxi stiegen, das sie zu ihrem zehnstöckigen Hotel im Herzen Livingtons gebracht hatte, war bereits die Dunkelheit über die Stadt hereingebrochen. Der kalte Novemberabend ließ Tara frösteln, als sie durch eine Drehtür ins Innere des Hotels gingen. Die Rezeption war zwar nicht gerade das, was man anhand des rustikalen, halbkreisartigen Holzbaus modern nennen würde, aber sehr gemütlich, was nicht zuletzt den vielen Blumenvasen um sie herum zu verdanken war.
 

Nachdem Andrew die Zimmerschlüssel abgeholt hatte, begaben sie sich per Aufzug nach oben zu ihrem Zimmer. Während sie nebeneinander standen, mit jeweils einem Koffer in den Händen, schwiegen sie. Dass Tara dabei nervös hin und her wippte, fiel Andrew durchaus auf. Er wusste, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, aber wie er die blonde, junge Frau kannte, würde sie es vermutlich nur runter reden. Demnach hatte es erstmal keinen Zweck nachzufragen.

 

Mit einem Dong erreichten sie den fünften Stock, nahmen ein paar Schritte den Gang herab und öffneten die Tür zu Zimmer Nummer 5-09 mit einer Keycard.

Es war klein, bot gerade einmal zwei Betten, einen Tisch, zwei Stühle, zwei Schränke und ein Badezimmer. Dafür gab es an der Stirnseite ein großes Fenster, aus dem man einen guten Blick auf das Stadtzentrum hatte.

 

Sofort ließ Tara ihren Koffer fallen – direkt auf Andrews Fuß, wie dieser stöhnend bemerkbar machte – und rannte zu dem Fenster.

„Wow, die Stadt sieht bei Nacht echt cool aus!“, staunte sie und tippte mit dem Finger gegen das Glas. „Da ist das Einkaufscenter! Ich habe gehört, sie nennen es Kolosseum, weil es aussieht wie eins! Es sieht echt toll aus, so wie es beleuchtet ist.“

Andrew, der seufzend ihren Koffer auflas und neben das für sie angedachte Bett stellte, legte das eigene Gepäck auf das andere Bett ab und trat neben sie.

„Du hast recht, es ist ein schöner Anblick. Zumindest die Innenstadt, die Randgebiete sind eher verschlafen, genau wie bei uns.“

„Werden wir …“ Taras Stimmung hatte sich schlagartig zu einer trüben gewandelt. „Werden wir ihn finden? Ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Und es macht mir … Angst daran zu denken, wenn wir es nicht schaffen. Die Enttäuschung …“

Sie sah mit feuchten Augen auf zu ihrem Begleiter, der die Sonnenbrille abnahm und sie durch seine braunen Augen zögerlich ansah. „Ich weiß nicht. Das ist die einzige Spur, die wir haben. Aber sie ist alt, so hat man mir gesagt. Mach dir lieber nicht zu viele Hoffnungen …“
 

Die Blondine drehte sich wieder dem Fenster zu und ließ den Blick vom Kolosseum nach rechts wandern, über die Einkaufsstraße und einige Wohnblöcke hinweg zu einer Stelle, die ihr ein flaues Gefühl im Magen bescherte.

„Da“, meinte sie und zeigte auf den gut ausgeleuchteten, kraterartigen Bereich mitten in der Stadt, „da soll die Livington High mal gestanden haben. Da, wo man Matt gesehen haben soll, als dieser merkwürdige Turm aus der Erde aufgetaucht ist.“

„Ich frage mich, was er da zu suchen hatte. Ob es die Neugier war, die ihn dorthin getrieben hat?“

„Vielleicht … war er es, der den Turm gesprengt hat“, mutmaßte Tara mit Unwohlsein, „du, Andrew. Ich will dahin.“

Überrascht von der Idee, sah er sie fragend an. „Das geht nicht, das ganze Gebiet ist abgesperrt. Da kommen wir nicht rein.“

„Aber ich muss wissen, was Matt dort wollte. Dort sind Menschen verschwunden, dutzende. Du weißt, sie haben im Fernsehen darüber berichtet.“ Tara sah ihren Freund mit großen Augen flehentlich an. „Ich habe auf der Zugfahrt hierher einen Zeitungsartikel von so einer Nina Placatelli gelesen, in der sie schreibt, dass die Ruine aus einer anderen Welt stammen soll. Was sollte ausgerechnet unser Matt da wollen?“

„Hör nicht auf den Quatsch“, mahnte Andrew sie, überlegte aber im selben Zuge: „Matt muss länger in der Stadt geblieben sein. Zweimal hat man jemanden gesehen, auf den seine Beschreibung passt. Das erste Mal, etwa eine Woche vor diesem Vorfall, hat man ihn zusammen mit einem Mädchen beim Bahnhof beobachtet. Es soll wohl gebrannt haben, aber als die Feuerwehr anrückte, waren die beiden schon verschwunden. Und dann nochmal, kurz nachdem der Turm erschienen ist. Einer der Schaulustigen hat beschrieben, wie er von ihm verscheucht wurde.“

Er spann seine Gedanken fort. „Zwischen Auftauchen des Turms und seiner Zerstörung liegen ungefähr sechs Stunden. Die National Guards sind erst eingetroffen, als der Turm schon in Schutt und Asche lag und da war Matt schon weg. Ist schwer zu sagen, ob er-“

Andrew weitete seinen Blick, als er Taras aufgeblasene Wangen bemerkte. „W-was ist?“

„Welches Mädchen?“, verlangte sie zu wissen. Leicht panisch schob sie hinterher: „Er hat doch keine neue Freundin, oder? Oh Gott, vielleicht hat er mich längst vergessen! Meinst du, er-“

„Wir gehen uns die Ruinen ansehen, okay?“, schnitt Andrew ihr stöhnend das Wort ab.

Mit der Befürchtung, die nächsten Stunden damit verbringen zu dürfen, Taras Paranoia aus der Welt zu schaffen. Was alles andere als angenehm war.

 

~-~-~

 

Als die beiden wenig später nebeneinander her schritten, unter dem Licht der Laternen am Bürgersteig, fühlte Tara sich seltsam unwohl. Was nicht an der schwülen Luft und dem gelegentlichen Rumpeln über ihnen herrührte, welche ein Gewitter ankündigten.

Zwar wusste sie selbst nicht genau, was sie sich vom Besuch des zerstörten Schulgeländes erhoffte, aber sie wollte es mit eigenen Augen sehen. Vielleicht kam ihr dann eine Idee, was Matt dort gesucht haben könnte. Vielleicht war er ja nur zufällig dort und wollte sicher stellen, dass niemand verletzt wurde, indem er das ungesicherte Gelände betrat.

Es musste so sein! Das war genau das, was -ihr- Matt tun würde, so war er einfach!

 

Der Vollmond, halb verborgen hinter Gewitterwolken, schien auf die beiden herab, als sie sich langsam der Straßensperre nährten, hinter der kurz darauf die ersten Ausläufe der Zerstörung zu sehen waren. Bäume waren umgeknickt, Trümmer ragten aus dem erdigen Boden. Kurz nach der Sperre war ein Zaun errichtet worden. Vor ihm gab es ein kleines Lager, bestehend aus mehreren Zelten und umringt von wuchtigen Lastwagen. Schwer bewaffnete Männer bewegten sich in jener Gegend unter dem Licht der aufgestellten Scheinwerfer. Der Zaun selbst war meterhoch und mit Stacheldraht gesichert. Da kam so schnell niemand rein, musste sie sich eingestehen.

 

Vor der Straßensperre blieben die beiden stehen.

„Meinst du, er hat sich verändert?“, fragte Tara plötzlich bedrückt und sah auf ihre weißen Pumps herab. „Es ist jetzt schon so lange her, dass er untergetaucht ist.“

„Sicherlich wird ihn das verändert haben. Du musst es auch so sehen: er ist jetzt erwachsen geworden“, antwortete der Sonnenbrillenträger und verschränkte die Arme, „genau wie wir. Aber ich glaube nicht, dass er ein gänzlich anderer Mensch geworden ist, wenn es dich tröstet.“

„Du sagst immer deine Meinung“, schmunzelte Tara und mummelte sich tiefer in ihre weiße Jeansjacke ein, da sie fröstelte, „das hat er immer sehr an dir gemocht.“

Andrew lachte leise auf. „Den Eindruck hatte ich nie.“

„Gerade weil ihr solche Dickköpfe seid, seid ihr so gute Freunde. Als du vor sechs Jahren weggezogen bist, hat ihn das schon sehr mitgenommen.“ Das Mädchen sah hinauf in den wolkenverhangenen Nachthimmel und betrachtete die wenigen Sterne, die nicht vom nahenden Gewitter verschlungen worden waren. „Er hat sich verlassen gefühlt.“

Ihr Begleiter tat es ihr gleich und sah nach oben. „Vielleicht, wenn ich nicht fortgegangen wäre, hätte ich alles verhindern können. Ich wusste um die Situation mit seinem Vater … aber ich habe nichts unternommen.“

„Mr. Summers war sehr einflussreich. Ich hätte auch nicht den Mut dafür gehabt.“

„Ich habe weggesehen, Tara. Du brauchst keine Entschuldigungen dafür zu suchen. Es ist kein Wunder, dass Matts Vater irgendwann seine gerechte Strafe bekommen hat“, sagte Andrew tonlos. „Und ich will ehrlich sein: jemand, der seine Familie so schlecht behandelt, hat es auch nicht anders verdient. Mir tut es nur leid, was Matt und Sophie seither deswegen durchmachen müssen …“

Das Mädchen verstummte und ließ den Kopf hängen. Der Gedanke an Matts Schwester behagte ihr gar nicht.

„Ich hab einfach nur Angst, dass er am Ende wirklich zu dem geworden ist, was er alle Welt glauben machen will“, schluchzte Tara plötzlich bitter. „Wo er doch nicht einmal weiß, dass-!“

Ein kalter Windhauch zog durch die Straße.
 

Vermisst du ihn so sehr? Diesen Matt Summers?

 

Das Mädchen schreckte auf. „Was?“

Diese seltsame, androgyne Stimme … hatte sie sich die gerade eingebildet?

„Er wird es früher oder später erfahren, was Sophie angeht“, überlegte Andrew derweil. „Das ist schließlich auch ein Grund, warum wir ihn suchen.“

 

Er ist noch in der Stadt. Ich spüre seine Anwesenheit.

 

Ängstlich wich Tara von der Absperrung zurück und sah sich panisch um.

„Was ist los?“, fragte ihr Begleiter, dem nun aufgefallen war, dass sie sich seltsam verhielt.

„Da ist diese … diese Stimme. Hörst du die auch?“

„Wovon redest du? Ist alles in Ordnung mit dir?“
 

Andrew Shanks kann mich nicht hören. Ich spreche nur zu dir, Tara Hartwell.

 

„Was bist du!?“, wollte das Mädchen aufgeschreckt wissen, drehte sich mehrmals um die eigene Achse.

Andrew packte sie alarmiert am Arm. „Vielleicht sollten wir von hier verschwinden.“

 

Mein Name lautet Urila. Ich kann dich gerne zu ihm hinführen, wenn du es möchtest.
 

„Urila …? Woher kennst du Matt?“

Andrew riss nun regelrecht an dem Mädchen, denn das blöde Gefühl in seiner Magengegend war Warnung genug. „Hör nicht hin, ignorier' es! Wir müssen verschwinden!“

Jedoch schüttelte Tara den Kopf. „Diese Stimme, sie kennt Matt!“

 

Sagen wir, er und ich sind uns kürzlich begegnet. Nur zu gerne würde ich ihn wiedersehen. Wollen wir nicht zusammen zu ihm gehen?
 

„Kannst du … kannst du ihn wirklich für mich finden?“

„Tara, nein!“

Das Mädchen sah Andrew geradezu manisch an. „A-aber warum!?“

Jener packte sie fester an den Schultern, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „Das ist etwas Böses, Tara! Du musst dich dem verschließen!“

„Woher willst du das wissen!?“, widersprach sie und richtete das Wort an die unbekannte Präsenz. „Antworte mir, kannst du Matt für mich ausfindig machen!?“

 

Natürlich. Schwarzes Haar, viel Humor … und eine unverkennbare Aura. Wenn wir zusammenarbeiten, wäre alles für uns beide möglich. Was sagst du?

 

„Das wäre zu schön um wahr zu sein …“, murmelte das Mädchen und ließ den Kopf hängen.

 

Oh ja. Aber Tara Hartwell, du bist die Einzige, die es möglich machen kann. Dein offenes Herz, dein guter Wille … sie haben gerade das Tor für unseren Pakt geöffnet.

 

„Huh? AH!“

Es durchschoss das Mädchen wie ein Blitz, der Andrew zeitgleich zurückschrecken ließ. Nur den Bruchteil einer Sekunde war sie da, eine eisige Kälte in ihrem Inneren. Dann kippte Tara vorne über und stützte sich mit den Händen keuchend ab.

 

Andrew, der kaum wusste was vor sich ging, bückte sich zu Tara herab. „Was um Himmels Willen ist los!? Was will die Stimme von dir, ist sie noch da!?“

„Es … es geht schon. Sie ist weg.“

Das Mädchen ließ sich von ihm aufhelfen. Vorsichtig nahm es zum Erstaunen ihres Freundes einen Schritt nach vorne und knickte um, fiel der Länge nach hin.

„Tara!“, rief er und bückte sich sofort wieder nach ihr.

„Ich muss mich erst daran gewöhnen“, nuschelte diese frustriert und erhob sich wieder, diesmal nicht mehr ganz so wackelig. Von oben herab sah sie Andrew an. „Und nenn' mich nicht wie dieses dumme Kind. Mein Name ist Urila!“

 

Sofort schreckte der junge Mann auf, wich von Tara zurück. Und bemerkte erst jetzt, dass die Straßenabsperrung, der dahinter liegende Zaun sowie das Trümmerfeld und die umliegenden Gebäude alle verzerrt wirkten. Als wäre er in einem Kaleidoskop gefangen, spiegelten sich manche Stellen, andere hingegen waren wie bei einem zerbrochenen Spiegel auseinander gerissen.

Nur Tara war davon nicht betroffen.
 

„Das kann nicht sein …“, murmelte er fassungslos, als er sich umsah.

„Nachwirkungen, weil der Turm aus dem Geflecht gerissen wurde. Aber mir soll das egal sein, das hört sowieso bald auf“, raunte Tara und begann sich wackelig von Andrew zu entfernen.

„Warte!“, rief er ihr mit ausgestreckter Hand hinterher.

„Worauf?“

„Was bist du? Was hast du mit ihr gemacht?“

Die Blondine blieb stehen, ohne aber den jungen Mann anzusehen. „Ich leihe mir nur ihren Körper für eine Weile aus. Du hast doch nichts dagegen, oder? Ach, was frage ich überhaupt …“

Denn Andrew seinerseits hatte sehr wohl etwas dagegen. „Lass sie frei!“

Nun drehte Urila sich wieder um und grinste tückisch. „Und was, wenn nicht? Weißt du überhaupt, mit wem du es hier zu tun hast?“

„Eine Immaterielle, wenn ich raten müsste!“

Die Antwort überraschte Urila offenbar, denn das Grinsen wich aus ihrem Gesicht. „Sieh an …“

„So etwas habe ich mir schon fast gedacht. Keine Ahnung warum, vielleicht wegen diesem Typen“, erwiderte Andrew, „irgendwie … hatte ich es im Gefühl. Als ob ich wüsste, dass so etwas passieren würde. Vielleicht bin ich deshalb so ruhig, tz. Wie auch immer, lass sie gehen. Sofort!“

Die 'neue Tara' aber streckte sich nur unbekümmert und gähnte. „Bedaure, da musst du erst 'nen Antrag stellen. Und wir haben schon geschlossen. … hach, du hast ja keine Ahnung, wie gut das tut. Ich glaube, ich werde mir'n Tenniskurs suchen, wenn ich hier fertig bin. Um diesen wunderbaren Gliedmaßen zu huldigen, du verstehst?“

„Lass diese Scherze! Ich weiß nicht, was du vorhast, aber such dir jemand anderen dafür!“

„Hör auf dich so anzustellen“, beklagte Urila sich empört und streckte sich noch ein wenig, „gerade habe ich nach aberhunderten von Jahren endlich wieder einen Körper, da jammerst du rum und willst diese unerträgliche Tara Hartwell wiedersehen.“

Andrew konnte es nicht fassen. Dieses Wesen, was immer es auch war, schien sich gar nicht für das zu interessieren, was er sagte. Andererseits war das wohl von einer Dämonin zu erwarten. Oder was auch immer sie war. Nebenbei, wieso war er sich absolut sicher, dass es eine Sie war?
 

„Sag mal“, begann jene langsam und reckte ein letztes Mal den Kopf nach links und rechts, ehe sie sich auf den jungen Mann zu fixieren begann, „was war das eigentlich mit deinem Freund, Matt Summers? Ausgerechnet ihr beide kennt den? Wenn das keine Ironie des Schicksals ist.“

„Was willst du von ihm!?“

„Naja“, begann sie ungeschönt, „ich hatte da vor ein paar Jahrhunderten mal diesen Plan, der ein Tor zwischen dieser Welt und dem Nexus, dem Korridor zwischen den Welten öffnen sollte – um es salopp zu sagen. Leider wurde ich deswegen unfairerweise verbannt. Ich bin Rapunzel 2.0, wenn man so will.“

„Du riskierst eine ganz schön kesse Lippe für eine Ex-Gefangene“, kommentierte Andrew dies sauer, „keine Angst, man könnte dich wieder einsperren?“

„Ich forsche ein bisschen in ihren Gedanken, um auf den neuesten Stand zu kommen. Die heutigen Sprechweisen der Jugend sind sehr unterhaltsam. Und hah! Worin will man mich jetzt noch einsperren? Und wer? Sorry Kiddo, ich bin jetzt sozusagen in einer gesetzesfreien Zone.“ Mit einem Kopfnicken verwies sie in Richtung der Trümmer hinter ihr. „Nur das Tor, das meinen schönen Plan bewerkstelligen sollte, ist jetzt leider futsch. Es war in dem Turm, der hier explodiert ist und mein Gefängnis dargestellt hat. Muss mir also eine Alternative suchen, wie ich zum Nexus gelange. Vorschläge? Immerhin hast du ja offenbar Ahnung, wenn du mich als Immaterielle erkennst?“

„Sorry, nichts dergleichen“, antwortete ihr der Sonnenbrillenträger locker.

Andrew bekam immer mehr ein ungutes Gefühl. Was, wenn man bedachte, mit wem er es hier offenbar zu tun hatte, auch als verdammt beschissenes Gefühl beschrieben werden könnte. Wenn sie so etwas wie ein Dämon war, der eingesperrt werden musste, dann bedeutete die neue Freiheit nur eins. Chaos!

Er musste Matt warnen!
 

„Schade. Aber mal gewinnt man, mal verliert man“, sagte die besessene Tara weiter in ihren flotten Tonfall, „ich nehme es meinen Befreiern, zu denen dein kleiner Freund übrigens gehört, auch gar nicht -so- übel, dass das Tor dafür mit den Bach hinunter ging. Hab sie gespürt, weißt du? Als sie im Turm waren. Isfanel hat sie so~ eindringlich warnen wollen, mich durch die Zerstörung nicht freizulassen, aber keiner hat ihn verstanden. Dumme Sache.“

Vorsichtig nahm Andrew einen Schritt zurück. Vielleicht konnte er weglaufen, immerhin war er sportlich sehr aktiv und Tara ein geborener Tollpatsch. Bloß war das vor ihm nicht mehr Tara.

„Na ja, genug der Geschichtsstunde“, schloss Urila diese und klatschte nachdenklich beide Hände zusammen, „die wichtigere Frage ist jetzt erstmal, was ich mit dir mache. Dann kann ich mich um die beiden Dämonenjäger kümmern, die mich rausgelassen haben und offenbar etwas besitzen, das mich brennend interessiert.“

„W-was soll das alles!?“ Andrew verstand nicht, warum diese Urila scheinbar so scharf auf Matt zu sein schien. „Matt wird jemandem wie dir sicher keine Hilfe sein.“

Was hatte der Dummkopf bloß angestellt!?

„Ach, sie haben sich im Turm die ganze Zeit unterhalten und dabei ein paar interessante Sachen fallen gelassen. Wusstest du, dass es euer geliebter Matt Summers war, der überhaupt erst die Idee mit dem Sprengen des Turms hatte? Ich glaub, ich schicke ihm eine Grußkarte … der ganz besonderen Art, hihi.“

Andrews Augen weiteten sich. „Also hab ich mich gerade eben nicht verhört …“

„Oh ja.“ Urila hob den Zeigefinger belehrend. „Er und seine Freundin, die Ex-Gründerin Anya Bauer, sind die Hauptschuldigen. Ihr werde ich demnach Blumen schicken, glaub ich. Weil ich wetten könnte, dass sie das Grünzeug wie die Pest hasst. Ich mag sie ansonsten nämlich nicht, weißt du?“
 

Derweil konnte Andrew nicht fassen, was er da alles vernahm.

Eine Dämonin, die in diesem Turm eingesperrt und nun nach tausenden von Jahren wieder frei war? Matt, der scheinbar der Schuldige an dieser Sache war und tatsächlich die Laufbahn eines Dämonenjägers ergriffen hatte?

Das war verrückt, einfach nur verrückt!

Wenn er nicht seit Kurzem genau um Matts geheime Karriere wüsste, würde er glauben, dass Tara ihn nur verscheißern wollte.

Aber es hieß auch, dass Matt vielleicht noch in der Stadt war! Wenn ja, musste er ihn finden und warnen! Vielleicht konnte sein Freund Tara helfen?

 

Schnurstracks wirbelte Andrew um und begann den ewigen Monolog dieser Urila zu ignorieren. Er begann zu rennen, doch kaum hatte er ein paar Schritte getan, prallte er mit dem Kopf gegen eine unsichtbare Mauer und wurde zurückgeworfen, landete auf dem Rücken.

„Na na na“, rügte Urila ihn vergnügt, „nicht böse sein, aber wegrennen lassen kann ich dich leider nicht mehr. Wobei, was würdest du schon tun können?“

Unerwartet schnippte sie mit dem Finger. „Ah, das ist mal was … Urila, du bist ein Genie! Okay, hab's mir anders überlegt, du kannst gehen.“

Andrew, der sich auf den Bauch rollte und zurück auf die Füße torkelte, kam nicht einmal rein auditiv bei Urilas Gesinnungswechsel an, da zeigte die schon auf das D-Pad an seinem Arm.

„Aber eine Bedingung habe ich, wenn ich dich laufen lassen soll. Weißt du, ich brauche etwas Erfahrung mit dem da. Wenn du gewinnst, kannst du gehen und meinetwegen machen was du willst. Gewinnst du aber nicht, naja, dann gibt es dich nicht mehr. Mir ist es schnuppe.“

Irritiert hob Andrew den Arm im Aufstehen und sah auf das D-Pad. „Was …?“

„Ja!“, bestand Urila darauf. „Die Erinnerungen deiner Freundin sind eine Sache, aber ich muss das selbst lernen. Ich mein, ihr Kids von heute fahrt doch total darauf ab. Was da oben im Turm abgegangen ist war zu spannend, um es an mir vorbeigehen zu lassen. Könnte für mich also noch nützlich werden das zu lernen, hm?“

 

Der Schwarzhaarige mit der Sonnenbrille richtete seinen Blick auf das wartende Mädchen im schwarz-weiß gestreiften Kleid und der weißen Jeansjacke, welches von außen her so unscheinbar und niedlich anmutete. Warum wollte dieser Dämon sich duellieren!?

Aber wenn er sie richtig verstand, war das eine Drohung. Verlor er, würde sie ihn töten. Was sie wohl auch tun würde, wenn er das Duell verweigerte.

Wie wollte sie das anstellen? Welche Kräfte besaß sie noch?

Einerseits überlegte Andrew, Tara einfach bewusstlos zu schlagen. Bloß hielten ihn davon zwei Dinge ab. Die Skrupel gegenüber seiner Sandkastenfreundin und die Tatsache, dass Urila keinen Hinweis darauf gab, dass sie bluffte. Wenn sie so gefährlich war, dass man sie einsperren musste, dann sollte er kein Risiko eingehen. Diese Barriere war ein eindeutiges Warnsignal.

 

„Was habe ich für eine andere Wahl?“, fragte er zornig und spuckte auf den Boden. „Gut, machen wir dieses Duell.“

„Oh prima!“ Das Mädchen sprang vor Freunde glatt in die Luft. „Die ersten zwei Menschen, die mir nach über tausend Jahren Turmzelle begegnen und beide sind kooperativ! Ihr seid die Besten!“

Kooperativ war das falsche Wort, dachte sich ihr Gegenüber dabei ärgerlich. Dieses Wesen war wie ein Parasit, der jetzt an Tara hing!

Urila schnippte mit dem Finger, als fiele ihr etwas ein. „Ach ja, du kannst gerne die Sicherheitsmechaniken ausstellen, wenn du möchtest. Ich mag es, wenn die Angriffe etwas weh tun und je früher die Schmerzen kommen, desto schneller gewöhne ich mich dran.“

Woher wusste sie, dass er die Sicherheitseinstellungen der D-Pads umgehen konnte, fragte Andrew sich geschockt? Und was hatte dieser Satz mit den Schmerzen zu bedeuten?
 

Dass Andrew sein D-Pads und Duel Disks manipulieren konnte lag daran, dass sein Vater bei der Polizei arbeitete und er dementsprechend, wenn auch nur heimlich, an die Codes herankam, um die Sicherungsmechanismen auszustellen. Vielleicht ahnte Tara also etwas, das Urila aufgegriffen hatte?

Hoffentlich wusste sie nichts von seinem anderen Geheimnis. Aber das war völlig unmöglich! Er hatte ihr nichts von der Begegnung erzählt!

 

Das Mädchen legte derweil ihr Deck in ihr pinkes D-Pad und sah in drängelnder Manier auf. „Nun schlaf nicht ein, ich hab heute Nacht noch eine Menge zu tun!“

Andrew tat es ihr gleich und ließ sein eigenes ausfahren. In verkrampfter Manier stand er seiner Gegnerin auf einige Meter Entfernung vor dem nächtlichen, abstrakt verzerrten Trümmerhaufen der Livington High gegenüber. „Also schön. Duell!“

„Duell!“

 

[Andrew: 4000LP / Tara: 4000LP]

 

„Da mein Gefäß eine Lady ist, fängt sie an, verstanden? Draw!“

Schon hatte Urila entgegen seinem Willen das Ruder an sich gerissen und legte von ihren sechs Karten die erste auf das D-Pad.

„Ich glaube, die spielt sie sehr gerne. Erscheine, [Madolche Magileine]!“

Kaum hatte sie den Namen ausgerufen, da tauchte eine kleine, junge Hexe mit einer riesigen Gabel in der Hand vor ihr auf. Ganz in violett gekleidet, nahm diese ihren großen Spitzhut vom Kopf und zog aus ihm eine Karte heraus. Markant war aber, dass sie bei all dem in der Luft schwebte, oder besser gesagt, das puzzleartige, schwarze Gebäckstück, auf dem sie stand.

 

Madolche Magileine [ATK/1400 DEF/1200 (4)]

 

„Wenn dieses fesche Ding beschworen wird, erhalte ich eine andere Süßigkeit vom Deck“, erklärte Urila hibbelig, „das ist so aufregend, ihr habt so viele Wörter im Sprachschatz, die ich noch gar nicht kenne.“

Andrew runzelte nur argwöhnisch die Stirn dabei.

Schließlich zeigte Urila die Monsterkarte [Madolche Puddingcess] vor, die sie in ihr Blatt dank Magileines Effekt aufnahm.

„Uh … die muss man setzen“, murmelte sie dabei zu sich selbst und schob drei Fallen in die dazugehörigen Slots des pinken D-Pads. Schon materialisierten sich die Karten vor ihren Füßen.

Die besessene Tara schloss damit: „Und da ich noch nicht angreifen kann, soll ich wohl meinen Zug beenden, richtig? Also, du bist dran.“

 

Als Andrew still seine neue Karte zog, ließ er seine Gegnerin nicht aus den Augen.

Einerseits schien diese Urila voller Entdeckungsdrang zu sein, musste diese Welt ihr doch neu und unverbraucht vorkommen. Dennoch war sie gefährlich. Er wusste zwar nicht, wieso sie für den Versuch, ein Tor zu diesem Nexus zu öffnen, verbannt wurde, aber es musste seine Gründe haben.

Würde sie es wieder versuchen, jetzt wo sie wieder frei war? Aber wie? Dieser Turm und das Tor, von dem sie gesprochen hatte, waren zerstört. Allerdings hatte sie bereits etwas ins Auge gefasst, was ausgerechnet mit Matt zu tun haben musste. Bloß was!?

Er musste unbedingt vor ihr zu Matt gelangen! Allein wegen der Warnung von diesem Mann!

 

„Main Phase 1“, kündigte er tonlos an, „indem ich ein hochstufiges Licht-Monster abwerfe, kann ich [Lightray Grepher] als Spezialbeschwörung aufs Feld rufen. Also erscheine.“

So geschah es, dass vor ihm ein muskulöser, schwarzhaariger Schwertkämpfer in blau-weißer, ärmelloser Montur erschien. Gleichzeitig schob Andrew den Stufe 7-[Lightray Diabolos] in den Friedhofsschlitz seiner Duel Disk.

 

Lightray Grepher [ATK/1700 DEF/1600 (4)]
 

„Ein weiterer Effekt Grephers ist es, dass ich noch ein Licht-Monster abwerfen kann, um ein ebensolches von meinem Deck zu verbannen“, führte Andrew seinen Zug fort und entledigte sich zuerst seines [Lightray Gardnas], ehe er [Lightray Gearfried] in seine Hosentasche schob.

Urila beobachtete das alles mit einer ungeheuren Neugier, auch wenn Andrew sich sicher war, dass sie seinen Duellstil dank Taras Erinnerungen kennen musste.

„Wenn [Lightray Gardna] auf meinem Friedhof liegt“, sprach Andrew weiter und holte das Monster sowie den eben erst abgelegten [Lightray Diabolos] hervor, „kann ich ihn und ein anderes Licht-Monster von meinem Friedhof verbannen.“

So landeten beide ebenfalls in seiner Hosentasche.

„Und nun, da ich genau drei verbannte Licht-Monster besitze“, fasste Andrew seine Absichten zusammen und zückte zwei weitere Monster von seiner Hand, „kann ich sowohl [Lightray Sorcerer], als auch [Lightray Madoor] von meiner Hand als Spezialbeschwörung rufen.“

Unter zwei aus dem Boden empor schießenden Energiesäulen tauchten zuerst ein in weiß-blauer Robe gekleideter Hexenmeister, der eine Lichtkugel zwischen seinen Händen bündelte und dann ein weiterer, maskierter Hexer auf, welcher über seinem hellblauen Hemd einen weißen Mantel trug und eine Eismauer befehligte.

 

Lightray Sorcerer [ATK/2300 DEF/2000 (6)]

Lightray Madoor [ATK/1200 DEF/3000 (6)]
 

„Da wenig Bedarf besteht, auf Sorcerers Angriff zu verzichten, nur um Magileine zu bannen, wird das im Kampf geregelt!“, schloss Andrew schließlich und zeigte auf die Hexe. „Ich ziehe nämlich den Kampfschaden vor. Also, Angriff mit Lightray Grenade!“

Wie aus der Pistole schoss der Hexenmeister seine Lichtkugel auf Urilas [Madolche Magileine] ab, deren Besitzerin aber prompt den Arm ausschwang. „Dann muss ich wohl das tun, so wie sie es immer tut: Falle aktivieren! [Madolche Waltz]! Kämpft die Süßigkeit, gibt’s 300 Kariespunkte für dich, hihi.“

„Hör auf Tara zu imitieren!“, verlange Andrew verärgert.

Magileine kam gar nicht erst dazu, den angedeuteten Walzer anzuschlagen, da wurde sie schon getroffen und flog im hohen Bogen kreischend davon. Urila schob daraufhin die Karte ihres Monsters in ihr Deck zurück, denn: „Wie du wissen müsstest, werden Madolches nicht auf den Friedhof, sondern ins Deck gelegt, wenn sie zerstört werden.“

Ihr D-Pad schloss den Prozess mit einem Mischdurchlauf ab. Gleichzeitig spürte Andrew ein leichtes Ziehen in der linken Schulter, welche er überrascht packte.

 

[Andrew: 4000LP → 3700LP / Tara: 4000LP → 3100LP]

 

„Ein großen Vorteil wirst du daraus nicht ziehen können, denn meine Monster werden dich jetzt direkt angreifen!“, bellte er erzürnt. „[Lightray Grepher], benutze Lightray Blow! Madoor, greife mit Lightray Wall an! Los!“

Sofort stürmte sein Krieger auf das blonde Mädchen zu, begleitet von einer Welle aus weiß-blauem Eis, das der Hexer ihm hinterher schickte. Erst glitt die Klinge diagonal durch den Körper Taras, anschließend sprang Grepher aus dem Weg, damit der Eiswall über sie hernieder brechen konnte.

„Hmpf“, schnaubte Andrew dabei.

 

[Andrew: 3700LP / Tara: 3100LP → 200LP]

 

Völlig ungerührt stand sie da, denn es würde ihm niemals in den Sinn kommen, wegen ihr die Sicherheitsvorkehrungen seines D-Pads zu deaktivieren. Aber noch etwas beunruhigte ihn.

Das war viel zu leicht. Tara war weiß Gott keine schlechte Duellantin, wenn manchmal auch etwas schusselig. Wenn diese Urila auf Taras Erinnerungen zurückgreifen konnte, musste sie wissen, wie man ihr Deck zu spielen hat. Demnach plante sie etwas.

„Meine letzte Karte setze ich verdeckt“, sprach Andrew und schob die Falle in seine Duel Disk, „Zug beendet.“

 

Die Lippen schürzend, legte Urila den Kopf in den Nacken und murmelte: „Ich sitze in der Patsche, oder? Mein erstes Duell und ich bin schon sowas von am Verlieren! Hach …“

„Du bist einfach ein paar Jahrhunderte zu alt für so etwas“, kommentierte Andrew das abfällig.

„Och bitte, man ist so alt wie man sich fühlt? Oder in diesem Fall bin ich so alt wie mein Gefäß.“ Damit klatschte sie in die Hände. „Genug Smalltalk, mein Zug! Draw!“

Schwungvoll zog die Blondine ihre nächste Karte und lächelte verzückt bei ihrem Anblick. Was sie anschließend dazu brachte, eine ihrer Fallen zu aktivieren. „Zeit für ein wenig gute Stimmung, meinst du nicht? [Madolchepalooza]! Chaka chaka, baby!“

Andrew runzelte die Stirn ob der peinlichen Tanzbewegungen, die Urila machte. „Ich kenne den Effekt.“

Obwohl er sich wünschte, dem wäre nicht so. Denn er bedeutete Ärger.

„Hmm, wenn du meinst“, gab sich Urila enttäuscht, hörte mit ihren 'Moves' auf und blähte die Wangen auf, „dann eben kurz und schmerzlos. Ich rufe [Madolche Puddingcess], ihren Prinzen, [Madolche Potpourrince] und den Hofritter [Madolche Chouxvalier] von meiner Hand als Spezialbeschwörung!“

Hand in Hand auf einem großen Karamellpuzzlestück tanzend, tauchten eine kleine, blonde Prinzessin mit Kirsche im Haar und ein etwas größerer Prinz auf. Beide in cremefarbige Kleidung gehüllt, zog die Prinzessin nach der Tanzeinlage ihren Rockzipfel hoch und verbeugte sich, wohingegen der Prinz, um den massenhaft Pralinen, Schokoladenstücken, Kekse und andere Leckereien schwebten, sich verneigte. Etwas weiter abseits tauchte, ebenfalls auf einem Puzzlestück, ein kleiner Krieger in schwarzem Gewand auf einem weißen Pferd auf, wobei er als Waffe ein Zuckerstangenschwert schwang.

 

Madolche Puddingcess [ATK/1000 → 1800 DEF/1000 (5)]

Madolche Potpourrince [ATK/1500 DEF/1000 (5)]

Madolche Chouxvalier [ATK/1700 DEF/1300 (4)]

 

Stimmt, ging es Andrew beim Anblick der Puddingcess durch den Kopf. Da seine Gegnerin keine Monster auf ihrem Friedhof liegen hatte – denn das war die Ausgangsstrategie dieses Decks – erhöhte dies Puddingcess' Stärke.

„Weißt du, das Lustige an der ganzen Sache ist ja, dass meine Süßigkeiten dank unseres Märchenprinzen direkt angreifen können. Hab ich das nicht gut gemacht?“, fragte Urila aufrichtig nach Lob lechzend.

Unter einem stolzen Ausruf zog ihr Prinz das Schwert aus der Schneide an seinem Waffenrock und schwang es im langen Bogen aus. Daraus entstand eine leuchtende Welle, die seine Mitstreiter erfasste und beigefarbener Aura aufglühen ließ.

„Das wird ja immer besser“, kommentierte Andrew das Ganze angespannt. „Dafür werden solange die Effekte deiner Monster annulliert.“

„Unwichtige Details …“, winkte seine Gegnerin läppisch ab.

Andrew stand der Schweiß auf der Stirn. Und er erinnerte sich noch gut an [Madolche Potpourrince], denn sobald Tara ihn ausspielte, war sie kaum noch zu stoppen.

„Du siehst gar nicht glücklich aus“, grinste Urila verspielt, „hast du Angst? Musst du nicht, ich bin nicht böse. Klar, mein Plan wird ein paar Opfer fordern, aber er ist nur gut gemeint, ehrlich!“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Anscheinend hast du nicht den geringsten Schimmer, was dieser Matt Summers neuerdings so treibt.“

„Wenn man deinen Worten trauen kann, ist er ein Dämonenjäger.“

„Er hat das getötet, was ihr am ehesten als Bruder für mich bezeichnen würdet“, sagte Urila und kniff die Augen fest zusammen, ihre Heiterkeit verflog von einem Augenblick zum anderen, „deswegen wird er mir jetzt helfen, seinen letzten Worten einen Sinn zu verschaffen. Idealerweise ist er auch genau der Richtige für den Job. Aber mehr musst du nicht wissen.“

Damit streckte sie geradezu in majestätischer Manier die Hand aus und zeigte direkt an Andrews drei Monstern vorbei auf den jungen Mann. „Ich hoffe du magst Süßes! Zuerst ist Chouxvalier dran! Direkter Angriff auf seine Lebenspunkte!“

Andrew schüttelte den Kopf, als der gut betuchte Ritter auf seinem Plüschross angaloppiert kam, dabei wild mit der Zuckerstange fuchtelnd. „Ein Krieger sollte mit seinen Fähigkeiten schon überzeugen. Soll er sich im Spiegel ansehen und aus seinen Fehlern lernen! Ich aktiviere [Radiant Mirror Force], da du drei Monster kontrollierst!“

Urila gab einen überraschten Laut von sich, als sich um Andrews Monster eine spiegelnde Mauer zog, an der die Kanne abprallte und zurück auf ihren Besitzer geflogen kam.

„Damit werden alle deine Monster zerstört!“

„Keine Lust! Konterfalle!“, rief Urila und ließ damit die letzte ihrer gesetzten Karten aufspringen, „[Madolche Tea Break]! Habe ich keine Monster im Friedhof, negiert sie deine Karte und gibt sie auf die Hand zurück! Außerdem kann sie eine deiner Karten zerstören, wenn [Madolche Puddingcess] auf dem Feld ist!“

Andrew keuchte erschrocken, als der Ritter seine ungewöhnliche Waffe hoch in die Luft warf, dann auffing und direkt in die Richtung des [Lightray Sorcerers] schleuderte. Die Spiegelmauer brach beim Treffer in sich zusammen, die Zuckerstange bahnte sich ihren Weg durch des Hexers Brust, welcher explodierte und fand schließlich in Andrew ihr Ziel. Dieser hielt beide Arme über Kreuz und stöhnte auf, als er erwischt wurde.

„Ah, vergiss nicht [Madolche Waltz], weswegen du nochmal 300 Kariespunkte bekommst, ahahaha!“

Blitze schlugen um den jungen Mann, dem schwindelig wurde. Tapfer hielt er sich auf den Beinen.

 

[Andrew: 3700LP → 2000LP → 1700LP / Tara: 200LP]
 

Andrew biss die Zähne zusammen und schrie nicht, wenn er auch befürchtete, dass diese Schmerzen nicht etwa durch fehlende Sicherheitseinstellungen, sondern durch Urilas dämonische Kräfte verursacht wurden.

Zitterig bückte er sich nach seiner [Radiant Mirror Force]-Karte, die nebenbei aus dem D-Pad geflogen kam und welche er wieder seinem ansonsten nicht existierendem Blatt hinzufügte.

„Aber das ist doch erst der Anfang, nicht gleich schlapp machen! Da du ja sonst so hartnäckig bist, wird sich die Prinzessin höchstpersönlich darum kümmern müssen! Also los!“, befahl Urila ihrer [Madolche Puddingcess] mit ausgestrecktem Arm. „Keine Sorge, ihre Effekte werden ja negiert, wenn sie unter des Prinzen Einfluss direkt angreift.“

 

Madolche Puddingcess [ATK/1800 → 1000 DEF/1000 (5)]

 

Diese klatschte nur zweimal in die Hände, da versank Andrew einfach in einer Puddingpfütze, die sich unter ihm aufgetan hatte. Dem fiel es zunehmend schwerer, nicht zu schreien. Denn der Pudding besaß Temperaturen jenseits von Gut und Böse. Nebenbei schlugen wieder Blitze um ihn, ausgelöst von [Madolche Waltz].

 

[Andrew: 1700LP → 700LP → 400LP / Tara: 200LP]

 

„Und jetzt die Krönung. Die Schlagsahne sozusagen“, kicherte Urila neckisch.

Seine einzelne Karte fest in den Händen haltend, wischte sich Andrew den Schweiß von der Stirn und schluckte. Es sah nicht gut für ihn aus.

„Oh, das ging aber schnell. Normalerweise spielst du doch besser als das“, machte sich Urila über ihn lustig.

„Wie sagtest du? Mal gewinnt man, mal verliert man.“

Das brachte sie zum Lachen. „Oh ja, dumme Sache, was? Aber ich mache es kurz und schmerzlos. War schön dich kennengelernt zu haben, ich werde dich bestimmt die nächsten Jahrhunderte nicht vergessen.“

Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. „Zu viel der Ehre.“

„[Madolche Potpourrince]“, rief Urila laut aus und streckte den erhobenen Zeigefinger in die Höhe, „direkter Angriff auf seine Lebenspunkte!“

Mit einem Schwenk seiner Hand ließ der Prinz die Ansammlung erlesenster Süßigkeiten, die um ihn schwirrten, wie einen Bienenschwarm auf den immer noch in der Puddingpfütze feststeckenden Andrew niedersausen. Dieser schnaubte und schloss die Augen.

Es folgte eine Schar kleiner Explosionen, deren geringer Umfang durch ihre Zahl wieder wett gemacht wurde. Andrews ganzes Feld ging in einem regelrechten Bombenhagel von Pralinen, Keksen und Dergleichen unter.

 

[Andrew: 400LP / Tara: 200LP]

 

Als sich der damit einhergehende Rauch verzog, lag Andrew der Länge nach auf dem Boden. Und vor ihm kniete ein Monster. Pechschwarzes, zottig-langes Haar, war er ganz in weiß gekleidet und hielt einen Schild schützend aufgestellt, von dem ein hellblaues Kraftfeld ausging.

 

Lightray Gardna [ATK/100 DEF/2600 (4)]

 

„Du lebst also noch? Beeindruckend …“, murmelte Urila verstimmt.

Sich mühsam vom Boden abdrückend, erklärte Andrew: „[Lightray Gardna] kann nicht gesetzt werden, weswegen er trotz seiner hohen Verteidigung eher nutzlos ist, wenn man ihn auf der Hand hat. Allerdings kann er nur einmal während des Duells aus der Verbannungszone zurückkehren, sofern ich direkt angegriffen werde.“

„Ich erinnere mich. Beziehungsweise tut sie es.“

„Da der Angriff anschließend beendet wird, kassiere ich keinen Schaden, auch nicht durch [Madolche Waltz].“ Andrew lachte. „So einfach kriegst du mich nicht klein.“

Noch eine Chance, dachte er nebenbei. Er hatte noch eine Chance. Ein Angriff würde reichen, doch dafür musste er etwas mit ausreichend Angriffspunkten ziehen.

„Hmm, das ist gar nicht gut. Solltest du nächste Runde angreifen, wird der Schaden, den du als Resultat durch [Madolche Waltz] erhältst nicht für ein Draw ausreichen“, taktierte Urila und verzog schmollend den Mund, „dann bin ich die Dumme. Aber ich fürchte, du musst dann wohl auf die harte Tour lernen, dass ich, was meine Ziele angeht, nicht weniger ehrgeizig bin als mein Bruder. Auch wenn es ihn sicherlich nicht glücklich machen würde, wüsste er, was ich vorhabe. Hach, ich vermisse den alten Bastard …“
 

Andrew seinerseits gingen ihre melancholischen Anflüge und ihre Art so zu tun, als hätte er irgendeine Ahnung, wer oder was sie war, langsam aber sicher auf die Nerven. Wenn er nur wüsste, wie er Tara retten konnte! Der Einzige, der ihm dabei vielleicht helfen konnte, war Matt … er musste ihn finden, bloß dafür war es wichtig, sich diesen Dämon erstmal vom Hals zu schaffen.

Bloß wie? Als ob sie ihr Versprechen halten würde, ihn bei einem Sieg gehen zu lassen!

 

Mit dem Finger schnippend, schien es, als hätte Urila bezüglich ihrer weiteren Vorgehensweise eine Entscheidung getroffen.

So sagte sie, als sie den rechten Arm in die Höhe streckte: „Okay, mit der Battle Phase hier wird das nichts mehr. Also sieh her, wie ich in der Main Phase 2 das Overlay Network errichte!“

„Overlay Network!?“, wiederholte Andrew erschrocken und sah zu, wie sich der schwarze Galaxienwirbel weit über Tara auftat.

„Aus meiner Stufe 5-Puddingcess und meinem Stufe 5-Potpourrince wird ein Monster vom Rang 5!“

Der Schwarzhaarige, der schwankend auf die Beine gekommen war, schwang widersprechend den Arm aus. „Unmöglich, Tara besitzt gar kein-!“

Er stoppte aber, als er etwas erblickte, was ihm vorher nicht aufgefallen war. Unter dem Ärmel ihrer weißen Jeansjacke, an dem Arm, den sie in die Höhe hielt, leuchtete ein silbernes Mal. Urila, die Andrews Blick amüsiert verfolgte, ließ ihn sinken und zog den Ärmel hervor, nur um ein sternförmiges, aus sechsmal zwei Dreiecken bestehendes Symbol zu präsentieren.

„Was ist das?“, fragte ihr Gegenüber irritiert.

„Das Spiegelbild des Paktes zwischen mir und Tara Hartwell. Es ist der Beweis, dass sie solange mir gehört, bis ich mein Ziel erreicht habe. Allerdings gibt es da noch die physische Version.“

Was für Verwirrung sorgte, denn Andrew wiederholte: „Physische Version?“

Mit dem Blick gen Himmel gerichtet, zeigte Urila wie ein Kind, das sich meldete, auf das Overlay Network.

 

Als Andrew erblickte, was aus diesem geflogen kam, fiel seine Kinnlade herab. Zeitgleich donnerte es über Livington, sodass der nachfolgende Schrei nur schwer zu vernehmen war.

 

 

[Part I – Ende]

The Last Asylum Movie "Second Coming" - Part II

Yu-Gi-Oh! The Last Asylum – The Movie Part II

 

 

Gegen Mitternacht waren auch die letzten Sachen des schwarzhaarigen, jungen Manns in den großen Koffer auf seinem Bett gepackt. Nicht, dass Matt viel zu packen hatte. Eher hatte er die Abreise immer wieder hinausgezögert. Offiziell wegen der seltsamen Geschehnisse bei der Turmruine, inoffiziell weil er unzufrieden mit der Gesamtsituation war.

Alastair, der schon längst aus Livington verschwunden wäre, ginge es nach ihm, sah aus dem Fenster neben den beiden Betten auf den Parkplatz, wo ihr VW-Bus stand. Von dort aus ging die Landschaft in einen dichten Wald über. Der Hüne warf einen Blick herüber zu seinem Freund, der mit unnötiger Wucht den Koffer zuknallte.

„Ich dachte, sie hätte sich geändert“, murrte er frustriert, „aber nichts! Sie hat nicht vorbei gesehen, ja nicht mal angerufen. Als wäre nichts geschehen.“

Es war zweifelsohne Anya Bauer, von der er sprach. Wie oft hatte Alastair seinem Freund nun erklären müssen, dass für die Schlangenzunge die Sache abgeschlossen war. Sie sah keinen Grund sich noch zu entschuldigen, denn ihrer Meinung nach hatte sie das bereits damit getan, sie alle vor Isfanel gerettet zu haben. Aber da irrte sie sich. Der Schmerz in Matts Herz war erst jetzt, nachdem er die Geschehnisse verarbeitet hatte, richtig entfacht.

„Warum gehst du dann nicht zu ihr?“, fragte Alastair in seiner tiefen Stimme nach. Auf seiner narbigen Haut war deutlich zu erkennen, dass es ihm am Fenster, nur mit einem schwarzen Feinrip-Hemd am Oberkörper bekleidet doch etwas zu kalt war. Sein roter Mantel hing an der Garderobe vor der Tür.

„Wie sähe das aus?“, wollte Matt wissen und ließ sich auf die Bettkante fallen. „Hi Anya, ich wollte nur kurz vorbeischauen und dich um eine Entschuldigung bitten, weil du uns fast geopfert hättest.“

„Dann lass es“, brummte der Hüne genervt, dessen langes, schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden war. „Sie ist ohnehin kein guter Umgang. Du solltest sie vergessen.“
 

„Alector meinte, wir sollten noch hier bleiben und herausfinden, was nach der Zerstörung des Turms passiert ist“, sagte Matt schließlich, um das unliebsame Thema zu wechseln und faltete die Hände mit grimmigem Gesichtsausdruck ineinander, „aber ehrlich gesagt habe ich keine Motivation dafür. Wir müssen an unsere finanziellen Mittel denken, die gehen bald zur Neige. Und für so einen Job bezahlt uns niemand.“

Alastair gab nur einen verständigen Laut von sich, einem Grunzen nicht unähnlich.

„Außerdem haben wir nichts finden können, das auf übernatürliche Vorgänge deutet. Der einzige Zeuge ist der Idiotenfreund von Anya“, führte Matt den Gedanken fort, „und die verschwundenen Soldaten, keine Ahnung. Wir waren schließlich auch dort und uns ist nichts passiert.“

Der ältere Dämonenjäger schloss das Fenster schließlich. „Es ist nicht an mir das zu sagen, nach allem, was meine Naivität angerichtet hat. Aber wir sind nicht die Wohlfahrt, Matt. Wir haben unser Bestes gegeben, die Dinge zu untersuchen, ohne Erfolg. Es ist Zeit weiterzuziehen.“

„Aber was, wenn doch“, wollte Matt zweifelnd anfangen, sah zu seinem Freund auf, nur um den Kopf gleich wieder schüttelnd hängen zu lassen, „nein, du hast recht. Irgendwann … ist Schluss.“

Alastair schritt zu seinem Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es schmerzte ihn, den jungen Mann so zermürbt zu sehen. Besonders bei dem Verdacht, den er bezüglich der wahren Hintergründe von Matts Bitternis hatte.
 

Wortlos ließ er von Matt ab, der keine Reaktion auf die Geste zeigte, schritt zur Tür und legte sich seinen roten Mantel um, der neben Matts schwarzem hing. „Ich gehe mir die Stelle noch einmal ansehen. Eine Resonanzchronosphäre habe ich noch.“

Alastair griff in die Innentasche seines Mantels und zückte eine weiße Karte, auf der eine hellblaue Kugel abgebildet war, die von drei goldenen Ringen umkreist wurde. Mit diesem Zauber, der zum Standardrepertoire eines Dämonenjägers gehörte, konnte man über mehrere Tage hinweg den Verlauf übernatürlicher Energien messen. Teile der Karte verfärbten sich, woraus man ablesen konnte, wann eine mächtige Präsenz in der Nähe gewesen war.

„Das hat doch vorgestern schon nicht funktioniert“, erwiderte Matt und sah auf, „lass gut sein, die Dinger sind zu wertvoll, um sie zu verschwenden.“

„Hmpf.“
 

Alastair drehte sich gerade einwilligend von der Tür ab und steckte die Karte weg, da hämmerte es gegen ebenjene. Zwei kurze Schläge, um genau zu sein.

„So spät noch ein Besucher?“, fragte Matt und sprang sofort vom Bett auf. Alastair sah mit Unbehagen die Hoffnung, die sich in den grauen Augen seines Freundes auftat.

Dann drehte er sich um, öffnete die Tür und stellte erstaunt fest, dass niemand vor ihm stand. Erst als eine Hand seinen schwarzen Stiefel berührte, sah er verblüfft nach unten. Vor ihm lag ein junger Mann blutüberströmt. Seine Sonnenbrille war an einer Seite eingebrochen, die Kleidung samt Mantel an einigen Stellen regelrecht zerfetzt.

„Matt …“, ächzte Andrew und sah zu dem Hünen auf, „ist … er da?“

„Wer ist das?“, wollte ebenjener alarmiert wissen und drängte sich an Alastair vorbei. Nur um erschrocken die Augen zu weiten. „Andrew!?“

Dort lag sein Freund aus Kindheitstagen schwer verwundet, doch lächelte. „Sie hat also nicht gelogen … ich habe dich gefunden … endlich.“

 

Ohne Umschweife halfen die beiden Dämonenjäger Andrew auf und schleppten ihn auf Alastairs Bett, wo er sich kraftlos fallen ließ.

„Was ist geschehen!?“, fragte Matt aufgeregt, sah den jungen Mann, mit dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, von oben bis unten an. „Wer hat dir das angetan!?“

Gleichzeitig huschte Alastair an den beiden vorbei, holte unter dem Bett einen Erste Hilfe-Kasten hervor und begann, Binden und Kompressen daraus hervor zu suchen. „Wir müssen die Blutungen stillen und ihn zu einem Arzt bringen.“

Andrew griff orientierungslos in die Luft, bis er Matts Hand fand und sie fest drückte. „Ein Mann … er hatte Recht, du bist in Livington und die Warnung … dann …“

„Wovon redest du!? Andrew!“

„Er wusste, was geschehen würde … Tara … sie ist …“

„Tara ist hier!?“, wiederholte Matt fassungslos.

„Sie ist in Gefahr … etwas ist in ihr … 13te Straße …“ Dann rutschte er in die Bewusstlosigkeit.

„W-was geht hier vor?“, stammelte Matt und fühlte zeitgleich den Puls von Andrew nach.

Alastair, der sich nebenbei um eine besonders fiese Wunde am Bein Andrews kümmerte, fragte: „Kennst du diesen Burschen?“

„Das ist Andrew, von dem habe ich dir öfter erzählt. Und Tara ist … ich muss los! Kümmere dich bitte um ihn, okay?“

Alastair konnte gar nicht so schnell folgen, da war sein Partner schon durchs Zimmer gestürmt, hatte sich den Mantel umgelegt und die Tür aufgerissen.

„Matt, warte!“, rief er ihm noch hinterher, aber da war er schon verschwunden.

 

Er drehte sich unsicher dem jungen Mann zu.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Wie hatte dieser Andrew überhaupt hierher gefunden? Er schien ziemlich genau zu wissen, wo Matt sich aufhielt. Andererseits konnte er sich keinen Dämon vorstellen, der den jungen Mann so zurichten würde, ohne ihn am Ende gehen zu lassen. Denn das war doch, wovor Andrew sie offenbar warnen wollte.

Andererseits, etwas sollte in dieser Tara stecken? Ein Immaterieller?
 

Alastair drehte sich um. Er musste Matt zurückholen, ehe der noch etwas Dummes tat. Wenn wirklich jemand von Anothers Schlag in der Stadt war, mussten sie genau überlegen, was sie tun würden.

Er warf einen besorgten Blick auf den Schwerverletzten zurück. Der Kerl musste umgehend ins Krankenhaus, umso wichtiger war es, dass er Matt noch einholte, ehe es zu spät war.

„Bin gleich zurück“, brummte er und wirbelte wieder herum. Er setzte sich in Bewegung, doch das Knarzen der Matratze brachte ihn dazu, sich noch einmal umdrehen zu wollen.

 

Genau in dem Moment aber traf ihn schon etwas hart am Hinterkopf. Alles wurde dunkel um ihn herum, er sackte in sich zusammen.

Das war eine Falle gewesen. Noch während er in die Bewusstlosigkeit driftete, hörte er Andrew etwas murmeln, der an ihm vorbei auf den Tisch im kleinen Motelzimmer zuschritt.

„Da ist es ja ... wird erfreut sein … guter Zustand …“

 

~-~-~

 

Es hämmerte. Anya versuchte den Drang dem nachzugehen zu ignorieren und tatsächlich war die Müdigkeit stärker, sodass sie bereits wieder ins Land der Träume abdriftete. Wieder donnerte es so laut, Anyas Stimmung wechselte in Sekundenschnelle von Wut auf ihre Mutter zu Armageddon Teil unendlich. Konnte man nicht einmal ausschlafen!? Als es aber so fürchterlich laut knackte und knarzte, dass sich ihre Nackenhaare schon aufstellten, saß das Mädchen mit einem Mal kerzengerade im Bett. Denn so ehrgeizig hatte sie die allmorgendlichen Weckaktionen ihrer Mutter nicht in Erinnerung!

Außerdem auch nicht so derart früh, wie Anya verwundert feststellen musste: es war noch stockdunkel in ihrem Zimmer. Ein Blick auf den Digitalwecker neben ihrem Bett werfend, erfuhr sie, dass es gerade einmal kurz nach 3 Uhr nachts war. Vor gerade einmal einer Stunde war sie ins Bett gegangen, was sollte-!?
 

Ein lautes Rumsen unterbrach das Mädchen in ihrem inneren Wutausbruch. Zwar hatten sich ihre Augen noch nicht vollständig an die Dunkelheit gewöhnt, aber dass gerade ihre Tür aus den Angeln gehoben, nein geschmissen wurde und nun mitten im Zimmer lag, das bekam Anya auch so mit.

Ehe sie überhaupt darüber nachzudenken begann, sprang sie aus dem Bett und torkelte benommen durchs Zimmer, um sich 'Barbie' zu schnappen. Die lag glücklicherweise direkt auf ihrem Schreibtisch, neben der Duel Disk, schließlich hatte Anya den ganzen Abend lang an Deck und Baseballschläger Feintuning betrieben.

Kaum beim mit Nägeln bespickten Mörderschläger angekommen, schnappte sie sich das Teil und richtete es unmittelbar in Richtung Türrahmen.

Eine kalte Brise zog vom offenen Fenster in das Zimmer, da Anya jenes vergessen hatte zu schließen. Selbst im November war es in Livington teilweise noch recht warm, daher war das nicht ungewöhnlich.

„Okay, wenn du es auf meine Videogame-Sammlung abgesehen hast, kannst du dich schon mal frisch machen“, zischte sie noch halb benebelt dem Einbrecher zu, auf den sie nun seit Jahren gehofft hatte, um endlich jemandem legal eins überbraten zu können, „denn von allen Orten musstest du direkt die Hölle ausrauben, Trottel!“

 

Als mehrere Sekunden keine Antwort oder anderweitige Reaktion folgte, lockerte sich Anyas Haltung. Ihre Augen gewöhnten sich zunehmend an die Dunkelheit, aber sie konnten dennoch nicht den Übeltäter erspähen, der dort lauerte.

„Hey“, raunte sie ärgerlich, „sag bloß, du hast Schiss bekommen? Komm schon, ich bin, ähm, ganz harmlos und so!“

Jetzt kam eine Reaktion, aber nur eine leise. Ein Stöhnen.

„Red' gefälligst lauter, ich hör dich nicht!“

Aber bitte, wenn der Typ nicht selbst kommen wollte, würde sie eben den ersten Schritt tun! Also schnappte sie sich ihre Duel Disk und wollte sie gerade auf gut Glück werfen, da hielt sie inne. Das Stöhnen kam nun deutlich hörbar hinter dem leeren Türrahmen hervor. Zusammen mit seinem Auslöser, der sich doch dazu entschieden hatte, Anya an die Gurgel zu gehen. Denn plötzlich rannte eine graue Gestalt auf das Mädchen zu, mit erhobenen Armen.

 

„Was zum-!?“

Anya holte nach 'dem Ding' aus, wie sie es innerhalb der zwei Sekunden bezeichnete, in denen Mondlicht auf es gefallen war, wich dann aber entsetzt zurück, als es nicht Halt machen wollte.

Graue, teils eingefallene … und abgefallene Haut, leere Augenhöhlen, lockiges blondes Haar, ein weißes Nachthemd und messerscharfe Krallen, die nach ihr schlugen. Anya war so geschockt, dass sie ihre eigene Offensive vergaß und nur zurückwich. Dabei musste sie schnell sein.

„Fuck, was bist du denn!? Levrier, was ist-!?“

Aber Anya erinnerte sich, dass ihr Freund leider ein lebenslanges Ticket im Reich der Toten eingelöst hatte und sie daher nicht mehr unterstützen konnte. Doch wenn sie richtig lag und das Äußere der Schachtel dort nicht log, dann war das da vor ihr wahrscheinlich eine Banshee. Ein Hoch auf jahrelangen, exzessiven Konsum von Horrorfilmen …

Was hatte eine Banshee in ihrem Zimmer verloren!?

 

Anya wehrte einen der Schläge mit Barbie und der Duel Disk ab, wurde aber infolge dessen nach rechts gegen ihren Kleiderschrank geknallt.

„Au!“, stieß sie dabei aus, duckte sich unter einem erneuten Schlag hinweg und torkelte rückwärts. Als sie mit dem Rücken zum offenen Fenster stand, gerade mit Barbie zum Gegenschlag ausholen wollte, hielt etwas in ihr sie zurück. Zwar konnte sie es beim besten Willen nicht begreifen, aber wenn sie dem Ding jetzt eins verpassen würde, wäre das der größte Fehler ihres Lebens. Es war nur ein Instinkt, eine Eingebung, aber …

„Mum!?“, schoss es aus ihr heraus.

Dieses Ding, das ihr an die Gurgel wollte, das sah doch irgendwie aus wie ihre Mutter. Nur so'n bisschen tot halt.

Der Ausruf brachte die vermeintliche Banshee dazu, in ihrer Berserkerwut innezuhalten. Beim genaueren Hinblicken im Licht war sich Anya ziemlich sicher, dass das ihre Mutter sein musste, denn das Nachthemd und die Frisur gehörten zu Mrs. Bauer wie das Amen in die Kirche. Bloß wie konnte die hier sein, untot, nicht im Krankenhaus und, naja, größtenteils lebendig!? Ihre Mutter war immerhin schwer verletzt worden, als der Turm von Neo Babylon aufgetaucht war!

 

Aber eins stand fest. Anya würde ja mal so gar nicht riskieren, dieses Ding ins Nirvana zu schicken, wenn sie sich nicht sicher war, ob das da ihre Mutter war oder nicht.

Jedoch schien Sheryl diese Zurückhaltung nicht inne zu haben, denn sie hob wieder die Klauen und machte sich stöhnend auf den Weg, jene in Anya zu versenken. Die wusste, dass sie schnell handeln musste. Hau den Lukas mit Mum zu spielen war keine Lösung, von daher blieb nur die Flucht.

Glücklicherweise hatte Anya das schon öfter getan, daher fiel es ihr nicht schwer, auf das Fensterbrett zu steigen und kurzerhand vom Obergeschoss nach unten in den Garten der Familie Bauer zu springen.
 

Zwar tat die Landung arg in den Knöcheln weh, Anya kippte gar vorne über, aber verletzt hatte sie sich offenbar nicht. Torkelnd auf die Beine kommend, drehte sie sich um und lief rückwärts vom Haus weg, den Blick fest auf ihr Zimmer gerichtet, wo sie ihre Mum lauern sah.

Anya wollte ihr gerade verunsichert etwas zurufen, da stieß sie im Lauf gegen jemanden. Sofort wirbelte sie um, denn wenn jemand den Grufti da oben sah, würde sie in arge Erklärungsnot geraten.

Da es aber ein Skelett war, dem die Kleider an den Knochen hinunter hingen, konnte sich Anya immerhin diese Strapaze ersparen. Und demnach gleich in den zweiten Gang schalten, der „nichts wie weg hier“ hieß.

Ungläubig rannte das Mädchen den Bürgersteig entlang, den Blick zurückwerfend. Die schwarzen, zu zwei Zöpfen gebundenen Haare – das konnte doch nur Zoey Richards sein, die magersüchtige Schnepfe von gegenüber! Die Knochenstruktur war geradezu verblüffend ähnlich und Anya musste das wissen, hatte sie schon den ein oder anderen davon gebrochen. Da steckten sogar noch die Nägel im rechten Unterarm von vor zwei Jahren, was für die Blondine der ultimative Beweis war.

„Wusste gar nicht, dass du so gut drin geworden bist, dir den Finger in den Hals zu stecken!“, giftete Anya das sie verfolgende, aber stark hinterherhinkende Skelett an. Im Lauf schnallte sie sich die Duel Disk um, da sie jene schlecht wegwerfen konnte. „Glückwunsch, hast ja jetzt endlich deine Traumfigur, Miststück!“

 

Da der liebe Gott aber kleine Gemeinheiten sofort bestrafte, bemerkte Anya die umgekippte Mülltonne vor ihr nicht und setzte demnach zu einem 1A-Flug darüber hinweg an, mit anschließend missglückter Bauchlandung.

„Owww, fuck!“, stöhnte sie und drehte sich auf den Rücken.

Da sie nur Boxershorts und ein weißes T-Shirt an hatte, verdankte sie ihrer Unachtsamkeit jetzt zwei aufgeschürfte Knie, die höllisch schmerzten.

Hatte sich die ganze Welt gegen sich verschworen!? Banshees, Skelette, im Weg liegende Mülltonnen!? Was kam als Nächstes, jetzt wo offensichtlich die Monster-AG ihren Einzug in Livington gehalten hatte!?

 

Anya gefiel die Antwort darauf nicht, die sich über ihr hinweg schwang. Ein grün-braunes, schuppiges Etwas, das mit seinem Atem doch glatt Mrs. Winterblooms Haus in Brand steckte.

„Ein Drache, huh? Okay, das ist wohl einer dieser Träume, in denen ich sterben soll“, kam Anya zu dem Schluss.

Als der Drache aber einen Bogen machte und sie anpeilte, entschied Anya, dass sie dieser Theorie lieber nicht nachgehen sollte. Nie war sie so schnell wieder auf die Beine gelangt, hatte sich Barbie geschnappt und war los gesprintet. Keinen Moment zu früh, denn im Nacken spürte sie die gleißende Hitze, die der Drache ihr in Form gewaltiger Flammen hinterher jagte.
 

Diesmal wagte Anya es nicht, sich umzudrehen. Sie rannte einfach stur geradeaus, mit dem Mistvieh auf den Fersen. Das war doch bestimmt Nicks Mutter, sagte sie sich, da das Vieh raubvogelähnliche Züge hatte und die Art von Gift und Galle spuckte, die die Alte sonst nur in Worte verpackte.

Was Anya darauf brachte, an ihre Freunde Abby und Nick zu denken. Hoffentlich ging es denen gut, denn wenn sie sich jetzt so recht umschaute … kopflose Reiter auf der Straße, die mit abgerissenen Armen nacheinander schlugen, leuchtende Silhouetten, die hinter den Fenstern tanzten, eine riesige Raubkatze mit Menschenkopf auf einem der Dächer … die zwei Pappnasen waren so gut wie tot, wenn Anya sie nicht sofort rettete!
 

Glücklicherweise hatte sie instinktiv den Weg zu Abbys Haus eingeschlagen, das nur noch zwei Straßen entfernt lag. Vorher musste sie aber Mrs. Harper loswerden, die nicht müde wurde zu betonen, wie schlecht ihre Laune doch war – indem sie halb Livington in Schutt und Asche legte.

Um dies zu bewerkstelligen, verließ Anya die Straße und schlich sich durch die Nischen zwischen den Häusern, die hier näher beieinander standen. Auf den Hinterhöfen versuchte sie sich davon zu stehlen, musste kurz noch Mr. Briggs KO schlagen, der als Zombie zwar ähnlich leblos wie sonst, allerdings wesentlich blutrünstiger war und sich über dessen Terrasse ins Haus schleichen, wo Mrs. Briggs in ihrer Rolle als Medusa mal eben eine nahe stehende Vase ins Gesicht bekam, da Anya keine Zeit und Lust hatte, sich um die unwichtigen Randgestalten zu kümmern.

Zwar hörte sie draußen den Drachen brüllen, da er aber nicht das ganze Haus in Brand gesetzt hatte, sondern das nebenan, musste er ihre Spur offenbar verloren haben. Anya schlich sich daher aus dem Vordereingang hinaus, sah sich um, aber alles was sich draußen noch tummelte, hatte nur zwei, vier oder acht Beine. Letzteres waren Spinnenfrauen, so schätzte Anya.

Da nahm sie doch lieber den Weg hintenrum, kehrte ins Haus zurück, schmiss noch eine Vase nach Medusa, die gerade erst wieder auf die Beine gekommen war und überquerte die einheitlich gehaltenen Hinterhöfe der Walker Street.

Immer wieder über kleine und größere Gartenzäune kletternd, begegneten ihr hier keine Livingtoner in brandneuem Gewand. Und offenbar hatte auch Mrs. Harper das Interesse an ihr verloren, zog sie in die andere Richtung weiter. Zeit genug, um den Kopf anzustellen und ein wenig die Situation Revue passieren zu lassen.

 

Was zum Geier war hier los!? Wieso waren alle plötzlich so viel cooler, nur sie nicht, beklagte Anya sich voller Unverständnis! Wieso durfte Mrs. Harper ein Drache sein!?

Anya, die am Ende der Straße angelangt war, hielt sich dicht bei den Häusern, denn mitten auf der Straße wäre sie nur ein willkommenes Ziel für die blutrünstige Meute. Scheinbar waren ihr nicht alle Monster auf den Fersen, einige beharkten sich gegenseitig, so wie zwei Harpyien gegen einen Zerberus zwei Häuser weiter.

Trotzdem wurmte es Anya, dass sie -mal wieder- außen vor gelassen wurde und scheinbar die einzig normal gebliebene in der Stadt war. Andererseits, dass das hier offenbar Realität und kein Traum war, vermochte Anya seit ihren Abenteuern von vor ein paar Monaten deutlich leichter zu akzeptieren. Weswegen sie am Ende doch froh war, keinen neuen Look spendiert bekommen zu haben. Man stelle sich nur vor, sie wäre am Ende nur so etwas wie eine Elfe im Rüschenkleid geworden! Das wäre die Demütigung des Jahrhunderts!

 

Anya, in ihrer für jene Situation etwas zu unbeschwerten Stimmung, gelangte schließlich vor das Haus der Familie Masters an. Dessen Tür gerade zugeschlagen wurde. Die Person, die daraus hervorgekommen war, drehte sich schnurstracks um und stemmte sich gegen ebenjene.

Weißes Haar, ein albernes Nachthemd mit Blümchenmuster. Keine Frage, das war Abby. Aber die war sonst brünett und kein Fall fürs Altersheim.

„Okay, das erspart mir immerhin, in diese Müllhalde von Haus reinzugehen“, giftete Anya lauthals und meinte damit das Gebäude, das mehrmals umgebaut worden war und dementsprechend schief und krumm aussah. O-Ton: zur Rechten ein diente großer Wintergarten als Unterhaltungszimmer. Ohne Witz, sie hatten dort Vorhänge, damit die Nachbarn nicht reinlinsen konnten. Das Haus war so seltsam, dass es wohl das einzige in Livington war, das der aktuellen Situation vom Äußeren her gerecht wurde.

„Anya!?“, stammelte Abby und drehte sich erschrocken um, dabei nicht vergessend, die Tür zuzuhalten.

 

Die Blondine, die vor dem Grundstück stand, schulterte Barbie und fasste sich stöhnend an die Stirn. „Okay, ich seh' schon, wenigstens du bist deiner Linie treu geblieben.“

Die rosafarbenen, katzenartigen Pupillen, besagtes langes, weißes Haar, die blassblauen Lippen und nicht zuletzt die langen, spitzen Fingernägel sagten genug aus. Abby war zur Sirene mutiert. Nur, dass das in ihrem Fall ausnahmsweise normal war, schließlich war sie auch schon vorher eine gewesen.

„Das ist nicht witzig“, fauchte das andere Mädchen mit rauchiger Stimme, „ich bin eben aufgewacht, vollkommen verwandelt! Und ich kann es nicht rückgängig machen.“

„Immerhin funktioniert dein Oberstübchen noch, anders als bei den anderen“, zuckte Anya unbedarft mit den Schultern, „hättest mal meine Mum sehen sollen, die ist vielleicht gruselig.“

„Hat deine auch versucht, dich umzubringen!?“, fragte Abby geschockt und stieß einen Schrei aus, als hinter ihr gegen die Tür geschlagen wurde.

Anya nickte. „Jep. Wie so ziemlich jeder hier.“

„Also sind alle … 'so'?“

„Außer ich. Zu was sind'n deine Eltern und Geschwister geworden?“, wollte Anya neugierig in Erfahrung bringen.

„Das willst du gar nicht wissen!“ Abby stemmte sich verzweifelt mit aller Macht gegen die Tür, hinter der es nur so polterte. „Außerdem ist jetzt nicht die Zeit dafür!“

Die Blondine schnaufte ärgerlich. „Sondern?“

„Zum Rennen!“, schrie die Sirene, ließ nun von der Tür ab, stürmte auf Anya zu und zog sie am Arm hinter sich her, ehe jene überhaupt begreifen konnte.

 

Was folgte war eine regelrechte Hetzjagd durch halb Livington. Abbys Geschrei hatte ein paar Ghouls auf sie aufmerksam gemacht, die sie zu verfolgen begannen. Ihnen schlossen sich schnell Werwölfe, Vampire, schwebende Nixen – im Ernst, wie machen die das!? – und Gott allein wusste was noch an, sodass die beiden Mädchen gut damit zu tun hatten, das Monsterkommando abzuhängen.

Sie benutzten Anyas Einbruch-/Ausbruchstrategie, hetzten durch die Häuser, Anya sagte nebenbei ein paar der hiesigen Einwohnern 'Hallo', bis die Jagd sie schließlich in die Gemäuer von Nicks Haus ein paar Straßen weiter führte, das jetzt im Obergeschoss ein schönes, großes Loch hatte. Anya und Abby hatten dann allerdings doch die Tür benutzt, da Nick ihnen mal erzählt hatte, wo sie den Ersatzschlüssel finden konnten – unter einem Blumentopf vor besagter Tür.

 

Kaum hatten die beiden die Tür hinter sich geschlossen, sackte Anya erschöpft an jene lehnend in sich zusammen.

„Ich … wusste gar nicht … dass Tina Brightstone's Vater ein Fan von Frankenstein ist …“, keuchte die Blondine.

Abby, die im Gegensatz zu ihrer Freundin nicht außer Puste war, seufzte schwer. „Ich hoffe, sie nehmen es uns nicht übel, dass wir durch ihr Haus marschiert sind.“

„In Momenten wie diesen machst du dir Sorgen um sowas!?, echauffierte sich Anya fassungslos. „Wir können froh sein, dass wir noch leben! Mr. Willis mit den Scherenhänden wollte uns wie verfickte Bonsais zurechtstutzen!“

„Du hättest ihm trotzdem nicht gleich so brutal die-!“

„Shh!“, machte Anya da eine eindeutige Geste und raffte sich auf. Dabei flüsterte sie Abby ins Ohr: „Hast du das gehört eben? Das kam bestimmt von Nicks Zimmer!“

Irgendetwas hatte dort gerumpelt, sie hatte es genau gehört.

„Das kam hundertprozentig von dort. Hoffentlich hat er uns nicht gehört, was auch immer er mittlerweile ist. Was machen wir jetzt, Anya?“

Die fasste sich ans Kinn und überlegte.

 

Draußen lauerten massenweise Monster. Sie standen hier im stockdunklen Flur der Familie Harper, mussten damit rechnen, gleich von Nick und/oder seinem Vater angefallen zu werden und hatten keine Ahnung, was überhaupt los war mit der Welt.

Es sah ganz danach aus, als ob sie dringend einen Plan brauchten.

 

„Verstecken ist keine Lösung“, murrte Anya sauer, „wir müssen irgendwie herausfinden, was hier abgeht und die Kacke beheben, ehe die drei, vier Leute, die ich leiden kann, zu Schaden kommen. Irgendwelche Vorschläge, Einstein?“

Abby, deren Pupillen man selbst in der Dunkelheit unwirklich glimmen sehen konnte, wandte sich von Anya vorsichtshalber ab, nur um sie nicht versehentlich zu hypnotisieren. Als Sirene hatte sie diese Kräfte, wenn sie auch nicht genau wusste, wie man sie richtig einsetzte.

„Wenn Levrier noch hier wäre, könnte er uns sicher einen Anhaltspunkt geben. Aber er und die anderen Immateriellen sind tot. Die nächstbeste Quelle wären wohl Dämonenjäger.“

Anya stöhnte auf, weil sie genau mit dieser Antwort gerechnet hatte. „Das Deppenduo? Ist das überhaupt noch in Livington?“

„Ja!“, erwiderte Abby leise, aber erbost. „Sie wollten morgen abreisen, wie oft habe ich dir das gesagt?“

„Zu oft. Und ich hab dir noch nicht oft genug gesagt, dass mich das nicht interessiert!“

„Sollte es aber, immerhin sind die beiden deine Freunde. Freunde, bei denen du dich noch immer nicht entschuldigt hast wegen deinem Verrat!“

„Warum fängst du ausgerechnet jetzt wieder damit an!?“, zischte Anya im Flüsterton und gestikulierte wild. „Außerdem, wer sagt denn überhaupt, dass die noch normal und nicht auch so'ne Freaks sind wie die da draußen!?“

Ihre Freundin, die zurückwich um nicht von Anyas Gebärden getroffen zu werden – jene sah in der Dunkelheit nämlich kaum etwas im Gegensatz zu Abby – konnte nicht anders als zu schnauben. „Ach Anya, wie lange willst du noch davor weglaufen!?“

„Ich laufe in erster Linie nur vor Drachen weg, damit du's weißt!“

„Ihr habt Mum also schon getroffen, huh?“

 

Die beiden drehten sich erschrocken zur Treppe gegenüber um, die zu den Schlafzimmern führte. Auf halber Höhe, wo sie sich wendete und in die andere Richtung weiterging, stand eine schattenhafte Gestalt.

„Oh, das wollte ich noch sagen“, erinnerte sich Abby, „Nick hat uns offenbar bemerkt.“

Anya, welche nur auf die gebogenen, bockbeinigen Dinger starren konnte, die wohl mal Nicks Beine gewesen waren, fehlte jegliche Ambition das zu kommentieren.

„Guckt nicht so verliebt“, sagte der junge Mann glucksend, „ich hatte zwar kein Glück beim Monsterlos, aber das tut meiner Sexyness nichts ab, hehe.“

Seine einen Kopf kürzere Freundin fing sich wieder und raunte nur: „Okay Harper, was bist du?“

 

Als Antwort sprang er über die Stufen hinweg und landete direkt vor den beiden. Seine nackte Hühnerbrust hervor streckend, war der junge Mann vor ihnen von der Hüfte abwärts ein Bock. Ein Satyr, um genau zu sein, denn seinen Kopf schmückten nun zwei gewundene Hörner.

„Nick“, brummte Anya bei seinem fast schon lächerlichen Anblick, „du hast offenbar so wenig Hirn, dass es da gar nichts zu beeinträchtigen gibt!“

„Offenbar ist er noch er selbst“, mutmaßte Abby sofort, „also wir drei.“

Was anschließend von Nick kam, war erstaunlich wirklichkeitsnah. „Määäh.“

„O-oder zumindest größtenteils, ahaha“, fügte die Sirene verlegen über ihren Irrtum hinzu. „Aber wieso niemand sonst? Was macht uns besonders?“

„Unsere Sexyness, was sonst?“, kam es von Nick aus der Pistole geschossen. Als er aber nur böse Blicke dafür erntete, stammelte er schnell: „Nicht? Dann vielleicht unsere diabolische Ader?“

Abby, die den Wink sofort verstand, schnippte mit den Fingern. „Natürlich. Wir alle haben dämonische Kräfte in uns schlummern! Anya war einst mit Levrier verbunden, ich bin eine Sirene und Another hatte sich kurzzeitig in Nick eingeschlichen, weswegen er immerhin vom Wesen er selbst geblieben ist.“

„... okay, die ersten beiden Beispiele kann ich nachvollziehen, aber wann war Nick denn von Another besessen?“
 

Das konnte Anya nicht wissen, erkannte Abby schnell, denn Nick hatte sonst niemandem davon erzählt. So wie er vieles nicht von sich in der Öffentlichkeit preisgab.

„Erzählt er dir später“, wiegelte sie das Thema schnell ab, um ihre ganz eigene Theorie, die sie nebenbei entwickelt hatte, endlich präsentieren zu können. „Also, ich glaube ich weiß, was passiert ist!“

„Schieß los, Einstein“, verlangte Anya und verschränkte die Arme.

Nick gluckste: „Ich hoffe, es hat mit nackten Frauen zu tun.“

Was bei seiner ohnehin schon genervten Freundin einen wütenden Aufschrei auslöste: „Kommt es nur mir so vor, oder sind alle Idioten in dieser Stadt in ihr Fabelwesen-Pendant verwandelt worden!?“

Nebenbei wich sie von Nick zurück, der sich plötzlich geduckt hatte und an ihrer Hose schnupperte. „Lass das, Harper!“

Abby nickte derweil. „Das habe ich mir auch schon überlegt. Nick ist ja nicht gerade keusch, sodass der lüsterne Satyr nur allzu gut zu ihm passt. Genau wie der Drache zu seiner Mutter.“

„Aber warum ist meine Mutter dann eine Banshee!?“, wollte Anya wissen. Ihr gefiel es nicht, denn diese Dinger waren … nicht sonderlich lebensfroh. Ging es ihrer Mutter etwa seelisch nicht gut? Hatte das gar mit ihr zu tun?

„Wie dem auch sei, ich glaube, das alles hat mit den Ereignissen zu tun, die sich auf dem alten Schulgelände abgespielt haben“, brachte Abby es schließlich mit belehrend erhobenem Zeigefinger auf den Punkt, „es musste ja soweit kommen! Irgendwas ist dort passiert, das sich jetzt auf die ganze Stadt auswirkt. Wenn nicht sogar auf die ganze Welt.“

„Nö, meine Sexchat-Partnerin war völlig normal, zumindest bis der Strom ausfiel“, kommentierte Nick das Ganze und kratzte sich in der Hocke nebenbei am Hintern. „Abby? Weißt du, wie man Flöhe loswird?“

„Ich weiß, wie man dich loswird, wenn du -das- nicht gleich sein lässt!“, giftete Anya sauer und stemmte die Hände in die Hüften, als er doch tatsächlich einen Satz nach vorn machte und ihre Boxershorts anknabbern wollte, was ihm aber nur Anyas nackten Fuß in seinem Gesicht einbrachte.

 

Nick nebenbei weg schleudernd, räusperte sich laut, um nicht noch auf dumme, aber sehr reizvolle Gedanken zu kommen. „Okay, also ist nur die Stadt betroffen. Und jeder, der dämonische Energien in sich hat oder hatte ist halbwegs er selbst geblieben?“

Abby tippte mit einem ihrer abnormal langen Fingernägeln gegen die Lippe. „Ja, ich glaube, dass es so sein muss. Vielleicht, weil es in unseren Fällen … nichts zu erwecken gibt? Weil wir schon anders sind als normale Menschen?“

„Dann heißt das sicherlich auch, dass Redfield, Marc, das Deppenduo und die Pennergeschwister ebenfalls irgendwo in der Stadt um ihr Leben rennen. Na klasse!“

„Wir sollten Valerie und die anderen suchen. Henry und Melinda haben dort ihre Wunden auskuriert, nachdem bei uns zuhause kein Platz mehr war. Also dürften sie zusammen sein“, überlegte Abby. „Und die Dämonenjäger sind in einem Motel am Stadtrand untergebracht.“

Anya aber konnte ihren Ohren nicht trauen und stampfte wütend auf. „Sie suchen!? Hast du mal auf die Straße geschaut? Das wäre glatter Selbstmord!“

„Wir können schlecht hier bleiben, sicher ist es nirgendwo!“, protestierte Abby. „Außerdem müssen wir etwas dagegen tun! Und dafür brauchen wir die Hilfe der anderen!“

 

„Dad ist nicht da“, meinte Nick schulterzuckend, nachdem er sich aufgerafft hatte, „seit er ein fliegender Teppich ist, hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

„Ein … fliegender Teppich?“, wiederholte Anya ungläubig. „Muss ich fragen, was deinen Dad dazu bringt, so etwas zu werden?“

„Mum trampelt immer auf ihm rum. Sowohl mental, als auch körperlich … hehe.“

„Klingt einleuchtend“, stöhnte Anya und lehnte sich gegen die Wand neben der Haustür, verschränkte die Arme. „Aber euch ist schon klar, dass Redfields kleine Villa nicht gerade um die Ecke ist? Selbiges mit dem Motel, wo die zwei Schwachmaten hausen? Wie sollen wir da hinkommen, ohne von Höllenhunden oder anderem Gesocks zerfleischt zu werden? Und jetzt sag nicht, wir stehlen uns ein Auto …“

„… das habt ihr nämlich schon versucht und festgestellt, dass auch sie nicht mehr funktionieren? Wie bei einem PMS?“, gluckste Nick.

Anya nickte sauer. „Bingo.“

„EMP“, korrigierte Abby und murmelte zurückhaltend. „Naja … du könntest uns den Weg freiräumen, Anya. Mit Barbie.“

Sofort stieß sich Anya begeistert von der Wand ab. „Darf ich!?“

„So ungern ich das auch sage, aber wir haben wohl kaum eine andere Wahl“, gestand ihre Sirenenfreundin, „aber damit das klar ist! Wir gehen Konfrontation aus dem Weg, so lange es geht, verstanden!?“

„Von mir aus“, brummte Anya und schulterte Barbie, „und wohin gehen wir zuerst?“

„Zuerst zu Valerie. Keiner von denen ist so … gut im Umgang mit Waffen wie du oder die Dämonenjäger. Wenn wir erst die beiden anderen holen, könnte es zu spät sein“, mutmaßte Abby, die offensichtlich keine Lust hatte, Matt und Alastair beim Namen zu nennen.

Anya nickte und stellte sich vor die Tür, bereit, notfalls ganz Livington in den monströsen Arsch zu treten. „Mir egal. Aber pass auf, dass ich Redfield nicht 'versehentlich' eins überbrate! Man, ich hoffe, du irrst dich und sie ist eine fette Qualle oder sowas!“

„Eher wird sie zur Nymphe“, murrte Abby ärgerlich, „also gut! Damit kann die Aktion 'Rettet Livington' offiziell beginnen!“

Woraufhin Anya die Tür auftrat und die Dreiergruppe unter stummen, aber dafür sehr ausdrucksstarken Kampfgeschrei auf die monsterüberfüllte Straße führte.

 

~-~-~

 

Alastair öffnete benommen die Augen. Der schmerzende Hinterkopf war schlimm, schlimmer aber noch war seine eigene Nachlässigkeit, die ihn in diese Lage gebracht hatte. Ächzend stemmte er sich vom Boden des Motelzimmers ab. Er spürte Blut seinen Nacken hinab laufen, allerdings hatte er jetzt keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen.

 

Matt rannte geradewegs in eine Falle! Und ausgerechnet dieser Andrew hatte sie ihm gestellt, jemand, den Matt als Freund ansah! Hätte er doch nur auf seine innere Stimme gehört, ihm war sofort aufgefallen, dass der junge Mann seltsam war, tadelte sich Alastair.

 

Sich im Zimmer umsehend, stellte er alsbald fest, dass von Andrew keine Spur mehr zu entdecken war. Kein Wunder, schließlich war es stockdunkel. Aber Alastair spürte es auch so, der Verräter war nicht mehr im Zimmer.

Alastair holte aus seiner Manteltasche ein Feuerzeug, das er aufschnappen ließ. Unter dem Licht der Flamme sah er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Auf den zweiten Blick aber bemerkte er doch etwas, etwas das fehlte. Zunächst wollte Alastair es bei dem Blick auf den leeren Schreibtisch im hinteren Teil des Zimmers nicht wahrhaben.

„Das Grimoire“, flüsterte er fassungslos.

Einst hatte er es einer Dämonin abgenommen. In ihm waren unglaublich viele Informationen zu finden, über Dämonen, Rituale, sogar einiges über Eden und den Turm von Neo Babylon. Zusammengetragen über Jahrtausende, in dutzenden Sprachen. Erst durch dieses Buch war Matt mehrfach mit Anya und ihren Freunden in Kontakt getreten, um sie vor den Gefahren und Konsequenzen zu warnen. Zunächst als Feind, dann als Verbündeter.
 

Fest stand, dass der in dickem Leder gebundene Wälzer nicht an seinem angestammten Platz lag. Es gab auch keinen Zweifel daran, dass er entwendet worden war, denn kurz vor Andrews Auftauchen hatte Alastair noch darin gelesen. Was konnte diese Ratte mit einem so gefährlichen Buch wollen? Der Hüne wollte es sich gar nicht ausmalen.

 

Ohne lange zu fackeln rannte Alastair aus dem Zimmer. Wie lange hatte er bewusstlos dort gelegen, fragte er sich auf dem Weg hinaus ins nächtliche Livington. Zuerst musste er Matt finden, ehe dem noch etwas Schlimmes widerfuhr, sofern es nicht schon zu spät war. Zusammen würden sie dann das Grimoire wiederbeschaffen!

 

Als Alastair die Straße überquerte, beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl. Irgendwie schien die Stadt leblos zu sein. Keine Autofahrer, niemand führte seinen Hund aus, was hier, am Waldrand eigentlich normal war. Das Schlimmste war, dass er keine Ahnung hatte, wo genau die 13. Straße lag. Er kannte Livington nicht so gut wie Matt. Je näher er der Innenstadt kam, desto bedrückender wurde dieses Gefühl in ihm. Hier stimmte tatsächlich etwas nicht. Absolut niemand war hier, nirgendwo Lichter. Ein Stromausfall?
 

Eine Seitenstraße gerade passierend, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sofort hielt er an, steuerte ohne zu zögern die enge Gasse an und marschierte vorwärts. Den Schatten, der sich hinter ihm erhob, sah er nicht. Musste er auch nicht, schließlich reichte sein Ellbogen aus, um der Figur hinter ihm ausreichend Schaden zuzufügen. Das Wesen keuchte unter der unerwarteten Initiative seitens des Opfers auf, torkelte zurück und wurde von nur einem Faustschlag Alastairs schließlich ganz niedergestreckt.
 

Dieser betrachtete das Wesen, das vor ihm lag erstaunt. Ein kugelrunder, überdimensionaler Kopf, schiefe, vergilbte Zähne, ein Gewand ganz aus schwarzer Seide gewebt. … er hatte keine Ahnung, was das überhaupt war. Einen Stampfer mit seinem Stiefel später würde es auch niemals jemand herausfinden.

 

„Du hast gerade einen Menschen getötet“, hallte es nach der Tat plötzlich erschreckend verzückt von der anderen Seite der Gasse.

Alastair zog den blutigen Stiefel aus dem Kopf der Kreatur und schnellte erschrocken um. Das war Matts Stimme!

„Matt!?“

„Ja und nein“, antwortete der und trat endlich aus der Dunkelheit der Gasse hervor. Sein Gesicht war eine finster grinsende Grimasse. „Nicht mehr, Alastair. Ich bin jetzt nur noch Mutters Diener.“

Sofort keuchte Alastair beim Anblick seines Freundes auf. Er war besessen! Aber von was!?

„Ich bin zu spät“, murmelte er geschockt.

„Ja, die erste Phase von Mutters Plan ist bereits umgesetzt. Du wirst in dieser Stadt keinen Menschen mehr finden. Aber keine Bange, es geht allen gut. Oder zumindest allen, die das Glück hatten, dir nicht über den Weg gelaufen zu sein.“

„Was ist passiert!?“

Matt lachte auf. „Pah, als ob ich dir das sagen müsste! Denk selbst ein wenig nach, auch wenn das nicht gerade deine Stärke ist!“

 

Wenn Matt besessen war und das Grimoire gestohlen wurde, dann musste diese Mutter jetzt in dessen Besitz sein! Hatte sie einen Zauber ausgesprochen? Welchen?

Viel wichtiger aber war jetzt, dass er Matt zur Besinnung brachte. Alastair keuchte schwer, alles schien sich zu überschlagen. Eigentlich blieb ihm angesichts der Tatsache, dass sein Gegenüber besessen war, nur eine Wahl.
 

Sein Freund schien bereits zu wissen, worauf das hinauslaufen sollte. „Mutter hat mir und Andrew aufgetragen, jeden zu eliminieren, der ihre Pläne durchkreuzen kann.“

Er hob seinen Arm an. Sich um diesen schlängelnde Schatten bildeten langsam ein D-Pad.

„Pff. Ich habe keine Zeit für lange Diskussionen, Matt! Wenn du es so willst, werde ich kurzen Prozess mit dir machen!“

Der Hüne schnallte sich den eigenen Duell-Apparat um, den er aus der Innentasche seines roten Mantels zog. Kurz überlegte er, ob es nicht einen effektiveren Weg gab um Matt zu besiegen, aber alles was ihm einfiel, waren grausame Methoden mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass sein Freund sie nicht überlebte. In dem Moment wurde ihm klar, dass er kaum andere Wege zum Bekämpfen von Dämonen kannte als jene zu töten. Etwas, das er wohl überdenken musste.

Alastair und der fremdgesteuerte Matt erhoben schließlich ihre D-Pads und riefen: „Duell!“

 

[Alastair: 4000LP / Matt: 4000LP]

 

„Was für eine vertrackte Situation“, sagte der Jüngere mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen, „es ist doch zu komisch, dass wir uns schon zum dritten Mal in wenigen Wochen als Feinde gegenüber stehen.“

Die Aussage hatte zur Folge, dass Alastair eine Faust ballte und murrte: „Du ziehst das Unglück magisch an, Matt! Die vergangenen Duelle waren meine Fehler, für die ich jetzt Buße tun werde!“

„Oh, büßen wirst du allerdings. Urila, meine Mutter, will dich tot sehen, immerhin warst du als Anothers Gefäß zu schwach“, gab Matt zu verstehen, „sie ist sozusagen seine Schwester, weißt du?“

„Und wieso ist sie hier?“, verlangte Alastair zu wissen.

 

Allerdings bekam er keine Antwort. Stattdessen zog Matt neben seinem Startblatt noch eine sechste Karte und bestimmte damit die Reihenfolge der Spielzüge.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, sagte er. Plötzlich umrandete eine finstere Aura die Karten in seiner Hand und in seinem Deck, „die gute ist, dass Urila meinem Deck eine Generalüberholung verpasst hat. Die schlechte: das Ergebnis wird dir nicht gefallen!“

Damit legte er ein Monster quer auf sein D-Pad und verkündete: „Dieses Monster verdeckt, womit ich meinen Zug beende.“

Die vergrößerte Form der Karte materialisierte sich mit dem Bild nach unten zeigend vor seinen Füßen.
 

Alastair, dem noch immer der Schädel dröhnte, riss nun seinerseits eine Karte von seinem Deck und schrie: „Draw!“

Den Blick fest auf seinen Gegner gerichtet, wusste er, dass es schwer werden würde, ohne Refiels … ohne Anothers Kräfte etwas gegen ihn auszurichten. Allerdings würde er einen Weg finden, Matt vom Einfluss dieses Abkömmlings zu befreien. Zumindest vermutete er, dass dies nur ein Teil des wahren Dämons war, der sich Urila nannte. Auf dieselbe Weise hatten schon andere Dämonen dafür gesorgt, dass sie an mehreren Orten gleichzeitig sein konnten. Wie Another …

So schnappte Alastair sich ein Monster aus seinem Blatt und knallte es auf das D-Pad. „Ich beschwöre [Vylon Soldier]! Und um seine Macht noch weiter zu steigern, rüste ich ihn mit [Vylon Material] aus!“

Von oben herab stieg eine mechanische Engelsgestalt, die ihren Mangel an Beinen mit zwei massiven, goldenen Armen wieder wett machte. An einem von diesem erschien ein Aufsatz, aus dem ein spitzer Dorn ragte.

 

Vylon Soldier [ATK/1700 → 2300 DEF/1000 (4)]

 

„Attacke!“, befahl Alastair und zeigte auf Matts gesetztes Monster. Dessen Karte wirbelte plötzlich in die vertikale Lage und drehte ihr Bild nach oben, sodass ein finsteres, geflügeltes Wesen daraus empor kam. Dazu erklärte der Hüne: „Soldier wechselt pro Ausrüstungsmagie, die er besitzt, die Position eines deiner Monster.“

 

Evilswarm Hraesvelg [ATK/1150 DEF/1850 (4)]
 

Allerdings zeigte sich Matt davon unbeeindruckt. „Das war ein Fehler! Wenn [Evilswarm Hraesvelg] aufgedeckt wird, gibt er eine offene Karte des Feindes aufs Blatt zurück!“

Der gehörnte, finstere Vogel stieß einen Schrei aus, welcher Alastairs Engelsmaschine fortschleuderte. Die Waffe an seinem Arm löste sich dabei auf, Sekunden später die Kreatur selbst.

„Hmpf! Evilswarm?“, wiederholte der ältere Dämonenjäger und steckte das Monster ins Blatt zurück. Jenes Vogelmonster war ihm vertraut, doch er konnte nicht einordnen, wo er es schon einmal gesehen hatte. „Beeindruckend. Aber nicht genug, um mich zu überrumpeln. Jetzt, wo [Vylon Material] auf den Friedhof geschickt wurde, kann ich eine neue Vylon-Magie meiner Hand von meinem Kartenstapel hinzufügen!“

Dies tat er auch, nämlich mit einer zweiten Kopie von [Vylon Material].

„Ferner, jetzt wo auf dem Ablagestapel eine Vylon-Ausrüstungsmagiekarte liegt und ich keine Monster kontrolliere, ist es mir erlaubt, [Vylon Omicron] von meiner Hand zu beschwören!“ Er knallte die Karte auf sein schwarzes D-Pad und schrie: „Erscheine, mächtiger Verteidiger!“

Vor ihm erhob sich eine massive, goldene Engelsmaschine mit kugelartigem Unterleib. Ihre silbernen Arme gingen in einem Bogen von den Schultern ab und schlugen am unteren Ende die Fäuste zusammen, sodass das Gebilde einem O glich.

 

Vylon Omicron [ATK/0 DEF/3000 (7)]

 

Alastair schob zwei Karten in die Zauber- und Fallenkartenzonen und sagte dabei: „Diese setze ich. Dein Zug!“

Noch während sich die Karten vor seinen Füßen materialisierten, lachte Matt leise und bitterböse.

 

„Draw“, rief er unter einer hämischen Grimasse und zog schwungvoll. Von seiner neuen Karte ging ebenfalls die finstere Energie aus. Sogleich legte er die neue, gelb umrandete Karte neben Hraelsvelg auf seine Duel Disk. „Normalbeschwörung! [Evilswarm Heliotrope]!“

Alastair weitete die Augen, als er den finsteren Ritter in der dunkelgrünen Rüstung sah. Mit dem Schwert in der Hand, streckte er stolz die Brust hervor – in der ein Smaragd steckte.
 

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]

 

Der Blick des Hünen huschte herüber zu Hraesvelg. Jetzt ging ihm ein Licht auf, woher ihm der Vogel bekannt vorkam! Henry Ford spielte so einen in seinem Gusto-Deck. Und dieser Ritter war eindeutig eine besessene Version des [Gem-Knight Emerald] der Schlangenzunge Anya Bauer.

„Sieht so aus, als wärst du endlich dahinter gekommen“, sagte Matt vergnügt und streckte die Arme weit aus, „ja, einige meiner Karten waren einst die Diener deiner Freunde. Lass dich überraschen, was noch in meinem Deck auf dich wartet. Wie das hier!“

Er ballte eine Faust und schwang dann den Arm aus, was zur Folge hatte, dass seine beiden Monster sich in violette Lichtstrahlen verwandelten, die von einem schwarzen Strom verschlungen wurden, welcher sich inmitten des Spielfelds aufgetan hatte.

„Ich errichte das Overlay Network! Aus meinen Stufe 4-Evilswarmern wird ein Rang 4-Monster! Xyz-Summon!“

Alastair wusste sofort, was Matt plante. Nämlich sein Paktmonster zu rufen, das er einst durch Another erhalten hatte – [Steelswarm Roach]! Diese konnte die Spezialbeschwörungen von auf Stufe 5 oder höher liegenden Kreaturen verhindern und sie zerstören. Es war eine der besten Waffen gegen sein Vylon-Deck!

Jedoch brachte ihn ein grauenhaftes Gebrüll, welches aus dem Wirbel hervor drang, von diesem Gedanken schnell ab. So etwas hatte Roach nie getan! Würde er etwa-!?

„Zeig deine ganze Pracht, [Evilswarm Bahamut], Herold der Dreiheit!“

Schwarze Schwingen mit Zwischenhäuten aus purem Eis reckten sich durch den Wirbel. Aus diesem kam ein schlangenhafter Drache empor geflogen, finsterer als die tiefste Nacht. Sein boshaftes Antlitz ließ selbst den gestandenen Alastair innehalten, als das Monster sich vor Matt aufbaute und seine Klauen zeigte.
 

Evilswarm Bahamut [ATK/2350 DEF/1350 {4}]

 

Zwei violette Sphären kreisten um den bösartigen Drachen, als er noch einmal majestätisch brüllte. Alastair erkannte dieses Monster als [Brionac, Dragon Of The Ice Barrier] wieder, eines der gefürchtetsten Synchromonster überhaupt!

„Monstereffekt!“, lachte Matt hysterisch und zog ein Xyz-Material unter seiner Karte hervor. „Um ihn zu aktivieren, muss ich zusätzlich noch ein Evilswarm-Monster von meiner Hand opfern!“

Er schob Heliotrope und [Evilswarm Coppelia] in seinen Friedhofsschacht. Sogleich schnappte der Drache nach einer der Sphären, die sich blutrot färbte und schluckte sie hinunter.

„Spread Infection!“, befahl Matt und zeigte auf Alastairs Monster. „Gib mir die Kontrolle über [Vylon Omicron]!“

Bahamut öffnete sein Maul und spie eine schwarze Wolke auf Alastairs Maschine. Beim genaueren Hinsehen erkannte man, dass es in Wirklichkeit winzige Insekten waren, die auf Omicron zugeflogen kamen.

Alastair aber runzelte nur die Stirn und schwang den Arm aus. „Für wen hältst du mich, Matt? Ich kontere deinen Effekt mit [Vylon Omicrons], da er als Ziel ausgewählt wurde! Ich mische eine Vylon-Ausrüstungsmagie vom Friedhof in mein Deck zurück, verringere sowohl Stufe als auch Verteidigung meines Monsters und blockiere deinen Effekt! Circle Barrier!“

Von dem kugeligen Unterleib ging ein Blitzen aus, welches sich als kreisrunder Lichtschild vor ihm manifestierte. An diesem prallten die Insekten ab und verpufften.

 

Vylon Omicron [ATK/0 DEF/3000 → 2500 (7 → 6)]

 

Als der Versuch fehlgeschlagen war, die Kontrolle über Alastairs Monster an sich zu reißen, musste Matt auflachen. „Haha, sehr gut. Wie man es von dir erwartet.“

„Keine Sorge Matt, ich werde dich so schnell ich kann befreien!“

„Mein neues Ich gefällt mir aber“, widersprach dieser, „sieh nur, zu was ich dank Urila, dank Mutter, im Stande bin! Ich bin stärker denn je! Zauberkarte: [Xyz Regret]!“

Das waren nur die Auswirkungen ihres Einflusses auf ihn, dachte Alastair ärgerlich. Der Matt, den er kannte, war nie versessen auf Macht oder dergleichen gewesen!

Zur Überraschung des Hünen schossen aus Matts Drachen zwei violette Lichtstrahlen heraus, was zur Folge hatte, dass [Evilswarm Bahamut] sich in dunklen Partikeln auflöste. Stattdessen materialisierten sich jene Strahlen zu [Evilswarm Heliotrope] und [Evilswarm Hraesvelg].

„Indem ich ein Xyz zurück in mein Extradeck schicke und es für dieses Duell aufgebe, kann ich zwei Monster vom Friedhof mit identischem Level gegenüber seines Rangs rufen und für eine neue Xyz-Beschwörung nutzen! Los!“

Mit Unbehagen beobachtete Alastair, wie die Monster gleich wieder zu den Lichtstrahlen und vom Overlay Network absorbiert wurden.

„Xyz-Summon!“, schrie Matt begeistert. „Schattenherr der Dreiheit! [Evilswarm Ophion]!“

Aus dem Wirbel trat noch ein Drache, viel größer als sein Vorgänger. Ebenso wie Bahamuts, waren seine Schwingen aus hellblauem Eis, auch wenn sie in ein blutiges Rot am unteren Rand übergingen. Sein spitzer Schweif peitschte wild, als er brüllte. Alastair kannte auch ihn: er gehörte ebenfalls den gefürchteten Ice Barrier-Synchromonstern an, [Gungnir, Dragon Of The Ice Barrier]. Dann …

 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 DEF/1650 {4}]

 

Auch um ihn kreisten zwei violette Sphären – und Alastair erschrak, als er feststellen musste, dass jenes Monster seine Verteidigung durchbrechen konnte.

„Richtig! Da ich mich noch in meiner Main Phase 1 befinde, kann ich zuschlagen! Zunächst aber aktiviere ich noch seinen Effekt! Expand Infection!“

Matts Monster schnappte nach einem seiner Xyz-Materialen und schluckte es hinunter. Von seinen Schwingen gingen daraufhin dunkle Wellen aus, die sich überlagerten und in ihrer Mitte eine Karte formten, die in Matts Hand flog. „Ich erhalte eine Infestation-Karte von meinem Deck, welche ich sofort setze!“

Der besessene Dämonenjäger ließ die Falle mit zufriedenem Ausdruck vor seinen Füßen erscheinen und streckte den Arm aus. „Jetzt vernichte das, was nicht dem Kollektiv angehören will, Ophion! Absolute Infestation!“

[Evilswarm Ophion] öffnete sein Maul und schoss dieselbe schwarze Wolke, die auch [Evilswarm Bahamut] für seinen Effekt genutzt hatte, auf [Vylon Omicron] ab. Auf dessen Oberfläche breitete sie sich, einmal getroffen, rasend schnell aus und zerfraß die Maschine in Sekunden, bis sie explodierte.

„Hmpf“, brummte Alastair und verschränkte die Arme, „interessant, dieses Deck.“

„Das war erst der Anfang deines qualvollen Untergangs. Zug beendet“, kicherte Matt.

 

Alastair zog still seine nächste Karte. Er fühlte sich schuldig an Matts Zustand, denn wenn er nur stärker gewesen wäre, hätte es niemals zu all den Katastrophen der letzten Monate kommen müssen.

Dennoch fragte er sich, welches Wesen so stark war, dass es den friedfertigen Matt derart verderben konnte. Das war kein gewöhnlicher Abkömmling, der sich in ihn eingenistet hatte: nein, es war, als wären all die dunklen Eigenschaften seines Freundes plötzlich gebündelt zutage getreten. Alastair wollte gar nicht wissen, welchen Effekt so ein Wesen auf ihn haben musste.

Nichtsdestotrotz würde er sich nicht beirren lassen, auch wenn es ihm bisher an einem Plan zur Rettung seines Freundes noch mangelte.
 

„Ich aktiviere eine Magiekarte“, sagte er und zeigte [Monster Reborn] vor, „mit ihr reanimiere ich ein Monster. Dieses ist [Vylon Omicron]!“

Aus einer sich vor ihm öffnenden Erdspalte entstieg die O-förmige Engelsmaschine – nur um eine Salve von schwarzen Insekten in Empfang zu nehmen, die [Evilswarm Ophion] aus seinem Maul kommen ließ. Noch ehe Alastair Fragen stellen konnte, zerbröckelte seine Kreatur und fiel in die Erdspalte zurück.

Belehrend hob Matt den Zeigefinger. „Sorry Al, aber so haben wir nicht gewettet. Ophion verhindert, dass Monster ab Stufe 5 spezialbeschworen werden können. Habe ich das vergessen zu erwähnen? Wie dumm von mir, haha!“

Unter einem Wutschrei knallte sein Gegner daraufhin [Vylon Soldier] auf sein D-Pad, welcher vor ihm mit seinen wuchtigen Armen erschien. Ohne eine Erklärung folgen zu lassen, rüstete Alastair sein Monster mit [Vylon Material] aus, sodass die Ausgangssituation seines letzten Zuges wiederhergestellt war.

 

Vylon Soldier [ATK/1700 → 2300 DEF/1000 (4)]
 

„Ich befehle dir den Angriff“, donnerte der schwarzhaarige Hüne mit ausgestreckter Hand, „vernichte [Steelswarm Ophion], indem du seine Position wechselst!“

Der Engelssoldat, an dessen rechten Arm die Vorrichtung mit dem Dorn erschienen war, schoss wie ein Pfeil auf den finsteren Drachen zu. Mit der Absicht, ihn dank der neuen Waffe aufzuspießen. Das Untier hob seine Flügel und legte sie schützend um seinen Körper.

 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 DEF/1650 {4}]

 

Genau als der Soldat Kontakt mit seiner Dornenwaffe herstellte, geschah das Unfassbare: beide Monster lösten sich in düsterem Licht auf. Sofort fiel Alastairs Blick auf Matts Falle, die vor ihm aufgeklappt war.

„[Infestation Terminus]“, benannte jener diese und zuckte unbedarft mit den Schultern, „du hättest besser aufpassen sollen, welche Karte ich mit Ophions Effekt meiner Hand hinzugefügt habe. Denn diese Falle bannt einen Schwärmer, um zwei deiner Karten auf die Hand zurückzugeben. Wie gewonnen so zerronnen, gilt wohl für uns beide, nicht wahr?“

Unzufrieden nahm Alastair daraufhin [Vylon Soldier] und [Vylon Material] wieder auf die Hand zurück. Unfassbar, dass Matts Deck nun so stark war, dass es keine Möglichkeit für ihn gab, auch nur einen winzigen Treffer zu laden!

„Zug beendet“, brummte er. Immerhin hatte Matt den größeren Verlust gemacht, war sein Xyz-Monster jetzt fort. Andererseits schien er diese nur als Mittel zum Zweck zu benutzen, obwohl beide unglaublich stark waren. Was die Frage aufwarf: bei welchem Monster würde Matt seine Wegwerfstrategie beenden? Alastair wollte es gar nicht wissen.

 

~-~-~

 

„Schneller!“, heizte Anya ihre beiden Begleiter an.

„Ich kann nicht mehr!“, jammerte Nick, als er mühselig Anya und der Abbyrene, wie er sie neuerdings nannte, hinterher hechelte. „Diese Beine bringen mich um! Ich bin schneller wenn ich hüpfe, hehe.“

„Dann hüpf eben! Oder schmeiß dich hin und lass dich von Chucky oder Freddy fertig machen, das würde uns wenigstens Zeit verschaffen!“, erwiderte Anya gallig.

Zugutehalten musste man ihr, dass das ausnahmsweise kein Witz war. Denn während sie die Straße entlang zu Valerie Redfields weißer Villa hechteten, wurden sie tatsächlich von besagten Übeltätern berühmter Filme verfolgt. Und noch ungefähr zwei dutzend anderer Kreaturen, die zwischen zehn Zentimetern und drei Metern groß waren. Denn leider war es ihnen nicht gelungen, sich unbemerkt in Valeries Straße zu stehlen.

Der elfjährige LeRoy Jenkins, der jetzt die Mörderpuppe mimte, hatte die Dreiergruppe entdeckt, als sie sich über dessen Grundstück auf den Hinterhof schleichen wollten. LeRoy, der ein heimlicher Fan von Anya war und seither sein ganz eigenes Programm sadistischen Terrors ausarbeitete, würde irgendwann die nächste Generation von Terrorkindern einläuten. Grund genug für ihn, jetzt wo er all seiner Angst vor Anya und seines Verstandes beraubt war, besagtes Programm an seinem großen Idol auszuprobieren. Drum alarmierte er mit kreischigem Gebrüll alle Monster in der näheren Umgebung, auf dass sie ihm bei seinem Unterfangen unterstützten. Was Anya, Nick und Abby in ihre aktuelle Misere brachte.
 

„Da!“, schrie Anya und zeigte mit dem Finger auf eine weiße Villa links voraus von ihnen. Jene, dem Weißen Haus nicht unähnlich, war stockfinster. Das große Eingangstor stand sperrangelweit offen.

„Oh nein!“, japste Abby neben ihr. „Sag bloß, sie wurden schon angegriffen!?“

„Hallelujah, dann wird der Tag ja doch noch gut!“, jubelte Anya böswillig.

Nick, der schon fast von dem Monstermob eingeholt worden war, schrie: „Hilfe, ich kann nicht mehr!“

Da knallte es. Die Monster hinter dem Satyr kamen abrupt zum Stehen, im Asphalt prangerte ein kleines Loch. Anya und Abby hielten ebenfalls verdutzt an und sahen zurück. Nick rannte die beiden fast um und versteckte sich hinter den Mädchen, die nicht begriffen, was gerade geschehen war.

„Wer hat da geschossen?“, fragte Anya angespannt. „Das war 'n Jagdgewehr! Und was für eins! Wer-!?“

Abby aber zeigte nach oben, zu einem Fenster im Obergeschoss der Villa der Redfields. Als Anya dem Hinweis folgte, verzogen sich ihre Augen zu Schlitze. „Oh, ich hätte es wissen müssen! Wieso hat dieses Miststück sowas!?“

Dort oben, aus dem Fenster, lehnte sich eine schwarzhaarige Gestalt mit Cowboyhut und zielte auf die Gruppe aus Monstern. Plötzlich schwang die Tür der Villa auf, aus der ein brünetter, junger Mann und eine etwas ältere, ebenfalls brünette Frau erschienen.

„Kommt, schnell!“, rief Henry den Dreien zu.

„Hier ist es sicher!“, bestätigte seine Schwester Melinda.

„Pah! Machen die es sich dort gemütlich, während wir um unser Leben rennen!?“, beklagte sich Anya halb fragend, halb feststellend. „Von wegen! Da kriegen mich keine zehn Pferde rein!“

„Beeilung!“, drängte Henry aus der Ferne. „Schließt dabei gleich das Tor, wenn ihr schon dabei seid!“

„Und passt auf die Streuner auf dem Hof auf!“, fügte Melinda noch hinzu. „Als der Strom ausfiel, haben sie das Tor geöffnet und sind hier hinein gelangt!“

Womit sie wohl eine Gruppe von Zombies, einen Anubismann und anderes Gesocks meinte, das sich im weitläufig angelegten Blumenbeet der Redfields vergnügte.

Anya schnaubte. „Sonst noch Wünsche!?“

Ehe sie aber weiter protestieren konnte, zog Abby sie am Arm zum Grundstück hin und wies dabei Nick an, dass er sich um das Tor kümmern sollte.

 

Der Lärm ließ allerdings Valeries ungebetene Gäste aufmerksam werden, weshalb die Drei sich beeilen mussten, vor denen im Haus zu sein. So hetzten sie über den Garten in die Villa hinein, wodurch Henry und Melinda den Monstern im Schlepptau gerade noch rechtzeitig die Türe vor der Nase zuschlagen konnten.

Das Erste, was Anya bemerkte, als sie sich im dunklen Flur des Hauses umsehen konnte, waren die stöhnenden Geräusche, die von weiter vorne aus dem Wohnzimmer drangen.

„Was … ist das … ?“, keuchte sie und stützte sich bückend an den Knien ab.

„Nur Valeries Vater“, erklärte Henry steif, während er an ihr vorbei humpelte. Selbst im Dunklen konnte Anya förmlich die missbilligenden Blicke spüren, die er ihr zuwarf. Da war wohl jemand immer noch sehr nachtragend bezüglich gewisser Intrigen ihrerseits. Warum auch nicht, sein rechtes Bein war schließlich eingegipst und -ihr- Autogramm fehlte darauf noch!

„Und was ist der jetzt?“, wollte sie wissen.

„Ne Mumie“, antwortete Melinda belustigt, „Valerie hat ihn ins Wohnzimmer gelockt und dann an seinem Sessel gefesselt. Mit seinen eigenen Bandagen!“

„Ui, wie toll! Warum hat sie ihn nicht gleich dran aufgehangen, wenn sie schon so gut im Mumienbekämpfen ist!?“, ätzte Anya sofort drauf los.

In dem Augenblick kam das Cowgirl in Hotpants, Valerie, von rechts in den Flur, ihre Flinte geschultert. „Weil er mein Vater ist.“

Anya blinzelte zweimal, ehe sie das Wort ergriff. „Oh Redfield, von all den Dingen, zu denen du hättest werden können … Riesenoktopus, Schleimklops, meinetwegen auch ein Cockatrice … musstest du unbedingt du selbst bleiben, huh!?“

Deren Reaktion auf die Provokation fiel anders als erhofft aus. „Was auch immer.“

Allein an dem angespannten Tonfall merkte man auch ihr an, dass sie nicht sonderlich begeistert war, Anya zu sehen. Geschweige denn deren Kommentare anhören zu müssen.

Die ließ sich allerdings nicht anmerken, dass ihr die abweisende Art einen Stich versetzte. „Wenn du meinst … seit wann kannst du überhaupt schießen?“

„Mein Vater hat mich hin und wieder zu seinen Übungen und Jagdausflügen mitgenommen“, erwiderte Valerie immer noch unterkühlt.

 

Ihr Blick wanderte von Anya zu Abby und Nick. „Seid ihr beide in Ordnung? Nick, du …“

„Er ist aber nicht bösartig!“, versicherte Abby ihr sofort.

Valerie klang nicht vollends überzeugt, als sie fragte: „Und was ist mit dir?“

„Sperr doch die Augen auf, Redfield! Sie ist eine Sirene!“, giftete Anya.

„Aber heißt das dann nicht, dass wir sie nicht ansehen dürfen?“, fragte Nick der Satyr. „Weil Sirenen doch hypnotisieren … hab ich gehört. Auch wenn ich natürlich alle Blicke auf mich ziehe, so sexy wie ich bin, hehe.“

Nur um sofort von Anya eine Klatsche gegen den Hinterkopf zu bekommen. „Du Idiot, du hast doch letztens im Knast gesehen, dass das Schwachsinn ist! Sie ist'n Halbblut und nicht gut-“

„Nick, Anya“, unterbrach Abby ihre altklugen Freunde scharf und sah beide abwechselnd mit halb geschlossenen Augen an, denn dass sie auch schon vor der Monsternacht eine Sirene war, mussten Valerie, Melinda und insbesondere Henry nun wirklich nicht wissen, „das interessiert jetzt nicht! Und Nick: zieh Anya an den Haaren!“

Ehe jene überhaupt wusste wie ihr geschah, hatte Nick willig ihren Pferdeschwanz gepackt und hielt die einen Kopf Kürzere daran fest. „Finger weg, du Idiot!“

Sich zu Abby schwingend, hielt die ihr den Zeigefinger wütend unter die Nase. „Das beweist gar nichts! Nicht bei Nick!“

„Anya“, gurrte Abby mit ihrer rauchigen Stimme, „zeig uns deinen Bauchnabel.“

Und Anya gehorchte ganz zu ihrem Entsetzen, als sie ihr schwarzes Shirt hochzog. Valerie konnte es sich nicht verkneifen lauthals zu lachen, während Henry fassungslos über die Albereien der Drei den Kopf schüttelte.

„Jetzt wisst ihr, was eine Sirene so alles kann“, schloss Abby die Szene und wandte sich Valerie zu, „wegen der Transformationen …“

Woraufhin sie den Dreien knapp die Situation erklärte plus ihre Theorie, warum sich der Fluch oder was auch immer auf sie alle anders auswirkte als auf den Rest Livingtons.

 

„So ist das also“, murmelte Melinda und versuchte eine sorgenfreie Miene aufzusetzen, was ihr nur mäßig gelang, „dann haben wir ja fast Glück gehabt, mal Opfer der Immateriellen geworden zu sein.“

„Wo ist eigentlich Marc?“, wollte Anya wissen.

„Der ist noch oben und sorgt dafür, dass die Dämonen uns fern bleiben.“ Valerie winkte zum Verständnis mit dem Jagdgewehr, rückte sich mit dem Lauf den Cowboyhut etwas nach oben.

Henry stellte sich neben sie und verschränkte die Arme. Missmutig fragte er: „Was hast du angestellt?“

„Meinst du mich, Pennerkind?“, erwiderte Anya gereizt und zeigte mit dem Finger auf sich.

„Anya, sei nicht so respektlos! Denk lieber dran, was ich dir nahegelegt habe!“, mahnte Abby sie.

„Tch … ihr wollt eine Entschuldigung hören?“, sagte Anya im Affekt. „Dann sperrt die Lauscher auf: es gibt keine! Und wollt ihr wissen warum!? Egal was ich sage, was ich sagen könnte – es wäre nicht gut genug für euch! Also lasse ich es!“

Melinda, die sich eher abseits der anderen hingestellt hatte, seufzte: „Ich kenne dich zwar nicht gut, aber ich kann nachvollziehen, was dich … zu dem bewogen hat, was du getan hast. Zwar kann ich nur für mich sprechen, aber ich habe dir verziehen. Es ist doch alles nochmal gut ausgegangen, wir sollten uns freuen, noch am Leben zu sein.“

„Ich sehe das anders, Melinda“, sagte Henry daraufhin kalt. „Einmal Verräter, immer Verräter.“

„Immerhin bist du ehrlich, Anya“, schlug Valerie in dieselbe Kerbe, „und du hast recht, gut genug wären deine Entschuldigungen niemals. Aber in einem irrst du dich.“

Bewusst zur Seite ihren Freund Nick ansehend, der das Ganze mit unbeschwerter Miene verfolgte, wollte Anya wissen: „Das wäre?“

„Eine Entschuldigung habe ich nie erwartet. Um ehrlich zu sein könnte ich so viel Schlechtes über dich in diesem Moment sagen, dass ich vermutlich eine ebenso verdorbene Sprache wie du benutzen müsste“, sagte Valerie ernst, „aber wenn mich Anothers Intrige eins gelehrt hat, dann dass wir alle Opfer waren, jeder auf seine eigene Weise. Irgendwann werde ich dich sicherlich wieder ausstehen können, so sehr das bei dir eben möglich ist, Anya. Aber bis dahin lass mich in Ruhe, okay?“

Anya zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst, Redfield …“

„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, fügte die Tochter des Bürgermeisters noch an. Ihre Stimmung hellte sich mit einem Mal ein wenig auf. „Betrachte dich als Freundin auf Probezeit. Die einen großen Fehler begangen und uns nun ihre Loyalität beweisen muss. Und wenn du bestehst, werde ich deine Entschuldigung annehmen, egal wie schlecht sie ist.“

„Ist das dein Ernst?“, hakte Henry missmutig nach. „Erst bist du kalt wie ein Eisblock, jetzt vergibst du ihr?“

„Hast du nicht zugehört?“ Valerie zog an ihnen vorbei und trat auf die Tür zu. „Ich habe gesagt, dass ich ihr noch vergeben muss. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass du auch ein wenig über dich nachdenkst. Denk nicht, dass ich vergessen habe, was du Marc angetan hast im Turm.“

Henry schnaubte wütend, hatte er diese Kritik an seiner Person nicht erwartet. „Ich hatte keine Wahl!“

„Den Satz zu benutzen, obwohl du ihn bei anderen verurteilst, sieht dir ähnlich“, erwiderte Valerie nun wieder in der Rolle der Eiskönigin, „wie gesagt, fass dich lieber an die eigene Nase.“
 

„Aber Schluss damit. Also“, schloss Valerie und drehte sich zu den anderen um, „Zeit, dass wir die Dämonenjäger aufsuchen. Melinda, Nick, ihr bleibt mit Marc im Haus. Der Rest folgt mir und Anya.“

„Wer hat dich zur Anführerin gemacht?“, ätzte Anya, die hin und her gerissen war, ob sie aus Dank, dass Redfield ihrem Erzfeind Henry Ford eine verbale Kopfnuss gegeben hat, auf einen fiesen Spruch verzichten sollte. Das schlechte Gewissen ihr gegenüber und natürlich ausschließlich die Aussicht, dass Abby sie nicht länger wegen der Turmsache nerven würde, ließen sie den zerbrechlichen Waffenstillstand mit ihrer Rivalin schließlich wahren.

Auf Anyas Frage antwortend, winkte Valerie noch einmal mit ihrer Waffe: „Die da. Da kann deine Barbie leider nicht mithalten.“

„Du würdest dich wundern!“

„Sollten wir nicht zusammen gehen? Als Gruppe sind wir stärker“, schlug Abby vor.

„Aber erregen auch mehr Aufmerksamkeit“, gab Valerie zu verstehen, „Anyas Erfahrung im Umgang mit Baseballschlägern, meine Schusskünste und Abbys Sirenenkräfte sind hilfreich.“

Sich übergangen fühlend, schnaubte Henry sauer.

„Ach und Henrys Mundwerk“, fügte Valerie noch spitz hinzu. „Aber du kannst auch hier bleiben, wenn du möchtest. Ich glaube, mit deinem Bein wäre das nur angemessen.“

„Gott Redfield, seit wann bist du so … cool?“, schoss es aus Anya heraus, die diesen Ausruf sofort aufs Bitterste bereute.

„Ich komme mit“, entschied Henry und zückte seine Duel Disk, „oder wollt ihr auf den verzichten, der seinen Duel Monsters-Karten dank gewisser Beziehungen ordentlich Wumms verpassen kann?“

Was er damit meinte war, dass er der Sohn des Besitzers der Abraham Ford Company war, die die Duel Monsters-Server in Amerika bereitstellte und die Karten dort vertrieb. Wodurch er die Sicherheitseinstellungen seiner Duel Disk ausschalten und realen Schaden verursachen konnte.

„Ach stimmt, deswegen wollt ich dich mitnehmen“, antwortete Valerie lakonisch, „also Anya, wo finden wir die Dämonenjäger am wahrscheinlichsten?“

„Wenn sie sich nicht grad durch die Stadt metzeln, vermutlich irgendwo in der Nähe des Motels am Stadtrand.“ Anya verschränkte die Arme, wie sie neben ihrer Rivalin stand und grinste keck. „Da beide aber totale Volltrottel sind, eher bei der Einsturzstelle des Turms. Die Narbenfresse ist sicher ganz heiß drauf, den Fall zu lösen und alles und jeden zu exorzieren.“

„Also auf zu dem Ort, wo vermutlich alles begann!“, entschied Valerie und riss die Tür auf.

 

Die Gruppe leitend, schritt sie über den weitläufigen Hof des Anwesens, das Jagdgewehr im Anschlag. Sich ab und zu um die eigene Achse drehend, achtete sie darauf, dass keiner der überirdischen Eindringlinge ihnen zu nahe kam. Dabei gab Marc ihnen als schattenhafte Figur im oberen Stockwerk aus einem der Fenster lehnend Deckung.

„Kommt es mir nur so vor, oder haben die Schiss vor Knarren?“, überlegte Anya, die Rücken an Rücken hinter Valerie lief, um ihr Deckung zu geben. So konnte sie nach oben zu dem Fenster sehen, wo Marc besagten Sniper mimte und ihr zuwinkte.

Abby, die sich mit Henry ebenfalls dicht an der Gruppe hielt, meinte: „Vielleicht erinnern sie sich, dass sie als Menschen Waffen respektiert haben.“

„Hoffen wir, dass wir nicht auf jemanden von Anyas Schlag treffen“, murrte Henry, „jemand, den Waffen vor der Nase anturnen.“

„Kennst dich ja gut mit meinen Fetischen aus“, ätzte Anya zurück.

Die Vierergruppe näherte sich dem Tor, sodass Henry und Abby sich ran machten, jenes zu öffnen, während die anderen beiden jungen Frauen aufpassten, dass die lauernden Kreaturen nicht auf dumme Gedanken kamen.

 

Alles verlief reibungslos. Sie verließen das Grundstück, schlossen das Tor und bewegten sich dicht am Bürgersteig und den hohen Zäunen der anderen Anwesen entlang. Der Monstermob, der zuvor Anya und Co verfolgt hatte, war inzwischen wieder zerstreut. Tatsächlich war die Straße wie ausgestorben.

„Irgendwie ist es hier zu still“, befand Valerie und sah sich gründlich in der nächtlichen Umgebung um.

„Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich habe ein ganz dummes Gefühl hierbei“, gab Abby ängstlich zu.

„Keine Sorge, wir passen auf dich auf“, versuchte Henry sie beruhigen.

„D-danke.“

Anya schnaubte. Sie hasste es, ihrer Erzrivalin recht geben zu müssen. Hier stank etwas ganz gewaltig und damit meinte sie nicht Nicks Satyrhormone, die ihr jetzt ekligerweise anzuhaften schienen.

 

Die allgemeine Anspannung stellte sich aber als unbegründet heraus. Völlig unentdeckt konnten sie die nächsten vier Straßen passieren.

„Noch etwa zehn Minuten Fußmarsch, dann sind wir da“, sagte Valerie und führte die Gruppe an ein paar am Straßenrand geparkten Autos vorbei, von denen eins wie eine Coladose plattgedrückt war.

„Und was, wenn die Dämonenjäger nicht dort sind?“

„Dann gehen wir wieder zurück und überlegen uns etwas anderes“, antwortete die Schwarzhaarige auf die Frage Abbys. „Ohne die beiden können wir nichts tun, das sollte klar sein.“

„Riecht ihr das?“, fragte Anya und schnüffelte demonstrativ. „Irgendwie … verkohlt.“

Henry, der neben ihr her humpelte, zeigte mit dem Arm, an dem seine Duel Disk angeschnallt war, auf ein hohes Bürogebäude weiter voraus. Auf etwa seiner Mitte war es völlig verkohlt, aus einigen Büros drang Rauch.

„Duckt euch!“, befahl Anya sofort, die ahnte, was vorgefallen war. „Versteckt euch hinter den Karren!“

Ohne über die Order nachzudenken, taten die anderen Drei wie geheißen, sodass Anya und Henry sich hinter einem roten und Valerie mit Abby hinter einem schwarzen Wagen verbargen.

„Was ist?“, wollte Anyas Erzrivalin flüsternd wissen.

„Das da oben war Nicks Mum. Die ist jetzt ein Drache. Möchte wetten, die schwirrt hier noch irgendwo rum.“

Henry sah nach oben in den wolkenverhangenen Himmel, konnte aber keine fliegenden Kreaturen entdecken. „Da ist nichts.“

„Vielleicht versteckt sie sich irgendwo? Auf offener Straße sind wir für sie gefundenes Fressen“, gab Abby zu bedenken.

„Was anderes bleibt uns nicht übrig. Das hier ist kein Wohngebiet mehr, hier gibt es keine Hinterhöfe, die uns Schutz bieten.“ Anya pfiff durch die Zähne. „Und ich wette, keiner von euch Schlappschwänzen hat den Mumm, durch die Kanalisation zu waten.“

„Sie hat recht, dort würden wir uns nur verirren. Wir müssen eben Deckung suchen“, entschied Valerie, „vielleicht haben wir Glück und Nicks Mutter ist längst woanders.“

 

So kam es, dass sie von Auto zu Auto hechteten. Einige standen mitten auf der Straße, welche sie mieden. Doch zu ihrem Glück gab es heute außergewöhnliche viele Berufstätige, die bis mitten in die Nacht Überstunden schoben. Auch ein gewisser Mangel an öffentlichen Parkplätzen machte es ihnen leichter, nicht allzu lange ohne Deckung auskommen zu müssen.

Leider bemerkten sie dabei nicht, dass unter einem der Wagen eine schrumpelige Hand hervor langte. Auch war ihnen entgangen, dass die Straße zwar frei war – die Dächer der umliegenden Geschäfte und Bürogebäude aber geradezu überfüllt mit Kreaturen der Nacht war. Und all deren Augen waren auf die kleine Gruppe fixiert.

 

Diese bog gerade ahnungslos in eine nach rechts verlaufende Straße ein, da wurden auch sie langsam skeptisch.

„Irgendwas ist hier komisch“, meinte Anya, als sie am Straßenrand hinter der kleinen Hütte eines Hot Dog-Verkäufers Schutz fanden, „hier ist niemand! Wo sind die alle?“

„Vielleicht hat sich das Problem bereits gelöst und alle liegen wieder in ihren Betten?“, hoffte Abby.

„Sei nicht albern“, winkte ihre beste Freundin mürrisch ab, „wann war das jemals der Fall?“

„Uah! Bestimmt nicht heute!“, schoss es aus Henry heraus, als von oben herab eine Klaue nach seinem Hals schnappte. Nur haarscharf verfehlten die messerscharfen Krallen dabei seine Kehle, Henry schlug im Affekt den fellüberzogenen Arm weg. Schreiend stieß er sich anschließend von dem Laden ab. „Scheiße!“

Sofort wichen auch die anderen Drei von dem Hot Dog-Stand zurück und fanden sich umzingelt vor, als von den Dächern die verschiedensten Kreaturen sprangen. So war die bucklige Kreatur, die Henry beinahe die Kehle durchgeschnitten hatte, womöglich ein Werwolf.

„Oh shit!“, schrie Anya. „Die Viecher müssen uns verfolgt haben!“

„Gar nicht so dumm!“, gestand Valerie.

Zusammen wurden sie zunehmend in die Mitte der Straße gedrängt, wo die Schlinge sich immer enger um sie zog. Von allen Seiten kamen sie, nur noch wenige Meter von Anya und Co entfernt.

„Verdammter Kackmist, wer hätte gedacht, dass sie so klug sind!?“

Henry lachte bitter auf. „Das waren mal Menschen. Selbst jetzt, in diesem Zustand, sind sie noch cleverer als du, Anya.“

„Fuck you!“, sprachs und hielt Henry den Mittelfinger mitten ins Gesicht.

„Hört auf zu streiten, wir haben ernsthafte Probleme!“, mahnte Valerie die beiden und schoss mit ihrer Waffe vor ein paar kriechenden Schleim-Kreaturen in den Boden. Doch die erhoffte Wirkung blieb diesmal aus, die Monster hielten nicht an. Eilig lud Valerie nach, indem sie die Patrone aus der Brusttasche ihrer Jeansweste fischte und einlegte.

„Was machen wir jetzt!?“, jammerte Abby unsicher. „Wir können die doch nicht töten! Das sind immerhin Menschen!“

„Und was sollen wir sonst tun!?“, fauchte Anya zurück, die Barbie kämpferisch vor sich hielt, bereit, jederzeit zuzuschlagen. „Die softe Tour funktioniert nicht! Dafür sind es zu viele!“

Henry, der seine Duel Disk aktivierte, nickte. „Leider hat sie recht. Ausknocken nützt bei der Masse nichts. Entweder die oder wir, eine andere Wahl haben wir nicht.“

„Doch haben wir! Passt auf!“

 

Abby wandte sich von der Gruppe ab und räusperte sich.

Dann begann sie zu singen. Seltsame Worte oder besser gesagt die Brocken, an die sie sich noch erinnerte. Das friedliche Wiegenlied, das ihre Mutter immer gesungen hatte, „La fina kanto“ - das letzte Lied. Es würde die Monster einlullen und sie davon abhalten anzugreifen.

Aber nichts geschah. Die Kreaturen kamen immer näher, was Abby aus dem Takt brachte. Sie waren ihr gar so nah, dass die Sirene zurückweichen und das Lied abbrechen musste.
 

„W-warum funktioniert es nicht!?“, stammelte Abby panisch. „Anya!?“

„Entweder weil sie immun sind oder zu viele, bin ich 'ne Sirene, dass ich dir das beantworten kann!?“, gab die angespannt zurück.

Valerie richtete ihr Gewehr und zielte damit auf den Kopf einer Kreatur, die eine Mischung aus Bär und Elch zu sein schien. „Wir haben keine Wahl mehr. Jetzt geht es ums nackte Überleben.“

Waren die Monster schließlich noch knapp zwei Meter von ihnen entfernt. So drückte das Mädchen ab.

 

 

[Part II – Ende]

The Last Asylum Movie "Second Coming" - Part III

Yu-Gi-Oh! The Last Asylum – The Movie Part III

 

 

Ein kalter Luftzug bahnte sich seinen Weg durch die enge Seitengasse, in der Matt und Alastair sich duellierten. Ersterer schien regelrecht von den Schatten, die aus seiner Brust drangen, nach und nach verschlungen zu werden. Irgendein Dämon, der sich Urila nannte und den Matt als Mutter bezeichnete, hielt ihn über seinen Abkömmling fest im Griff.

Alastair sah seine einzige Chance, Matt zu befreien in dem Duell, das die beiden austrugen. Allerdings war er alles andere als versiert darin, Menschen von Dämonen zu befreien, ohne sie dabei zu töten. Dennoch würde er nicht eher ruhen, bis diese Aufgabe erfüllt war. Immerhin ging es hier um seinen Freund! Zumal die beiden Dämonenjäger unbedingt diese Urila finden und stellen mussten, bevor die noch mehr Unheil anrichtete. Alastair schwante allerdings schon jetzt Böses diesbezüglich, sodass er sich zur Eile mahnte, Matt aus dem eisernen Griff der Dämonin zu befreien.

Wie jedoch bereits vorher abzusehen war, stellte sich dieser als harte Nuss heraus. Keinem von beiden war es gelungen, dem jeweils anderem Schaden zuzufügen.

 

[Alastair: 4000LP / Matt: 4000LP]

 

Alastair stand verkrampft seinem besessenen Freund gegenüber. Dieser hatte gerade gezogen. Sein Feld mochte jetzt leer sein, im Gegensatz zu Alastairs, das immerhin zwei gesetzte Karten vorweisen konnte, aber dennoch spürte der Hüne die Gefahr regelrecht unter der Haut, die von seinem Gegner ausging. Matt hatte noch gar nicht angefangen, sein volles Potential auszuschöpfen.

 

„Warum?“, fragte Alastair nach. „Warum haben die Leute sich verändert? Sag es mir, Matt!“

„Oh, bist du immer noch nicht drauf gekommen?“, erwiderte der böswillig und grinste. Er schnalzte mit der Zunge. „Dummer Alastair. Du hättest auch selbst darauf kommen können, dass Mutter einen Zauber aus dem Buch über die Stadt gewoben hat.“

Also tatsächlich war das Grimoire, das dieser Andrew gestohlen hatte, die Ursache für die Veränderungen! Soviel hatte Alastair schon vermutet. Und trotzdem hätte er nie für möglich gehalten, dass in ihm etwas derartig Mächtiges verborgen lag.

„Dieser Zauber, der die innere Finsternis nach außen kehrt und ihr eine Form gibt“, sprach Matt weiter und sein Ton wurde düsterer und gleichwohl wütender, „hat Mutter großes Leid zugefügt. Aber er wird ihre Schmerzen wert sein. Denn was einst schwach war, ist jetzt zehnmal so wertvoll. Und damit wird alles seinen richtigen Weg finden!“

Hieß das, dass der Zauber gesprochen wurde, um die Livingtoner mächtiger werden zu lassen? Aber dann-!?

„Ihr wollt sie opfern!“

„Natürlich. Livington hat nicht genug Einwohner für unseren Plan, weshalb Mutter improvisieren musste. Schon bald aber kann das Ritual beginnen, nachdem sie sich erholt hat. Aber du“, sagte Matt und zeigte mit dem Finger auf Alastair, „wirst uns dabei nicht in die Quere kommen! Mein Zug!“

 

„Mach dich bereit!“, rief er und zückte zwei Monster aus seinem aus vier Karten bestehenden Blatt. „Ich rufe [Evilswarm Castor] und nutze seinen Effekt, um eine zweite Normalbeschwörung durchzuführen!“

Ein halb schwarzer, halb weißer Krieger mit einem Schwert in der Hand, dem zwei dünne, parallel verlaufende Klingen entsprangen, erhob sich vor Matt.

 

Evilswarm Castor [ATK/1750 DEF/550 (4)]

 

Alastair, der bisher jedes Evilswarm-Monster zuordnen konnte, kannte die Originalversion dieses Exemplars zu seinem Erstaunen nicht.

Sein Gegner indes rief: „Wie bereits gesagt, lässt er mich einen weiteren Artgenossen rufen. Und das tue ich, indem ich [Evilswarm Azzathoth] beschwöre!“

Aus einem sich öffnenden Spalt im Boden kam eine groteske, sphärenartige Gestalt geflogen, die aus allen nur erdenklichen, einen Hauch von Reptilien besitzenden Ungeheuern bestand. Sie alle hatten bösartige Mäuler gemein und Alastair erkannte, dass er dort die gesamte Worm-Familie in kompakter Form vor sich hatte, eine außerirdische Rasse von Invasoren.
 

Evilswarm Azzathoth [ATK/750 DEF/1950 (4)]

 

Matt streckte hysterisch lachend den Arm aus. „Du kennst die Prozedur! Ich erschaffe das Overlay Network und mache aus meinen Stufe 4-Monstern ein Rang 4-Monster!“

Was würde diesmal kommen, fragte sich Alastair mit Schweiß auf der Stirn, während er zusah, wie der dunkle Dimensionswirbel sich inmitten des Feldes öffnete und die beiden Monster als violette Lichtstrahlen absorbierte.

„Xyz-Summon! Erscheine, Reiter des Unheils! [Evilswarm Thanatos]!“

Auf einem schwarzen Einhorn kam der feindliche Ritter aus dem Strudel hervorgesprungen, ihn umkreisten zwei Lichtsphären. Der Reiter gehörte früher zu dem Dämonenclan der Fabled, war er einer der oberen Befehlshaber, [Fabled Ragin]. Sein Reittier indes war einst [The Fabled Unicore] gewesen.

 

Evilswarm Thanatos [ATK/2350 DEF/1350 {4}]

 

„Planst du, dieses Monster ebenfalls wegzuwerfen, wenn dir danach ist?“, wollte Alastair wissen.

Matt erwiderte vergnügt, während er einen Zauber zückte: „Nein. Ich plane zu gewinnen! Deshalb aktiviere ich [Mutual Infestation], die seine Angriffskraft verdoppelt!“

Der schwarzhaarige Hüne fiel aus allen Wolken, als er den schwarzen Nebel um den Reiter erblickte, welcher dessen Offensivwert in die Höhe schießen ließ.

 

Evilswarm Thanatos [ATK/2350 → 4700 DEF/1350 {4}]

 

Allerdings ging der besessene, junge Mann vor ihm noch einen Schritt weiter. Er nahm eines der Xyz-Materialien unter [Evilswarm Thanatos] hervor und erklärte: „Um mich vor deinen Monstereffekten zu schützen, hänge ich eine Overlay Unit ab und mache ihn für den Zug über immun! Nur für den Fall, dass du eine böse Überraschung planst.“

„Nichts dergleichen“, versicherte Alastair ihm grimmig, als Thanatos die Lichtkugel mit seinem Schwert absorbierte.

„Umso besser!“, lächelte Matt grausam und zeigte auf seinen Freund. „Dann ist es wohl Zeit für unseren Abschied. Ich mag es ja kurz und schmerzlos! Also vergehe! [Evilswarm Thanatos], direkter Angriff! Infestation's Hate Crusher!“

Unter lautem Wiehern galoppierten Einhorn und Reiter auf Alastair zu, die pechschwarze Klinge bereits zum tödlichen Schlag erhoben. Allerdings war das vermeintliche Opfer nicht unvorbereitet und aktivierte eine seiner zwei gesetzten Karten.

„Schnellmagie!“, brüllte Alastair und knallte dabei ein Monster auf seine Duel Disk. „[Celestial Transformation]! Sie ermöglicht mir, einen Engel von meiner Hand zu rufen! Schütze mich, [Vylon Soldier]!“

Die mechanische Engelsgestalt, die bisher wenig in dem Duell ausrichten konnte, tauchte vor Alastair mit über den Körper gekreuzten Armen auf.

 

Vylon Soldier [ATK/1700 → 850 DEF/1000 (4)]

 

Ein Hieb von Matts Monster reichte trotzdem aus, um es in der Mitte zu durchtrennen und zum Zerplatzen zu bringen.

„Wie langweilig“, kommentierte der junge Mann das unzufrieden. „Zug beendet, was den Zweiteffekt von [Mutual Infestation] auslöst. Alle meine Schwärmer werden in die Verteidigung gewechselt.“

Im gemütlichen Trab kehrte der Reiter zu seinem Besitzer zurück und bezog eine schützende Position vor ihm.

 

Evilswarm Thanatos [ATK/4700 → 2350 DEF/1350 {4}]

 

„Wie ich mir dachte“, brummte Alastair und zog auf drei Karten auf, „nur ein weiteres Wegwerfmonster in deinem Arsenal. Nicht dass der Matt, der ich kenne, seinen Monstern je einen besonderen Wert beigemessen hat, aber das ist nicht die Art von Duellant, die sowohl er, als auch ich respektieren. Selbst die Schlangenzunge zeigt ihrem Deck gegenüber mehr Wertschätzung.“

„Der Zweck heiligt die Mittel. Mehr sind diese Karten nicht für mich“, rechtfertigte sich der jüngere Dämonenjäger. „Wenn einer fällt, rufe ich den nächsten. So einfach ist das.“

Alastair schüttelte den Kopf. „Dann soll diese Arroganz deine Niederlage markieren. Sieh her, wie ich jede dieser Kreaturen zu Fall bringen werde! Ich beschwöre [Vylon Prism]!“

Eine weiß-goldene, längliche Kreatur erschien vor Alastair, die einem Schild glich, wie Ritter sie trugen. Aus jeder Seite ragte ein Arm, den das Wesen zu Fäusten ballte.

 

Vylon Prism [ATK/1500 DEF/1500 (4)]

 

„Es selbst ist zwar nicht besonders stark“, meinte Alastair und zeigte auf Matts Reiter, „aber immer noch mächtig genug, deinen Verteidigungswall zu überwinden! Los, greife [Evilswarm Thanatos] an!“

Die untere, blau schimmernde Hälfte des Schildes begann stark zu leuchten und feuerte schließlich einen Lichtstrahl auf den Krieger und sein Ross ab, welcher beide regelrecht zerfetzte.

„Zug beendet!“, raunte Alastair mit seinen zwei verbliebenen Karten in der Hand.

 

Mit einem Mal begann Matts Hand in schwarzen Flammen aufzugehen, als er nach seinem Deck griff. Gleichzeitig spürte Alastair einen fiesen Stich im Brustkorb, spürte er am ganzen Leibe die Macht, die von seinem Freund ausging. Dieser erglühte binnen Sekunden regelrecht in der schwarzen Aura.

„Das ist-!?“

„Du kennst es. Refiel beziehungsweise Another hat dir diese Gabe oft genug zuteil werden lassen“, sagte Matt zutiefst zufrieden über den entsetzten Blick seines Freundes, der sich die Brust hielt, „die Macht, dem Schicksal einen neuen Pfad hinzuzufügen. Jetzt erlebst du, wie sie gegen dich verwendet wird! Draw!“

Als der junge Mann schwungvoll vom Deck zog, entbrannte diese neue Karte in schwarzen Flammen. Niemand musste Alastair erklären, dass Matt in jenem Augenblick selbst bestimmt hatte, was er ziehen würde.

„Nun rufe ich [Evilswarm Kerykeion], die Wiedergeburt des dunklen Sterns!“

Eine schwarze, engelsgleiche Gestalt tauchte vor Alastair auf. Sie stieg mit gespreizten Schwingen in die Höhe und hielt dabei an einem großen Stab fest, um den zwei goldene Linien gewunden waren. Und während das Wesen aufstieg, begannen orange leuchtende Sphären um Kerykeion zu kreisen. Auch diese Kreatur war Alastair völlig fremd.
 

Evilswarm Kerykeion [ATK/1600 DEF/1550 (4)]

 

Matt, der immer noch von der dunklen Aura umgeben war, streckte seine Arme weit aus.

„Nur Kerykeion kann die Infektion zurückbringen! So banne ich [Evilswarm Castor] von meinem Friedhof, um einen Schwärmer wie [Evilswarm Heliotrope] von ebendort auf meine Hand zu bringen. Und diesen beschwöre ich sogleich durch Kerykeions zweiten Effekt als zusätzliche Normalbeschwörung, was nur durch den ersten ermöglicht werden kann!“

Violett-schwarzer Nebel bildete sich am Boden unter dem beflügelten Wesen, das mit dem Stab darauf zeigte. Dort unten gewann schließlich der dunkelgrüne, infizierte Gem-Knight erneut sein Leben.

 

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]
 

Matt zeigte seine letzte Handkarte vor, ebenfalls ein Monster. „Zu guter Letzt wirst du deine eigene Kreatur unter dem Vorhang der Infektion kennenlernen! Zeig dich, [Evilswarm Dullahan], jetzt, wo ich einen Schwärmer mit mehr als 1500 Angriffspunkten kontrolliere!“

Neben Heliotrope tauchte noch einmal der sinistre Nebel auf und setzte eine kopf- und beinlose Kreatur zusammen, die aus grauem Metall mit schwarzen Streifen gemacht war. Zwei gewaltige, goldene Arme machten das Wesen regelrecht furchteinflößend.
 

Evilswarm Dullahan [ATK/1150 DEF/1550 (4)]

 

„Das ist … [Vylon Soldier]!“, stieß Alastair erschrocken hervor. „Ich hätte es wissen müssen!“

„Selbst der Vylon-Stamm konnte sich nicht gegen die Infektion wehren. Es ist nur eine weitere Karte, die nun Teil des Kollektivs ist“, erwiderte Matt ganz lapidar, „nichts aber im Vergleich zu der wahren Infektion, die sich überall ausbreitet wie eine Plage.“

Überrascht von dem letzten Teil der Aussage, fragte Alastair: „Was meinst du damit?“

„Frag Mutter. Das heißt, wenn du soweit kommst!“ Die Augen fast zusammenkneifend, schwang Matt den Arm aus. „Attacke, meine Monster! Heliotrope, Kerykeion, Dullahan, dreifacher Angriff!“

Alle drei Kreaturen, ob die zwei an Land oder Kerykeion in der Luft, bündelten vor sich schwarz-violette Wolken, die sie synchron in Form eines Strahls auf Alastair und sein Monster abfeuerten. [Vylon Prism] wurde bereits vom Angriff des schwarzen Engels mitgerissen, wohingegen Alastair die Angriffe der anderen beiden abbekam. Die Wucht der Attacke traf ihn direkt im Bauch, hob ihn von den Füßen und schleuderte ihn kurzerhand durch die halbe Gasse, wo er hart auf dem Rücken aufkam und noch ein Stück weiter rutschte.

An den Wänden huschten aus ihren Verstecken derweil finstere, in den Schatten verborgene Kreaturen herbei, deren Augen rot leuchteten – gierig wohnten sie dem Spektakel bei, versessen darauf, Alastair das Fleisch von den Knochen zu reißen.

 

[Alastair: 4000LP → 800LP / Matt: 4000LP]

 

„Urgh“, stöhnte jener und richtete, sich den Bauch haltend, den Oberkörper auf, „also habe ich dennoch den ersten Treffer einstecken müssen. Das ist eine Demütigung.“

Plötzlich kicherte Matt. Erst ganz leise, dann immer lauter, bis es in ein bellendes Lachen überging, gefolgt von einer geradezu manischen Ansprache. „Du denkst, das wäre eine Demütigung?“

Alarmiert beobachtete Alastair, wie die finstere Aura um seinen Freund zunehmend stärker wurde und begann, die Wände der umstehenden Häuser regelrecht zu zerfressen. Die Schattenkreaturen flohen alsbald wie aufgescheuchte Hühner, als die alles verschlingende Finsternis auch sie zu vertilgen drohte. So schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden.

„Matt!“

„Ich werde dir zeigen, wie stark mich Mutter gemacht hat! Sieh her, ich erschaffe das Overlay Network in meiner zweiten Main Phase!“

Es war, als würde man Alastair die Luft abschnüren, so extrem wirkte sich das Folgende auf ihn aus. Denn als sich die drei Monster in violette Lichter verwandelten, die in den sich öffnenden Sternenstrudel mitten im Spielfeld gezogen wurden, waren sie nicht die einzigen. Auch ein Teil von Matts Aura, der pechschwarze Nebel, wurde absorbiert.

„Xyz-Summon! Erscheine, oh Speerspitze der Dreiheit! [Evilswarm Ouroboros]!“

Mehrfach erklingendes, tiefes Gebrüll drang aus dem Überlagerungsnetzwerk hervor. Erst ein maskierter Kopf, dann zwei und schließlich ein dritter traten aus dem Wirbel hervor. Lange Hälse verbanden sie mit dem Körper des Drachen, der seine Schwingen spreizte und allein durch seine Anwesenheit pure Finsternis zu verbreiten begann. Um jeden der Köpfe kreiste eine Lichtsphäre, als der Drache über Matt Position bezog.

Und Alastair kannte das Monster nur zu gut. Dies vor ihm war eines der gefürchtetsten Synchromonster gewesen, [Trishula, Dragon Of The Ice Barrier]! Der Gott jenes Stammes!

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4}]

 

„Ahh“, keuchte Alastair, der sich mit einem Male kraftlos fühlte. Noch immer saß er auf dem Boden, beziehungsweise lag, als er sich nicht mehr halten konnte und nach hinten kippte. Schwarzer Nebel, der von Ouroboros ausging, umschlich ihn, fesselte seine Glieder.

„Siehst du es? Dieses Monster ist die Manifestation meiner eigenen Finsternis!“

„Manifestation?“, brach Alastair gerade so hervor und hob den Kopf an. Sich gegen die Finsternis zu wehren vermochte er gar nicht erst.

„Mutter hat in mir geweckt, was so lange geschlafen hat. All der Zorn, die Trauer, die Einsamkeit … Mutter hat all das hervorgeholt und mir die Augen geöffnet.“ Matt sah hochnäsig auf seinen Freund herab. „Ich bin der Welt keinen Gefallen schuldig. Also kann ich Mutter genauso gut helfen.“

„Du irrst dich“, begehrte Alastair auf, „du bist nicht Matt. Der echte Matt würde sich niemals zu so etwas herablassen!“

„Halt's Maul!“, brüllte jener wütend und streckte den Arm in die Höhe. „Wollen mal sehen, ob du deine Meinung diesbezüglich nicht noch änderst! Effekt von Ouroboros aktivieren! Einmal pro Zug kann ich einen seiner drei Effekt aktivieren! Ich wähle den des linken Kopfes, der dich eine Handkarte abwerfen lässt!“

Erschrocken vernahm Alastair diese Worte. Dieses Monster, diese pure, unterdrückende Gewalt, es war vermutlich auf einer Stufe mit den Inkarnationen, wie sie die Immateriellen benutzten!

„Infestation's Rejection!“, brüllte Matt da und zeigte auf Alastair.

Der linke Kopf schnappte nach seinem Xyz-Material und spie im Anschluss eine pechschwarze Wolke auf Alastairs Arm. Dieser schrie unter dem schrecklichen Schmerz auf, ätzte die Flamme wie Säure den Ärmel des roten Mantels regelrecht weg und versengte die Haut. Doch nicht nur das, Alastair ließ eine seiner beiden Handkarten los, die damit als abgeworfen galt.

Matt lachte auf. „Das war erst der Vorgeschmack. Nächste Runde wirst du richtig Bekanntschaft mit Ouroboros machen! Zug beendet!“

 

Mit zitternder Hand griff Alastair nach seinem D-Pad und zog eine durchaus nützliche Zauberkarte auf. In der anderen Hand hielt er [Vylon Material], sah beide Karten an.

Aber in seinem jetzigen Zustand konnte er sich kaum rühren. Solange ihn die Schatten festhielten, war jede Chance auf Gegenwehr sinnlos. Er wusste ja nicht einmal, wie er dieses Ding aus Matt vertreiben konnte!

 

Zwar gab es den Umkehrzauber, der dem Ziel kurzweilig die Kontrolle über seinen Körper zurückgab, aber so einen hatte Alastair nicht dabei. Sie waren nicht umsonst ziemlich umständlich herzustellen, an die passenden Materialien zu gelangen gestaltete sich schwer.

In seinem Arsenal befanden sich Teleportzauber, diverse, spezifisch ausgerichtete Dämonentöter und -blocker, Schlafzauber, die aber nur selten wirkten und ein paar andere, die ihm nicht zu helfen vermochten.

Früher, als er noch unter Refiels beziehungsweise Anothers Fuchteln stand, hätte er einen Exorzismus durchgeführt. Aber der würde Matt töten und das würde Alastair niemals in Betracht ziehen. Es sei denn …

Aber konnte er so ein Wagnis eingehen? So weit er informiert war, hatte noch nie jemand etwas Derartiges getan. Andererseits war es wohl seine einzige Option, auch wenn es ihrer beider Tod bedeuten könnte? Oder Schlimmeres, wenn sie überlebten.

Doch zuerst …

 

„Falle aktivieren“, keuchte Alastair. Die gesetzte Karte weiter vorne auf dem Feld sprang auf. „[Vylon Link]! Ich werfe eine Vylon-Ausrüstungsmagie ab, beschwöre dafür bis zur End Phase drei Vylon-Kreaturen von meinem Friedhof.“

„Ich kenne die Karte“, rümpfte Matt die Nase, „dafür werden sie ihrer Angriffskraft und einer Stufe beraubt, richtig? Pah!“

„[Vylon Omicron], [Vylon Soldier], [Vylon Prism], seid mein Schild!“, sagte Alastair leise, nachdem er sich seiner Ausrüstungszauberkarte entledigt hatte und nach etwas in der Innentasche der unbeschädigten Seite seines Mantels griff.

Vor ihm tauchten derweil die O-artige Engelsmaschine, sowie der Krieger mit den massiven Goldarmen und der Schild auf.

 

Vylon Omicron [ATK/0 → 0 DEF/3000 (7 → 6)]

Vylon Soldier [ATK/1700 → 0 DEF/1000 (4 → 3)]

Vylon Prism [ATK/1500 → 0 DEF/1500 (4 → 3)]

 

„Wirke!“, rief Alastair und zückte aus seiner Manteltasche eine weiße Karte, von der ein strahlendes Licht ausging. Sofort nahmen die Schatten um ihm herum Reißaus und kehrten zu Matt zurück.

„Ein Dämonenjäger lässt sich nicht so leicht von der Finsternis übermannen“, erklärte Alastair und kam schließlich schwankend auf die Beine, „auch wenn ich zugeben muss, mir der Sache nicht sicher gewesen zu sein. Eigentlich ist dieser Zauber für die Seelen Toter gedacht, nicht für Abkömmlinge einer Immateriellen!“

Matt verzog wütend die Miene. „Ich bin kein Abkömmling!“

„Doch, das bist du, ein unabhängig existierendes Wesen!“, widersprach Alastair, „Sonst hätte der Zauber keine Wirkung gezeigt. Oder wäre es dir lieber, ich nenne dich eine rastlose Seele? Wobei ich deine Stärke so oder so anerkenne, denn herkömmliche Kreaturen wären jetzt nicht mehr!“

„Glaub was du willst“, raunte Matt und verschränkte abwartend die Arme, „zeig mir lieber, wie du auf [Evilswarm Ouroboros] antworten willst! [Vylon Ultima] vielleicht? Das wird dir nichts bringen!“

„Es gibt da etwas anderes, das mir vorschwebt“, gestand Alastair und streckte den Arm in die Höhe, „ich stimme mein Stufe 3-[Vylon Prism] auf mein Stufe 6-[Vylon Omicron] ab! The light of beginning shines upon the forsaken! Wings of steel that overshadow life itself! Synchro Summon!“

Die von ihm erwähnten Monster stiegen in die Luft auf. Der Schild zersprang in drei grüne Lichtringe, die der O-förmige Engel passierte. Ein Lichtblitz durchdrang die Gasse.

„Descent from the divine lands! [Vylon Alpha]!“

Gleißendes Strahlen genau dort, wo eben noch Alastairs Monster gewesen waren. Über ihm spannte eine gewaltige Engelsmaschine seine schlanken, langen Schwingen aus. Wie alle Vylons besaß die Kreatur keine Beine, dafür aber zwei lange Arme, mit denen es parallel wirkende Schwingungen puren Lichts erzeugte. Über seinem Rücken thronte ein Gestell aus Gold, an dem die Schwingen befestigt waren.
 

Vylon Alpha [ATK/2200 DEF/1100 (9)]

 

Matt grinste nur vergnügt, er kannte dieses Monster nicht. Alastair hatte es nie zuvor in einem Duell eingesetzt.

Sein Gegenüber streckte den Arm aus. „Effekt von [Vylon Prism]! Für 500 Lebenspunkte wird es zu einer Ausrüstungsmagie, die während einer Schlacht die Offensive des Alphas um 1000 Punkte erhöht!“

Gelbe Blitze schlugen um ihn, als er stöhnend Prism in die entsprechende Zone unter [Vylon Alpha] schob. Der Schild tauchte als Silhouette vor dem riesigen Wesen auf und verschwand in seiner Brust.

 

[Alastair: 800LP → 300LP / Matt: 4000LP]

 

Allerdings war der Hüne längst nicht fertig. So zeigte er hoch zu dem Wesen des Anfangs. „Es folgt [Vylon Alphas] eigener Effekt. Bei seiner Synchrobeschwörung wählt es eine Ausrüstungsmagie von meinem Ablagestapel und rüstet sie aus.“

Er holte aus dem Friedhofsschacht [Vylon Material] hervor und spielte es sofort aus. Am rechten Arm seiner Kreatur wuchs ein spitzer Aufsatz, aus dem elektrische Ladung hervor drang.

 

Vylon Alpha [ATK/2200 → 2800 DEF/1100 (9)]

 

Der dämonische Matt klatschte in die Hände. „Beeindruckend. Nur zu, greif mich an! Lass mich ein bisschen des süßen Schmerzes spüren, der bisher nur dir zuteil geworden ist!“

Alastair rümpfte die Nase wütend. So zu reden, das war nicht Matts Art! Allein dafür würde er dem Dämon das Maul stopfen!

Seine letzte Handkarte vorzeigend, einen Zauber, wollte er dieses verfluchte Duell endlich beenden: „Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Und aus jedem Ende entspringt ein Anfang. So funktioniert auch diese Karte! [Alpha & Omega]!“

Hinter seiner Engelsmaschine tauchte ein goldenes Symbol auf, das dem griechischen Buchstaben Omega verdächtig ähnlich sah. Es huschte über [Vylon Alpha] in die Höhe und begann zu strahlen.

„Lass mich die Synchrobeschwörung überspringen und dich direkt aufs Feld rufen! Illuminating wings, cover this world and shake its boundaries! Existence becomes nothing more than a fading memory! Descent, deity of the end! [Vylon Omega]!“

Mithilfe goldener Partikel, die aus dem Buchstaben strömten, bildete sich um das Symbol herum eine noch größere Gestalt als [Vylon Alpha]. Was eben noch eine Silhouette war, bildete nun den riesigen goldenen Buchstaben Omega. An ihm hing der vergleichsweise schmale Körper des Wesens, dessen Arme mit je einem silbernen Ring am größeren Gebilde befestigt waren. Die massiven, metallischen Schwingen spreizten sich. Stolz sah Alastair nach oben zu seinen Monstern.

 

Vylon Omega [ATK/3200 DEF/1900 (10)]

 

Selbst der besessene Matt wich einen Schritt zurück und betrachtete halb fasziniert, halb erschrocken die beiden Kreaturen, die übereinander flogen und die ihm völlig fremd waren.

„Effekt des Omegas! Einmal pro Zug rüste ich ein Vylon-Monster von meinem Ablagestapel an es aus.“ Alastair zeigte eine zweite Kopie von [Vylon Prism] vor. „Diese musste ich abwerfen, als [Evilswarm Ouroboros] meine Hand angegriffen hat. Nun wirst du dafür die Konsequenzen ertragen müssen!“

Der trapezartige Schild tauchte auch vor Omega auf und verschwand in seiner Brust. Somit waren beide Monster um 1000 Punkte stärker, als sie eigentlich anmuteten. Mehr als genug, um Matt zu besiegen.

Alastair atmete tief durch. Endlich geschafft. Dem Wesen vor sich hatte er nichts mehr zu sagen. Wütend streckte der Hüne den Arm weit aus, zeigte mit dem Finger auf den verdorbenen, dreiköpfigen Drachen auf Matts Spielfeldseite. „Aus meinen Augen, verfluchte Kreatur der Finsternis! [Vylon Alpha], lösche seine Existenz aus! Clearing Obliteration!“

 

Vylon Alpha [ATK/2800 → 3800 DEF/1100 (9)]

 

Seine Engelsgestalt legte beide Hände aufeinander und ließ so die Wellen, die von ihnen ausgingen, synchron verlaufen. Daraus entstand ein Licht, aus dem sie augenblicklich einen gewaltigen Energiestrahl abfeuerte. Dieser schoss schräg nach oben durch die Gasse und traf Ouroboros in die Brust, doch machte er dort nicht halt und pfefferte wie eine Sternenschnuppe über ganz Livington hinweg. Von der Schockwelle erfasst, die durch die Explosion seines Drachen entstanden war, wurde Matt durch die halbe Seitenstraße geschleudert und rollte mehrmals über den Boden, ehe er regungslos liegen blieb. Dort, wo Ouroboros explodiert war, ragten tiefe Löcher in den Wänden der Häuser. Krachend fielen ein halber Stuhl und ein nunmehr zweibeiniger Tisch ins Stockwerk darunter.

 

[Alastair: 300LP / Matt: 4000LP → 2950LP]

 

Alastair ließ es sich nicht anmerken, doch dass der besessene junge Mann vor ihm so durch die Zerstörung seines eigenen Monsters mitgenommen wurde, erstaunte ihn zutiefst. Denn er war es nicht gewesen, der den Schaden zur Realität hatte werden lassen. Nein. Diese Kraft ging allein von dem Drachen aus, der selbst in seinem Tod noch zu solcher Zerstörung imstande war.

„Es ist vorbei“, murmelte Alastair. Sein Gegner besaß keine Karten mehr auf dem Feld, einem direkten Angriff hatte er nichts mehr entgegenzusetzen.

Schwankend, geradezu wie ein Betrunkener taumelnd, stand Matt auf und begann zu kichern. Ruckartig beugte er sich nach vorne und sah den Hünen geradezu wahnsinnig an. „Vorbei? Vorbei!? Oh lieber Alastair, es hat gerade erst begonnen!“

Jener übertönte mit dem Brustton der Überzeugung. „[Vylon Omega], direkter Angriff! End of Eternity!“

 

Vylon Omega [ATK/3200 → 4200 DEF/1900 (10)]

 

Die Engelsmaschine streckte seine Schwingen bis aufs Äußerste aus und ließ das goldene Omega-Zeichen, welches das Gerüst seines Körpers war, grell aufleuchten. Daraus schoss ein Lichtstrahl, der dieselbe Form hatte wie der berüchtigte Buchstabe. Matt aber sah ihm nur hysterisch lachend entgegen. „Nicht genug!“

Damit schwang er seinen Arm aus. Vor ihm öffnete sich ein schwarzes Loch, aus dem der eben erst besiegte dreiköpfige Drache sich erhob. Brüllend verkündete er seine Wiederkehr. Mit ihm aus dem Loch trat eine violette Lichtsphäre, die um Ouroboros zu kreisen begann. Gleichzeitig wurde das Ungetüm von Omegas Lichtstrahl getroffen, ohne aber Schaden davon zu tragen. Matt aber schützte sich mit seinem Arm vor den Auswirkungen der Attacke.

 

[Alastair: 300LP / Matt: 2950LP → 1500LP]

 

Alastair, dessen Hand in der Innentasche seines Mantels verweilte, war kreidebleich.

„Wie kann das sein!? Wieso ist [Evilswarm Ouroboros] zurück!?“

Kichernd hielt sich Matt die Hand über die Stirn, sah seinen Gegner mit einem Auge manisch an. „[Evilswarm Dullahan] hat einen weiteren Effekt, der nur aktiv wird, wenn er als Xyz-Material eines zerstörten Schwärmers auf den Friedhof geschickt wird. Dann kann er den Verlorenen ins Leben zurückrufen, zu seinem Xyz-Material werden und ihn zusätzlich vor weiteren Kämpfen schützen. Praktisch, nicht? Ahahahaha!“

Der Hüne knirschte mit den Zähnen vor Wut. Wie gut, dass er gezögert hatte, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Solange sich dieser Drache im Spiel befand, war es einfach zu gefährlich. [Evilswarm Ouroboros] besaß Fähigkeiten, die über das Zufügen von realem Schaden hinausgingen, dessen war sich Alastair sicher! Allerdings musste der Abkömmling offenbar viel Energie aufwenden, um Ouroboros' Macht zu steuern, sonst wäre er nicht so in Mitleidenschaft geraten, als Ouroboros zerstört worden war. Interessant, dachte Alastair mit grimmiger Zufriedenheit. Dann war es wohl das Beste, ihn gewähren zu lassen …

„Mir bleibt offenbar keine andere Wahl. Zug beendet“, raunte er ohne verbliebene Handkarten.

Damit zersprang [Vylon Soldier] auf seiner Spielfeldseite in tausend Stücke, entsprechend des Effekts von [Vylon Link], welcher alle durch die Falle gerufenen Monster während der End Phase zerstörte.

 

„Mutter wartet sicher schon auf meine Rückkehr“, gurrte Matt vergnügt und bewegte seine Hand Richtung Deck, „ich sollte sie nicht länger warten lassen. Zeit, dass du vom Antlitz dieser Welt verschwindest, liebster Alastair!“

In dem Moment spürte ebenjener einen weiteren heftigen Stich in seiner Brust, zeitgleich explodierte die schwarze Aura um Matt. Dieser zog schwungvoll von seinem Deck und machte sich erneut die Fähigkeit der Immateriellen zunutze, das Schicksal zu beeinflussen.

„Elender …!“, keuchte Alastair.

Sein Gegner schwang den Zeigefinger mahnend. „Na na na, wer wird denn gleich neidisch werden? Du selbst hast dich dieser Kraft oft genug bedient. Das nennt man Karma, Al!“

„Das mag stimmen, aber“, erwiderte er und hielt sich die Brust, „am Ende hat es mich nie weiter gebracht. Was bestimmt ist zu geschehen, wird auch geschehen, egal ob man versucht Einfluss auf die Zukunft auszuüben.“

Matt schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Was für eine antiquierte Denkweise das ist. Naja, du warst ja immer etwas altmodisch. Lass mich dir daher beweisen, dass dein Gerede nichts weiter als heiße Luft ist! Ausrüstungszauberkarte aktivieren! [Xyz Reckless Battle]!“

Mit geweiteten Augen sah Alastair dabei zu, wie die Schwingen des dreiköpfigen Drachen in grelle Flammen aufgingen. Jene erhellten die gesamte Seitengasse.
 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 → 3050 DEF/1950 {4}]

 

„Ahahahaha, jetzt beginnt die letzte Schlacht!“, lachte Matt, sah gen Nachthimmel und streckte die Arme weit aus. „Mutter, gleich bin ich zurück!“

Er richtete sich schließlich an Alastair und zeigte auf [Vylon Alpha]. „[Xyz Reckless Battle] sorgt dafür, dass ein Xyz-Monster temporär die Angriffskraft eines besiegten Feindes erhält und noch einmal angreifen kann.“

„Und wenn schon, meine Monster sind selbst jetzt noch stärker!“, widersprach Alastair. „[Vylon Prism] hebt ihre Kraft an, wenn du angreifst.“

 

Vylon Alpha [ATK/2800 DEF/1100 (9)]

Vylon Omega [ATK/3200 DEF/1900 (10)]

 

„Oh das weiß ich, Al! Aber nur, solange sie vorhanden sind!“ Das gesagt, streckte er seinen Arm nach oben und rief: „Los, [Evilswarm Ouroboros]! Effekt des mittleren Kopfes! Infestation's Viciousness! Damit schicke ich eine Karte auf deiner Spielfeldseite auf die Hand zurück! Das [Vylon Prism], das an [Vylon Alpha] ausgerüstet ist!“

Der mittlere Kopf von Ouroboros schnappte nach der einzelnen Lichtsphäre, die um ihn kreiste, und schluckte sie hinunter. Dann stieß er ein lautes Brüllen in die Nacht, ehe er damit begann, schwarze Energiepartikel in seinem Maul aufzuladen.

 

Alastair erkannte sofort, was Matt damit vorhatte. Einfach nur eines der beiden Vylon-Synchromonster zu eliminieren hätte ihn nicht weitergebracht. Stattdessen wollte er jetzt [Vylon Alpha] überrumpeln, um anschließend durch den aus [Xyz Reckless Battle] resultierenden Angriffsschub auch [Vylon Omega] zu vernichten.

Bloß der Plan hatte einen entscheidenden Fehler!

„Damit lasse ich dich nicht davonkommen, Dämon!“ Alastair zog die Augenbrauen an und straffte die Schultern. Über seine narbigen Lippen huschte ein geheimnisvolles, wissendes Lächeln. „Wisse: das Omega kann die Effekte anderer Monster negieren, wenn ich eine Vylon-Ausrüstung von ihm ablege.“

Alastair schob das [Vylon Prism], welches Omega verstärkte, in den Friedhofsschacht und verschränkte zufrieden die Arme. „Ich muss dir danken, dumme Puppe.“

„Wa-!?“ Wäre dies physikalisch begründbar, hätte man in diesem Moment beobachten können, wie Matts Mundwinkel durch den Boden krachten. Sein Gesicht war eine erstarrte Maske des Entsetzens.

Die Augen des Hünen verengten sich zu Schlitzen. „Ich habe die Verbindung zwischen dir und dieser Kreatur durchschaut. Sie ist eine Manifestation deiner Macht, mit ihr kannst du deine Gegner lähmen, um sie gefügig zu machen.“

„Tch!“ Matt wich zähneknirschend zurück.

„Keine andere deiner Karten wurde für solche Zwecke eingesetzt. Deswegen danke ich dir, deine Kräfte noch einmal mobilisiert zu haben! Denn jetzt kann ich sie noch einmal in alle Winde verstreuen!“, schrie Alastair und schwang den Arm aus. „Ganz ohne mein Zutun hast du dich selbst geschwächt und nun wirst daraus die Konsequenzen ziehen, dämonischer Parasit! [Vylon Omega], Final Judgment! Annulliere [Evilswarm Ouroboros'] Effekt … und zerstöre ihn!“

Der besessene Matt verlor vollends seine Fassung, als er das vernahm. „Nein! Niemals!“

Doch Omega schoss bereits aus seinem einzelnen Auge einen hauchdünnen, roten Laserstrahl, der den entflammten Ouroboros enthauptete, zumindest den mittleren Kopf, der gerade seinen Vorbereitungsprozess abgeschlossen hatte. Gurgelnd flog jener im hohen Bogen durch die Luft und feuerte seinen schattenhaften Angriff ausgerechnet auf den eigenen Körper ab, was in einer gewaltigen Explosion resultierte. Diese war nun so stark, dass sie Teile der umstehenden Häuser, die die Seitengasse bildeten, regelrecht wegfetzte. Ebenso wurde Matt davon geschleudert. Sich mehrmals überschlagend, rutschte er die Gasse entlang.

 

„Mein Zug“, entschied Alastair kühl und zog, da sein Gegner nicht mehr imstande war, eine Aktion durchzuführen.

Langsamen Schrittes näherte er sich Matt und holte nun endlich seine einzige Hoffnung und gleichzeitig die Quelle seiner größten Angst aus der Innentasche seines roten Mantels. Es war eine weiße Karte mit einem simplen, schwarzen Kreuz darauf. Bei Matt angekommen, machte er Halt, drückte ihn mit dem Stiefel auf der Brust nach unten.

Ächzend hob der am Boden liegende Schwarzhaarige seinen Kopf und betrachtete die Karte kurz, ehe er verächtlich auflachte. „Ein Exorzismuszauber? Du willst mich also töten? Aber dann tötest du auch deinen Freund Matt Summers.“

„Zumindest gibst du nun endlich zu, nur ein niederer Dämon zu sein, Schlangenzunge“, stellte Alastair fest und sah abwertend auf den jungen Mann vor ihm herab.

„Ob du dir da so sicher sein kannst? Vielleicht bin ich ein Geschöpf, geschaffen durch Mutter, vielleicht aber auch nicht. Und du solltest wissen, dass im Herzen deines Freundes eine große Finsternis herrscht. Alles was ich getan habe, ist sie zu erwecken. Ha ha ha …“ Das gesagt, ließ der Dämon den Kopf sinken.

Mit einem gewissen Bedauern erklärte Alastair: „Eine bittere Lektion, die ich lernen musste war, dass kein Wesen nur in Licht und Finsternis eingeteilt werden kann. Matt wird derselbe bleiben, egal was du ihm angetan hast.“

„Wir werden sehen …“, antwortete dieser selbstbewusst und schloss die Augen.

Dann war es soweit, Alastair hob den Arm zum finalen Angriff. „[Vylon Omega]! Beende es jetzt! End of Eternity!“

Die engelhafte Maschine lud Energie in dem goldenen Gebilde auf, welches den Buchstaben Omega darstellte. Diese feuerte sie auf die beiden Männer ab, die ganze Seitengasse erstrahlte in goldenem Licht.

 

„Ich hoffe, das ist die richtige Entscheidung“, murmelte Alastair und betrachtete die weiße Karte in seiner Hand, „aber wenn es fehlschlägt, werde ich wenigstens ebenso bestraft.“

Zwischen Mittel- und Zeigefinger gehalten, schleuderte er die Karte genau in die Mitte zwischen ihnen beiden, wo sie in der Luft zu schweben begann. Plötzlich schlugen zu beiden Seiten silberfarbene Blitze und Flammen aus ihrem Inneren, umhüllten Alastair und Matt.

„Ahhhh!“

„Argh!“

Beide schrien ob der Qualen, die der Exorzismus mit sich brachte, geradezu um die Wette. Alastair stolperte rückwärts und sackte ihn die Knie, bemühte sich den Schmerz zu ertragen. Immer wieder wurde sein Körper von Ladungen erschüttert, musste die unerträgliche Hitze der Flammen über sich ergehen lassen.
 

Es war die einzige Lösung gewesen, die ihm eingefallen war, schoss es Alastair während der Tortur durch den Kopf. Ein Exorzismus tötete sowohl den Dämon, als auch seinen Wirt. Jedoch hatte noch nie ein Dämonenjäger probiert, einen Exorzismus auf zwei Personen gleichzeitig anzuwenden. Alastairs Hoffnung war, dass dies den Effekt abmilderte, sodass sie beide überlebten, auch wenn die Gefahr bestand, dass sie beide bleibende Schäden dadurch behalten würden.

Das war das Einzige, was er tun konnte. Vielleicht würde es reichen, wenigstens einen Abkömmling zu töten, denn wahre Immaterielle waren vermutlich zu stark für so ein Herangehen. Demnach hatte er nichts gegen Urila selbst in der Hand, sollte sich noch eine Chance eröffnen, sie zu stellen.
 

Beide schrien weiter. Alastair wurde allmählich schwarz vor Augen, er kippte nach hinten.

„Mutter … wird das nicht … hinnehmen … Ahhhh!“, schrie Matt, krümmte sich, bäumte sich auf vor Schmerz. Mit einem Blick voller Rachsucht streckte er den Arm nach dem Hünen aus, ehe er in sich zusammensackte.

Die schwarze Aura um ihn verpuffte.

 

[Alastair: 300LP / Matt: 1500LP → 0LP]

 

Stille. Wie viel Zeit verging war unmöglich abzuschätzen.

 

Alastair öffnete benommen die Augen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie er während des Exorzismus umgekippt war. Es gab keine Faser an seinem Körper, die nicht höllisch schmerzte. In dem Moment begriff er, welch fürchterliche Qualen er denen zugefügt haben musste, die er als Dämonen klassifizierte. Kein Lebewesen verdiente solch eine Tortur. Das Wissen, dass jene Opfer sich nicht mehr an die Schmerzen erinnern würden, da sie allesamt tot waren, war wenig tröstlich. Doch von solchen Gedanken durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen, wichtiger war in diesem Moment Matt.
 

Als Alastair mühevoll seinen Oberkörper anhob, sah er bereits, dass sein Freund schon auf den Beinen war – direkt vor ihm. Und er starrte mit einem unmöglich zu deutenden Blick auf ihn herab.

„Du hast versagt“, waren seine einzigen Worte.

Dann streckte er den Arm nach Alastair aus. Dieser ließ sich zurückfallen. Er hatte keine Kraft mehr, um weiter zu kämpfen. „Dann soll es wohl so sein …“

„Wovon redest du?“, klang es plötzlich deutlich menschlicher von seinem Partner. „Es verschafft uns zumindest etwas Zeit. Mir etwas Zeit.“

Überrascht von dem Stimmungswechsel öffnete der Hüne wieder die Lider. Matt reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen – nicht um ihn anzugreifen.

„Du … es ist immer noch in dir, nicht wahr?“, erkundigte er deutlich erleichtert und nahm die Geste an, ließ sich hochziehen.

Matt wandte sich sofort von ihm ab. „Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher. Aber wenn ja, hast du es schwer verletzt. Ich hab die Kontrolle wieder. Vorerst … denke ich.“

„Was ist es? Kein gewöhnlicher Abkömmling, nicht wahr?“ Alastair trat an ihn heran und legte Matt die Hand auf die Schulter, als der Jüngere nicht sofort antwortete. „Wir bekommen das in den Griff.“

 

Insgeheim war er sich da nicht so sicher. Mal den Dämon beiseite gelassen, war es unfassbar, was diese Urila mit Matts Deck angestellt hatte. Solche Macht! Er konnte von Glück reden, dass der Abkömmling nicht imstande war, das volle Potential auszunutzen. Wer wusste schon, wie stark es wirklich sein konnte, wenn es in den richtigen Händen war. Händen wie die des echten Matts …
 

„Du hast recht, gewöhnlich ist dieses Ding keinesfalls. Es ist ein Abkömmling der stärksten Immateriellen, die es je gegeben hat und wird wohl erst sterben, wenn seine 'Mutter' es ebenfalls tut … Urila.“

Als wäre Matt in dem Moment ein Licht aufgegangen, wirbelte er zu Alastair alarmiert herum. Erinnerungen kamen in ihm hoch, Dinge, die er während seiner Besessenheit erfahren hatte. Die Aussicht auf etwas, das alles verändern würde!

„Sie will das fortsetzen, was Another begonnen hat!“

Alastair traute seinen Ohren kaum. „Eden? Aber das Tor ist zerstört!“

„Die physische Form, aber nicht das Tor selbst“, erklärte Matt aufgeregt, der versuchte diese fremdartigen Erinnerungen in Worte zu fassen, „unsere Welt ist trotzdem noch mit dem Nexus verbunden. Im Grimoire steht ein Weg geschrieben, wie man es selbst außerhalb des normalen Zyklus öffnen kann. In einer geheimen Passage, die nur für Immaterielle lesbar ist.“

Das erinnerte Alastair an etwas, das Another einst in seinem Kampf gegen Matt im Turm von Neo Babylon angedeutet hatte. „Das Opfern von Seelen! Die falsche Schlange hat-“

„Ja“, nickte Matt, „wenn man genug Seelen opfert, kann man das Tor jederzeit öffnen. Allerdings ist das praktisch unmöglich zu erreichen. Die physische Form Edens und der Zyklus des Turms sind daher erschaffen worden. Einerseits zur Einschränkung des Zugangs zum Tor, andererseits als humane Alternative. Wenn man es denn so nennen will, ein paar Paktträger zu opfern.“

„Und die Verwandlung der Bürger Livingtons ist als Art Verstärkung der Seelen zu verstehen, um das Tor leichter zu öffnen“, schloss Alastair aus den Informationen, die er zuvor vom Abkömmling Urilas erhalten hatte, „wenn das so ist, müssen wir sie stoppen, bevor sie das Opferritual durchführen kann!“

Matt biss sich auf die Lippe. Das Wissen, dass er durch seine Besessenheit erlangt hatte, war noch viel tiefgründiger – und erschreckend. „Noch ist Zeit, der Fluch hat sie viel Kraft gekostet, sie regeneriert sich gerade. Trotzdem dürfen wir keine Zeit verlieren. Wenn Urila Erfolg hat, sind wir verloren …“

Fragend sah Alastair seinen Freund in der Dunkelheit der Seitengasse an.

„Anders als Another“, erklärte Matt weiter und atmete tief durch, „will sie nicht ihr Volk retten. Um genau zu sein will sie es auslöschen. Und alle. Sie will dem 'wahren Feind' Zugang zu unserer Welt gewähren … sie ist wahnsinnig.“
 

Gerade wollte Alastair darauf reagieren, da durchdrang ein Schuss die Stille der dämonischen Nacht. Beide wirbelten um, nickten einander zu und machten sich im Eiltempo auf den Weg zur Quelle des Lärms. Mit dem unguten Gefühl, bereits zu spät zu sein …

 

~-~-~

 

Valerie ließ das Jagdgewehr sinken. Sie konnte es nicht, hatte den Dämonen absichtlich verfehlt. Am ganzen Leib zitternd trat sie einen Schritt zurück, wo sich Anya, Abby und Henry bereits Rücken an Rücken drängten, umzingelt von einer schier endlosen Zahl an Dämonen.

„Was soll das, Redfield!?“, fauchte Anya sie sofort an. „Wir haben keine andere Wahl!“

„Das da könnte Caroline sein! Oder Mr. Bitterfield!“, rechtfertigte Valerie sich verzweifelt. „Das sind Menschen! Ich kann das nicht! Außerdem, selbst wenn ich es könnte, haben wir nicht genug Munition für alle!“

„Brauchen wir auch gar nicht!“, bekam sie grantig zurück.

Während die beiden Erzrivalinnen uneinig über das weitere Vorgehen waren, versuchten Abby und Henry derweil mit wenig Erfolg gekrönt, die Horde durch real gewordene Hologramme der Ungeheuer [Naturia Beast], [Naturia Leodrake], [Naturia Landoise] und Vögel [Daigusto Falcos], [Daigusto Eguls] und [Daigusto Phoenix] in Schach zu halten. Zwar konnten die verschiedenen Monster ihnen ein wenig Platz verschaffen, fielen aber schnell den Dämonen anheim, sodass die beiden weitere Monster in den Ring schicken mussten.
 

Anya und Valerie diskutierten weiter. So schnappte Erstere geradezu gierig nach der Wumme, wohingegen die Schwarzhaarige sie unsanft zurückstieß.

„Gib her, Redfield! Ich ballere uns eine Schneise durch, dann können wir vielleicht entkommen!“

Dabei natürlich gekonnt ignorierend, dass das mit einem Jagdgewehr nicht so einfach zu bewerkstelligen war.

„Das wirst du nicht tun!“, weigerte sich Valerie ohnehin vehement und drohte mit einer eindeutigen Bewegung damit, Anya notfalls eins mit der Waffe überzuziehen, wenn diese so weitermachte.

„Entweder die oder wir! Ich bin für die!“, spuckte Anya Gift und Galle. „Und wenn du noch einmal nach mir ausholst mit dem Ding, dann schwöre ich beim Teufel, Redfield, dass kein Arzt dieser Welt dich je wieder so hinbekommen wird, wie du warst, wenn ich erstmal mit dir fertig bin!“

„So ungern ich Anya Recht gebe, so sehr hänge ich auch an meinem Leben. Außerdem, wenn wir tot sind, wer macht dieses Chaos rückgängig?“, warf Henry ein. „Argh!“

Keuchend wich der brünette junge Mann den Klauen einer Harpyie aus, die unbemerkt auf ihn herabgestürzt war. Rotes, lockiges Haar, ein schlaksiger, zum Entsetzen aller nackter Oberkörper – zum Glück wiederum an essentiellen Stellen mit braunen Federn bedeckter Brustbereich – dazu noch hohe Wangenknochen und ein diebisches Grinsen. Wäre die Optik nicht schon eindeutig genug, hätte sie die riesige, giftgrüne Handtasche verraten, die Harpyien-Nina in der anderen Klaue hielt. Die nervige Reporterin schien dem Fluch ebenfalls zum Opfer gefallen zu sein.

„Die!?“ Die Abbyrene war alles andere als erfreut über das unverhoffte Wiedersehen, was sie auch lautstark zum Ausdruck brachte. „Verschwinden Sie!“

Anya nutzte den Moment aus, in welchem Abby abgelenkt ihren Monstern befahl, Nina fertig zu machen. Valerie schenkte der Blondine dank dem kleinen Zickenkrieg, bei dem Nina den Kürzeren zog und mit einem Schweifschlag [Naturia Barkions] praktisch, aber nicht zwangsweise faktisch ins nächste Leben geschickt wurde, nur für einen Sekundenbruchteil keine Aufmerksamkeit. Weshalb ihr kurzerhand die Waffe aus den Händen gerissen wurde.

 

Als hätte sie es seit ihrer Geburt bereits im Blut, legte Anya professionell an und sah sich schon abdrücken, da erfasste sie ein mächtiger Windstoß und schleuderte sie zu Boden. Nicht nur sie, die ganze Gruppe um genau zu sein.

Selbst die umstehenden Dämonen, die nicht ebenfalls umgeworfen worden waren, wichen respektvoll zurück, als Mama Harper geradezu königlich hinabstieg und die Nüstern aufblähte. Ihre Flügelschläge wirbelten den Dreck auf der Straße auf und ließen alle Hologramm- respektive Abbygrammmonster zerspringen. Die blassgrüne, schuppige Lederhaut blitze im Mondlicht. Es war angerichtet: vier junge Menschen, völlig wehrlos am Boden liegend.

 

„Wo kommt die jetzt her!?“, beschwerte sich Henry fassungslos im Anblick des Drachen. „Haben wir nicht schon genug Sorgen!?“

„Ich glaub, sie ist die Anführerin“, stammelte die Sirene ängstlich, die auf seinem Bauch lag, nur um sich im Anschluss zu wettern: „bestimmt hat Nina ihr gepetzt, dass wir hier sind! Diese elende Nervensäge, selbst jetzt arbeitet sie gegen uns!“

Anya, die zur Seite sah und die Wumme wenige Meter von ihr entfernt direkt vor den Füßen eines Sahagins entdeckte, eine Art Fischmensch, wusste, dass sie nie rechtzeitig an das Jagdgewehr herankommen würde.

Valerie dachte offenbar dasselbe, griff sie sofort Anyas rechtes Handgelenk, als wolle sie ihr damit bedeuten, es bloß nicht trotzdem zu versuchen. Livingtons Terrormaschine warf ihr daraufhin den Was-soll-ich-sonst-tun?-Blick zu, nur um den Etwas-das-den-Drachen-nicht-provoziert!-Blick als Antwort zu erhalten.

Die beiden wurden in ihrem stummen Dialog alsbald unterbrochen, als Mrs. Harper entschied, nun lange genug ihr nächtliches Mahl angestarrt zu haben. Unheilvoll brüllte sie die vier Snacks an, ehe sie eiskalt in die Menge schnappte.

 

Hitze. Lautes Donnern. Ein ohrenbetäubender Schrei, gefolgt von einem lauten Rumsen, dem Klirren von zerbrochenem Glas, einem noch lauterem Rumsen und einer erdbebengleichen, staubigen Schockwelle, die die vier nach vorne über den Asphalt rollen ließ.

Der Drache war von Blitzen und Feuerbällen getroffen in die Dämonengruppe gestürzt, die sich ihrerseits wie eine aufgescheuchte Hühnerschar über den ganzen Platz verteilte.

Anya, die bereits fest damit gerechnet hatte, Mrs. Harpers fürchterlichen, schwefeligen Mundgeruch bis in die Hölle riechen, öffnete verdutzt die Augen.
 

Matt und Alastair stürmten nicht weit von ihnen entfernt an den überraschten Dämonen vorbei und attackierten jeden, der ihnen zu nahe kam mit den weißen Karten, die sie gezückt hatten. Leider zerfielen die mitten im Rettungsakt zu Asche, weil ihre Magie aufgebraucht war, sodass erst Alastair seine Blitzsalven und schließlich Matt seine Feuerballangriffe einstellen musste. Das sahen die Dämonen als ihre Chance, ihnen den Weg zu Anyas Gruppe abzuschneiden.

„Aus dem Weg!“, pflaumte Matt sie an, holte unter seinem Mantel eine neue Karte hervor und war nun derjenige, der, hieße er Nick Harper, jetzt lauthals „Pikachu!“, geschrien hätte. Alastair ging da wesentlich rabiater vor und rammte seinen Arm einem der Dämonen gegen den Hals, zog ihn damit wie an einem Haken zu Boden, wirbelte um die eigene Achse und verpasste einem anderen einen Tritt in die Hüfte.

Derweil hatte Matt es zu Anya und Co geschafft, die sich begeistert von der Kampfszene erhoben.

„Irgendwer verletzt?“, fragte er ohne Umschweife, rechnete er damit, dass der Drache womöglich doch einen von ihnen erwischt haben könnte.

„Wir sind okay“, sagte die Chefblondine nach einem Blick auf ihre noch benommene Truppe und gluckste, „Alter, Summers, genial! Wieso hast du diese Karten nicht benutzt, als wir im Turm waren!? Wir hätten-!“

„Keine Zeit für Smalltalk!“, wies er sie rüde zurecht.

Die Dämonen zogen ihre Schlinge wieder enger um das Grüppchen, zu dem auch Alastair gestoßen war. Mama Drache, die im Hintergrund in das Erdgeschoss eines Gebäudes gekracht und es zum Einsturz gebracht hatte, bemühte sich durch wildes Gestrampel und Flügelschlagen redlich um Fassung, brüllte laut, als wolle sie die anderen Dämonen anweisen, kurzen Prozess mit den dreisten Winzlingen zu machen.

„Wo ist die 13te Straße?“, wollte Matt wissen.

Valerie zeigte nach links, wo eine Straße von dem kleinen Marktplatz wegführte. „Da lang. Ist da die Ursache für das alles zu finden?“

„Ja!“, erwiderte Alastair.

Mehr musste die zierliche Schwarzhaarige nicht hören. „Dann nichts wie los!“

 

Zusammen rannten sie los, doch die Euphorie hielt gerade einmal ganze fünf Sekunden an, da landete mit einem Satz vor ihnen ein junger Mann im schwarzen Mantel. Der Greif, auf dem er geritten war, landete hinter ihm und klackerte angriffslustig mit dem Schnabel.

Matt bremste seinen Lauf. „Andrew …“

Dieser erhob sich, reckte seinen Kopf einmal nach links und rechts, ehe er die Gruppe mit gehässiger Mimik anlächelte. „Wo wollt ihr denn hin? Das ist schließlich euer Leichenschmaus.“

„Vor der Beerdigung? So einfallslos bin nicht mal ich mit meinen schlechtesten Sprüchen!“, brauste Anya unlängst auf und wollte ihm schon an die Gurgel, doch Matt hielt sie zurück.

„Nicht. Er ist besessen von einem Abkömmling einer Immateriellen namens Urila.“ Matt funkelte seinen Freund an, während die Schlinge sich wieder enger um sie zog. Der junge Dämonenjäger drehte seinen Kopf in gebeugter Haltung zu Alastair, ohne ihn dabei anzusehen. „Er wird uns nicht durchlassen.“

„Imma-!?“, konnte Anya gar nicht erst einwerfen, da wurde sie unterbrochen.

„Dann überlass' ihn mir“, brummte Alastair. „Damit ihr anderen entkommen könnt.“

„Nein, ich mach das!“, entschied Valerie kurzerhand und stellte sich neben den Hünen. „Sie sind zu mitgenommen, um es mit ihm aufzunehmen, Alastair.“

Doch dieser packte sie grob am Arm, schüttelte den Kopf. „Niemals! Bist du dir im Klaren, wie gefährlich selbst der Abkömmling eines Immateriellen ist?“

„Ich habe selbst schon gegen solche gekämpft“, erwiderte Valerie eisig, „und genau weil ich das schwächste Glied in der Gruppe bin, will ich kämpfen. Es mag stimmen, dass ich diesem Kerl nicht langfristig das Handwerk legen kann. Aber ich habe bereits Erfahrung damit, uns Zeit zu erkämpfen.“

Etwas milder fügte sie hinzu: „Zumal ich andernfalls nur nutzlos herumstehen würde.“

Abby seufzte, tauschte betrübte Blicke mit Henry aus. Der sagte schließlich: „Und wir sorgen dafür, dass diese Biester ihr dabei nicht zu nahe kommen.“

„Ihr müsst ohne uns weiter, Anya“, fügte Abby hinzu, „aber mach dir keine Sorgen, wir packen das irgendwie!“

„Dann helfe ich bei der Verteidigung“, entschied Alastair, aus dessen grimmiger Grimasse man ablesen konnte, dass er sich nur ungern von Valerie die Arbeit abnehmen ließ.

 

Völlig überrumpelt von der neuen Wendung wusste die Blondine kaum, wie sie darauf reagieren sollte. Wie wollten diese Vier denn gegen eine Armee aus bestimmt hundert Dämonen inklusive Drache und irrem Spackopüppchen Schrägstrich Andrew bestehen?

„Da überschätzt sich aber jemand. Ihr vier gegen uns?“ Andrew lachte selbstherrlich. An seinem Arm erschien eine schwarze Duel Disk, die einer Fledermausschwinge ähnelte. „Wie süß. Das wird keine fünf Minuten dauern.“

Abby schnallte ihre Duel Disk ab und warf sie Valerie zu, da Erstere Monster auch ohne den Apparat materialisieren konnte. Gleichzeitig packte Matt Anyas Hand. Jene stand immer noch überrumpelt in der Gegend herum.

„Komm schon!“, schleifte er sie mit sich, an Andrew vorbei, der sie mit einem genüsslichen Lächeln und einem für den Greif gedachten Nicken passieren ließ.

„Nur zu. Aber ihr wärt besser daran gewesen, eure Freunde zu unterstützen. Alles, was jetzt kommt, wird nur umso schmerzhafter für euch werden“, sagte er ihnen mit zugekehrtem Rücken und widmete sich anschließend Valerie, „und nun zu dir, Cowgirl.“

 

„Ist das richtig!?“, fragte Anya mit Blick über die Schulter, als sie und Matt anfingen zu rennen.

Je mehr sie sich von ihnen entfernten, desto mehr Dämonen gesellten sich dazu. Alastair mit seiner besonderen Dämonenjägermagie sowie Abby und Henry mit den Duel Monsters-Bestien hatten alle Hände voll zu tun, Valerie den Rücken freizuhalten.

„Wir müssen Urila aufhalten, sonst werden heute Nacht tausende von Menschen sterben!“, antwortete Matt bestimmend. „Und das wäre nur der Anfang!“

Sie rannten an anderen Dämonen vorbei, die sie angreifen wollten, aber von Matts Blitzkarte gelähmt wurden.

„Klär mich auf, was geht hier ab!?“, wollte Anya wissen, wenn er schon dabei war, mit der Heldensache anzufangen.

 

~-~-~

 

Während die Gruppe rund um Anya schon mit einer dämonenverseuchten Stadt zu ringen hatte, musste derweil auch die Villa der Redfields mit einer plötzlichen Belagerung fertig werden.

„Scheiße“, murmelte Marc, der aus dem Schlafzimmerfenster Valeries lehnte und auf die Monsterhorde zielte, die sich langsam ihren Weg über den hohen Zaun des Anwesens bahnte.

Unten hörte der Schwarzhaarige es hämmern. Die, die es geschafft hatten und die, die schon vorher auf dem Hof waren, wollten sich durch Gewaltanwendung Einlass verschaffen.

„Alles in Ordnung!?“, brüllte der Mann mit dem Kinnbart durch die offene Tür.

Nur sehr dumpf kam es von Melinda zurück: „Nicht wirklich!“

 

Die brünette Schwester Henrys hatte selbst alle Hände voll damit zu tun, zusammen mit Satyr-Nick die halbmondförmige Designercouch aus dem Wohnzimmer vor die Haustür zu schieben. Die jetzige Blockade, bestehend aus ein paar Stühlen, würde kaum lange halten.

„Schneller, Nick!“, ächzte sie, aber es ging nur schleppend voran.

„Määäh!“

Gepolter, jemand rannte die Treppen hinunter.

„Wartet!“, hörten sie Marc.

Der, als er bei ihnen angekommen war, stemmte sich ebenfalls gegen das gute Stück. Mit seiner Hilfe ging es schneller voran und wie durch ein Wunder schafften sie es, die garantiert sündhaft teure Couch vor der Tür zu platzieren, nachdem Nick die anderen Möbel und Gegenstände aus dem Weg geräumt hatte.
 

Melinda wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich auf die schwarze Ledercouch sinken. „Puh! Hoffentlich hält sie das im Zaun!“

Gerade in diesem Moment klirrte es auf der anderen Seite des Hauses. Alle drei wirbelten erschrocken um.

„Das Wohnzimmer!“, keuchte Marc bei der Erkenntnis, dass ebenjenes eine Veranda besaß, die nur durch große Fenster vom Haus abgetrennt war. Fenster, die leicht einzuschlagen waren.

Sofort stürmten die Drei durch den Flur in das weitflächige Wohnzimmer der Redfields, nur um Zeuge zu werden, dass dieses bereits völlig von den Monstern eingenommen war.

Eine schattenhafte Figur schoss aus dem Nichts auf Marc zu, der reflexartig sein im Lauf gezücktes Jagdgewehr wie einen Baseballschläger schwang und den Angreifer damit eine saftige Backpfeife verpasste.

„Zurück!“, wies er seine Begleiter lauthals an. „Nach oben!“

Er ließ die anderen hinter ihm laufen, während er mit der Waffe auf die Dämonen zielte, ohne aber abzudrücken. Stattdessen bewegte er sich langsam rückwärts.

 

Nachdem sie aus dem Wohnzimmer verschwunden waren, traten sie sofort den Rückzuck an, trampelten beziehungsweise hüpften hektisch die Treppen hoch und verbarrikadierten sich in Valeries Schlafzimmer, wo Marc sofort den Schreibtisch seiner Verlobten mobilisierte und vor die Tür schob. Keine Sekunde zu früh, begann es hinter der mächtig zu poltern.

Panisch wichen er und Melinda zurück.

„Wir sitzen in der Falle“, stellte jene fest und schluckte, „was machen wir jetzt?“

Marc eilte zum offen stehenden Fenster und sah nach draußen. Dort schafften es immer wieder Dämonen, über den Zaun hinweg zu klettern. „Springen ist jedenfalls keine Option.“

Henrys Schwester sah Nick an, der die ganze Zeit stumm mitten im Zimmer gestanden hatte. Unsicher, ob sie sagen sollte, was ihr vorschwebte, trat sie an ihn heran. „Kannst du nicht irgendetwas machen? Mit ihnen reden? Vielleicht hören sie auf dich.“

„Määääh.“

„Melinda … geh zurück“, rief Marc, „das da ist nicht mehr Nick.“

Der sah beide blinzelnd an. Dann ließ er die Zähne blitzen.

 

~-~-~

 

Als Matt mit seiner Beschreibung der Situation und deren Hintergründe geendet hatte, hatten sie bereits ein ganz schönes Stück des Weges zurückgelegt. Um genau zu sein waren sie nur noch eine Straße von dem Ort entfernt, an dem sich Urila befand.

Jedoch waren sie so außer Puste, dass sie eine Pause brauchten. Erschöpft ließ sich Anya mitten auf dem Bürgersteig der zum Glück monsterfreien Straße niedersinken. Der Schweiß tropfte nur so von ihrer Stirn. Keuchend schüttelte sie den Kopf.

„Oh, Summers, danke übrigens …“

„Für was?“, fragte er ebenso mitgenommen, stand hinter ihr und stützte sich an den Knien ab.

„Dass du mich gerettet hast.“

„Das eben war mehr als knapp. Wenn wir einen Moment-“

Anya wurde lauter. „Nicht das, du Idiot! Du weißt genau, was ich meine.“

Plötzlich keuchte er auf, sie spürte geradezu, wie ihm ein Licht aufgegangen sein musste.

„Genau das“, brummte sie und erhob sich langsam, „im Turm. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich da nicht mehr rausgekommen. Und es ist nicht nur das …“

 

Sie hob ihre rechte Hand an und musterte jene, als wäre sie ein ganz und gar sonderbares Objekt, das es zu bestaunen galt. Als wäre es die Quelle von allem, was sie auszudrücken versuchte. „Wenn du dich nicht so oft auf meine Seite geschlagen hättest, obwohl du wusstest, wie blöd das ist, dann …“

Die junge Frau drehte sich zu ihm um und versuchte freundlich zu lächeln, was bei ihr mehr als unbeholfen und merkwürdig anmutete. „... wäre ich jetzt irgendwo jenseits von Gut und Böse. Irgendwo ...“

Ihr Blick wandelte sich. Unbehagen stand in ihren blauen Augen geschrieben. „... wo es kein Zurück mehr gibt. Alleine. Danke, Matt … und bitte vergib mir, dass ich dir …“

So zu reden war nicht ihre Art, aber nachdem sie sich schon bei Redfield entschuldigt hatte und nicht wusste, ob es überhaupt noch eine Gelegenheit geben würde, dies auch bei Matt zu tun, musste es einfach raus. Dann wäre sie das schlechte Gewissen hoffentlich für immer los.

Die Hand, die sie zuvor so eingehend betrachtet hatte, streckte sie ihm nun unsicher entgegen. Da merkte sie, dass er seinen Blick gesenkt hatte, sie nicht ansah. Trotzdem kam er auf sie zu.

„Nichts zu danken“, meinte er zurückhaltend.

 

Anya konnte gar nicht so schnell reagieren, da waren seine Hände um ihren Hals geschossen und drückten mit aller Kraft zu. Matt rammte sie gegen das Wohnhaus neben dem sie beide standen.

Unter Gurgeln und Ächzen klammerten sich Anyas Hände um die seinen und versuchten den eisernen Griff zu lösen – erfolglos. Mehr noch, mit schier sagenhafter Kraft hob er das Mädchen am Hals empor, das nur hilflos strampeln konnte. Da bemerkte sie die schwarze Aura, die sich langsam immer mehr um ihn ausbreitete.

„Er wird nicht lange dauern“, meinte er geradezu mit berechnender Kaltblütigkeit, während sie langsam blau anlief. „Vielleicht ein, zwei Minuten. Dann wirst du bewusstlos.“

Anya würgte weiter und versuchte es nun mit Faustschlägen, aber die prallten an seinem Gesicht ab wie Wattebällchen. Tritte, egal wohin, erzielten ebenfalls keinen Effekt.

„Weißt du Anya, ich hab es satt. Deine Lügen. Du sagst diese Dinge nur, weil du hoffst, dass ich dir auch weiterhin den Hintern rette. Weil du alleine aufgeschmissen bist“, redete er weiter, ohne sie bei ihrem Todeskampf anzusehen. „Alles, was ich jetzt will, ist endlich von dir befreit zu sein. Seit ich dich kenne, gibt es nur noch Anya, Anya, Anya. Alles dreht sich um dich.“

Jene ließ langsam die Arme sinken, bis sie schlaff hinab hingen. Trotzdem drückte er weiter zu, zumindest solange, bis er sich sicher war, dass sie ihm nichts vorspielte. Dann sah er sie an, mit Pupillen aus blutigem Rot. Ihre Brust hob sich nicht mehr an, auch nicht, als er den Griff ein wenig lockerte. Tränen liefen seine Wangen hinab, als er sie losließ. Wie eine Puppe fiel sie in sich zusammen.

 

 

[Part III – Ende]

The Last Asylum Movie "Second Coming" - Part IV

Yu-Gi-Oh! The Last Asylum – The Movie Part IV

 

 

Matt drehte sich um. Wandte sich ab von Anyas leblosen Körper, der vor ihm lag. Einsam rann eine einzelne Träne über seine Wange, die im starken Kontrast zu der finsteren Aura stand, die ihn umgab. Eine eisige Brise zog über die ansonsten menschen- und dämonenleere Straße hinweg.

Sein Ziel war jetzt, zurück zu Mutter zu kehren, um ihr bei dem Ritual zur Öffnung des Tores von Eden zu helfen.

 

Er zog das Tempo ein wenig an und lief eiligen Schritts den Bürgersteig entlang. Plötzlich hielt er inne. Etwas stimmte nicht.

Sich umdrehend, sah er nur noch die Faust auf sich zufliegen, die ihn bei Kontakt glatt von den Füßen riss. Und das, obwohl sie ihm vor wenigen Minuten nicht einmal ein Haar krümmen konnte.

Mit voller Wucht landete Matt auf dem Rücken und sah sich einer keuchenden und hustenden Anya gegenüber, die sich mit der anderen Hand den Hals hielt, welcher deutliche Abdrücke seiner Finger aufwies.

„Du … irrer Bastard … einfach so wieder einen auf besessen machen …“, würgte sie hervor, immer noch blau im Gesicht.

 

Matt weitete die Augen. Was hatte er da getan!? Wie hatte er wieder …!

„D-du lebst-!“, stammelte er fassungslos.

Seine Wange brannte wie Feuer, mehr noch, kribbelte furchtbar unangenehm. Er fasste mit der Hand an die schmerzende Stelle, doch weder er, noch Anya bemerkten das leichte, weiße Leuchten dort, das mit der Berührung verschwand.

Anya war zu sehr fixiert auf ihre immer noch geballte Faust, die zitterte wie Espenlaub. „Ja, aber grad' noch so! Wie gut, dass ich solche Situationen schon seit ich sechs war übe! Ich kann meine Luft länger als jeder andere anhalten, musst du wissen!“

Matt starrte sie nur an, als wäre sie das achte Weltwunder. Er hatte sie mehrere Minuten gewürgt, sie konnte gar nicht mehr am Leben sein! Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen, so etwas konnte man nicht üben oder nachstellen. Was … war sie!?

 

„Also was jetzt“, keifte sie ihn an, „muss ich mich jetzt mit dir duellieren, dass du wieder normal wirst!? Ich hab verdammt schlechte Laune, also überleg' dir gut, was du antwortest!“

In diesem Moment nahm der Dämonenjäger erst wirklich wahr, dass er wieder die Kontrolle über seinen Körper besaß. Nicht weniger zittrig als sie stand er langsam unter ihrem wachsamen Blick auf, hob als besänftigende Geste die Hände.

„Ich bin es, nicht der Dämon“, sagte er vorsichtig. „Keine Ahnung wie, aber dein Faustschlag hat mich zurückgeholt.“

Anya spuckte verächtlich zur Seite. „Oh wie toll, die Narbenfresse braucht eine Ewigkeit, ich ein paar Sekunden. Das spricht Bände! Sofern ich dir trauen kann, natürlich!“

„Es tut mir leid, Anya. Ich-ich hab versucht mich zu wehren, aber-!“
 

Wie konnte sich das Wesen in ihm so schnell erholt haben, fragte er sich nebenbei erschrocken. Alastair hatte alle Register gezogen!

Matt erschauerte beim Gedanken, wie mächtig diese Kreatur und seine Mutter sein mussten, wenn das Ding einen Exorzismus so gut verkraftete. Zugegeben einen halben nur, aber dennoch! Er würde erst frei sein, wenn Urila tot war. Was im Umkehrschluss hieß, dass er verdammt gefährlich war. Eine tickende Zeitbombe.
 

„Ahja? Und wie willst du mir das beweisen, Idiot?“ Anya sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich bin ja vieles, aber nicht bescheuert!“

„Gar nicht“, murmelte er und sah getroffen weg, „ich hoffe, du kennst … den richtigen Matt gut genug um zu wissen, dass er nie versuchen würde-!“

Die Blondine fiel ihm rüde ins Wort. „Was du nicht sagst, Einstein, natürlich kenn' ich den Trottel gut genug! Nur leider hat der offenbar 'ne Psychofrischzellenkur erhalten! Woher soll ich wissen, ob du es bist oder dieses irre Mistvieh!?“

„Das merkst du, sobald ich wieder aufdringlich werde“, versuchte Matt hilflos zu scherzen.

Was bei Anya nur bedingt ankam. Die verschränkte immer noch wütend die Arme. „Dann ist es zu spät, Matschbirne.“

Matt nickte. „Natürlich.“

Er machte eine kurze Pause, um kurz seine Gedanken zu ordnen. Die waren alles andere als berauschend, aber ihm wurde klar, dass er etwas unternehmen musste, um Anya vor sich zu schützen.
 

„Du solltest ohne mich weiter“, schlug er kurzerhand vor und sah sie abwartend an. „So kann ich dich zumindest nicht nochmal angreifen.“

Anya, die ob ihrer knappen Bekleidung in Form eines schwarzen Shirts und Boxershorts nebenbei leicht fröstelte, blinzelte zweimal. Dann räusperte sie sich, begann in einem für ihre Verhältnisse erstaunlich gut gestellten sarkastischen Tonfall zu reden. „Gute Idee. Und wenn ich dann bei Urila bin, schmeiße ich mit Steinen nach ihr, weil ich die Macht habe, sie damit ins Wunderland zu schicken.“

„Anya-“

„Oh ja, du hast ja nicht dran gedacht, dass ich nur ein ganz normaler, verfickter Mensch bin“, ereiferte sie sich nun mit kratziger Stimme, „sorry Summers, hättest du zwei Wochen früher gefragt, hätte ich den Job noch alleine durchgezogen! Knalltüte!“

Matt rieb sich schuldbewusst den Hinterkopf. „Daran habe ich nicht mehr gedacht, tut mir leid.“

„Das ist mir aufgefallen!“, brüllte sie ihn nun an. „Alter, du bist hier der Dämonenjäger, benimm' dich endlich wie einer!“

Schnaubend stampfte sie auf ihn zu und packte ihn am Arm, zerrte ihn mit sich.

„Hey!“

„Du kommst schön mit. Und wenn du wieder Faxen machst, lernst du den Roundhouse Anya kennen, damit das klar ist!“, meckerte sie haltlos drauf los. „Dieser ganze Saftladen scheint ohne mich ja nicht zu laufen! Die sollten mich gleich zur Bürgermeisterin ernennen, dann würde so'n Gesocks wie diese Urila gar nicht erst auftauchen!“

Matt stemmte sich gegen sie, doch in Rage war das Mädchen nicht zu stoppen und vermochte sogar einen kräftigen, jungen Mann wie ihn mit sich zu schleifen.

„Das ist zu riskant! Diesmal hattest du Glück, aber stell dir vor was passiert, wenn Urila-“

„Die kann mich mal!“, war Anyas einfallsreiche Begründung, ihn trotzdem mitzunehmen.

 

Ihr Begleiter seufzte resignierend und ergab sich schließlich seinem Schicksal, wenn man so wollte. Zumindest schien sie ihm den Mordversuch nicht allzu übel zu nehmen. Dass er noch in einem Stück war, war der beste Beweis dafür.

Trotzdem, auch wenn sie es sich gar nicht erlauben konnten, noch weiter zu diskutieren, suchte er nach Alternativen. Der Gedanke, wieder befallen zu werden und Anya zu gefährden, war fürchterlich. Wenn ihr etwas geschah, während er unter Urilas Kontrolle stand, wer würde dann Tara retten!? Und wer würde Anya retten?

Es war so plötzlich gekommen … und genauso schnell wieder verschwunden …

 

„Hast du 'ne Ahnung, was Urila in der 13ten Straße wollen könnte?“, fragte er schließlich, während sie ihn immer noch hinter sich her zerrte.

Anya schnaubte. „Ne, aber ich kenne nur einen Ort, der die Straße von anderen abhebt.“

„Welchen?“

Mit einem Schlag blieb sie stehen. Den Kopf zu Matt drehend, verdunkelte sich ihr Ausdruck. „Das Bestattungsunternehmen.“

„... solche Orte sind von der Aura des Todes umgeben“, murmelte Matt und hielt sich nachdenklich das Kinn, „vermutlich braucht sie das für den Opferungszauber.“

„Keine Ahnung, aber was ich weiß ist, dass es da bestimmt nur so von Untoten und anderem Unrat wimmeln wird“, raunte sie gallig, „und ich habe echt keine Lust, mich auf den letzten Metern noch mit den kleinen Fischen rumärgern zu müssen!“

„Ob wir das müssen, finden wir nur heraus, wenn wir dort hingehen“, erwiderte Matt, „außerdem haben wir kaum eine andere Wahl.“

Anya ließ genervt die Zunge heraushängen, es war offensichtlich, dass sie bei ihren Feinden den Weg des geringsten Widerstands erwartete. Da dieser aber in Urilas Fall nicht im Skript stand, mussten die beiden die Beine in die Hand nehmen, um den finalen Akt nicht zu verpassen.

 

~-~-~

 

Da standen sie, unmittelbar vor dem kleinen Gebäude. Im Schaufenster wurden verschiedene Bücher, Bilderrahmen, Urnen und andere Gegenstände ausgestellt. Anya bemühte sich redlich, sich Matt nicht in einem der Gefäße als Asche vorzustellen. Zwar wollte sie es nicht zeigen, nachdem sie sich gerade erst entschuldigt hatte, aber in ihrem Bauch brodelte eine Heidenwut auf ihn. Natürlich konnte er nicht wirklich etwas dafür, sie fast erwürgt zu haben, aber was sollten seine Worte bedeuten!?

Es ging nicht immer nur um sie! Sie hatte eigentlich gar nichts mit dieser Sache am Hut!

 

„Lass uns reingehen“, meinte der Schwarzhaarige versteift.

Die Tür war nicht aufgebrochen, nein einfach aus den Angeln gehoben worden. Vorsichtig schob sich Matt ins Innere des dunklen Gebäudes. Aus den Augenwinkeln bemerkte er zu seiner Rechten eine ganze Reihe an Särgen. Einige standen auf dem Boden, andere waren demonstrativ an die Wand gelehnt. Und selbst in der Dunkelheit sah er die Silhouetten, die ganz sicher nicht dort hingehörten.

„Wir sind nicht allein“, flüsterte er Anya zu, die ihm nicht weniger achtsam folgte.

„Sag mir was, das ich noch nicht weiß, Summers“, murrte sie leise, „um was handelt es sich?“

„Sieht mir nach Mumien aus.“

„Dann schuldest du mir zehn Dollar.“

Matt lachte auf. „Ich schulde dir gar nichts, wir haben keine Wetten abgeschlossen.“

„Hätte ja klappen können. Bei Nick funktioniert das immer“, resignierte Anya, „du kannst mir trotzdem ein bisschen was lei-“

„Shhh!“

 

Doch die Warnung kam zu spät! Leise drang Gestöhne von den Särgen zu ihnen, aber nicht nur das. Aus den Urnen im Schaufenster und in den Regalen stiegen gelbliche Funken auf. Anya wirbelte um, stieß gegen Matts Rücken.

„Leuchtspackos auf 6 Uhr! Was sind die!?“

„Irrlichter. Harmlos, aber nervig, lass sie nicht zu nah heran, sonst kannst du erblinden.“

„Das nennst du harmlos!?“

Matt schnappte sauer: „Schrei nicht so rum!“

„Du schreist doch, Volltrottel!“

Es knarzte und knackte, was die beiden abrupt verstummen ließ. Scheinbar waren die Mumien nun endgültig aus ihrem Schlummer erwacht. Gleich ein halbes Dutzend kam aus der Dunkelheit auf Matt mit erhobenen Armen zu gestürmt, wohin gegen Anya sich „den Funkeldingern“ gegenüber sah.

Irgendetwas stimmte da nicht, dachte der Dämonenjäger beim Anblick des feindlichen Leichengeschwaders. Die Mumien glichen sich bis auf die letzte Binde. Fast als wären sie …

„Anya, unsere Angreifer sind keine Livingtoner! Die muss Urila selbst erschaffen haben.“

Die Blondine drehte den Kopf nervös Matt zu. „Umso besser, können wir sie gnadenlos platt machen! Und was kann ich gegen diese Glühwürmchen tun, wenn wir schon dabei sind?“

„Lichtquellen halten sie fern.“

„Was, was wehtut, meinte ich!“

„Keine Zeit, denk dir was aus!“

Dies gesagt, pfefferte Matt mit einem wuchtigen Kick den Kopf einer Mumie weg, während der Körper zwangsenthauptet zusammensackte. Die Überzahl der Untoten trieb den jungen Mann jedoch von Anya weg, die ihrerseits zur Seite flüchtete. Mit den Händen wedelnd versuchte sie, die Irrlichter zu vertreiben, was aber vergebene Liebesmüh war. Um nicht geblendet zu werden, kniff sie dabei die Augen zu. Immer weiter zurück getrieben, stieß sie gegen ein Regal.

„Geht weg, ihr Mistviecher! Summers, tu verdammt nochmal was!“

„Bin beschäftigt!“, rief der ihr zu, während er sich mit dem Ellbogen eine Mumie, die ihn angefallen hatte, gerade so vom Leib hielt.

Anya kam die Idee. „Nimm doch deine verdammten Zauberkarten da!“

„Hab keine mehr! Und jetzt nerv' mich nicht, ich muss mich konzentrieren!“ Die Mumie schnappte mit ihrem stinkenden Maul nach ihm, doch Matt gelang es, sie von sich zu stoßen.
 

„Kch, nutzloser Idiot!“, zischte Anya, um die ein ganzer Schwarm Irrlichter schwirrte. Mit einem halb geöffneten Auge schielte sie in das Regal, aber außer Bilderrahmen war dort nichts zu finden.

Doch da! Ein Regal weiter war etwas, das ihr helfen könnte!

Blindlings stolperte sie auf das Regal zu, stieß benommen gegen es. Scheinbar hatte dieser Nichtsnutz von Dämonenjäger ihr etwas verschwiegen. Nämlich dass diese Dinger ihr langsam das Bewusstsein raubten, ihr war schon ganz schwindelig!

Trotzdem hielt sie das nicht davon ab, ihre Hand auf die Glaskugel zu legen, die direkt vor ihrer Nase im Regal stand. Welcher Trottel auch immer der Meinung war, dass solche Leuchtfunzeldinger eine nette Deko für Gräber abgaben, Anya würde ihm eine auf das seine legen, wenn die Zeit gekommen war. Sie musste das Ding nur anknipsen und schon würden die Viecher sie in Ruhe lassen!

 

Dazu kam es aber nicht, als sich ohne Vorwarnung eine vermoderte Hand Anyas Gelenk griff. Das Mädchen riss die Augen auf und fand sich einer verirrten Mumie gegenüber.

„Fuck off!“, sprachs und pfefferte dem Ding so hart die Faust ins Gesicht, dass der Kopf vom Hals brach und ekelhaft platschend auf den Boden fiel. Die Mumie sackte in sich zusammen.

Angewidert schüttelte Anya ihre jetzt seltsam schleimige Hand. Allerdings war da immer noch das Problem mit den Irrlichtern, die ihr den Kopf verdrehen wollten. Eilig legte sie den kleinen Schalter am unteren Bereich der Wunderkugel um, um sie einzuschalten. Man hätte sie allerdings darauf hinweisen sollen, dass das bunte Leuchten, das aus dem Inneren der Glassphäre nun aufblitzte, alles andere als eine starke Lichtquelle abgab. So wichen die 'Funzeldinger' zwar ein wenig vor Anya zurück, aber das konnte auch daran liegen, weil sie wie eine Irre mit der Kugel in ihrer Hand herumfuchtelte.

„Das wirkt nicht!“, beschwerte sie sich mit zusammengekniffenen Augen bei Matt.

Kurzerhand entschied sie sich, die Viecher zu ihm zu locken. Sollte der doch damit fertig werden, immerhin schuldete er ihr noch fünf Minuten Sauerstoff! So huschte das Mädchen halb blind durch das Bestattungsunternehmen. Zu blöd, dass kurz vor ihrem Ziel – Matt, der mit zwei Mumien auf einmal rang – ihr doch tatsächlich ein Zombie den Weg versperrte. Warum ein Zombie? Nun, Anya erkannte ihn sofort an dem Anzug, den er trug. Welcher so viel modischer war als ein paar lose Bandagen.

„Willst du das?“, fragte sie und guckte auf die Glaskugel. Der Zombie stöhnte. Bejahend?

„Willst du das wirklich?“, fragte sie erneut, als er schon seine Arme anhob, um ihr eine 'freundschaftliche Umarmung' zu schenken.

„'kay, bin ja nicht so.“

Keine Sekunde später zertrümmerte sie ihm mit der Wunderkugel die Schädeldecke wie ein Presslufthammer. Einer Nuss nicht unähnlich, knackte sie seinen Schädel, bis das gammelige Hirn austrat, auf das jemand wie Anya gewiss keine Rücksicht nehmen würde. Platsch.

 

Nur wenige Augenblicke später lag der Zombie wie ein kleines, heulendes Kind vor ihr am Boden. Mit dem Unterschied, dass er jetzt tot war. Also … nochmal tot, weswegen Anya sich auch keine Sorgen um den potentiellen Livingtoner machte, der in ihm steckte. Die Aktion beeindruckte scheinbar sogar die Irrlichter, die auf einmal schleunigst vor Anya die Biege machten. Die hielt die Kugel fest in der Hand, welche sich als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen hatte.

„Ja, rennt nur, ihr Pissflitschen! Nächstes Mal komme ich mit der Taschenlampe und dann werdet ihr wissen, warum sie mich 'Anya Underbauer' nennen!“

 

„Hör auf so zu schreien!“, raunte Matt genervt.

Anya drehte sich um und sah ihn auf sich zukommen. Dabei stieg er über die 'Leichen' der Mumien, die er fertig gemacht hatte und welche jetzt schöne, neue Messer im Halse stecken hatten.

„Ich glaub, das waren alle“, meinte er.

Anya sah sich noch einmal in dem kleinen Geschäft um. „Für die Wache des Endbosses war das aber ziemlich mager. Pfah!“

„Wo könnte Urila sein?“

„Bestimmt auf dem Innenhof“, vermutete Anya und deutete geradeaus auf den Hinterausgang, „dort haben sie Grabsteine und sowas.“

Langsamen Schrittes bewegten sie sich auf besagte Tür zu, die sie nach draußen führen sollte. Vor ihr angekommen, machten sie Halt. Matt umfasste die Klinke, aber hielt inne. „Was denkst du, wird uns dort erwarten?“

„Bestimmt kein Kindergeburtstag“, murrte sie, „bestimmt noch mehr Gesocks. Das kann nicht alles gewesen sein.“

„Anya“, begann Matt plötzlich niedergeschlagen, „wenn ich nicht überleben sollte, dann renn' weg. Alleine hast du keine Chance. Dasselbe gilt, wenn ich … wieder die Kontrolle verliere.“

Die Blondine sah ihn verständnislos an, warf nebenbei die Glaskugel weg. „Was? Hab grad' nicht zugehört.“

Damit legte sie ihre Hand auf seine und drückte die Klinke hinunter.

 

„Partytime, ihr Penner!“, brüllte sie sofort los, als sie als Erste an Matt vorbei auf den Innenhof stürmte.

Allerdings sollte sich ihre Annahme als falsch erweisen. Von Party konnte keine Rede sein. Nicht ein Monster befand sich auf dem kleinen, quadratisch angelegten Hof. Auf diesem waren reihenweise Grabsteine ausgestellt, wie Anya es Matt erklärt hatte. Im hinteren Bereich gab es jedoch eine kleine, freie Fläche. Mit einem einzelnen Grabstein.

„Tara … nein, Urila“, murmelte Matt, der sich neben Anya stellte.

Genau auf diesem einen saß die Drahtzieherin des allen. Umringt von unzählbar vielen, aufgestellten Kerzen. Auch die Grabsteine waren mit ihnen geschmückt, sodass neben dem Mondlicht ebenso der Kerzenschein die düstere Atmosphäre begünstigte.

„Sieh an, wenn das nicht die armen Narren sind, die das Haar in meiner Monstersuppe sein wollen“, scherzte Urila und räkelte sich auf ihrem einzelnen Grabstein am anderen Ende des Innenhofs, „ich hab mein Ritual extra noch nicht angefangen wegen euch. Unnötig zu erwähnen, dass ich deswegen in meinem Zeitplan hinterher hinke. Habt ihr mir wenigstens etwas zur Wiedergutmachung mitgebracht?“

„Wie wär's mit 'ner Tracht Prügel!?“, bot Anya großzügig an.

Matt aber fiel etwas auf. Unter dem Kerzenschein wirkten Taras Augen so leer. Nein, milchig, fast als wäre sie-! Unmöglich, das musste am Licht liegen! Oder an ihrer Besessenheit!

„Ich stehe auf Schmerzen, aber dafür brauche ich dich nicht“, winkte Urila desinteressiert ab und machte einen Satz nach vorn. Aufrecht landend, begann sie auf die beiden zuzugehen, die es ihr im Gegenzug gleich taten. „Warum ich hier bin, dürfte die Petze ja schon verraten haben.“
 

Die besessene Tara machte Halt, verschränkte die Arme. „Also? Wie wollen wir das über die Bühne bringen? Ein Mensch, ein Dämonenjäger, eine Immaterielle. Ich würde sagen: ihr seid im Nachteil.“

„Zähle deine Zähne vorher und zähl sie, wenn wir fertig sind“, giftete Anya, „dann sag das nochmal! Eden hat heute geschlossen, 'Darling'!“

„Wollen wir das Ganze nicht zivilisiert regeln? Du verlässt Tara und wir sehen davon ab, dich zu verfolgen.“

„Wie gnädig, aber ich lehne ab“, reagierte Urila belustigt auf Matts Angebot, „wir wissen doch beide, dass das gelogen ist. Den Pakt werde ich nicht aufheben.“

Matt verengte die Augen zu Schlitzen. „Du bist nicht in der Position zu verhandeln. Und das weißt du.“

„Ach ist sie?“, war Anya mal wieder unwissend.

„Natürlich“, erwiderte Matt, ohne sich seiner Begleiterin zuzuwenden. Sein Blick war starr auf Urila gerichtet. „Wenn sie jetzt ihre Kräfte an uns verschwendet, hat sie am Ende nicht mehr genug, um ihr Ritual durchzuführen. Ist doch so, oder? Der Zauber um Livington wird nicht ewig andauern. Bei einer solchen Größenordnung musst selbst du dich beeilen, wenn du es noch rechtzeitig schaffen willst.“

Ein süßliches Lächeln schlug ihm entgegen. Das Mädchen mit dem schulterlangen, blonden Haar in ihrem weiß-schwarzen Kleid gluckste. „Wer weiß?“

„Also können wir ihr die Fresse polieren?“, wollte Anya hoffnungsfroh wissen.

„Nein, wir regeln das in einem Duell.“ Nun drehte er sich seiner Partnerin zu. „Ich habe einen Plan.“

Zuerst wollte Anya protestieren, doch gab es nach kurzer Überlegung auf. Es war immer das Gleiche, eine göttliche Fügung sorgte dafür, dass sie ihre Duel Disk mitnahm und schwupp: ein Duell um das Überleben der Menschheit. So war es immer und würde es auch immer sein, warum auch nicht?

„Wenn's sein muss. Aber wehe, der Plan stinkt!“

„Ein Duell? Das klingt interessant. Ist auch so viel angenehmer, als nach Schweiß und Blut stinkend seine eigenen Eingeweide zusammen zu kratzen“, trällerte Urila überzeugt, „das erspart mir unnötige Mühen. Und ihr könnt euch dann formschön in die Särge legen, die ich für euch ausgesucht habe.“

„Warst wohl schon mal probeliegen, huh?“, raunte Anya gallig und sah sich noch einmal auf dem Innenhof um, ehe sie wieder Urila ins Visier nahm und mit dem Finger auf sie zeigte. „Ich hoffe du hast dir selbst auch schon einen ausgesucht, denn wenn ich mit dir fertig bin wirst du ihn brauchen, Miststück!“

Matt schlug ihren Arm jedoch wütend beiseite. „Hey, das ist meine Freundin.“

„Erspart mir eure Streitereien und fangt endlich an, Zeitplan und so“, forderte Urila verstimmt und hob den Arm mit ihrer Duel Disk. Diese fuhr klackend aus.

Die anderen beiden taten es ihr gleich und so hallte es synchron: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP Matt: 4000LP ///// Tara: 4000LP]

 

Unter grollendem, wolkenverhangenem Himmel muteten die Kerzen, die Urila um die Grabsteine aufgestellt hatte, nur umso gruseliger an. Das schwache Kerzenlicht legte die Hälfte ihres Gesichts in Schatten. So entschied sie: „Da ihr zu zweit seit, fange ich an. Angegriffen wird erst, wenn jeder einmal dran war.“

„Langweilig“, schnaubte Anya und zog ihr Startblatt. Dabei nahm sie etwas Abstand von Matt, damit sie sich nicht gegenseitig im Wege waren.

„Denk dran, dass das immer noch Tara ist“, mahnte Matt seine Partnerin ernst, „wir dürfen sie nicht verletzen.“

Was die Blondine aber alles andere als gut aufnahm. Wild gestikulierte sie mit den Händen, als sie widersprach: „Und wie stellst du dir das vor, Einstein!? Muss ich dich daran erinnern, wie schwer es war, Another und Isfanel loszuwerden? Da hatten wir alle Hände voll zu tun, uns selbst zu retten. Dass die Narbenfresse und Marc heil rausgekommen sind, war Glück und in Marcs Fall Isfanels gutem Willen zu verdanken! Jetzt die Samthandschuhe auszupacken is' beschissener Selbstmord!“

„Ich habe einen Plan, klar!? Wage es nicht, ihr ein Haar zu krümmen, Anya!“

Als er zu ihr mit eisiger Miene herüber sah, zuckte das Mädchen zusammen. So hart hatte sie ihn noch nie erlebt. Um ihn nicht noch weiter zu verärgern, nickte sie. „Tch, fein! Ich werd' mir Mühe geben. Hab eh nicht die passenden Mittel, Blödie!“

„Seid ihr bald fertig, oder habe ich noch Zeit für eine Maniküre?“, platzte Urila dazwischen, die längst ihre Starthand plus eins gezogen hatte und gelangweilt ihre Fingernägel betrachtete. „Das hat mich schon bei eurem Kampf im Turm so genervt, das elende Geplappere. Naja, Another ist ja auch nicht gerade auf den Mund gefallen. Egal, mein Zug.“

 

Voller diabolischer Vorfreude nahm sie ein Monster aus ihrer Hand und legte es auf die Duel Disk. „Komm und spiele mit uns, [Madolche Mewfeuille]!“

Auf einer schwebenden, puzzlestückförmigen Pastete tauchte eine sitzende, rosapinke Katze auf, die sich schon das Mäulchen nach der Leckerei unter ihr leckte.

 

Madolche Mewfeuille [ATK/500 DEF/300 (3)]

 

Anya blinzelte zweimal ungläubig. „Eine … Katze? Du willst mir erzählen, dass eine der mächtigsten Immateriellen das Duell mit einer niedlichen, süßen Plüschkatze anfängt? Oh Gott, diese Welt geht langsam zugrunde …“

„Unterschätze sie nicht, nur weil sie keine bestialischen Ungeheuer benutzt“, mahnte Matt.

Seine Partnerin zeigte auf Urilas Monster und protestierte. „A-aber, aber-! Ne Katze! Ne' fucking Katze!“

„Diese heiße Mieze hat's drauf“, zwinkerte Urila ihr zu, „sie lässt mich nämlich ein weiteres Madolche-Monster von der Hand beschwören. Und zwar [Madolche Messengelato]!“

An Anya und Matt rannte ein blauhaariger Botenjunge vorbei, der sein Puzzlestück, bestehend aus Waffel und Eiscreme, über den Kopf hielt. Bei Urila angekommen, klemmte er sich das Süßzeug unter die Achsel, überreichte seiner Herrin den Brief, den er weitergeben sollte und sprang dann in die Luft, wo er das Puzzlestück fallen ließ, um darauf schließlich zu schweben.

 

Madolche Messengelato [ATK/1600 DEF/1000 (4)]

 

Urila indes öffnete den Brief und räusperte sich. „Hier steht, dass wenn Messengelato in Anwesenheit eines Madolche-Monsters vom Typ Ungeheuer beschworen wird, er mir diese Nachricht überbringen soll. In ihr ist eine Karte enthalten, besser gesagt eine Madolche-Zauber- oder Fallenkarte, je nach meiner Wahl.“

Sie holte aus dem Umschlag einen permanenten Zauber namens [Madolche Ticket] hervor und aktivierte diesen sogleich. Zusätzlich zog sie noch zwei Fallen aus ihrem Blatt hervor und setzte diese je links und rechts neben die vor ihr erscheinende Zauberkarte, womit ihr Blatt nur noch aus zwei Karten bestand.

„Damit ist mein Zug beendet“, gluckste Urila.

 

„Mein Zug“, bellte Anya und riss schwungvoll eine Karte von ihrem Deck, „Draw!“

Jedoch war auch diese nicht die erhoffte [Gem-Knight Fusion], die heute durch Abwesenheit glänzte. Ganz zu Anyas Ärgernis, die ihre ganze Strategie dadurch den Bach runtergehen sah.

„[Gem-Knight Garnet]!“

Vor Wut knallte sie ihren Ritter etwas fester auf die alte Battle City-Duel Disk als nötig gewesen wäre. Der Bronzeritter erschien dennoch vor ihr und ließ sogleich eine lodernde Flamme zwischen seinen Handflächen entstehen.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Die verdeckt, Zug beendet“, schnaubte die Blondine wütend und schob hinter Garnet eine Falle, die sich vor ihren Füßen materialisierte. „Blödes Kackspiel!“

 

Matt ignorierte das Gezeter. Alles was er wollte war seine Freundin zu retten. Tara … was ist passiert, dass sie mit einem Dämon paktiert? Obwohl er es nicht wusste, gab er sich die Schuld dafür.

„Ich werde dich befreien, versprochen!“, sagte er und griff nach seinem Deck. Und in diesem Augenblick durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, Schatten krochen von dem D-Pad seinen Arm entlang.

„Auch wenn dein Freund einen halben Exorzismus an dir durchgeführt hat, bist du trotzdem noch mir ergeben“, säuselte Urila und grinste heimtückisch, „dieses Deck, die Evilswarm, sind der Beweis. Du wirst mir gehorchen und dich gegen Anya Bauer stellen. Verstanden?“

Die Blondine zuckte zusammen, als Matt sich halb zu ihr umwandte und aus den Augenwinkeln böse anfunkelte.

„Mach keinen Scheiß, Summers!“, raunte die nervös.

„Draw!“, schrie der aber schon und riss in einer halbmondartigen Bewegung, in der die Schatten nur so um ihn herum loderten, seine neue Karte. Mit gesenktem Kopf murmelte er: „Da mein Gegner ein Monster mehr als ich kontrolliert, kann ich [Evilswarm Mandragora] spezialbeschwören.“

Aus der Erde vor ihm wuchs eine hüfthohe, braune Pflanze. Ihr blondes Haar stand im Kontrast zu den dunklen Augenringen und den grünen Blätterarmen.

 

Evilswarm Mandragora [ATK/1550 DEF/1450 (4)]

 

„Danach rufe ich als Normalbeschwörung [Evilswarm Castor]. Dessen Effekt gewährt mir eine zusätzliche Normalbeschwörung im Rahmen seiner Spezies, sodass ich [Evilswarm Heliotrope] ebenfalls beschwören kann.“

Erschrocken stellte Anya fest, dass neben dem halb schwarzen, halb weißen Krieger auch noch ein Monster auftauchte, das sie sehr gut kannte: [Gem-Knight Emerald]. Aber anders als bei jenem, war die Rüstung dieses Ritters dunkelgrün und generell von einer finsteren Aura umgeben. Zumal das dunkle Gegenstück ihres Kriegers ein Schwert und nicht etwa einen Schild mit sich führte.

 

Evilswarm Castor [ATK/1750 DEF/550 (4)]

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]

 

Gerade wollte Anya Matt darauf ansprechen, da bemerkte sie, dass auch Mandragora Ähnlichkeit mit einem ihr bekannten Monster hatte. Ein wenig wirkte es wie eine ausgewachsene Form von [Naturia Cosmobeet], einem von Abbys Monstern.

„Sag mal, klaust du dir jetzt schon von uns dein Deck zusammen oder was!?“, fauchte sie, als die Erkenntnis wie ein Blitz einschlug.

Bekam aber keine Antwort. Stattdessen hob Matt den Arm in die Höhe. Seine drei Monster schossen als violette Lichtstrahlen in die Mitte des Feldes, wo sich ein schwarzes Loch auftat.

„Aus meinen drei Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster. Erscheine, [Evilswarm Ouroboros]!“

Dem Mädchen verschlug es glatt die Sprache. Erst einer, dann ein zweiter und schließlich noch ein dritter, schwarzer Drachenkopf erhob sich aus dem Galaxienwirbel, welcher sich vor Matt auftat. Neben der riesigen Bestie entstieg ihm auch ein dunkler Nebel, der Matts ganze Spielfeldseite einzuhüllen begann. Selbst Anya musste dem Ungetüm, nachdem es sich über Matt positioniert und ohrenbetäubend gebrüllt hatte, insgeheim Respekt für sein furchteinflößendes, finsteres Äußeres zollen – was bei ihr selten genug vorkam.
 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4}]

 

Plötzlich richtete sich Matt mit finsterem Gesichtsausdruck an Anya, den Nebel nebenbei inhalierend. „Das ist das mächtigste Monster in meinem neuen Deck. Im Angesicht Ouroboros' kann selbst ein Monster vom Kaliber deines [Gem-Knight Master Diamonds] nicht bestehen.“

Die herablassende Art, mit der er diese Worte von sich gab, bescherte Anya eine Gänsehaut. „H-hey, Summers, was soll das heißen? Sag nicht, du-!“

Aber natürlich war er … Dass er dieses Zeug um ihn herum restlos in sich aufnahm war doch genug Beweis!

„Du bist echt langsam, weißt du das?“, lachte Urila vergnügt. „Natürlich steht er jetzt auf meiner Seite, nicht wahr, mein Kleiner?“

„Natürlich, Mutter.“

„Sieht so aus, als ob du alleine dastehst. Zeig ihr doch gleich, weshalb man Ouroboros fürchten sollte.“

Matt nickte, wobei Anya die Kinnlade hinunter klappte. Dieser Idiot, was hatte diese blöde Hexe mit ihm angestellt!? Eben wollte er noch diese doofe Tara retten, jetzt gehorchte er auf einmal widerstandslos, nur weil er ein bisschen Rauch eingeatmet hatte!?

Der Dämonenjäger streckte den Arm in die Höhe, hielt dabei eines der Xyz-Materialien von [Evilswarm Ouroboros] in der Hand. „Erster Effekt! Ich kann eine Karte meines Gegners vom Feld zurück auf die Hand schicken!“

Gierig schnappte der mittlere Kopf des massiven Drachens nach der violetten Lichtsphäre, die um ihn kreisten und schluckte sie hinunter. Danach brüllte er auf, öffnete das Maul. Geradezu schwungvoll bewegte Matt seinen Arm und zeigte auf Anyas [Gem-Knight Garnet]. „Ich werde nicht zulassen, dass du mit ihm eine Xyz-Beschwörung durchführst … Urila!“

Sein Finger schwenkte herüber zu [Madolche Messengelato], der erschrocken zusammenzuckte. Dessen Besitzerin aber grinste nur vergnügt. „Langweiler. Sei doch nicht so verkrampft, ich meins doch nur gut mit euch.“

Umgeben von den Schatten, die nun aus seiner Brust stiegen, ging Matt zwar in die Knie, sah aber dennoch kämpferisch auf. „Solange du in Tara steckst, werde ich dich bis ans Ende der Welt verfolgen, wenn es sein muss! Bis dahin kannst du mich nicht kontrollieren, egal wie sehr du versuchst meine innere Finsternis oder was auch immer zu wecken!“

Er sah ruckartig hoch zu seinem schwarzen, dreiköpfigen Drachen. „[Evilswarm Ouroboros], los! Infestation's Viciousness!“

Der mittlere der drei Köpfe des Drachens hob das Haupt an, dann feuerte er einen pechschwarzen, aus vielen kleinen Partikeln bestehenden Energiestrahl auf Urilas Monster ab. Die schnippte nur einmal mit dem Finger, da sprang eine ihrer Fallen auf. Und schlagartig wurden ihre beiden Kreaturen zu Plüschfiguren. Der Strahl seinerseits verwandelte sich in eine Sternenschnuppe, die über die Puppen hinweg zischte und hinter Urila unter bunten Funken in der Mauer einschlug.

„Liegen keine Monster auf meinem Friedhof, kann [Madolche Nights] den Effekt eines deiner Monster annullieren“, erklärte sie und grinste übers ganze Gesicht, „Fail!“

Matt schnaubte und schob eine seiner drei verbliebenen Handkarten in eine Zauber- und Fallenkartenzone. „Die setze ich und beende.“

Verdammt, dachte er dabei frustriert. Da Ouroboros jeden seiner drei Effekt nur einmal aktivieren konnte, hatte er diesen soeben für Nichts verschwendet!

Ein Stich in seiner Brust ließ ihn verkrampfen, diese heimtückischen Stimmen, eine Begleiterscheinung dieser Besessenheit, sie wurden lauter! Das Duell musste schnell beendet werden, ehe er es nicht mehr aushielt und Anya …!

 

Auch die Blondine bemerkte, wie sich ihr Partner quälte und die Hände gegen seine Schläfen presste. Der Schweiß auf ihrer Stirn zeugte davon, dass sie nicht wissen wollte, was geschah, wenn er den inneren Kampf verlor. Matt war eine tickende Zeitbombe! Und so ungern sie es zugab, gegen zwei Irre hatte sie schlechte Karten, also durfte sie es nicht soweit kommen lassen!

 

Urila indes zog und seufzte: „Diese Welt ist so nervig, meint ihr nicht? Laut, stinkend und kaputt. Ich kann verstehen, warum -sie- sie loswerden wollen. Müssen, um genau zu sein. Draw!“

Irritiert sahen ihre beiden Gegner die blonde Frau an, wie sie schwungvoll zog. Matt stieß einen erschrockenen Schrei aus, als mitten in der Bewegung ein kleines Stück von Taras Haut an der Wange einfach hinab fiel. Mit der neuen Karte in der Hand die Stelle berührend, stöhnte Urila. „Fängt es etwa schon an? Dieser Körper zerfällt. Wieso passiert das immer mir?“

„Was ist das!? Was geschieht mit Tara!?“, wollte Matt mit bebender Stimme wissen.

Seine Gegnerin zuckte mit den Schultern. Schmollend erklärte sie: „Ich bin eben Gift für Menschen. Immer wenn ich einen Pakt eingehe, sterben sie mir binnen weniger Stunden weg. Zu viel Macht, bla bla.“

„Anya!“, richtete sich Matt an ebenjene.

„Schon kapiert. Ist ja nicht so, als ob wir vorher trödeln wollten oder so.“

„Wenn ihr noch dazu kommt!“, rief Urila und legte ein Monster auf ihre Duel Disk. „Ich beschwöre [Madolche Cruffsant] und benutze seinen Effekt, der [Madolche Mewfeuille] zurück auf meine Hand gibt, während Doggie dadurch ein Level-Up erhält!“

Auf einer puzzleförmigen Toastscheibe erschien ein kleiner Hund mit Hut auf dem Kopf, der durch sein aufgeregtes Gebell die Katze Mewfeuille vertrieb. Urila nahm deren Karte zurück auf ihr Blatt, woraufhin Cruffsant in blauer Aura aufleuchtete.

 

Madolche Cruffsant [ATK/1500 → 1800 DEF/1200 (3 → 4)]

 

„Der Effekt von [Madolche Ticket] entfaltet sich jetzt“, rief Urila anschließend und zeigte auf ihre offen stehende Zauberkarte, „da meine Süßigkeit auf meine Hand zurückgekehrt ist, kann ich eine weitere von meinem Deck meiner Hand hinzuzufügen. Ich wähle [Madolche Potpourrince]!“

Ihr Deck spuckte die Karte förmlich aus, die die Blondine kurz vorzeigte, ehe sie sie ihrer Hand hinzufügte.

„Und jetzt bin ich dran, das Overlay Network zu errichten!“

„Ich wusste es!“, murmelte Matt. Genau das, was er ursprünglich verhindern wollte, sollte jetzt eintreten.

Als braune Lichtstrahlen wurden Urilas Monster in den schwarzen Galaxienwirbel gezogen, der sich inmitten des Feldes auftat. „Aus meinen zwei Stufe 4-Madolche-Monstern wird ein Rang 4-Monster königlichen Geblüts! Xyz-Summon! Zeit für deine Audienz, [Madolche Queen Tiaramisu]!“

Besagte Königin kam aus dem Strom hervor, sitzend auf einem Thron, der an dem riesigen Tiramisu-Puzzlestück befestigt war, welches ihre Hoheit durch die Luft transportierte. Zwei Lichtkugeln kreisten um die Herrscherin der Madolches.

 

Madolche Queen Tiaramisu [ATK/2200 DEF/2100 {4}]

 

„Falle aktivieren!“, rief Matt urplötzlich und erhob sich mit ebenjener. „So leicht lasse ich dich nicht gewähren! [Infestation Terminus]! Zwar muss ich Ouroboros dafür verbannen, kann aber zwei deiner Karten auf die Hand zurückgeben!“

Langsam löste sich sein Drache in schwarze Partikel auf – nur um sich wieder zusammenzusetzen.

„[Madolche Tea Break] sagt nein“, kicherte Urila, als ihre zweite Falle aufsprang, „mit ihr annulliere ich deine Falle und gebe sie dir auf die Hand zurück.“

Die Königin auf ihrem Thron schwang ihr goldenes Zepter, sodass [Infestation Terminus] aus Matts D-Pad geschossen kam. Dessen Besitzer hob die Karte zähneknirschend auf.

„Die hat aber auch auf alles 'ne beschissene Antwort!“, stellte Anya wütend fest. „Gott, wie ich sowas hasse!“

„Es wird nur noch schlimmer werden“, wusste Matt. Auch wenn er das letzte Mal vor vielen Jahren gegen Tara gekämpft hatte, an das zerstörerische Potential ihres Decks erinnerte er sich noch ganz genau.

„Korrekt! Wir brauchen aber erstmal einen Kulissenwechsel, weshalb ich den Spielfeldzauber [Madolche Chateau] aktiviere!“

Urila hielt den Zauber in die Höhe. Hinter ihr erhob sich prompt ein Schloss, gemacht aus allerlei süßen Sachen.

 

Madolche Queen Tiaramisu [ATK/2200 → 2700 DEF/2100 → 2600 {4}]

 

„Ugh, na toll!“, beklagte sich Anya lauthals. „Meine Fresse, sind wir hier bei der Neuverfilmung von Hänsel und Gretel!?“

„Klar, und ihr spielt die Hauptrollen.“

Die Terrorblondine in Boxershorts und T-Shirt zischte, während Matt gar nicht reagierte: „Zu blöd, dass die böse Hexe am Ende ins Gras beißt.“

„Tja, ihr kennt das ja, manche Remakes wollen sich einfach nicht ans Original halten“, zwinkerte Urila vergnügt, „ich glaube, das hier ist so eins.“

„Ich nicht!“, erwiderte Anya und rümpfte selbstbewusst die Nase.

„Du bist kein Maßstab. Aber zurück zum Eigentlichen. Wie ihr seht, werden meine Madolche-Monster nicht nur stärker, nein. Sollten sie in mein Deck zurückkehren müssen, kann ich sie stattdessen auf die Hand nehmen. Wollen wir das gleich mal ausprobieren? Ich zeig's euch!“ Sofort griff Urila unter die Karte ihrer Königin und riss [Madolche Cruffsant] von dort hervor. „Jetzt kann ich endlich [Madolche Queen Tiaramisus] Effekt aktivieren!“

Die Königin erhob sich von ihrem Thron und streckte ihr Zepter in die Höhe, welches eine der beiden Lichtsphären absorbierte. Urila erklärte dazu: „Indem ich ein Xyz-Material abhänge, kann ich bis zu zwei Madolche-Karten in meinem Friedhof meinem Deck hinzufügen.“

Sie präsentierte den beiden [Madolche Cruffsant] und [Madolche Tea Break]. Während letztere ins Deck zurück gemischt wurde, gesellte sich Cruffsant aufgrund des Effekts des Schlosses zu den anderen Monstern auf Urilas Blatt.

Unverhofft zeigte Tiaramisu aber plötzlich auf Matts [Evilswarm Ouroboros] – welcher sich prompt in Luft auflöste. Danach schwenkte sie herüber zu Anyas gesetzter Karte. Die temperamentvolle Blondine wollte nicht glauben, was sie da sah: „Hey, was hat dieses Miststück-!?“

„Ganz einfach, Liebes“, kicherte Urila mit vor dem Mund gehaltener Hand, „meine Königin schickt genauso viele Karten von eurer Spielfeldseite ins Deck, wie sie zuvor in meines geschickt hatte.“

„Das heißt, meine Falle-!?“

„Sie wird verschwinden, genau. Bye bye!“

Anya sah irritiert herüber zu Matt. Der schüttelte nur stumm den Kopf, wirkte nicht überrascht ob des Verlustes seines mächtigen Drachens.

„Das nehme ich nicht hin!“, wandte sich Anya daraufhin an ihre Gegnerin. „Ehe ich sie mir vor dir nehmen lasse, aktiviere ich sie lieber, auch wenn es sinnlos ist! [Inverse Universe]! Sie verdreht die Werte aller Effektmonster auf dem Feld.“

Nur ganz marginal schrumpfte Tiaramisu, als Anyas Falle aufsprang.

 

Madolche Queen Tiaramisu [ATK/2700 → 2600 DEF/2600 → 2700 {4}]

 

„Wie putzig“, amüsierte sich Urila über Anyas Trotzreaktion, „das ändert nichts daran, dass ich deinen [Gem-Knight Garnet], der als normales Monster nicht davon betroffen war, nun vernichten werde! Los, Tiaramisu!“

In schneller Reihenfolge schoss die Königin mit ihrem Zepter eine Salve von Zuckersternen auf den Ritter, der dem Hagel nicht standhalten konnte. Auch Anya wurde von den übergroßen Geschossen getroffen.

„Urgh!“, schrie sie, da die Sterne bei Kontakt explodierten, was sie letztlich auch nach hinten auf den Boden warf. „Dahhh! Miststück, das büßt du mir!“

 

[Anya: 4000LP → 3300LP Matt: 4000LP ///// Tara: 4000LP]

 

Damit waren die Felder des Duos nun komplett geleert, wohingegen Urila dank Tiaramisu und ihren beiden Zauberkarten die Oberhand hatte.

„Zug beendet“, hauchte sie genüsslich und ergötzte sich still an Anyas Leid.

Die wäre aber nicht Anya, wenn sie sich von so etwas einschüchtern lassen würde. Schnell kam sie wieder auf die Beine, wenn auch unter dem Schmerz nur halb so elegant wie geplant. Torkelnd reihte sie sich wieder zu Matt.

„Sie hat die perfekte Kombination auf dem Feld. Mit Tiaramisu und dem Schloss kann sie ihre Karten recyceln und mit [Madolche Ticket] sogar noch neue Monster aufs Feld bringen.“

Matts Erklärung quittierte Anya mit einem unbeeindruckten Pfeifen. „Ach ja? Wenn ich mit ihr fertig bin, wird davon nicht mehr viel übrig sein!“

 

Das Mädchen schloss die Augen und griff nach ihrem Deck. Sie wusste genau was sie ziehen wollte. Eine nette Zauberkarte namens [Gem-Knight Fusion]. Mit ihr würde sie diesem Miststück eine Lektion erteilen, die sich gewaschen hat. Und auch wenn Anya wusste, dass Levriers Kräfte längst der Vergangenheit angehörten, war da ein Funke Hoffnung. Er mochte tot sein, aber wie sie so dastand, war es für einen kurzen Augenblick so, als wäre er wieder da und würde mit ihr kämpfen.

„Geronimo!“, schrie sie und versuchte sich das Labyrinth aus möglichen Pfaden vorzustellen, das ihr immer aus der Klemme geholfen hatte, wenn sie etwas Gutes ziehen musste. „Draw!“

Schon während sie zog, konnte sie den grünen Rand der Karte erkennen! Eine Zauberkart-

„Was!?“, kam aber schnell die Ernüchterung, als sie feststellen durfte, dass Vorstellung allein Levrier nicht zurück brachte. Und schon gar nicht seine Kräfte. „Das war so nicht abgemacht! Verdammter Kackmist, warum jetzt!?“

„Anya, wir haben keine Zeit für sowas! Beeil' dich mit deinem Zug!“, drängte Matt, besorgt um das Wohl von Tara und der Bewohner Livingtons.

„Hetz' mich nicht!“, fauchte die und steckte die Karte in ihr Blatt, um einen anderen Zauber zu zücken. „Das war's dann wohl mit Diamonds glorreichem Auftritt.“

Ohne ihr Assmonster [Gem-Knight Master Diamond], welches ihr einst der Jinn gegeben hatte, konnte sie Urila unmöglich realen Schaden zufügen! Es wäre die einzige Möglichkeit gewesen, ihr zu schaden! Verdammte Scheiße!

„Also muss ich mal wieder die billige Übergangslösung benutzen!“, raunte Anya und legte den Zauber in ihre Duel Disk ein. „[Silent Doom]! Er ruft einen Vanilla in Verteidigung vom Friedhof auf mein Feld! Erscheine, Garnet!“

Aus einer Stichflamme tauchte der kniende Ritter vor ihr wieder auf.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Und als Normalbeschwörung hinterher schicke ich [Gem-Knight Tourmaline]!“

Neben seinem Mitstreiter tauchte ein Ritter in goldener Rüstung auf, welcher zwischen seinen Händen elektrische Entladungen entstehen ließ.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Ihr Blatt betrachtend, wusste Anya, dass sie nur eine Option hatte. Welche gemischte Gefühle in ihr auslöste, wenn man bedachte, was oder besser gesagt wen sie da beschwören wollte.

„Levrier“, murmelte sie, „du warst er, bevor du dich für mich geopfert hast … Idiot! Warum ist er immer noch so schwach!?“

Matt betrachtete das Mädchen unsicher, wie sie den Arm in die Höhe streckte.

„Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen zwei Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Immer noch so scheiße wie vor drei Monaten! Xyz-Summon!“

Die beiden Ritter wurden als braune Lichtstrahlen in das schwarze Loch des Overlay Networks gezogen, welches sich vor ihr auftat. Aus ihm trat langsam eine weiße Gestalt hervor.

„[Gem-Knight Pearl]!“, rief Anya und knallte dessen Karte auf ihre Duel Disk.

Nun ruckartig dem Wirbel entfliehend, gesellte sich der weiße Ritter vor seine Besitzerin. Stolz verschränkte er die Arme, während seine sieben riesigen, rosafarbenen Perlen um ihn kreisten. Seine roten Augen waren auf Urila gerichtet, der mit einem Schlag das Lächeln abhanden gekommen war.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Zwei Lichtkugeln kreisten neben den Perlen um Anyas ehemaliges Paktmonster, was dem nur nichts nützte, da es keinen Effekt besaß, um von ihnen Gebrauch zu machen.

„Er“, knurrte Urila plötzlich wütend, „er ist derjenige, der Isfanel getötet hat.“

„Wieso so verbittert?“, wollte Anya grimmig wissen. „Isfanel war derjenige, der den Turm, also dich, bewacht hat. Solltest du nicht froh sein?“

„Machst du Witze? Isfanel zu töten war mein Recht!“

Anya zuckte gehässig grinsend mit den Schultern. „Pech für dich, wir waren schneller! Und soll ich dir was sagen? Pearl wird dir nicht zum letzten Mal die Tour vermasseln!“

„Unsere beiden Monster sind gleichstark, also wenn du angreifst, musst du ihn opfern.“ Ganz überzeugt klang Urila von dieser These aber nicht.

Zu recht, wie Anya bewies, als sie die eben gezogene Karte aus dem Blatt nahm und mit dem Rücken auf Urila gerichtet zeigte. Langsam drehte sie die Karte zwischen Mittel- und Zeigefinger. „Weißt du, ich hab zwar nicht bekommen was ich wollte, aber immer noch ist's noch gut genug, um dir in den Arsch zu treten. Warum? Weil diese Karte den Gleichstand aufheben wird!“

Als die Karte ganz zu Urila umgedreht war, konnte die nur mit wütendem Schnaufen feststellen, dass Anya einen [Mystical Space Typhoon] gezogen hatte. Jener erschien auf dem Feld in Form eines gewaltigen Wirbelsturms, der ohne Umschweife auf Urilas Süßigkeitenschloss zusteuerte und es im Handumdrehen so sehr verwüstete, dass Pudding, Kekskrümel, Smarties und andere Leckereien nur so durch die Gegend flogen.

„Am Ende des Tages lohnt es sich doch immer wieder, einfach eine Zauber- oder Fallenkarte deines Gegners zerstören zu können“, schloss Anya den Akt ab, „denn da [Madolche Chateau] nun Geschichte ist, verliert deine Wannabe-Königin ihren Punktebonus!“

 

Madolche Queen Tiaramisu [ATK/2600 → 2100 DEF/2700 → 2200 {4}]

 

„Und jetzt“, gurrte Anya, kniff ihre Augen zu kleinen, blauen Perlen zusammen und hob den Arm geradezu in Zeitlupe an, zeigte auf [Madolche Queen Tiaramisu], „gibt's Prügel. Mein Angebot mit dem Sarg steht übrigens noch. [Gem-Knight Pearl], Blessed Spheres of Purity! Zeig dem Miststück, dass sein Verfallsdatum abgelaufen ist!“

Pearl streckte beide Arme vor sich aus und begann die sieben riesigen Perlen, die um ihn herum schwebten, in gefährliche Geschosse umzufunktionieren. Diese pfefferten mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf die Madolchekönigin zu und zerfetzten sie binnen Sekunden. Urila verzog eine hasserfüllte Fratze, schlugen einige der Perlen neben ihr in die Erde ein und lösten so Explosionen aus.

 

[Anya: 3300LP Matt: 4000LP ///// Tara: 4000LP → 3500LP]

 

„Revenge menge, baby!“, jubelte Anya und verschränkte stolz die Arme. „Damit ist's fürs Erste gut, Zug beendet!“

Mit zwei Handkarten gab sie damit an Matt ab.

„Das ist die Gelegenheit, sie fertig zu machen!“, rief sie ihm zu. „Zeig ihr, dass sie einen Fehler gemacht hat, dir dieses überkrasse Deck zu geben!“

 

Matt aber zögerte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Finger verweilten über der obersten Karte seines Decks, bereit, sie zu ziehen. Doch er tat es nicht.

„Was ist los?“, wollte Anya wissen.

„Siehst du … siehst du das?“, stammelte er heiser. „Taras Wange …!“

„Was ist damit- oh fuck!“

Anya sah es selbst. Ein nicht gerade kleines Stück Haut hing nur noch lose an der linken Backe hinab, offenbarte das Fleisch, das darunter lag – und sogar einen Teil des Wangenknochens. Es wurde schlimmer!

„Lasst euch davon nicht ablenken“, meinte Urila salopp und versuchte, die Haut wieder in ihren angestammten Platz zu drücken. Was nur dafür sorgte, dass sie sich gänzlich löste und mit einem ungesunden Platschen vor ihre Füße fiel. „Hoppla!“

Matt stieß einen entgeisterten Schrei aus.

Urila kicherte. „Ups, es ist wieder passiert. Das ist nun mal mein kleines Handicap, wo andere Immaterielle ihre Gefäße heilen, da bin ich der Elefant im Porzellanladen.“

„Das ist nicht wahr!“, keuchte Matt. „Tara! Wenn das so weiter geht-!“

„Mal gewinnt man, mal verliert man … in ihrem Fall ist's das Leben.“ Urila zuckte unbedarft mit den Schultern. „Deswegen wäre ich euch wirklich dankbar, wenn ihr mich das Ritual durchführen lassen könntet, bevor die Kleine nur noch eine matschige Pampe ist. Seid ihr so nett?“

Anya blinzelte zweimal, ehe sie trocken antwortete: „Nein.“

„Wär' ja auch zu schön gewesen.“

„Wie kannst du ihr das antun!?“, brüllte Matt, der langsam wieder zu Sinnen kam. „Verlasse sofort ihren Körper, du Schlampe!“

„Wow, werden wir jetzt vulgär, ja? Wie sagte deine Freundin eben so treffend? Nein!“ Urila ergötzte sich regelrecht daran, wie er hilflos schnaubte wie eine Dampflok.

„Sie hat Recht, Summers. Wenn du fluchst klingt das lächerlich, lass mich das machen.“ Anya trat einen Schritt vor, neigte sich vorneüber und begann wie ein Rohrspatz zu schimpfen. „Hey du blödes Miststück, an deiner Stelle würde ich meinen schleimigen, nicht existierenden Kadaver aber ganz schnell aus der dummen Trulla bewegen, ehe ich dabei mithelfe, sie wie eine Zwiebel zu schälen! Denn falls dein kleines Erbsenhirn es noch nicht geschnallt hat: wir sind die verfickten Helden und weißt du was? Die sind diejenigen, die am Ende die beschissenen Leichen zählen! Also raus mit dir, such dir 'nen anderen Idioten! Am besten jemanden von meiner schwarzen Liste, die können ruhig von innen heraus verrotten!“

Urila räusperte sich. „Nein.“

Seufzend nahm Anya ihre alte Position wieder an, zuckte mit den Schultern. „Sorry Summers, ich glaub' Worte ziehen bei der nicht.“
 

Dieser funkelte jedoch die besessene Tara an, ehe er seine Hand auf sein Deck legte. „Ich weiß. Allerdings kenne ich genau das richtige Mittel, sie zum Nachdenken anzuregen! Draw!“

Voller Wut im Bauch riss er die Karte von seinem Deck, doch stockte mitten in der Bewegung. Ein fieser Stich in seiner Brust, der sich wie ein Feuerschwall in ihm ausbreitete. Urila lächelte zuckersüß.

Matts Augen weiteten sich, dann krampfte er zusammen und sank auf die Knie. Die Schatten schlugen geradezu um ihn, wollten ihn verschlingen.

„Oh shit!“ Anya schlug sich die Hand vor die Stirn. „Wieder diese abgefuckte Nummer!“

Sich den Kopf halten, schrie er, als würde dies die Finsternis vertreiben, die aus seiner Brust stieg. Er hatte die Kontrolle verloren ob Urilas bewusster Provokation. Die beobachtete alles gespannt.

Aber er würde ihr diesen Triumph nicht gönnen! Jede Sekunde, die er verschwendete, schadete Tara nur umso mehr! Je schneller das endete, desto weniger würde sie leiden müssen! Und er würde dafür sorgen, dass nicht eine Narbe ihr Antlitz entstellen würde, sobald das vorbei war! Egal wie und zu welchem Preis!

Unter einem Kampfschrei knallte er ein Monster von seiner Hand auf die Duel Disk. Ein riesiger schwarzer Vogel tauchte vor ihm auf, fünf dornige Tentakel erstreckten sich in alle Himmelsrichtungen von seinem Haupt. Was einst der elegante [Mist Valley Apex Avian] gewesen war, wurde nun bis ins Unkenntliche pervertiert.

„[Evilswarm Thunderbird], ja? Süß!“, gurrte Urila beim Anblick des Monsters. „Bei dem hab ich mir viel Mühe gegeben. Der ist echt gut, jaha!“

 

Evilswarm Thunderbird [ATK/1650 DEF/1050 (4)]

 

„Er wird noch besser“, knurrte Matt und versuchte sein Bestes, die Schatten, die ihn umtanzten, kitzelten, verführerisch zuflüsterten zu ignorieren. Stattdessen griff er in sein Blatt und zog eine Zauberkarte daraus hervor, die er prompt aktivierte. „[Mutual Infestation]! Thunderbirds Angriffskraft wird verdoppelt, dafür darf nur er diese Runde angreifen und wird in der End Phase in Verteidigung geswitcht!“

Eine pechschwarze Aura, nahezu identisch mit Matts, begann nun auch von dem leicht übergewichtigen Vogel zu brennen.

 

Evilswarm Thunderbird [ATK/1650 → 3300 DEF/1050 (4)]

 

„Hell yeah, Summers! Jetzt nochmal einen Boost und das Miststück geht schneller down als Nick nach einem Anya Punch!“

Damit spielte Anya auf Urilas Feld an, das abgesehen von der Zauberkarte [Madolche Ticket] leer war.

Matt aber zog eine hasserfüllte Grimasse, als er sich aufraffte. „Nichts dergleichen, dafür ist es noch zu früh! Thunderbird, direkt-!“

Urila schwang mahnend den Zeigefinger. „Stopp! Willst du das wirklich? Denk daran, diese Karten sind von großer Macht erfüllt. Nicht auszudenken, was dem Püppchen passiert, wenn diese sich gegen sie-“

„Schnauze! Thunderbird, direkter Angriff!“

Dass ihr Versuch, Matt mit Gedankenspielchen vom Angriff abzuhalten so kalt abgeschmettert worden war, ließ Urila glatt verstummen. Dann presste sie wütend die Lippen zusammen, streckte weit die Arme aus. „Fein! Dann nur zu!“

Ihre milchigen Augen leuchteten rot auf. Der Donnervogel schrie in die Nacht hinein, ehe von den roten Kugeln, die in einer geraden Linie von seinem Bauchansatz bis zur Brust hinauf verliefen, Blitze zu flackern begannen. Diese entlud die Kreatur gnadenlos Richtung Urila, die hysterisch gackernd die Stromstöße entgegen nahm. Sie versengten ihre Haut, zerfetzte die Kleidung, bis das Mädchen regelrecht dampfte.

„Nein!“, quiekte Matt panisch, der das so nicht beabsichtigt hatte.

„Das Miststück steuert doch die Macht dieser Karten, oder nicht!? Immerhin sind es ihre! Die macht das mit Absicht!“, erkannte Anya.

„Ein lichter Moment unter so viel geistiger Umnachtung!“, spottete Urila, die das Bad im Blitzgewitter regelrecht genoss. „Jah, das süße Kribbeln von Elektrizität, es überdeckt sogar die Schmerzen meines Gefäßes. Uh!“

Schließlich war es vorbei, die fremdgesteuerte Tara fiel auf die Knie, obschon immer noch Ladungen um sie schlugen.

 

[Anya: 3300LP Matt: 4000LP ///// Tara: 3500LP → 200LP]

 

Matt stand der Mund offen. Was hatte er da getan!?

Seine Freundin, da war sie, verkohlt, dampfend, nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Und er war schuld, er-!

Die Schmerzen in seiner Brust wurden stärker, keuchend beugte er sich vor. Ein Rinnsal Speichel tropfte dabei aus seinem Mund.

Urila, die ihren Kopf zuvor gen Himmel gerichtet hatte, neigte diesen nun nach vorn und betrachtete vergnügt aus ihren milchigen Augen den mit sich selbst kämpfenden, jungen Mann.

„Lass dich nicht von ihr provozieren“, riet Anya ihm derweil. „Diese Tara kriegen wir schon wieder geflickt. Sie will damit nur erreichen, dass du Skrupel zeigst, weil sie in deiner Freundin steckt.“

Obschon Matt die Schatten kaum bändigen konnte, sah er zu seiner Partnerin herüber. „Denkst du, das weiß ich nicht!? Aber wie-“

„Dafür hast du mich doch im Schlepptau, du Trottel! Aber lass dir nicht einfallen, jetzt wegen ein paar Psychospielchen zu ihrer Marionette zu werden. Dann kann nämlich niemand mehr Blondielocks retten!“

Sich langsam aufrichtend, nickte er. „Du hast recht … ich muss einen kühlen Kopf bewahren …!“

Trotzdem kam er nicht umher, sich den erdrückenden Schuldgefühlen auszusetzen. Aber Anya hatte Recht, all das war nur ein Versuch, seine Entschlossenheit ins Wanken zu bringen. Urila war fast am Ende, noch ein Schlag und es war vorbei. Natürlich würde sie alles versuchen, den abzuwenden, auch wenn sie noch gar nicht ahnte, dass Matt diesen zunächst vorhatte hinauszuzögern!

Zögerlich nahm der junge Mann eine Fallenkarte aus seinem Blatt und schob sie in das D-Pad. Während sie sich vor seinen Füßen materialisierte, kündigte er an: „Mein Zug ist beendet, womit [Evilswarm Thunderbird] aufgrund des Nebeneffekts von [Mutual Infestation] den Modus wechselt.“

Seine gewaltigen Schwingen schützend vor den Körper haltend, gurrte der düstere Vogel mit schnarrender Stimme.

 

Evilswarm Thunderbird [ATK/3300 → 1650 DEF/1050 (4)]

 

Urila stand derweil seufzend auf. „Mit euch macht das keinen Spaß, wisst ihr? Eiskalte Biester, überall. Ihr habt die Zerstörung wirklich verdient, die der 'wahre Feind' euch bringen wird.“

„Fang mir nicht mit dem Bullshit an, dämliche Pisskuh!“, polterte Anya. „Wenn du im Turm warst, kennst du unsere Haltung dazu!“

„Warum willst du überhaupt so weit gehen?“ Matt schüttelte ungläubig den Kopf. „Was ist der 'wahre Feind'? Du kennst ihn, ich weiß es!“

„Ich bin ihm sogar begegnet“, erklärte Urila ganz salopp, „aber um zu verstehen, was er tut, musst du schon selbst dabei sein. Naja, die Gelegenheit ergibt sich ja bald für euch, dann könnt ihr eure Fragen stellen. Sofern ihr dann noch lebt, hihi.“

 

Plötzlich griff sie nach ihrem Deck, welches in schwarzen Flammen aufging. „Nur, was das angeht, sind die Chancen dann doch eher gering. Aber ich werde ihnen liebe Grüße bestellen. Mein Zug, Draw!“

In einer halbkreisartigen Bewegung zog die besessene Tara die nächste Karte, die ebenso in der schwarzen Flamme aufgegangen war wie der Rest ihres Decks. Matt und Anya gingen ob des Drucks, der ihren ganzen Körper dabei schlagartig heimsuchte, machtlos in die Knie.

„Cheatdraw!“, stellte Anya ärgerlich fest.

Matt stöhnte, da er immer noch damit zu kämpfen hatte, nicht unter Urilas Kontrolle zu fallen. „Was hast du anderes erwartet?“

„Eben. Don't like, don't fight“, stimmte Urila mit abgewandeltem Fanficschreiber-Jargon zu, war ihr Gefäß schließlich begnadete Hobbyautorin.

Plötzlich strahlte sie. „Ich finde es ja ganz witzig, wie du mir mit [Infestation Terminus] eine Falle stellen willst, aber heute weht leider eine steife Brise von Westen, nicht wahr, Anya Bauer? [Mystical Space Typhoon]!“

Matt klappte die Kinnlade herunter. Diese Sicherheit, dass es sich gerade um diese Falle handelte-!

Urila legte ihre ermogelte Zauberkarte in den passenden Schlitz der Duel Disk ein und genoss den Anblick des entgeisterten Dämonenjägers, der mit ansehen musste, wie seine gesetzte Karte von einem aus dem Nichts aufgetauchten Zyklon mitgerissen wurde.

Da Urila nur [Madolche Ticket] kontrollierte, ergab es keinen Sinn für Matt, seine Falle anzuketten, mit der er einen aktiven Schwärmer verbannen konnte, um zwei Karten des Gegners auf dessen Hand zurückzugeben.

„Tch, scheinbar kann sie mehr, als nur ein paar Gedankenspielchen“, knurrte Anya wütend, „die Bitch weiß bestens Bescheid über dein Spiel, Summers. Gut, sie hat die Karte schon gesehen, aber überleg mal! Sie hat das Deck gemacht, es würde mich nicht wundern, wenn sie dich heimlich ausspioniert oder so!“

Urila kicherte. „Natürlich tue ich das, Liebchen! Schon die ganze Zeit, haha! Also weiß ich auch, auf welche Weise du gewinnen willst, Dämonenboy.“

„Ich wusste, es war ein Fehler mitzukommen“, klagte Matt sofort und schlug mit der Faust in die weiche Erde, „damit habe ich ihr nur in die Hände gespielt!“

Anya pfiff verächtlich. „Mach mal halblang, ich bin auch noch da. Und mich kann sie nicht so leicht durchschauen. Vielleicht lügt sie auch nur.“

„Aber ich kann dich auslöschen und zwar, indem ich mit [Madolche Mewfeuilles] Normalbeschwörung beginne!“ Urila gurrte dabei regelrecht, als sie die Karte ausspielte. Wie schon im ersten Zug, tauchte auf einem schwebenden Puzzlestück eine kleine, vernaschte rosa Katze auf.

 

Madolche Mewfeuille [ATK/500 DEF/300 (3)]

 

„Mit Mewfeuilles Effekt kann ich eine Leckerei von meiner Hand spezialbeschwören. [Madolche Potpourrince]!“

Ein in cremefarbigem Anzug plus Umhang gehüllter Prinz auf einem Puzzlestück stehend tauchte neben der Naschkatze auf. Um ihn schwirrten verschiedenste Pralinen, Kuchen, Smarties und anderer Süßkram.

 

Madolche Potpourrince [ATK/1500 DEF/1000 (5)]

 

„Ich mag nicht, worauf das hinausläuft“, knurrte Anya wütend.

Matt sah zu ihr herüber. Dem gab es nichts hinzuzufügen.

„Monstereffekt von Potpourrince! Was wäre ein Prinz ohne seine Prinzessin?“, fragte Urila amüsiert nach und zeigte eine ihrer Handkarten vor, die andere zwischen Mittel- und Ringfinger geklemmt. „Indem ich eine Madolche-Nicht-Monsterkarte wie [Madolche Ticket] von meiner Spielfeldseite oder auch meiner Hand auf den Friedhof schicke, kann ich [Madolche Puddingcess] aufs Spielfeld bringen. Damit eröffne ich den Madolche Ball!“

Während Urilas Zauberkarte also vom Spielfeld verschwand und sie die Karte von [Madolche Puddingcess] auf die Duel Disk legte, tauchte diese bereits zwischen Mewfeuille und ihrem Prinzen auf. Die Kirsche perfekt sitzend im Haar, das Puddingpuzzlestück als Tanzfläche, machte sie vergnügt eine Umdrehung und verneigte sich.

 

Madolche Puddingcess [ATK/1000 DEF/1000 (5)]
 

Matt weitete die Augen. Jetzt wurde ihm einiges klar! Dementsprechend schwang er den Arm aus. „Effekt von [Evilswarm Thunderbird] aktivieren! Wenn du einen Karteneffekt aktivierst, kann ich ihn bis zu meiner Standby Phase verbannen!“

Unter einem Schrei verzerrte sich das Erscheinungsbild des dunklen Vogels kurz, ehe dieser einfach verschwunden war. Urila schürzte die Lippen, Matts Feld war jetzt vollkommen leer.

„Nun wechsle ich in meine Battle Phase“, kündigte sie geheimnisvoll an. „Und mein Angriffsziel wird der Bauerntölpel sein.“

„Verdammt!“, stieß Matt es hervor. Hatte er es doch gewusst!

„Was soll der Schwachsinn, Blondie?“, fauchte deren, man war geneigt zu sagen 'böser Zwilling', wütend zurück. „Ich hab'n Monster auf dem Feld, das mal eben ein bisschen stärker ist als deine. Viel stärker!“

Ihr Partner aber sah sie nur aufgeregt an. Es hatte nichts gebracht, Urilas Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Wie auch, vermutlich wusste sie ohnehin, warum er das getan hatte.

Die Immaterielle lachte spöttisch. „Nicht jeder Kampf wird durch pure Muskelkraft entschieden, Teuerste. Ein bisschen Köpfchen gehört auch dazu. Und das ist, was [Madolche Potpourrince] mit sich bringt!“

Plötzlich zog der Blaublüter das Spielzeugrapier an seinem Waffenrock und schwang es in einer halbmondartigen Bewegung aus. Sofort entbrannten um ihn, [Madolche Puddingcess] und [Madolche Mewfeuille] blaue Auren.

„Das ist-!?“ Anya wich nervös zurück.

„Sie will dich mit ihren Monstern direkt angreifen!“, donnerte Matt nun endlich.

„Gewiss. Zwar muss ich während meiner Battle Phase auf die Effekte der Süßigkeiten verzichten, dafür dürfen sie unter Potpourrinces Anleitung allesamt deine Monster umgehen! Los!“, rief Urila und streckte den Arm aus, zeigte auf Anya.

Die weitete die Augen. Wie Pfeile schossen die drei Monster auf ihren Puzzleteilen an ihrem [Gem-Knight Pearl] vorbei, direkt auf sie zu. Im Reflex hob Anya die Arme zum Schutz über den Kopf. Rechtzeitig genug, um zu verhindern, dass Mewfeuille ihr das Gesicht zerkratzte. Auch wehrte sie damit die Kirsche ab, die Puddingcess aus ihrem Haar nahm und auf sie warf. Welche nebenbei bemerkt eine Tonne zu wiegen schien, spürte Anya doch, wie ihre Knochen unter der Wucht des Aufpralls nachgaben.

„Gyaaaaaahhhhhhhhh“, schrie sie und stolperte zurück, wobei sie ihre Handkarten fallen ließ.

„Anya!“, rief Matt erschrocken und streckte die Hand nach ihr aus.

Beide sahen aus den Augenwinkeln das Rapier, das direkt auf das Herz des Mädchens abzielte. Ohne nachzudenken holte Anya mit ihrem gesunden, linken Arm aus und schaffte es tatsächlich, den Angriff des Prinzen mit Mittel- und Zeigefinger abzufangen. Dieser war geradezu verblüfft über das, was dem Mädchen gelungen war.

„Dafür blutest du, Mistvieh!“, fauchte sie ihn an.

Doch der Prinz riss sein Rapier zurück, und ehe Anya sich versah, versetzte er ihr einen diagonalen Schlag, der ihr einen blutigen Striemen über den ganzen Oberkörper verpasste.

„Ahhhhhhhhhh!“

„So ist es gut. Schrei! Schrei an seiner Stelle!“, feixte Urila.

 

[Anya: 3300LP → 300LP Matt: 4000LP ///// Tara: 200LP]

 

Anya torkelte benommen zurück, hielt sich die klaffende Wunde. Zitternd betrachtete sie das Blut an ihrer Hand, während sich Urilas Monster zurückzogen. Leblos baumelte der rechte Arm des Mädchens hinab. Dann blickte sie auf. Hasserfüllt, widerspenstig, unbeugsam.

„Wenn du denkst, dass ich wegen 'nem verfickten gebrochenem Arm aufgebe, hast du dich geirrt! Und wenn ich meine Karten mit den Zähnen ausspielen muss!“, keifte Anya vor Wut, als sie mitbekam, wie frohlockend Urila ihr Werk betrachtete.

Das Grinsen aus deren Mundwinkeln verflog, wurde zu einer eisernen Maske. „Wer sagt, dass ich schon mit dir fertig bin?“

„Huh?“

„N-noch mehr!?“, stammelte Matt ebenso überrascht.

Ruckartig streckte Urila den Arm mit der Handfläche nach oben aus, als würde sie Matt dazu anleiten wollen, mit ihm zu kommen. „Es wird erst genug sein, wenn alles vorbei ist. Eher ruhe ich nicht!“

Langsam schloss sie die Finger zusammen, ballte eine Faust. Ihr Blick verdunkelte sich. Und unter dem Ärmel ihres Kleides drang ein silbernes Leuchten hervor. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen zwei Stufe 5-Süßigkeiten wird ein Monster vom Rang 5!“

Ihre Gegner horchten erschrocken auf, wussten sie schließlich aus Erfahrung, was dies bedeutete. In der Mitte des Spielfelds öffnete sich ein schwarzes Loch, welches das Prinzenpaar als braune Lichtstrahlen absorbierte.

„Steige aus den sengenden Tiefen des Backofens hervor …“

Anya glaubte, sich verhört zu haben. „Backofen!?“

„... und lass das süße Gift in unsere Venen ein! Auf den Tisch mit dir!“

Ihre Gegnerin kam nicht umher, in bellendes Gelächter ob jenes ziemlich dämlichen Beschwörungsspruches auszubrechen. Das Ganze wurde sogar noch schlimmer, als sie zuerst die langen, schwarzen Barthaare sah, die dort aus dem Overlay Network aufstiegen. Die dunkelgrüne Haut, der übergewichtige Körper, die Miniflügel – und der zermanschte Kuchen, auf dem der übergewichtige Drache saß.

„[Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle]!“

Da war er nun, der riesige, unförmige Drache auf dem Puzzlestück, um welchen zwei Lichtsphären kreisten. Trotz der Schmerzen konnte Anya nicht aufhören zu lachen. „Nein! Nein …! Das ist ihre Paktkarte!? Ich bepiss mich …“

 

Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle [ATK/1900 DEF/2500 {5}]

 

Matt sah dem Ungetüm, welches sein Gesicht vor Scham in die Patschehände vergrub, mit deutlich weniger Sorglosigkeit entgegen. Weil er es nicht kannte. Tara besaß kein Monster mit diesem Namen, wonach Anya Recht hatte – das war Urilas Paktkarte.

„Anya, beurteile ihn nicht nach dem Aussehen!“

„Aber“, prustete sie und bekam kaum Luft, „sieh ihn dir doch an! Das is'n Witz!“

„Monstereffekt“, unterbrach Urila die beiden jedoch mit eisiger Stimme. „Bei seiner Beschwörung fügt Poisouffle allen Spielern 1000 Punkte Schaden zu.“

Was Anya schließlich dazu brachte, leisere Töne anzuschlagen. „Huh!?“

Die beiden dicken Barthaare des Drachen zwirbelten sich wie von Geisterhand auf und wurden zu dünnen Spitzen. Endlos langen Spitzen, die zunächst in die Luft aufstiegen, ehe sie wie Speere auf die Drei zurück schnellten. Matt weitete die Augen, Urila hingegen streckte begrüßend die Arme entgegen.

Ein undefinierbares Geräusch drang durch die Nacht. Blut floss. Matt wurde zu Boden geworfen, einige der Haare hatten ihn in die Schulter getroffen. Er blickte zur Seite und sah Anya. Wie ein Schatten hing sie da, die Barthaare des Drachen zogen sich schon zu ihm zurück. Dann brach sie zusammen.

Panisch schwenkte er herüber zu Urila, die immer noch mitten in der Brust durchbohrt wurde. Sie lächelte.

 

[Anya: 300LP → 0LP Matt: 4000LP → 3000LP ///// Tara: 200LP → 0LP]

 

„Nein ...“, stammelte Matt fassungslos. „Nein! Tara!? Anya!?“

Mit blutender Schulter rappelte er sich auf, sah wieder zu Anya, die regungslos am Boden lag. Da war nur [Gem-Knight Pearl], aber der bewegte sich auch nicht!

„Der wahre Spaß“, hörte er Urila im Hintergrund, „fängt jetzt erst an.“

Damit zog Poisouffle seine Haare auch aus ihrem Körper, Blut spritzte durch die Luft. Das Weiße in ihrem Kleid wurde rot.

„Game over“, hauchte Urila.

 

 

[Part IV – Ende]

The Last Asylum Movie "Second Coming" - Part V: FINAL

Yu-Gi-Oh! The Last Asylum – The Movie Part V: FINAL

 

 

„Tara! Anya!“

Ein eisiger Windzug ließ einige der Kerzen auf den Grabsteinen erlöschen.

„Der wahre Spaß … fängt jetzt erst an. Game over“, hauchte Urila.

Sich die blutende Schulter haltend, starrte Matt die klaffende Wunde in der Brust seiner Freundin an. Das Rot, was sich immer weiter auf ihrem Kleid ausbreitete.

Und Anya? Er sah wieder zu dem Mädchen herüber, das am Boden lag. Sie war … sie war …! Aber er hatte doch gesehen wie …?

„Anya! Steh auf!“, rief er ihr zu. Nichts regte sich.

„Anya!“, brüllte Matt, so laut er konnte. Ohne Wirkung.

Entgeistert wirbelte er zu Urila um. „Du hast sie …!“

„Getötet?“ Die Mundwinkel des blonden Mädchens verzogen sich. „Nein. Da wo sie jetzt ist …“

 

~-~-~

 

Anya öffnete benommen die Augen. Finsternis, überall. Nichts anderes. Kein Oben, kein Unten. Sie hing im Nichts.

„Anya“, hörte sie jemanden dumpf ihren Namen rufen. Das musste Matt sein!

Sie wollte antworten, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hier gab es keine Luft zum Atmen.

Ihre Brust schmerzte. Richtig … der Angriff des Drachen, er hatte sie …!

„Verfehlt!“

Mit einem Schlag stieg unter ihr gleißendes Licht hervor. Sie erkannte das Mosaik der Erde, das Symbol ihres Elysions, über dem sie hing. Langsam flog sie darauf zu.

 

Als es schon zum Greifen nahe war, drehte sie sich und landete aufrecht. Warum war sie hier? In ihrer Zuflucht, die jedem anderen verschlossen blieb?

Anya sah sich um, aber außer ihr war niemand hier. Aber sie war sich sicher! Sicher, dass sie gestorben wäre, wenn nicht-!

 

~-~-~

 

„Wo ist sie!?“, verlangte Matt zu wissen. „Was ist mit ihr!?“

Urila antwortete nicht. Sie sah nur starr zu [Gem-Knight Pearl], der regungslos auf Anyas Feldseite verharrte. In dem Moment erkannte Matt, dass er eigentlich das Duell gewonnen hatte – aber die Hologramme waren noch da.

Sowohl Pearl, als auch Urilas übergewichtiger, dunkelgrüner Drache aus der Torte, der sich die Hände vor sein Gesicht hielt. Blut tropfte von seinen langen Barthaaren. Neben ihm die unscheinbare, rosafarbene Katze.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle [ATK/1900 DEF/2500 {5}]

Madolche Mewfeuille [ATK/500 DEF/300 (3)]
 

Die beiden Xyz-Monster wurden jeweils von zwei Lichtsphären umkreist. Um sich zu versichern, dass er keinem Irrtum erlag, sah Matt auf sein D-Pad. Aber die Angaben stimmten.

Wie konnte das sein!?

 

[Anya: 0LP Matt: 3000LP ///// Tara: 0LP]

 

„Überrascht?“, kicherte Urila nun wieder besser gelaunt. „Ja, es ist noch nicht vorbei. Wie ich sagte: es hat gerade erst angefangen. Nur, dass du jetzt alleine dastehst. Ich beende meinen Zug.“

Es war so surreal. Ihre verbliebene Handkarte, [Madolche Cruffsant] locker haltend, stand Urila in Taras Körper da, trotz der schweren Verletzungen und der Tatsache, dass sie keine Lebenspunkte mehr besaß.

„Poisouffle …“, zischte Matt. Einen anderen Grund konnte es nicht geben!

„Natürlich. Zwar hat mir sein Effekt die letzten verbliebenen Punkte genommen, aber gleichzeitig beschützt er mich auch vor einer Niederlage, wenn ich auf diese Weise verlieren würde.“

Perfide, schoss es dem Dämonenjäger durch den Kopf. Sie hatte sich absichtlich besiegt, um eine Art Pseudoimmunität zu erlangen. Diese Immaterielle war mit allen Wassern gewaschen! Und dazu benutzte sie Tara wie es ihr beliebte, schändete sie auf übelste Weise.

„Dafür wirst du büßen!“, brüllte Matt aus voller Kehle.

 

Genau so laut schrie er auch auf, als er eine Karte von seinem Deck nahm und zog. Er würde sie vernichten! Die schwarze Aura entsprang seinem Herzen und schlug um ihn wie ein Fegefeuer. Und er spürte, wie sie bereits ihre Finger geistig nach ihm ausstreckte. Nach ihrer Marionette.

„Vergiss es! Ich gehöre nur mir!“

„Erspare mir die Plattitüden, du kannst mir nichts anhaben“, erwiderte sie genüsslich, „ich weiß über jeden deiner Schritte bestens Bescheid.“

„Das werden wir ja sehen! Effekt von [Evilswarm Thunderbird]! Er kehrt jetzt zurück auf mein Feld und zwar mit zusätzlichen Angriffspunkten!“

Der riesige schwarze Vogel tauchte zunächst verzerrt, dann in klarer Form vor Matt auf. Die wild um sich peitschenden Tentakel von seinem Schopf begannen elektrisch aufzuflackern.

 

Evilswarm Thunderbird [ATK/1650 → 1950 DEF/1050 (4)]

 

Matt sah seine beiden Handkarten an. Es waren eine Zauberkarte und der Stufe 5-[Evilswarm Golem], den er aber nicht gebrauchen konnte ob seiner schwachen Offensivwerte. Also musste er sich auf sein Glück verlassen!

„Zauberkarte aktivieren! [Xyz Declaration]!“

Das Extradeck aus seinem D-Pad ziehend, nahm Matt eine Karte daraus hervor, als …

„... [Evilswarm Ouroboros] und [Evilswarm Salamandra].“

Zunächst überrascht aufhorchend, kniff Matt anschließend wütend die Augen zusammen und erklärte: „Ich wähle ein Xyz-Monster von meinem Extradeck, schicke es auf den Friedhof und betrachte dann die oberste Karte meines normalen Decks. Ist Letztere ein Monster, das für die Xyz-Beschwörung des gewählten Xyzs in Frage kommt, darf ich es behalten, ansonsten muss ich die Karte abwerfen.“

Tatsächlich hatte Matt vorgehabt, Ouroboros dafür zu nehmen. Und da er die Karte schon in den Händen hielt, konnte er sich nicht rückwirkend umentscheiden. Dieses Miststück!

Sich auf die Lippen beißend, zog er und offenbarte die Karte: [Evilswarm Salamandra].

„Oh. Ahaha, ich hab doch nur geraten“, log Urila schamlos. „Vielleicht sollte ich mal in Las Vegas vorbeischauen? Was meinst du?“

Wütend knallte Matt sein neues Monster auf das schwarze D-Pad. „Normalbeschwörung! Erscheine, Salamandra!“

Neben seinem riesigen Donnervogel materialisierte sich ein nicht weniger großer, dunkelgrüner Dinosaurier, der durch eine graue Rüstung gut gepanzert war. Sein wahnsinniges Gebrüll war ohrenbetäubend.

 

Evilswarm Salamandra [ATK/1850 DEF/950 (4)]

 

Matt wusste, dass er Salamandras Angriffskraft zweimal pro Zug um 300 Punkte steigern konnte, indem er jedes Mal einen Schwärmer vom Friedhof verbannte. Aber dieser Boost dauerte nur solange, bis Urila ihren Zug beendet hatte, zumal er selbst damit nur auf 2450 Punkte kam, was zu wenig war. Zwar konnte er ihr Kampfschaden wegen [Madolche Mewfeuilles] schwacher Offensive zufügen, aber was nutzte das, wenn Urila ohnehin keine Lebenspunkte mehr besaß?

Nein. Matt musste das Problem anders lösen. Ein Blick auf seine verbliebene Handkarte verriet ihm auch die Antwort.

Engstirnig sah er auf. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Indem er den Arm ausschwenkte, orderte er seinen Monstern an, in den schwarzen Galaxienwirbel zu entschwinden, welcher sich vor ihm aufmachte. Als violette Lebensessenzen taten sie das auch.

Matt ballte eine Faust. „Steige empor! [Evilswarm Bahamut]!“

Eine schlangenhafte Gestalt erhob sich sogleich aus dem Schwarzen Loch. Sie spannte ihre Schwingen, deren Zwischenhäute aus purem Eis bestanden. Stolz bäumte sich der schwarze Drache vor Matt auf, welcher seither gefürchtet wurde: Brionac. Der Gefallene.

 

Evilswarm Bahamut [ATK/2350 DEF/1350 {4}]

 

„Dein Drache beschützt dich also, ja?“, fragte Matt voller Boshaftigkeit.

Sein Blick war auf den übergewichtigen Poisouffle gerichtet, der wohl kaum vor dem ihm drohenden Unglück mit seinen vergleichsweise winzigen Flügeln flüchten konnte.

Urila nickte. „So ist es, mein Lieber.“

Dabei kratzte sich ein wenig der Haut von ihrer Schläfe ab, was Matt einen Moment den Atem stockte. Aber er durfte jetzt nicht schon wieder aus dem Gleichgewicht gebracht werden, egal wie sehr sie versuchte ihn zu quälen!

„Es juckt einfach, dafür kann ich nichts!“, quengelte Urila, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

„Überall unter meiner Haut, am liebsten würde ich sie abreißen. Warum tue ich das eigentlich nicht?“

Sie packte ihre gesunde Wange und begann daran zu ziehen.

„Monstereffekt von Bahamut!“, versuchte Matt sie davon abzuhalten und streckte panisch den Arm aus. „Ich kann die Kontrolle über ein gegnerisches Monster übernehmen, wenn ich einen Schwärmer abwerfe!“

Hastig schob er [Evilswarm Golem] in den Friedhofsschlitz. Er musste sie stoppen, ablenken, auf andere Gedanken bringen. Damit sie nicht-!

Bahamut öffnete sein Maul und verschlang eine der beiden Lichtkugeln, die wie Motten um ihn kreisten. Dann bündelte er zwischen seinen Zähnen eine schwarze Energiemasse.

Urila hob belehrend den Zeigefinger: „Uh uh, böser Junge! Weißt du, was passiert, wenn man ein Soufflee falsch zubereitet? Es fällt in sich zusammen. Das heißt aber nicht-“

„Komm zum Punkt!“, blaffte Matt sie an.

Ein süßliches, bitterböses Lächeln umspielte Urilas aufgeplatzte Lippen. „Okay, weil du es bist. Kurzum: du kannst [Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle] nicht als Ziel wählen, da die Ruinen von [Madolche Chateau] ihn beschützen. Wie ein in sich zusammengefallenes Soufflee.“

„Aber die ist-!“

„Im Friedhof, deswegen sagte ich ja Ruinen.“ Urila lachte schallend. „Narr! Ich würde nie-! Ah!“

Matt schwang trotzdem den Arm aus. Diesmal genoss er es, sein Wissen unfreiwillig mit ihr zu teilen. Nämlich als er auf [Gem-Knight Pearl] zeigte. „Wer sagt, dass ich von deinem Monster sprach? Komm zu mir, Pearl!“

Bahamut schloss seine Vorbereitungsphase ab, neigte den Kopf zur Seite und schoss den Strahl auf Anyas Monster ab. Millionen winziger Insekten umschwirrten Pearl, der wie eine Marionette von ihnen herüber auf Matts Spielfeldseite geleitet wurde.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Sieht so aus, als hätte ich jetzt ein Monster, das deine Verteidigung durchbrechen kann“, sagte Matt zufrieden. Er sah herüber zu Pearl, der neben seinem [Evilswarm Bahamut] still verharrte. „Hilf mir … wie du ihr geholfen hast. Ich weiß, was du getan hast!“

Keine Reaktion.

Dann streckte Matt den Arm aus und zeigte auf Urilas Monster. „Vernichte [Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle]! Sacred Spheres of Purity!“

Die Blondine, die immer noch ihre Wangenhaut festhielt, verzog wütend das Gesicht. „So ist das also?“

„Los!“, befahl Matt und übertönte sie.

Pearl schwang den Arm aus und kommandierte die sieben riesigen, hellrosa Perlen, die um ihn herum schwebten. Sie begannen aufzuleuchten und setzten sich langsam in Bewegung, bis sie ohne Vorwarnung wie ein Bombenhagel auf Urilas Drachen niedergingen. Das gesamte Spielfeld wurde vom Rauch der Explosionen eingedeckt.

 

~-~-~

 

Valerie hielt sich den Unterleib. Aus einer fiesen Schnittwunde sickerte Blut hervor, auch ihre Stirn stand im Zeichen des Rots. Aber es war in Ordnung. Ihre Aufgabe war es nicht, diesen Andrew zu besiegen, sondern nur abzulenken.

„Ist das alles was du drauf hast?“, fragte der schwarzhaarige, junge Mann ihr gegenüber. Auf seiner Spielfeldseite befanden sich [Lightray Gearfreed] und [Lightray Daedalus], wohingegen ihr Feld mit Ausnahme der beiden dauerhaften Zauberkarten [Ritual Cage] und [Ascending Soul] leer war.

Auch ihre Lebenspunkte waren am unteren Minimum angelangt, wohin gegen er bisher nur ein paar eingebüßt hatte.

 

[Valerie: 400LP / Andrew: 3400LP]

 

Er richtete den Kragen seines schwarzen Ledermantels mit einem wissenden Lächeln. „Das hier ist bald vorbei. Schau dir deine Freunde an. Sie haben genau wie du ihr Limit erreicht.“

Valerie sah über ihre Schulter. Alastair, dem zwischenzeitlich die magischen Karten ausgegangen waren, kämpfte jetzt mit bloßen Händen gegen die Unzahl an Dämonen, die sie umzingelt hatten. Abby, ebenfalls im Gesicht blutverschmiert, beschwor einige ihrer Monster, doch diese brauchten praktisch nur noch angehaucht werden, um zu verschwinden. Die Sirene sank in die Knie. Hinter ihr stand Henry, der den Vorteil hatte, dass seine Monster nicht verschwanden. Allerdings waren sie trotz deaktivierter Sicherheitsvorkehrungen an seiner Duel Disk verglichen mit Abbys Fähigkeiten nur der Trostpreis.

Und es war kein Ende für die Drei in Sicht.

 

„Limit?“, richtete sich Valerie an Andrew. „Du scheinst neu in der Stadt zu sein. Für uns ist das lediglich die Aufwärmrunde.“

Das brachte den Kerl mit der Sonnenbrille auf der Nase dazu, laut aufzulachen. „Wunderbar! Dann werde ich jetzt unseren Ehrengast in den Ring führen. Ich glaube, ihr kennt sie bereits.“

Das Mark und Bein erschütternde Gebrüll, ganz in der Nähe, ließ Valerie die Nackenhaare aufstehen. Ein Geruch von Schwefel lag plötzlich in der Luft.

 

~-~-~

 

Anya wusste nicht was sie tun sollte. Sie war hier, alleine, in ihrem Elysion. Eingesperrt. Als wäre sie tot und wartete auf den Übergang ins nächste Leben, aber sie wusste genau, dass sie noch am Leben war!

Es war dasselbe gewesen, als Matt sie fast erwürgt hatte. Ihre Lebensgeister hatten sie verlassen, sie sah ihr Elysion, dann war sie plötzlich wieder fit wie ein Turnschuh. Von wegen Luft anhalten, aber was hätte sie sonst sagen sollen!? Es war zu absurd gewesen.

Nur war es diesmal anders. Vorhin war sie nur einen Sekundenbruchteil hier, diesmal erschien es ihr wie eine halbe Ewigkeit.

 

Alarmiert drehte sie sich aus einem Instinkt heraus um. Etwas war da! Fremdartig, es gehörte nicht hierher!

„Deine neuen Kräfte sind fast erwacht, Anya Bauer“, hörte sie eine verzerrte Stimme sagen. „Und er, er mit ihnen.“

„Wer bist du!?“, fauchte Anya zunächst, dann aber mischte sich ein Hauch von Sehnsucht in ihre Stimme. „Bist du das, Levrier?“

„Nein.“

Hinter ihr! Die Blondine wirbelte wieder um und weitete die Augen. Diese leuchtende Silhouette-!

„Ich … ich bin hier, Anya Bauer.“

 

~-~-~

 

Matt sah verbissen über den Hinterhof. Der Rauch hatte sich noch nicht verzogen, aber er spürte, dass [Gem-Knight Pearl] versagt hatte. Urila war noch im Rennen.

Als der Qualm sich schließlich lichtete, wurde er darin bestätigt. Der dicke Drache war immer noch da, mit dem Unterschied, dass ihm jetzt eine der beiden Lichtsphären fehlte. Seine Gegnerin hielt zwischen den Fingern zwei Karten.

„Das klappt schon ganz gut, aber es reicht nicht“, plapperte sie euphorisch, „Poisouffle kann zwei Madolche-Karten von meinem Friedhof verbannen und ein Xyz-Material konsumieren, damit ich seine Zerstörung durch Kämpfe verhindern kann.“

„Ich dachte, du wärst besser. Anyas Groll dir gegenüber kommt wohl nicht von ungefähr?“, sprach Matt [Gem-Knight Pearl] halb belustigt, halb enttäuscht an. „Aber danke für den Versuch. Hoffen wir, dass es nicht der letzte war. [Evilswarm Bahamut], zerstöre [Madolche Mewfeuille]! Infestation's Burst Stream!“

Sein pechschwarzer Eisdrache ließ sich das nicht zweimal sagen und feuerte eine violettschwarze Flamme auf die kleine Katze ab, welche regelrecht weg gebrannt wurde.

„Wenn ein Madolche-Monster zerstört wird, gelangt es in mein Deck zurück, statt auf dem Friedhof zu landen“, warf Urila ein und schob die Karte von Mewfeuille in ihren Kartenstapel zurück.

„Einmal kann sie unsere Angriffe noch abwehren“, überlegte Matt, dem leider die Handkarten ausgegangen waren. „Sofern sie -das- nicht vorhat.“

Und sie würde, das spürte Matt. Allein weil sie wusste, was er dachte.

„Mein Zug ist vorüber“, bestimmte er schließlich.

 

„La lala lala!“, trällerte Urila vor sich hin, während sie aufzog. Die neue Karte betrachtend, begann sie zu grinsen. „Wie cool! Die setze ich gleich!“

Gesagt, getan. Die Karte materialisierte sich mit dem Bild nach unten gerichtet in vergrößerter Form vor ihren Füßen.

Dann sah die junge Frau auf. „Oh, das hatte ich ganz vergessen. Ich wollte dich ja noch ein bisschen quälen.“

Ehe Matt überhaupt so schnell schalten konnte, hatte seine Gegnerin schon ihre gesunde Wange gepackt … und ausgerissen. Das Blut spritzte. Von dem einstmals hübschen, vielleicht etwas pummeligen Gesicht war nun kaum mehr etwas übrig. Nur verkohlte Haut, Löcher in beiden Backen, abgepellte Haut …

Dem jungen Mann klappte die Kinnlade hinunter.

„Autsch, das hat mehr wehgetan als ich dachte“, jammerte Urila und warf den matschigen Klumpen in ihrer Hand achtlos davon, „cool down, ist nur ein bisschen Haut. Pass auf, bis erst die inneren Organe anfangen zu versagen.“

Wieder und wieder schnaufte Matt, versuchte alles auszublenden. Er würde das rückgängig machen! Irgendwie! Er durfte sich nicht ablenken lassen, egal wie sehr sie sich bemühte, ihn aus der Fassung zu bringen.

„Red dir nur weiter ein, dass dir das nichts ausmacht. Dein kleines, verdorbenes Herz blutet doch allein bei dem Gedanken, dass ich -das- hier tun könnte.“ Urila schnappte sich ihren rechten Mittelfinger und brach ihn nach hinten.

„Hör auf!“, brüllte Matt hysterisch.

Urila ignorierte ihn, machte sich über den Ringfinger derselben Hand her und riss ihm den Fingernagel raus. „Ja, ja, gleich.“

„Ich bin dein Gegner, nicht sie!“

Abschätzig sah die besessene Tara auf. „Ach du willst auch ein bisschen leiden? Na sag das doch gleich, konnte ich doch nicht riechen! Im Ernst, ich kann nichts mehr riechen!“

Urila packte ihre Nase. Matt weitete die Augen vor Entsetzen.

„Nur Spaß“, kicherte sie und ließ davon ab, sich selbst noch weiter zu verstümmeln. Stattdessen drehte sie das Monster auf ihrer Duel Disk in die Vertikale. „Poisouffle wechselt in den Angriffsmodus.“

Der übergewichtige Drache erhob sich aus dem Soufflee, das er mit seinem Hinterteil plattgedrückt hatte. Noch immer hielt er beschämt die Hände vors Gesicht.

 

Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle [ATK/1900 DEF/2500 {5}]

 

„Effekt des Drachis aktivieren!“, rief Urila und zog unter ihm das letzte Xyz-Material hervor. „Indem ich ein Madolche-Monster abwerfe, kann ich dich direkt angreifen!“

Sofort steckte sie [Madolche Cruffsant], ihre verbliebene Handkarte, in den Friedhofsschlitz ihrer Duel Disk.

„Ah!“

Plötzlich schob der Drache einen seiner Wurstfinger vom Auge weg, das rot aufzuleuchten begann. Das ihn umkreisende Xyz-Material absorbierte er durch eben jenen Augapfel, ehe er einen imposanten Laserstrahl daraus auf Matt abfeuerte.

Dieser hielt erschrocken die Arme über Kreuz, wurde jedoch schon erfasst. Die Druckwelle schleuderte ihn über das Spielfeld. Durch die Wucht knallte er in einen großen Grabstein hinter sich. Jener zerbarst regelrecht, während Matt weiter über den Boden schlitterte. Als er schließlich zum Stoppen kam, blieb er reglos liegen.

 

[Matt: 3000LP → 1100LP / Tara: 0LP]

 

„Ich dachte eigentlich, dass du härter im Nehmen bist“, spottete Urila, „wenn alle Menschen so sind, dann werden -sie- ja nicht lange für diese Welt brauchen. Jämmerlich. Zug beendet.“

 

Matt schrie auf. Sein ganzer Rücken und Nacken schmerzte, der Kopf erschien ihm wie ein Ballon, der jeden Moment platzen würde.

Dennoch erhob er sich wankend. Ein Rinnsal Blut rann seine Stirn hinab.

„Das war ein großer Fehler“, ächzte er und schleppte sich zurück zu seinen beiden Monstern, „jetzt bist du offen für einen Angriff.“

Seine Gegnerin erwiderte darauf nichts.

Der junge Dämonenjäger griff nach seinem Deck und zog. Kein Monster, nur eine Falle. Aber eine nützliche, immerhin. Zumal Bahamuts Effekt ohnehin nutzlos war, weil er dieses Mistvieh von Drache nicht anzielen konnte.

„Kein Risiko“, murmelte er und hob den Arm, „los, [Evilswarm Bahamut]! Greif [Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle] an! Infestation's Burst Stream!“

Wenn er erst fiel, hatte Urila verloren. Aber das würde nicht passieren. Und es durfte eigentlich auch nicht, da er seinen Plan noch nicht umsetzen konnte …

Sein schwarzer Eisdrache lud in seinem Maul eine schwarz-violette Flamme auf, die er sogleich auf seinen Konkurrenten abfeuerte.

„Sich -darauf- stützen zu wollen ist zwar clever, aber ich muss dich enttäuschen. Als ich dein Deck modifiziert habe, wurde diese Karte als erste beseitigt!“, lachte Urila laut und schwang den Arm aus. „Für wie dumm hältst du mich auch!? Du wirst dir wohl oder übel etwas Neues einfallen lassen müssen! Falle aktivieren, [Madolche Lesson]! Ich kann bis zu zwei Madolche-Monster von meinem Friedhof in mein Deck mischen, dafür erhält Poisouffle 800 Punkte auf beide Werte!“

Stumm und fassungslos sah Matt zu, wie Urilas Drache wuchs und sie das Prinzenpaar zurück in ihr Deck schob. Doch war es nicht das, was ihn so schockierte. Sie hatte -diese- Karte vernichtet!? Dann-! Dann konnte er nichts gegen sie ausrichten! Tara würde-!?

 

Madolche Unhappy Dragon – Poisouffle [ATK/1900 → 2700 DEF/2500 → 3300 {5}]

 

Der unglückliche Drache initiierte einen Gegenangriff, indem er aus seinem rechten, freigelegten Auge einen Laserstrahl abfeuerte. Dieser zerteilte die Flammen Bahamuts und ihn selbst, wodurch er in einer Explosion unterging.

Matt wurde durch die entstandene Druckwelle zurückgeworfen, landete hart auf dem Rücken.

 

[Matt: 1100LP → 750LP / Tara: 0LP]

 

Sich unter großen Mühen wieder aufrichtend, biss Matt die Zähne zusammen. „So schnell kriegst du mich nicht unter! Ich gebe nicht die Hoffnung auf!“

Er schob seine Falle in einen der dazugehörigen Slots. „Die verdeckt! Zug beendet!“

Schwankend kam er auf die Beine, während sich die Karte vor ihm materialisierte. Immerhin hatte er noch [Gem-Knight Pearl], der regungslos vor ihm verharrte. Zumindest würde dieser ihn schützen können. Wie er schon Anya beschützt hatte.

 

„Also hast du es verstanden“, sprach Urila und zog nebenbei eine Karte, „begriffen, was in dieser Karte steckt.“

Matt nickte. „Du hast ihn zurückgebracht, nicht wahr? Bewusst oder unbewusst?“

„Nennen wir es eher einen Nebeneffekt meines Zaubers“, erklärte Urila und begann zu grinsen, „er hat die ganze Zeit in der Karte überlebt, unbemerkt von allen anderen. Jetzt, wo mein Zauber in der Luft liegt, konnte er daraus genug Kräfte sammeln, um sich von seinen selbstauferlegten Fesseln zu befreien.“

Leises Gestöhne. Beide sahen herüber zu Anya, die sich langsam vom Boden ab stemmte, aber den Halt verlor und wieder zusammenbrach. Mit einem halb offenen Auge sagte sie: „Und hat deinen Angriff abgewehrt, huh? Levrier ist immer wieder für eine Überraschung gut … der Idiot …“

„Anya! Also hab ich mir das nicht eingebildet!“, atmete Matt erleichtert auf. „Du bist nicht tot …“

„Aber mitspielen kann sie auch nicht mehr.“

 

Dann werde ich ihre Vertretung sein.

 

Als wolle er Matt zeigen, dass er ihn beschützen würde, schwebte [Gem-Knight Pearl] näher zu ihm und blockierte die Sicht auf den jungen Mann. Er ballte eine Faust, von der ein strahlendes Licht auszugehen begann. Urila kniff stöhnend die Augen zusammen.

„Tritt ihr in den Arsch für mich, Levrier“, krächzte Anya schlapp, „wie abgemacht …“

„Lustig“, kommentierte Urila das Ganze vergnügt, nachdem das Leuchten verklungen war, „eigentlich wollte ich dich als Ersten töten, Levrier. Aber ich habe es mir anders überlegt. Erst kommt der Junge dran. Dann werde ich das Tor öffnen. Und sobald der 'wahre Feind' vorbeischaut, wirst du machtlos mit ansehen müssen, wie deine geliebte Anya Bauer ihr erstes Opfer sein wird. Klingt nach einem Plan, oder?“

 

Wir werden sehen.

 

Pearl verschränkte abwartend die Arme.

„Oh ja.“ Etwas veränderte sich mit einem Schlag an Urila. „Du glaubst, indem du versuchst seine Gedanken zu beschützen, dass du mich aufhalten kannst? Lächerlich! Sieh her!“

Ihre milchigen Augen begannen rot aufzuleuchten. Gleichzeitig begann das sternenförmige Mal an ihrem Arm in silbernem Licht zu pulsieren.

„Nein!“, keuchte Matt, der Böses ahnte.

„Dieses Miststück …!“, presste auch Anya wütend hervor.

„Ganz recht! Seht zu, wie ich das Overlay Network rekonstruiere!“ Die Arme weit ausstreckend, rief sie: „Aus meinem Rang 5-Monster wird ein neues Rang 5-Monster! Incarnation Summon!“

Matt begann zu würgen. Ein Druck breitete sich in seiner Brust aus, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Es schnürte ihm die Luft ab. Anhand Anyas Gestöhne erkannte er, dass es ihr genauso ging.

Der schwarze Wirbel des Overlay Networks öffnete sich unter dem dicken Drachen, welcher darin versank.

„Komm zu mir, Ebenbild meines Zorns! [Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite]!“

Gewaltige Klauen langten aus dem Wirbel. Ein langer, peitschender Schweif huschte hervor, dann stieß sich der neue Drache mit seinen imposanten Flügeln aus dem Loch hervor, das sich nun schloss. Er hatte praktisch nichts mehr mit seiner Vorstufe gemein. Von schwarzer, schlanker Statur, leuchteten die vier Augen oberhalb seiner langen Schnauze orange auf. Mit einem Satz landete er auf allen Vieren vor Urila. Das Gras um ihn herum begann augenblicklich zu welken, bis es zu Staub zerfiel.

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/1900 DEF/2500 {5}]

 

„Effekt Poison Bites!“, schrie Urila. „Wenn er beschworen wird, wird jede Nicht-Monsterkarte auf meinem Friedhof zu seinem Xyz-Material!“

Urila zeigte [Madolche Nights], [Madolche Chateau], [Madolche Ticket], [Madolche Lesson] und [Mystical Space Typhoon] vor, die sie alle unter die Karte ihrer Inkarnation schob, wo bereits Poisouffle lag. Damit kreisten insgesamt sechs Lichtsphären um den schwarzen Drachen, dessen Rücken mit spitzen Dornen besetzt war.

„Gleich sechs?“, presste die liegende Anya hervor. „Und cool sieht er auch noch aus! Shit! … aber einen Moment! Jetzt, wo das alte Kackvieh weg ist, müsste die Pisskuh doch eigentlich-!“

„Verloren haben? Nein … in Poison Bites Antlitz haben Lebenspunkte keine Bedeutung mehr für mich. Sieh es als Erweiterung von Poisouffles Effekt an, Herzchen.“ Urila blickte herüber zu Matt. „Zeit für den ersten Toten des letzten Akts! Erster Effekt von Poison Bite! Ihr kennt das ja, wie es bei Inkarnationen so Brauch ist. Er kostet ein Material und vertauscht seine Werte!“

Der vieräugige Drache schnappte nach einer der goldenen Sphären und schluckte sie runter. Die orangefarbenen Augen wurden plötzlich gelb.

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/1900 → 2500 DEF/2500 → 1900 {5}]

 

Anya lachte auf. „Na das hat es ja gebracht!“

„Hat es, denn ich kann deinen lieben Freund außerdem direkt angreifen!“

Erschrocken wich Matt zurück. „Schon wieder!?“

Den Finger auf ihren Gegner zeigend, feixte Urila: „Stirb, elender Wurm! Very Angry Calamity Breath!“

Sofort hauchte Poison Bite einen rötlichen Nebel aus seinem Maul, der wie eine Welle auf Matt zukam. Dieser hielt sich die Hand vor den Mund, ahnte er, dass das pures Gift war. Gedämpft rief er: „Nicht so hastig! Falle! [Defense Draw]! Ich wehre den Kampfschaden ab und ziehe eine Karte!“

„Tch!“, zischte Urila wütend.
 

Ich übernehme das!

 

[Gem-Knight Pearl], welcher jetzt Levriers Verkörperung darstellte, schwang den Arm aus. Seine sieben Riesenperlen begannen sich vor ihm wie ein Ventilator zu drehen, welcher den giftigen Nebel abwehrte.

Matt griff nach seinem Deck und zog eine Karte.

„Kaum mischt du dich ein, geht alles schief!“, schnaubte die grässlich entstellte, junge Frau. Sie schnippte mit dem Finger. „Main Phase 2! Poison Bite! Madolche Bastion!“

Erstaunt verfolgte Matt mit, wie der Drache unter blau leuchtenden Augen zwei weitere Xyz-Materialien vertilgte, ehe er unter heftigem Flügelschlag in die Luft aufstieg. Dort begann er sich um die eigene Achse zu drehen. Dabei versprühte er ein gelbliches Sekret, das ihn schließlich in eine Art Kokon hüllte.

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/2500 → 1900 DEF/1900 → 2500 {5}]

 

„Solange er sich in der Madolche Bastion befindet, bleibt Poison Bite von allen feindlichen Karteneffekten unberührt und wechselt zudem in die Verteidigung. Dabei werden seine Werte obendrein wieder vertauscht!“

Draus schloss Matt: „Also alles zurück auf Anfang?“

„Wenn du damit den Anfang von deinem Ende meinst, gewiss!“ Urila zeigte ihre letzte Handkarte, einen Zauber vor. „Ich aktiviere [Overlay Regen]! Diese wird zu einem Xyz-Material für Poison Bite!“

Eine blaue Essenz stieg aus ihrer Karte hervor, die in den Kokon eindrang. Damit müssten es vier Xyz-Materialien sein, dachte Matt.

„Eine für einen direkten Angriff und drei …“

„Du bist dran, mein Hübscher“, gluckste Urila und legte den Kopf so schief es ging. „Oh, ich hab Wasser im Ohr. Oder ist das Blut? Ich weiß es nicht! Ahahahahahaha!“

 

Nicht mehr lange, dachte Matt zähneknirschend. Er würde dieser Hexe alles heimzahlen, was sie Tara antat! Alles! Mit Zinseszins! Wenn er doch nur diese eine Karte dafür hätte! Aber sie hatte sie zerstört …

Unsicher, was er tun sollte, griff er nach seinem Deck. Auf seiner Hand lag plötzlich die von Levrier, beziehungsweise von [Gem-Knight Pearl].

Überrascht schaute Matt auf. „Was ist?“
 

Glaube an dich. Sie tut es auch.

 

Fragend blickte er in dieselbe Richtung wie Levrier, zu Anya. Die sah am Boden liegend zu beiden herüber und hob die Hand. Der Daumen, den sie anwinkelte, stand nach oben.
 

Sie will die Schmerzen ertragen, das soll es ausdrücken.

 

„Wovon redest du?“
 

Sieh selbst.

 

Zusammen mit Pearl riss Matt die Karte von seinem Deck. Im selben Augenblick schrie Anya auf, als würde sie fürchterliche Qualen leiden. Und vor Matts innerem Auge eröffnete sich ihm ein Labyrinth aus Pfaden.

Wie durch Geisterhand wurde er geführt, während Anya schrie.

 

Ich bin technisch ihre Karte und besitze noch nicht genug eigene Kraft, um das Schicksal zu beeinflussen. Deswegen …

 

Matt weitete die Augen, als er einem Licht entgegen sah. Dieses fühlte sich an wie ein Sturm, aber warm und sicher. Anya verstummte.

Und er stand da, hielt sie in den Händen. Die Karte, die-!

 

Sie hat dich angelogen. Was der Sammler erschafft, kann von ihresgleichen niemals zerstört werden. Und nun lass uns kämpfen, Matt Summers!

 

Levrier drehte sich kämpferisch um, während Matt fassungslos die Karte in seinen Händen betrachtete. Damit konnte er Tara retten!

Entschlossen blickte er auf. „Danke, Levrier!“

 

Danke Anya Bauer. Es war ihre Idee, sie als Katalysator für meine Kräfte zu gebrauchen.

 

„Danke … Anya“, murmelte er und nahm sich vor, ihr später wirklich zu danken.

Dann schob er die gezogene Zauberkarte in sein D-Pad. „Auf geht’s, Levrier! Ich hoffe, du kannst gut damit umgehen. Ich rüste dich mit [Legendary Victory Spear – Lord Fafnir] aus!“

Pearl streckte den Arm aus und griff mitten in die Luft. In seiner Hand erschien ein weißer Speer, dessen Spitze von einem goldenen Drachenkopf umgeben war.

Urila schrie entsetzt auf: „Unmöglich! Wie kannst du es wagen!? Diese Waffe-!“

„Ist der Speer, der Immaterielle tötet“, schloss Matt ihren Satz grimmig, „geschaffen vom Sammlerdämon persönlich. Sieht so aus, als müsste ich mich bei Henry bedanken.“

Denn ursprünglich war jene Karte für ihn erschaffen worden, doch Henry hatte sie in Matts Obhut gelassen, als sie im Turm von Neo Babylon zusammen kämpften.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

Der mächtige Ausrüstungszauber veränderte nichts an Pearls Angriffspunkten, aber das war ohnehin nebensächlich, da er auch so stärker war, dachte Matt.

„Alles, was wir tun müssen, ist, diesen Drachen zu töten. Dann wird sie das Duell verlieren! Also erschlage ihn, Pearl! Los! Impaling Heaven!“

Levrier lies den Speer vor sich wie ein Mühlenrad kreisen, ehe er ihn in die Luft warf, in der Mitte des Schafts auffing und mit aller Wucht auf den Kokon schleuderte.

„Gib's ihr!“, feuerte Anya ihn dabei an.

Matt stimmte ein. „Alles oder nichts!“

Der Speer stieß gegen den gelben Kokon und drang langsam ein, fraß sich durch die dicke Schicht unbarmherzig hindurch. Im Inneren lauerte der schwarze Drache in einer Fötushaltung. Seine Augen leuchteten rot.

„Danke … das wird dein Ende!“, schrie Urila schlagartig triumphal auf. „Effekt Nummer 3 ist bereit! Madolche Acid Breath!“

Drei der vier goldenen Lichtsphären, die ebenfalls noch im Kokon ausharrten, wurden nun Poison Bite durch die Augen absorbiert. Er öffnete sein Maul.

„Vergehe!“, kreischte seine Besitzerin. „Damit werfe ich den Angriff auf dich zurück, und zwar zusätzlich mit der Macht deines eigenen Monsters!“

 

Das ist nicht gut!

 

Besorgt drehte sich der weiße Ritter zu Matt um, doch der verzog keine Miene.

„Lass sie doch …“

Der halb schlafende Drache öffnete sein Maul und stieß einen blutroten Säurestrahl aus, der auf den Speer gerichtet war. Der wurde durch die Strömung mitgerissen und steuerte nun direkt auf Matt zu.

„Jetzt, Levrier“, wies dieser Anyas Partner an.

Jener stieß sich vom Boden ab und begann durch die Luft zu fliegen, an dem Strahl vorbei. Dabei griff er unter lautem Stöhnen in den ätzenden Atem, holte sich den Speer zurück und setzte seinen Frontalangriff einfach fort.

„Ah!?“

„Zu dumm. Die Waffe der Xyz-Monster, der legendäre Speer des Sieges, verhindert, dass du seinen Besitzer als Ziel wählen kannst. Damit wirkt dein Effekt nicht“, erklärte Matt eiskalt, „wie sagtest du so schön? Game Over!“

„Game Over am Arsch, mein liebster Matt Summers!“, fauchte Urila hysterisch. „Du hast wohl nicht bedacht, dass vor der eigentlichen Konterattacke noch etwas anders passiert!“

Matt weitete die Augen.

„Für jede Karte auf meinem Friedhof erhält Poison Bite 100 Punkte auf beide Werte. Also insgesamt 700!“

Die vier roten Augen des Drachens blitzen auf, als Levrier das Loch in seinem Kokon passierte.

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/1900 → 2600 DEF/2500 → 3200 {5}]

 

Pearl hob den Speer, wollte ihn bereits in den Hals der Bestie rammen, da ließ diese mit ihren Augen eine Schockwelle los, sodass es ihn einfach davon schleuderte. Direkt neben Matt schlug er in einen der Grabsteine ein. Der junge Mann, der dadurch unachtsam geworden war, sah nur noch, wie der Säurestrahl ihn erfasste. Zwar konnte er der Attacke mit einem Hechtsprung ausweichen, schlug sich dabei aber eine Spitze der Trümmer in die Seite, die Pearls Fall hervorgebracht hatte.

„Uargh!“

Hinter ihm wurde die gesamte Hofmitte verätzt, bis nichts mehr übrig war.

 

[Matt: 750LP → 150LP / Tara: 0LP]

 

Urila schnaubte wütend. „Maße dir nicht an, mich so leicht besiegen zu können, dummer Bengel!“

Zittrig kam Matt auf die Beine. Er hielt sich die neue Wunde, ächzte: „Oh man, ich laufe ja aus wie Anya, wenn sie Wolverine nackt sieht.“

„Was soll das denn heißen, du blöder Idiot!?“, hörte er sie augenblicklich fauchen. „Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich dir dafür die Fresse polieren! Woher weißt du überhaupt-!?“

„Erinnerst du dich an das Filmposter, das du auf dem Bahnhof geklaut hast?“ Matt grinste. Es gab ihm Kraft, ein bisschen mit ihr herum zu necken. „Wir hatten es eilig, aber du musstest ja unbedingt anhalten, die Scheibe einschlagen und das Ding mitnehmen!“

„Ich wollt was kaputt machen, weil das mit dem Jinn nicht geklappt hat, mehr nicht!“

„Genug der Albernheiten! Beende gefälligst deinen Zug, damit ich dich endlich töten kann, elende Made!“, forderte Urila. „Die Zeit des Spielens ist vorbei. Ihr musstet es ja auf die Spitze treiben und mich böse machen.“

Matt betrachtete die letzte Karte in seiner Hand. Die hatte er durch den Effekt von [Defense Draw] gezogen, aber er konnte sie jetzt nicht benutzen, weil Poison Bite gegen andere Karten immun war.

„Die hier verdeckt! Zug beendet!“

Vor seinen Füßen materialisierte sich die Karte zischend.

 

Das ist unsere letzte Chance.

 

Matt nickte. Hoffentlich würde Urila -darauf- hereinfallen.

Die knirschte mit den Zähnen, als sie nach ihrem Deck griff. Schwarze Flammen begannen davon auszugehen. Der Dämonenjäger spürte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog. „Gut.“
 

Ist es das wirklich?

 

„Besser könnte es gar nicht sein …“

„Die Zerstörung wird euch anheimfallen, Menschlinge! Die Ordnung muss aufrecht erhalten werden! Für alle Zeit!“, fauchte Urila und zog in einer halbmondartigen Bewegung. „Draw!“

Keuchend zuckte Matt zusammen, als die dunkle Aura Urila gänzlich umgab, nachdem sie die Karte zwischen ihren Fingern vorzeigte. „[Heavy Storm]! Damit vernichte ich nicht nur diesen lächerlichen Speer, sondern auch deine gesetzte Karte!“

Ein heftiger Sturm kam auf, umgab Matt. Dieser aber streckte sich durch, stand aufrecht in all dem Dreck, der um ihn herum zu wirbeln begann. Bis er in der Dunkelheit des donnernden Tornados verschwunden war. Jedoch hörte Urila ihn. Sie hörte ihn gut.

„Das war dein letzter Fehler …“

„Tch! Mach dich nicht über mich lustig, du widerliches Subjekt! Ich werde dich zerquetschen, hier und jetzt!“ Außer sich vor Wut drehte seh Poison Bites Karte auf ihrer Duel Disk in die Vertikale.

Der aufgeplatzte Kokon löste sich nun gänzlich auf, ihr schwarzer Drache landete mit einem Satz vor der entstellten, jungen Frau.

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/2600 DEF/3200 {5}]

 

„Effekt von Poison Bite!“, hallte ihre zuweilen kratzig gewordene Stimme durch die Luft. Blut trat aus ihren Augenlidern hervor. „Indem ich eines seiner Xyz-Materialien abhänge, kann er seine Werte vertauschen und direkt angreifen!“

Der Drache öffnete das Maul und schnappte nach der letzten goldenen Kugel, die noch um ihn kreiste – nur dass diese ihm entwischte und direkt in den Sturm flog. Wie eine Druckwelle breitete dieser sich schlagartig aus, und Urila sah es. Das Ungeheuer, das sie eigenhändig erschaffen hatte!

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4}]

 

Die Kugel begann, statt um Poison Bite zu schwirren, nun Ouroboros zur Verfügung zu stehen. Der dreiköpfige schwarze Drache bäumte sich auf, wie er über Matt flog. Jener stand hinter seiner aufrecht stehenden Schnellzauberkarte und klatschte Beifall.

„Bravo“, sagte er, „du bist berechenbarer als du zugeben würdest, Urila.“

„D-diese Karte-!“

„[Xyz Revenge], richtig. Sie erlaubt es mir, eines meiner Xyz-Monster vom Friedhof zu beschwören und dann ein Xyz-Material deiner Monster auf meines zu übertragen. Sieht so aus, als wäre das mit dem direkten Angriff nichts geworden.“ Matt kniff die Augen zusammen. „Jetzt heißt es dein Drache gegen meinen Drachen. Welcher gewinnt wohl?“

 

Du hast geahnt, dass du ihn brauchen würdest. Erstaunlich, Matt Summers. [Xyz Declaration] behandelt ein abgelegtes Xyz-Monster, als wäre es vorher beschworen worden. Brillant!

 

„Nein“, wies Matt Levriers Lob zurück, „das war nur Glück, nichts weiter.“

Urila raunte: „Glück? Mit Glück allein wirst du mich nicht besiegen!“

„Richtig. Aber damit ganz gewiss.“

Als wäre das sein Zeichen gewesen, griff [Gem-Knight Pearl] in die Luft – und ließ den legendären Drachenspeer in seiner Hand erscheinen.

Die blutunterlaufenen, milchigen Augen der blonden, jungen Frau weiteten sich.

„Wenn [Legendary Victory Spear – Lord Fafnir] zerstört wird, kann ich ihn erneut an ein Xyz-Monster ausrüsten. Da spielt es keine Rolle, ob es dasselbe war wie eben.“

 

In der Tat.

 

„So läuft das also … so willst du mich also töten? Indem du mich vorher demütigst. Mich!“ Urila schnaubte. Dann begann ein hässliches Lächeln ihre Lippen zu zieren. „Aber gut. Wenn es so sein soll? Zug beendet!“

 

Matt griff nach seinem Deck und schloss die Augen. Dieses Mal hatte sie endgültig verloren! Ihr Drache besaß keine Xyz-Materialien mehr, er dagegen Ouroboros und Pearl. Ihr Feld war ansonsten leer. Nichts würde ihn jetzt aufhalten!

„Draw!“

„… bist du dir da so sicher?“

Die Karte zwischen seinen Fingern geklemmt, starrte der junge Mann seine Gegnerin irritiert an.

„Ja, ich höre deine Gedanken wieder. Levrier kann sie nicht länger verbergen.“ Urila schürzte die aufgesprungenen Lippen. „Und weißt du auch warum?“

Als Antwort hob sie den Finger und zeigte auf [Evilswarm Ouroboros]. Matt folgte dem Wink und sah herauf zu seinem dreiköpfigen Drachen, der begann in einer schwarzen Aura aufzuleuchten.

„Das, mein lieber Matthew Summers“, säuselte Urila siegessicher, „war dein letzter Fehler.“

 

Es war, als würde eine Bombe in Matts Kopf explodieren. Tausende Stimmen hallten in unerträglicher Lautstärke durch seinen Schädel, verlangten die wirrsten und absurdesten Dinge von ihm. Nur eine kristallisierte sich heraus: „Töte Anya Bauer! Töte Levrier! Töte dich! Töte sie alle!“

„Argh!“, schrie Matt schmerzhaft auf und fiel auf die Knie. Er hielt sich den Kopf, begann vor und zurück zu wippen. „Seid still!“

„Gib es auf. Warum hast du es auch nicht kommen sehen? Dir muss doch klar gewesen sein, dass Ouroboros mein wichtigstes Werkzeug ist, um dich unter Kontrolle zu halten.“ Urila schnalzte mit der Zunge. „Dummchen. Wehr dich nicht dagegen, gleich werde ich wieder deine Mutter sein. Und alles wird gut~“

Der Dämonenjäger kniff verkrampft die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Er konnte kaum seine eigenen Gedanken unter all den Stimmen hören. Das durfte nicht sein, nicht so kurz vor dem Ziel!

„[Evilswarm Ouroboros]“, presste er hervor mit all seiner Kraft, „aktiviere deinen Effekt! Gib ihren Drachen ins Extradeck zurück … Infestation's Viciousness!“

Allerdings machte das Ungetüm keine Anstalten sich zu bewegen.

„Er gehorcht dir nicht mehr. Er gehorcht nur noch mir“, stellte Urila klar. „Und jetzt sei still, ehe du noch etwas Dummes von dir gibst.“

Matt spürte, wie Schatten aus seinem Hals stiegen. Er bekam keine Luft mehr! Würgend beugte er sich über, hustete, aber es half nichts. Er würde ersticken! Tara! Wenn sie sich doch nur kurz gegen Urila auflehnen würde, dann könnte er …!

„Das wird nie passieren. Ein Immaterieller so mächtig wie ich kann niemals unterdrückt werden.“

Matt kippte zur Seite, seine Sicht begann zu verschwimmen. Die Schwärze verschlang ihn. Dann war er also gescheitert … so kurz vor dem Ziel. Anya, renn weg! Das wollte er ihr sagen, aber er konnte nicht. Sein Körper gehörte jetzt Urila. Verdammt …
 

„Du dämliche Cheaterin!“

Urila schwenkte herüber und weitete erschrocken die Augen. Da stand das blonde Mädchen, hielt sich den gebrochenen Arm und sah sie an, als würde sie ihr jeden Moment an die Gurgel gehen.

„Wenn ich eins nicht leiden kann, dann solche wie dich, die nicht aus eigener Kraft gewinnen können!“, fauchte sie dabei spuckend. „Aber ich hab ganz schlechte Nachrichten für dich, Miststück!“

„Du bist bereits gefallen, du spielst nicht-!“

Anyas blaue Augen, zusammengedrückt zu kleinen, bösen Perlen, funkelten regelrecht. „Ich nicht, aber Levrier. Und weißt du, wem der eigentlich gehört? Mir!“

Matt hörte sie kaum. Doch es klang gut.

„Du würdest nicht-!?“

„Sorry Levrier, das wird dir jetzt leider etwas weh tun!“, rief Anya und schwang den gesunden Arm aus. „Du weißt, was zu tun ist!“

 

Ich hätte wissen müssen, dass ich unter deiner Schirmherrschaft nicht unverletzt aus der Sache kommen würde, Anya Bauer. Aber so sei es.

 

[Gem-Knight Pearl], der vor Matt verharrte, legte den goldenen Siegesspeer in seiner Hand auf seine Schulter ab und machte sich bereit.

„Tch, immer muss man alles selber machen!“, nölte Anya weiter. „Dafür schuldest du mir was, Schwachkopf!“

Alles was sie wollte, dachte Matt glücklich, wie er da am Boden lag und lächelte.

„Levrier, zeig dem Miststück, warum man sich nicht mit dem Underbauer anlegt! Greif ihren Drachen an! Double Kill-Time! Impaling Heaven!“

 

Madolche Very Angry Dragon – Poison Bite [ATK/2600 DEF/3200 {5}]

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4}]

 

„Nein … nein!“, schrie Urila panisch.

Anyas Ritter nahm aber bereits Anlauf und warf den Speer, direkt auf [Madolche Very Angry Dragon – Poison Bites] Brust gezielt. Dieser antwortete mit einem gebündelten Laserstrahl aus seinen vier Augen. Zeitgleich wurden beide vom jeweils anderen getroffen. In Pearls Brust fraß sich ein klaffendes Loch, wohingegen der Speer wie Butter durch den Körper Poison Bites glitt. Beide schrien auf und zersprangen parallel in tausende Stücke. Doch der Speer flog weiter.

Urila weitete die Augen. Dann drang er in ihre Brust ein und verschwand dort, als würde er von Taras Körper absorbiert werden.

„Genau so besiegt zu werden wie Another“, stammelte sie fassungslos, als das letzte Stück des Speers sie passierte. Ihre Adern begannen weiß aufzuleuchten. Torkelnd nahm sie ein paar Schritte vorwärts. „Wie demütigend! Unverfroren! Gar lächerlich! Aber, auch wenn ihr mich töten konntet … eins solltet ihr wissen …“

Anya blinzelte verdutzt, wie sich ihre Gegnerin Schritt um Schritt zu ihr schleppte. Angekommen bei ihr, packte die entstellte, junge Frau das Mädchen bei den Schultern. Sie beugte sich vor und flüsterte jenem etwas ins Ohr: „Einer von ihnen ist schon hier, wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt. Deswegen wollte Another fliehen … ihr seid verloren! Ahhhhhhh!“

Erschrocken stieß Anya Urila von sich, die auf die Knie fiel. Aus ihrem Mund stieß eine grelle Lichtsäule, ehe sie vorne über kippte und liegenblieb.

 

[Matt: 150LP / Tara: 0LP]

 

Anya keuchte schwer. Die Hologramme verschwanden. Matts Aura verblasste und löste sich in viele kleine Partikel auf.

„Ist es … vorbei?“, murmelte sie.

 

Anscheinend. Tu mir so etwas nie wieder an, Anya Bauer. Ich wäre fast gestorben!

 

Das Mädchen brauchte einen Moment, ehe es schmunzelte. „Dein Pech, was kommst du auch unangemeldet zurück? … aber danke, Levrier. Ohne dich …“

„Tara!“

Matt hatte sich derweil aufgerappelt und war zu seiner Freundin aus Kindheitstagen geeilt. Die lag leblos am Boden. Fassungslos kniete er vor ihr nieder.

„Oh nein!“

Anya spürte, wie etwas Nasses ihre Wange benetzte. Weinte sie? Quatsch! Das Mädchen sah nach oben. Graue Wolken zierten den Nachthimmel, es fing allmählich an zu regnen. Die restlichen Kerzen wurden gelöscht, als es auf sie herab zu plätschern begann.

 

Anya Bauer, hinter dir!

 

Das Mädchen wirbelte augenblicklich ob Levriers Warnung um. Hinter ihr war etwas! Zischend stand es offen, eine Art Portal, schwarz wie die Nacht.

„Was zum Kuckuck!?“ Sofort wich sie davor zurück. „Sag nicht, sie hat das Ritual heimlich durchgeführt!?“

 

Nein, es ist mit dieser Welt verlinkt. Aber wer …?

 

Matt stellte sich neben Anya. In seinen Armen trug er Tara. Sein Blick war fest auf jenes Portal gerichtet. „Wer oder was auch immer es ist, die Absichten sind eindeutig. Nehmen wir die Einladung an.“

Anya zischte mürrisch. „Tolle Idee, Summers! Wenn wir wieder kämpfen müssen, werde ich dir in meinem Zustand nicht permanent den Arsch retten können. Sag also nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“

„Das nehme ich in Kauf“, sprach Matt stoisch und wagte den Schritt ins Portal.

Stöhnend folgte Anya ihm. Wieso immer sie!?

 

~-~-~

 

Valerie blinzelte. Blutüberströmt lag sie bäuchlings am Boden. Sie spürte die gierigen Blicke, die auf sie und die anderen gerichtet waren. Am Ende hatten sie es nicht geschafft, es waren zu viele. Lebten die anderen überhaupt noch? Selbst wenn, eine Rolle spielte es nicht mehr.

„Grandioses Duell“, hörte sie Andrew sagen. Er stand vor ihr und sah auf sie herab. „Du hast den Kampf gewonnen. Aber den Krieg verloren. Schade, dass du so schnell schlapp gemacht hast, mir wäre eine zweite Runde nur recht gewesen.“

Valerie öffnete den Mund, konnte aber nichts darauf erwidern. Sie war mit Stolz gefallen, wollte sie ihm sagen. Wie die anderen auch. Der Rest hing von Matt und Anya ab. Ob sie noch lebten?

 

Andrew stieß Valeries Schulter mit seinem Stiefel an und rollte sie so auf den Rücken.

Das Mädchen sah die grauen Wolken am Nachthimmel. Etwas benetzte ihre Wange. Immer mehr Tropfen fielen herab. Der Himmel weinte. Um sie? Das wäre schön.

„Urgh!“

Andrew neben ihr fiel auf die Knie, hielt sich die Brust. Valerie bekam es nur aus den Augenwinkeln mit. Er beugte sich über, keuchte, als bekäme er keine Luft mehr.

„Mutter“, stammelte er, „Mutter ist-!?“

Valeries Lebensgeister kehrten schlagartig zurück. Gute Nachrichten!? Hieß das, dass die anderen gewonnen hatten!?

Als Antwort auf ihre Frage begannen die Dämonen um sie herum zu schreien. Vor Schreck bäumte sich das Mädchen auf und sah, wie sie alle mit ihren Händen oder anderen Gliedmaßen fuchtelten. Fast schien es so, als würde der Regen ihnen Schmerzen zufügen.

Derweil kippte Andrew vorne über und landete direkt in Valeries Schritt. Die stieß den bewusstlos gewordenen, jungen Mann verdattert mit der Hand weg.

„... Valerie …“

Die Schwarzhaarige sah sich um. Abby!

Sie lag nicht weit von ihr entfernt auf dem Bauch und sah sie mit einem Lächeln an. „Wir haben es geschafft.“

„Ich wusste, sie würden siegreich sein!“

„Hat ja auch lange genug gedauert!“

Da kamen auch Alastair und Henry angehumpelt, Ersterer stützte den brünetten Millionär, da jener am Bein verletzt war. Valerie erinnerte sich daran, dass sich Henry im Turm von Neo Babylon das Bein angebrochen hatte. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Hieß das, dass er die ganze Zeit seinen Schmerz unterdrückt hatte, um ihnen helfen zu können?
 

Sie seufzte. Offenbar wurde sie schon langsam wie Anya, dass sie so etwas nicht bemerkt hatte.

Glücklich sah sie in die Regenwolken, während die Monster um sie herum sich, halb Mensch, halb Bestie, am Boden aalten und schrien.

„Danke, ihr beiden …“

 

~-~-~

 

„Ihr könnt mich hochholen, ehrlich!“, jammerte ein splitterfasernackter Nick. „Ich bin wieder ich, also Nick, nicht Nick! Also der haarige Nick. Nein, nicht der Haarige! Ihr wisst doch, wen ich meine?“

Melinda und Marc aber sahen sich nur stumm an und schüttelten den Kopf in Einverständnis, während sie ihn an beiden Beinen festhaltend aus dem Fenster baumeln ließen. Als Satyr-Nick sie angegriffen hatte, wäre er infolge des Kampfes nach einem missglückten Zutreten-und-sofort-Ausweichen-Manöver beinahe aus ebenjenem gehüpft, hätten die beiden ihn nicht geschnappt und festgehalten. Da sie den frechen Bock aber schlecht fallen lassen und ebenso wenig hochziehen konnten, waren die Drei in die unglückliche Lage geraten, in der sie jetzt steckten.

Was Melinda trotz der Schweißperlen auf ihrer Stirn nicht daran hinderte, auf Nicks Frage zu antworten. „Nein, wir warten noch. Sicher ist sicher!“

„Aber, aber-!“, stammelte Nick, der beide Hände vor den Schritt hielt. „Das ist sadistisch!“

„Hab ich je behauptet, nicht sadistisch zu sein?“, scherzte Melinda.

Die magere Bohnenstange erwiderte mit einem wenig erotisch wirkenden Zwinkern: „Gib mir deine Nummer, Schwester!“

Marc, der ähnlich erschöpft wie Melinda war, murrte nachgiebig: „Also schön. Noch eine Sekunde von diesem Anblick und ich bekomme Ausschlag.“

„So schlecht sieht er doch gar nicht aus“, gluckste die junge Frau angetan.

„Hochholen, bitte! Und hierbei lass ich offen, was ich meine“, grinste Nick über beide Backen.

Also begannen sie, Nick an den Beinen hoch zu ziehen. Und nur denen …

 

~-~-~

 

Anya und Matt, mit der geschundenen Tara in den Armen, sahen sich verblüfft um. Statt der unheimlichen Atmosphäre des Bestattungsunternehmens ausgesetzt, fanden sie sich nun in einem prunkvollen Speisesaal wieder. Vor ihnen erstreckte sich quer ein langer, gedeckter Esstisch, an dem nur eine einzige Person saß – ein rothaariger, junger Mann.

Und es bedurfte gar nicht erst der Narbe an seiner Wange, dass Anya ihn sofort erkannte: „Der Collector!?“

Jener in einem schwarzen Designeranzug gekleidete Mann, der schon früher mit Anya in Kontakt getreten war, sah von seinem riesigen Steak auf und lächelte milde. Mit britischem Akzent in der Stimme erwiderte er: „Deine Freude, mich wiederzusehen, wärmt mir das Herz.“

Sofort trat die wütende Blondine einen Schritt vor und ballte eine Faust. „Was willst du hier?“

„Ich wohne hier, wenn du gestattest“, entgegnete er mokiert, „die richtige Frage lautet: warum habe ich euch hierher eingeladen?“

Matt, der besorgt das Mädchen in seiner Hand hielt, kannte die Antwort. „Tara …“

 

Sich den Mund an einer Serviette behutsam abtupfend, erhob der Dämon, der als einer der mächtigsten unter den seinen galt, und umkreiste langsam den Tisch. Dabei ließ er seine unfreiwilligen Gäste nicht aus den Augen. „Pass auf, dass du mir nicht den Teppich vollblutest!“

Womit er auf Matts Wunde in der Seite anspielte. Dann sinnierte er vor sich hin: „Ich muss zugeben, dass ich mir das anders vorgestellt habe. Um ehrlich zu sein hatte ich gehofft, dass Urila gesprächiger ist, was ihr Wissen um den 'wahren Feind' angeht.“

„Was hast ausgerechnet du mit dieser ganzen Geschichte zu tun, huh!?“, verlangte Anya wütend zu wissen und stellte sich ihm prompt in den Weg, als er auf Matt zusteuern wollte.

„Drücken wir es so aus: wer A sagt, muss auch B sagen. Ich muss dir wohl nicht vor Augen halten, dass meine Rolle in deinem Kampf gegen Eden essentiell war“, sprach der Sammler mit einer unheimlichen Selbstverständlichkeit und hielt vor dem Mädchen an, „allerdings mussten auch Maßnahmen ergriffen werden, die neue Bedrohung zu bekämpfen, die mit der Zerstörung des Turms einher ging.“

„Du wusstest von Urila?“, schoss es aus dem verwirrten Matt. Plötzlich wurde er lauter. „Wieso hast du Tara dann nicht beschützt!? Wieso hast du nicht verhindert, dass sie-!“

„Weil es so gewollt war, dass Urila sich ein Gefäß sucht. Und Tara war die ideale Wahl, denn durch ihre Verbindung mit dir, durch ihre Verzweiflung, öffnete sie sich mit Leichtigkeit den Worten der Immateriellen“, erklärte der Sammler unterkühlt.

„Du elender-!?“, schrie Anya, wurde aber noch von Matt übertönt.

„Du hast das geplant!?“

 

Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Andrew … er hatte doch etwas in der Richtung gesagt, dass ein ihm unbekannter Mann ihm die Hinweise auf seinen Verbleib zugespielt und gleichzeitig vor einer Gefahr in Livington gewarnt hat. Nur dadurch war es Andrew und Tara erst möglich gewesen, nach ihm, Matt, zu suchen!

Der Sammler … hatte sie bewusst hierher gebracht, damit sie Urila in ihrem Tun unterstützen!
 

„Du Scheusal!“, keifte Matt voller Verachtung und sah nur Tara zuliebe davon ab, wie ein Berserker auf den rothaarigen Dämon loszugehen. Was selbstverständlich ein sinnloses Unterfangen war.

„Ich habe deine Freundin nicht aus Unterhaltungszwecken als Köder benutzt“, erklärte der Sammler und streckte die Arme aus, geradezu selbstherrlich war die Geste, „aber es war wichtig, dass sie ihr Wissen preisgibt. Durch ihre Falle bist du mit ihrem Abkömmling in Kontakt gekommen, wodurch du einiges an Informationen sammeln konntest. Leider ist das alles viel weniger, als ich erhofft habe. Wie ihr vermutlich erfahren habt, war sie eine der Wenigen, die den 'wahren Feind' erlebt hat. Doch die Erinnerungen daran hat sie letztlich nicht preisgegeben.“

Anya runzelte die Stirn. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm einfach die gesunde Faust in die piekfeine Visage donnern oder doch lieber ihre Frage stellen sollte. Im Interesse ihrer angeschlagenen Gesundheit entschied sie sich spontan für Letzteres. Vorerst!

„Soll das heißen, dass du gegen diese Typen kämpfen willst?“

Die Augen des Sammlers verengten sich plötzlich zu Schlitzen. „Das überlasse ich ganz deiner Fantasie. Völlig ungeachtet meiner Absichten ist zunächst das Sammeln von Informationen von äußerster Wichtigkeit, da werdet ihr mir sicher zustimmen.“

„Aber Tara dafür zu benutzen ist-“, bellte Matt und konnte nicht in Worte fassen, was ihm auf der Seele lag.

„Abscheulich? Widerlich? Feige? Der Zweck heiligt die Mittel.“ Der Sammler schlug in die Hände und setzte ein wohlwollendes, wenn auch falsches Lächeln auf. „Wie dem auch sei, ihr werdet erfreut sein zu hören, dass ihr Fluch über Livington durch ihren Tod gelüftet wurde.“

Anya stampfte mit dem Fuß auf. „Na endlich! Allein Nicks Gestank nicht mehr ertragen zu müssen, macht diese ganze Kacke im Nachhinein wenigstens etwas erträglicher!“

„Gibt es viele Tote?“, wollte Matt grimmig wissen.

„Ein paar, aber die Verluste halten sich in Grenzen. Glücklicherweise haben die Betroffenen ihr Gedächtnis an diese Nacht verloren“, erklärte der Sammler, „und bei allen anderen, sans eurer Freunde natürlich, habe ich auf Kosten des Hauses nachgeholfen. Die Schäden an der Stadt mit inbegriffen. Ich habe heute sozusagen meine Spendierhosen an.“

 

Ein gefährliches Schmunzeln huschte über seine Lippen. „Was ein hervorragender Übergang zu dem Grund ist, mit dem ich euch hierher gebracht habe. Folgt mir.“

Mit diesen geheimnisvollen Worten ging er an den beiden vorbei und winkte sie aus dem Speisesaal heraus. Zu dritt betraten sie den langen, seltsam kahlen Gang im viktorianischen Baustil, allen voran der Sammler, der seine Gäste scheinbar kreuz und quer durch das Anwesen führte.

Dabei erklärte er: „Normalerweise wäre die Sache schon für mich abgeschlossen, aber ihr seht das sicher anders. Tara wird leider nicht mehr lange durchhalten, sodass es an der Zeit ist, ihre Wunden zu heilen.“

Matt, dem schon sämtliche Muskeln plus diverse Verletzungen schmerzten, weil er Tara an sich gedrückt trug, verzog wütend die Miene. Das Wort Wunden klang aus dem Munde des Mannes, der für ihren Zustand indirekt verantwortlich war, wie blanker Hohn. Sie war entstellt, kaum noch als Mensch zu identifizieren, dank des Zerfalls, den der Pakt mit Urila ausgelöst hatte.

Zwar hatte er bereits vor dem Auftauchen des Sammlers darüber nachgedacht, Tara anschließend durch seine Hilfe wieder zu heilen, aber weil sich die Dinge von selbst in diese Richtung entwickelt hatten, waren da nur noch Zweifel. Der Sammler würde ihren Körper gewiss nicht ohne Haken wiederherstellen! Und da er alles im Voraus geplant zu haben schien, musste er etwas Großes als Preis für seine Leistungen im Kopf haben. Mit dem Wissen, dass er, Matt, dem machtlos gegenüber stand.

 

Schließlich hielten sie vor einer breiten Flügeltür inmitten eines Ganges, welche sich ganz von selbst öffnete.

„Was auch immer als verloren gilt, findet hier seinen Weg zurück in diese Welt“, sprach der Sammler und führte sie in einem Raum, der entfernt einer Kapelle glich.

Denn völlig entgegen dem übrigen Anwesens, waren die Wände hier aus kaltem, grauen Stein gefertigt. Wie der Rest der Villa nahezu leer, fanden sie sich lediglich einem flachen, länglichen Altar gegenüber, neben dem zwei Kerzenständer standen.

„Hier hat auch Marc Butcher seine zweite Chance erhalten“, sagte der Brite zu Anya, die wütend schnaubte. Den Dämonenjäger wies er anschließend an: „Leg sie auf den Altar. Und dann entscheiden wir, was ihr tun müsst, um ihr Schicksal umzukehren.“

Matt tat nur widerwillig wie geheißen und trat vorsichtig an die aus weißem Marmor gefertigte Ablage heran. Vorsichtig legte er erst Taras blutigen Oberkörper auf den Altar, dann ihre Beine. Er wagte es nicht, ihr Gesicht anzusehen, es war einfach zu viel für ihn. Allein der Gedanke erregte eine Übelkeit in Matt, für die er sich schämte, auch wenn er innerlich wusste, dass nichts Verwerfliches daran war. Aber das da war Tara, seine Freundin, die er seit seiner Kindheit kannte! So etwas durfte er nicht fühlen, wenn er an sie dachte!

 

Wieder zum Sammler und Anya zurückkehrend, räusperte sich der Mitverantwortliche des ganzen Chaos. „Nun, ich möchte direkt zum Punkt kommen. Da meine Wenigkeit ihre Hand im Spiel hatte, kann und werde ich nicht den vollen Preis für ihre Regeneration einfordern.“

„Es sollte gar keinen Preis geben!“, forderte Matt aufgebracht.

Auch Anya funkelte den rothaarigen Briten hasserfüllt an.

„Wäre dies möglich, würde ich das zulassen. Doch da die Existenz etwas ist, das stetig in Bewegung sein muss, dessen Pfade sich nur ändern, wenn man auf sie einwirkt, muss ein Austausch stattfinden“, erklärte der Sammler, „und da ich nur bedingt in der Lage bin, jegliche Bedürfnisse allein durch meine Fähigkeiten zu stillen, erfordern meine Dienste einen Zoll der Bittsteller.“

Anya rümpfte die Nase. „Ich kapiere gar nix!“

„Er kann Wünsche nicht alleine erfüllen“, erklärte ihr Matt.

„Nicht alle“, korrigierte der Sammler ihn, „aber je größer der Wunsch, desto mehr muss ich der Existenz als Ausgleich anbieten. Ich kann den Teil der Spanne bestimmen, den ich selbst tragen muss und in unserem Fall wird es das Maximum sein. Und ich werde keinen Anteil von dem behalten, was ihr opfern müsst.“

 

Die Augen von Livingtons Terrormaschine wurden zu kleinen, blauen Perlen, die deutlich machten, wie dankbar sie für diese ach so großzügige Geste war. Außerdem stört sie da ein gewisses Wort in seinem letzten Satz.

'Ihr'? Laut ihrem letzten Statusupdate war dieses Bauernopfer Tara immer noch Matts Freundin und nicht ihre! Wenn also jemand den Preis dafür zu zahlen hatte, dann ganz allein er!
 

Gerade als sie genau dies kundtun wollte, kam Matt ihr zuvor: „Und wie hoch ist der Preis?“

„In Anbetracht dessen, dass sie noch lebt und nur über körperliche Wunden klagt, in gewisser Hinsicht wesentlich geringer als bei der Wiedererweckung eines Toten“, erklärte der Sammler salopp, trat vor und begutachtete den blutigen Klumpen, der einst ein hübsches Mädchen gewesen war.

„Vergiss die mentalen Wunden nicht“, raunte Matt missgelaunt.

„Natürlich. Allerdings“, begann der Sammler und drehte sich zu den beiden um, „ist ihre körperliche Hülle so zerstört, dass ein körperlicher Preis nicht mehr infrage kommt, da ihr diesen selbst zu dritt nicht tragen könntet.“

„Zu dritt?“, wunderte sich Anya, während Matt wiederholte: „Was kommt dann infrage?“

„Andrew Shanks hat bereits im Voraus seinen Preis gezahlt, da ich ihm erklärt habe, was Tara erwarten würde.“ Der Sammler zeigte keine Regung, als sich die Augen der anderen beiden in einer Mischung aus Verwirrtheit, Wut und Erschrockenheit weiteten. „Dieser Preis war seine Kooperation, ein sehr geringer Teil seiner Lebensspanne und einen partiellen Verlust seines Gedächtnisses, der unsere Vereinbarung und den Handel einschließt. Je nachdem, wären die Dinge besser für alle Beteiligten verlaufen, hätte er seine Lebenszeit zurückerhalten. Doch sie wird nun gebraucht.“
 

Die Offenbarung, dass Andrew viel tiefer in die Sache verstrickt war, als er geglaubt hätte, ließ Matt auf die Knie fallen. Wie konnte sein Freund nur? Willentlich zuzustimmen mit dem Wissen, was Tara erwarten würde!?

Das zu erfahren raubte Matt seine letzte Kraft, selbst der Hass gegenüber dem Sammler wich der schieren Fassungslosigkeit und der damit einhergehenden Verzweiflung.

Sein bester Freund aus Kindheitstagen war … ein Verräter!

 

„Oh Summers, du bist echt nicht mit Glück gesegnet“, konnte selbst Anya ihr Mitleid nicht verbergen und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter, „im Freunde aussuchen bist du echt 'ne Niete.“

„Halt den Mund, Anya …“, murmelte Matt und schloss verbittert die Augen, aus deren Winkel die Tränen standen.

„Ich fürchte, der Preis, den ich von dir einfordern muss, Matt Summers, wird deine Verzweiflung und Trauer noch um ein Vielfaches steigern“, setzte der Sammler derweil seine Ausführungen ungerührt fort, „denn der erste von zwei Teilen deines Preises verlangt, dass du Tara Hartwell … für immer aufgibst. Und sie nie wiedersiehst, denn deine Existenz und ihre wird nach dem Prozess ihrer Regeneration auf eine Weise verbunden sein, die den Kontakt miteinander untersagt. Du würdest sie andernfalls mit deiner Anwesenheit töten.“

Sofort sprang Matt entsetzt auf die Beine: „Das kann nicht dein Ernst sein! Niemals!“

„Dein Preis, Anya Bauer, ist simpel. Du verlierst ebenfalls dein Gedächtnis, von dem Punkt an, an dem ich dich hierher eingeladen habe. Dies wird Taras Erinnerungen an Urila vollkommen von dieser Welt tilgen.“

Anya öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder, ehe sie sich doch durchrang und sagte: „Okay, wenn's nur das ist ...“

„Du … hilfst mir?“, stammelte Matt überrascht.

Das Mädchen wandte sich schnaubend von ihm ab. „Nur, weil ich dich nicht so jämmerlich in Erinnerung haben möchte, Summers. Die ganze Scheiße hier zu vergessen ist mir nur recht.“

Damit entfernte sie sich ein Stück von den anderen beiden und lehnte sich neben die Tür an die Wand. „Dann viel Spaß beim Entscheiden, Summers. Ich beneide dich echt nicht.“

 

„Ich kann Tara nicht einfach … aus meinem Leben verbannen“, klagte Matt verzweifelt an den Sammler gewandt und packte ihn an den Schultern.

Dieser riss sich angewidert los. „Genau dies hast du bereits einmal getan, als du wegen Mordes untergetaucht bist.“

„Aber das ist nicht dasselbe!“ Aufgebracht fuchtelte Matt mit den Armen. „Ich hab nie daran gedacht, für immer aus ihrem Leben zu treten!“

„Sorry, Summers, aber irgendwo hat er recht“, mischte sich Anya ein, obwohl sie das gar nicht wollte und die Sache sie auch eigentlich nichts mehr anging, „du musst doch gewusst haben, dass dein altes Leben in dem Moment vorbei ist, in dem du deinen Vater ins Jenseits geschickt hast. Jetzt tu nicht so, als wäre das so überraschend.“

Matt schwang wütend den Arm aus. „Du hast keine Ahnung, Anya! Schon gar nicht, weil für mich immer Hoffnung bestand, in mein altes Leben zurückzukehren! ICH habe meinen Vater nicht ermordet, sondern meine Schwester! Wenn SIE irgendwann ihre Tat gesteht, werde ich frei sein!“

„Das ist ja ein tolles 'Wenn'“, fauchte Anya ebenso hitzig zurück, „wie blöd bist du eigentlich!?“

 

„Ich unterbreche euren Streit nur ungern, aber ich bin noch nicht fertig. Es gibt noch einen Preis, den du zu zahlen hast, damit alles miteinander verbunden ist“, schritt der Sammler dazwischen und beugte sich mit seinem Satz an Matts linkes Ohr.

Und das, was der Collector ihm zuflüsterte, ließ seine Kinnlade hinunter klappen. „Was … warum ausgerechnet …?“

Als der Sammler sich wieder zurück bewegte, sagte er: „Triff deine Wahl gut, denn dir bleibt nicht mehr viel Zeit für eine Entscheidung.“

Matts Blick huschte irritiert herüber zu Anya, die jenen fragend erwiderte. Allerdings wusste Matt, dass er der Blondine DAS auf keinen Fall anvertrauen konnte, ohne den Sammler gegen sich aufzubringen und unangenehme Fragen heraufzubeschwören. Er verstand es ja selbst nicht und ihm war klar, dass der Dämon seine seltsame Forderung nicht erklären würde, auch wenn man ihn darum bat.

 

Im Endeffekt war es auch unwichtig, denn um Tara zu retten würde er dem jederzeit nachkommen, sobald die Zeit gekommen war. Aber allein der Gedanke, sie nie wiedersehen zu dürfen, das war unerträglich. Das konnte doch nur ein Scherz sein!

Aber es war keiner, das wusste er genau. Nein, diesen Preis konnte er nicht zahlen!
 

„Wie stehen ihre Chancen zu überleben, wenn wir sie mit menschlichen Methoden behandeln?“, fragte Matt den Sammler in einem Anflug aus Verzweiflung. „Ich meine, ich könnte damit leben, wenn sie Narben zurückbehält.“

Der Sammler überlegte kurz. „Sie könnte überleben. Aber nicht ohne Folgeschäden und damit meine ich nicht nur ihr entstelltes Antlitz, sondern körperliche Behinderungen.“

„Aber sie könnte es schaffen? Mir würde es nichts ausmachen, wenn sie nicht mehr-!“

„Du Idiot!“, schrie Anya und stieß sich von der Wand ab.

Matt, der sich umdrehte, sah nur noch die Faust auf sich zufliegen und wurde von ihr regelrecht von den Beinen gerissen.

„Argh!“

Auf seinem Hinterteil landend, sah er zu Anya auf und hielt sich die Wange, während sie ihn zornig anfunkelte. Ihr kaputter Arm baumelte lebhaft hin und her.

„Was du kannst und was dir nichts ausmacht sind eine Sache! Aber frag mal deine Tara, ob sie gerne als Wrack weiterleben möchte!“

„Denkst du, es wäre ihr lieber, wenn wir uns nie wieder sehen könnten!?“

„Pah!“ Anya stemmte die Hand in die Hüfte. „Überschätz' bloß nicht deinen Wert. Mag sein, dass sie dich gern hat, aber wenn es um das eigene Leben geht, sind die Menschen Egoisten. Schau mich doch an, was hab ich denn getan, als ich ewige Verdammnis vor Augen hatte!? Denkst du ernsthaft, deine kümmerliche Anwesenheit, die eines gesuchten Mörders, würde sie über ihre Lage hinwegtrösten?“

Matt ließ den Kopf hängen. „Tara ist nicht so wie du …“

„Na dann frag sie doch, was ihr lieber ist, Einstein! Aber jammere mir nicht die Ohren voll, wenn sie dich abblitzen lässt!“

Der Sammler, der dem schweigend zugesehen hatte, schritt nun ein. „Es ist nicht möglich, sie in ihrem jetzigen Zustand nach ihrer Meinung fragen. Zudem würde es den Ausgang beeinflussen, was sich wiederum negativ auf den Preis auswirken wird. Daher wirst du entscheiden müssen, was aus ihr wird, Matt Summers …“

„Ich … weiß es nicht … weiß nicht, was ich tun soll“, nuschelte Matt und schluckte. Tränen benetzten die kalten Fliesen unter ihm.

„Tu das, was verdammt nochmal richtig ist!“, verlangte Anya.

„Oder lass sie sterben, wenn du nicht bereit bist, eine Wahl zu treffen“, fügte der Collector hinzu.

„Warum ich!?“, begehrte Matt auf, wobei ihm die Stimme versagte. „Ich bin doch … der Falsche … für so etwas!“

Der Sammler sah herüber zu Taras Körper auf dem Alter. „Ich verstehe … dann soll es so sein.“

 

~-~-~

 

„Dann ist das also unser Abschied?“, fragte Tara bedrückt und stand vor dem Zug, der in wenigen Minuten abfahren würde.

„Ich bin jetzt ein Dämonenjäger. Nicht länger Teil der Gesellschaft“, erklärte Matt verhalten und sah ihr dabei nicht in die blauen, bis zuletzt hoffenden Augen. „Ich lebe jetzt ein anderes Leben als du und das müssen wir beide akzeptieren.“

„Aber du könntest zurück … Sophie will die Tat gestehen“, sprach Tara und schnappte sich in einem letzten Versuch seine rechte Hand, „man würde alles gegen dich fallen lassen, du könntest zurück. Du musst nur mitkommen! Das war Sophies Bitte. Ich- ich wollte dir das all die Zeit seit unserer Reise sagen. Bitte Matt, überlege es dir.“

„Nein“, widersprach er und riss sich von ihr los. „Sag Sophie, dass ich das nicht will.“

In seinen Augen spiegelte sich Zorn wieder.

„Tara, lass ihn“, bat Andrew, der schon in der Tür des Zuges stand, „für ihn gibt es kein Zurück mehr. Du wirst es verstehen, irgendwann.“

Tränen stiegen in den Augen des Mädchens hoch. Aber sie schluckte die Worte, die ihr auf der Lippe lagen, tapfer hinunter.

 

Was Matt den Anlass dazu gab, sich umzudrehen und fortzugehen. Dabei hob er noch den Arm zum Abschied in die Höhe. „Lebt wohl ihr beide. Und Andrew, pass gut auf sie auf, verstanden?“

„Werde ich“, rief ihm sein Freund hinterher.

Tara schluchzte, als sie in den Zug stieg und sich neben Andrew stellte. Sie öffnete den Mund, wollte Matt endlich loslassen, konnte es aber nicht. Bis ein automatisierter Ausruf die Abfahrt ankündigte.

Und als der Dämonenjäger am Absatz der Treppe stand, die zum Ausgang führte, sich die Türen des Zuges schlossen, war es still. Bis das Kreischen von Stahl auf Stahl ertönte. Matt sah nicht mehr, wie Tara verzweifelt ihre Hände gegen die Scheiben der Tür knallte und hörte auch nicht, wie sie verbittert seinen Namen schrie.

Nein, Matt nahm Stufe um Stufe. Sein Abschied von Tara war schon lange vor diesem Moment gewesen.
 

Auf halber Höhe blieb er stehen.

„Ich hätte gedacht, ihr würdet mehr heulen“, konnte die an die Wand lehnende Anya sich ihren unqualifizierten Kommentar nicht verkneifen. Ihr eingegipster Arm hing in einer Schlaufe. Jedoch war sie nichtsdestotrotz ernst. „Ich hoffe du bereust es nicht, sie so abblitzen zu lassen. Muss schwer gewesen sein, diese Wahl zu treffen.“

Matt neigte den Kopf in ihre Richtung und funkelte sie böse an. „Sag du es mir.“

Eine verwirrte Anya zurücklassend, ging Matt weiter. Und hoffte, Livington noch an diesem Tag verlassen zu können.

 

 

[THE END]

Turn 37 - Life Goes On

Turn 37 – Life Goes On

 

 

„Diese hier … oder doch lieber die anderen?“

„Wenn du dich nicht gleich entscheidest, schieb' ich sie dir dahin, wo noch nie zuvor eine Hologrammdrohne gewesen ist!“ Schnaufend wurde hinzugefügt: „Was sich aber ganz schnell ändern wird, wenn ich davon gleich noch ein ganzes Bataillon hinterher schicke!“

Von ihrem Ausbruch zutiefst erschrocken, wich der höchstens zwölfjährige Junge vom Tresen zurück und betrachtete die unfreundliche Verkäuferin fassungslos, ehe er die Päckchen mit Duel Monster-Karten vor ihr auf den Tisch warf, auf der Stelle Kehrt machte und schließlich verstört aus dem Laden stürmte.

„Dachte ich mir. Du mich auch, Knirps“, brummte Anya Bauer, ihres Zeichens Kundenschreck #1, ihm noch hinterher und schnappte sich sauer die Booster, die neben der Kasse verteilt lagen.

 

Es war nicht zum Aushalten, dachte die junge, blonde Frau wütend. Aus ihren meeresblauen Augen warf sie einen teuflisch-bösen Blick auf den Tresen, welcher unter besseren Witterungsumständen glatt Risse in die gläserne Oberfläche gebrannt hätte.

Dabei musterte sie ihr Spiegelbild schnaufend und musste eingestehen, dass sie in ihrem schwarzen Totenkopfshirt nicht ganz dem typischen Bild einer Kartenverkäuferin entsprach.

Na und? Jeder hatte das Recht auf Selbstbestimmung!

Ja, sie hatte ihr Haar mittlerweile so lang wachsen lassen, dass ihr Pferdeschwanz ihr nun schon weit über das Kreuz reichte. Und ja, sie fand die beiden langen Strähnen, die ihr neuerdings rechts und links neben den Ohren hinunter hingen cool! Oder um es in Anyas Worten zu sagen, waren sie einfach 'bad ass'!

Anya verdrängte dabei erfolgreich, dass weniger ihr Äußeres, denn mehr das Innere ausschlaggebend für ihren mikroskopisch kleinen Erfolg bei den Kunden war. Denn der Gnom war weiß Gott nicht der Erste, der davon absah, sein hart erspartes Geld gegen eines der unzähligen Produkte des Kartenladens einzutauschen. Trotzdem war all das kein Grund, gleich das Weite zu suchen!

Was hatten die alle für ein Problem!? Entweder sie wollten was oder eben nicht! Sie sah ja nun -wirklich- nicht aus wie eine Schlägerbraut oder so, empörte sich Anya über dieses außerordentlich ungerechte Verhalten ihrer Kunden.

Dabei glatt ignorierend, dass sie schon seit Kindestagen an einen gewissen Ruf in ihrer Heimatstadt Livington genoss. Der im Übrigen auch nicht unschuldig daran war, dass die Kundenzahlen, seitdem sie hier arbeitete, rapide zurückgegangen waren.

Dazu musste man wissen, dass in Anyas kleiner, egozentrischer Welt -grundsätzlich- andere die Schuld trugen, wenn sie selbst Mist verzapfte.

 

„Hmpf, na toll!“, schnaufte sie unzufrieden und löste sich vom Tresen mit der Motivation einer sedierten Schildkröte.

Ja, sie hatte heute vielleicht ein wenig schlechte Laune! Wie konnte sie die auch nicht haben, wenn sie jeden Tag andere Leute draußen in der Mall spazieren gehen sah, während sie selbst hier vor sich hin vegetieren und arbeiten musste! Hinzu kam noch, dass sie jetzt wieder die Regale suchen durfte, aus denen das Rotzgör sich die Booster gegriffen hatte! Was jedes Mal ein Krampf war, wenn gefühlte hundert davon in geordneten Reihen in diesem verflucht riesigen Laden standen!

 

„Hast du schon wieder einen Kunden verschreckt, Bauer!?“, polterte es aus dem Lager, welches sich direkt hinter der Kasse befand.

Die Blonde runzelte mit saurer Mimik die Stirn, als sie den Tresen umkreiste. Mr. Palmer, ihr Chef, hatte sie vor drei Wochen eingestellt und es verging seitdem kein Tag, an dem er sich nicht über irgendetwas beschwerte.

Zugegeben, bei St. Peters, dem Klamottenladen direkt gegenüber, ist sie nach gerade mal drei Tagen gefeuert worden. Aber die hatten auch nicht einsehen wollen, dass manche Menschen einfach fett waren und ein verdammtes Recht darauf besaßen, es auch in aller Deutlichkeit zu erfahren.

„Der wollte klauen!“, log Anya lauthals, während sie durch die Reihen der Regale von Erweiterungssets hin bis vorgebauten Starter- und Expertendecks schritt.

Es gab hier eine unglaubliche Menge an Produkten und dennoch nicht wirklich mehr als beispielsweise noch vor einem Jahr, weshalb Anya nicht ganz nachvollziehen konnte, wieso als Verkäuferin plötzlich alles viel komplizierter war als sonst. Früher hatte sie hier nur nach bestimmten Sachen fragen müssen und bekam diese dann prompt ausgehändigt. Manchmal sogar unentgeltlich, wenn die 'Frage' richtig 'gestellt' wurde.

Heute nervten die Leute -sie- mit ihren albernen Bedürfnissen und oftmals wussten die am Ende trotzdem noch besser Bescheid als Anya selbst. Das sollte mal einer verstehen!

Sie schnaubte und hatte nebenbei endlich die Reihe mit den Boosterpacks gefunden, die sie gesucht hatte. An kleinen Metallstangen hingen sie direkt nebeneinander, sodass die junge Frau die Päckchen in ihrer Hand nur wieder darauf zurückschieben musste.

 

Wieso nur waren ihre Noten so schlecht gewesen, dass sie dadurch nicht aufs College gehen konnte!?

Es war einfach nicht fair! Hätten ihre Lehrer nicht ein Auge bei der Bewertung zudrücken können? Schön, sie hatte vielleicht ein paar Mal die Schule geschwänzt, war ab und zu durch Fehlverhalten aufgefallen und hatte hin und wieder auch schlechte Testresultate hervorgebracht!

So ein Unsinn, was hatten ihre Noten denn damit zu tun, dass Ernie Winter zum Beispiel gegen Ende des abschließenden Highschool-Jahres eine Halskrause brauchte, weil sie -versehentlich- gegen ihn gestoßen war, als er am Treppenrand stand und nicht gehorchen und Platz machen wollte!?

Das war doch alles eine riesengroße Verschwörung gegen sie und Anya konnte, ja wollte nicht einsehen, dass irgendetwas davon ihre Schuld gewesen war!

Aber nein! Statt wie Abby, ihrer besten Freundin, Valerie, ihrer Erzrivalin und Marc, ihrem ehemaligen Schwarm zu studieren, wurde sie jetzt von ihrer Mutter hin und her gescheucht, weil kein Arbeitgeber im riesigen Einkaufscenter Livingtons die Geduld hatte, sich an sie zu gewöhnen. Als ob das nun so schwer wäre!

Dabei machte Mr. Palmer sich noch recht gut. Trotzdem war er ein Idiot, weil er ihr nicht einmal Mitarbeiterrabatt gewährte!
 

„Hmpf, alles Idio-!“

Plötzlich krümmte Anya sich zusammen und sackte ungewollt in die Knie. Von ihrem Magen war ein stechender Schmerz in ihren ganzen Körper geschossen, wodurch sie wortwörtlich Sterne vor ihren Augen tanzen sah.

„Verdammter Kackmist“, stöhnte sie dabei.

Seit Monaten plagten diese merkwürdigen Krämpfe sie schon und wurden immer schlimmer. Aber zum Arzt zu gehen war für Anya keine Option! Das waren doch sowieso alles nur Quacksalber und sie würde auch ohne heilende Kräfte irgendwelcher Dämonen klar kommen.

Dämonen – Ha! Ein Kapitel, mit dem sie ein für allemal abgeschlossen hatte!

Die junge Aushilfsverkäuferin richtete sich wieder auf, nachdem der Schmerz verflogen war.

Na ja fast abgeschlossen, ein bisschen Dämonisches gab es in ihrem Leben noch.

 

Levrier …

Anya musste zugeben, dass sie seine Stimme gerne öfter hören würde, denn seit er sich damals selbst auf eine Karte reduziert hatte, kommunizierte er nur noch hin und wieder mit ihr. Natürlich vermisste sie die Zankereien mit ihm, die sie immer verlor, nur ganz unbedeutend wenig, so wenig, wie sie früher Valerie Redfield gemocht hatte – möge der Teufel sie aus ihrer piekfeinen Uni in Florida zu sich holen!

Dennoch hatte Anya sich so an Levriers ständige Nähe gewöhnt gehabt und auch jetzt, fast sieben Monate nach dem Erscheinen des Turms von Neo Babylon, fehlte einfach etwas. Und das lag nicht nur daran, dass die Incarnation-Monster von ihr, Valerie, Marc, Matt, Alastair und Henry fort waren. Nicht länger in dieses ganze Wirrwarr rund um Eden, Dämonen und Nicht-Dämonen und dem ganzen Quatsch verwickelt zu sein, war einfach …

Na schön, sie gab es ja ehrlich zu, es war in Wirklichkeit langweilig! In einem Kartenladen zu arbeiten war im Vergleich dazu, sich mit Dämonen zu bekämpfen, einfach nur öde.

 

Anya griff nach ihrer Hosentasche und zog ihr Deck daraus hervor. Die oberste Karte war [Gem-Knight Pearl]. Er war alles, was noch von Levrier geblieben war. Gäbe es ihn nicht, würde Anya jetzt vermutlich mit dem Gedanken leben, sie sei nicht mehr ganz knusper im Oberstübchen. Aber so wurde sie immer daran erinnert, dass damals alles real gewesen war.

Leider erschien Levrier nur selten in Pearls Antlitz, da er laut eigenen Aussagen Energie sparen beziehungsweise sammeln musste, um in der materiellen Welt zu erscheinen. Das war der Grund, warum sie ihr Kontakt miteinander nur noch auf Sparflamme lief.

 

„Fühlst du dich nicht gut?“

Erschrocken wirbelte Anya um und sah am Ende des Regals Mr. Palmer stehen, einen dunkelhäutigen, kräftigen Mann, dessen Haare und Bart bereits weiß wie Schnee anmuteten, obwohl er gar nicht so alt war.

„Nimm dir den Rest des Tages frei“, meinte er gleichmütig. „Ist heute eh nicht viel los und seit du da bist, kommen sowieso kaum noch Kunden.“

Grimmig verzog Anya das Gesicht. „Mir geht’s prima, danke! Aber wenn Sie unbedingt meinen, klar, zu 'nem freien Nachmittag sag ich doch nicht nein!“

Mit herausgestreckter Brust zog sie betont lässig an ihm vorbei und spürte doch immer noch flüchtig das Kneifen und Stechen, welches ihren ganzen Körper durchzog. Aber das würde sich wieder geben, war sicher nur ein Infekt oder ein geklemmter Nerv.

 

~-~-~

 

Missmutig stieg Anya vom Fahrrad. Ihren Führerschein hatte sie leider schon kurz nach dem Erwerb wieder abgeben müssen, weil sie vielleicht ein wenig zu aggressiv gefahren war. Andererseits, war es doch nun wirklich nicht ihre Schuld, dass irgendwelche lahmarschigen Schnecken vor ihr einfach nicht einsehen wollten, dass sie auch mal etwas schneller hätten fahren können!

Da aber alles nichts brachte, musste Anya seitdem längere Strecken per Fahrrad zurücklegen.
 

Sie machte dabei des Öfteren einen Umweg hierher, obwohl der kürzeste Weg nachhause über eine andere Strecke verlief. Was die junge Frau nicht davon abhielt, dennoch die Ruinenlandschaft des alten Schulgeländes zu besuchen. Dort, wo der Turm von Neo Babylon am 11. November des vergangenen Jahres erschienen war und den gesamten Campus samt Schulgebäude vernichtet hatte.

In diesem Turm wäre sie beinahe gestorben. Nein, nicht gestorben, sondern unsterblich geworden – und gefangen in einer Welt, die alle als Albtraum bezeichneten. Den Limbus.

Irgendwie zog sie dieser Ort trotz allem magisch an, vielleicht, weil sie durch ihn immer wieder an all die Kämpfe erinnert wurde, die sie hatte bewältigen müssen.

 

„Eden“, murmelte Anya leise, „was daraus wohl geworden ist?“

Ihr Blick wanderte über das mit hohen Zäunen abgesperrte Gelände, welches seither zu einer Ausgrabungsstätte erkoren worden war. Denn damals hatte die ganze Welt den Turm gesehen, als er für wenige Stunden erschienen war. Seitdem war Livington und insbesondere dieser Ort ein beliebtes Reiseziel für Touristen geworden.

Das weite, erdige Gelände war längst von den Überresten der Schule befreit worden. Stattdessen standen dort nun Container, welche Büros, Lagerräume und allen anderen Schnickschnack für die Forscher bereitstellten. Da die Leute selbst bei Nachtanbruch noch arbeiteten, um die Bruchstücke des Turms zu untersuchen, welchen Anya mithilfe des Dämonenjäger Matts damals in die Luft gesprengt hatte, standen dort auch ein paar spezielle Lampen und anderes Werkzeug herum. Selbst eine Security-Firma war angeheuert worden, damit bloß niemand das Gelände betrat, nachdem die Armee abgezogen war.
 

Anya seufzte. Von Matt und seinem Partner Alastair hatte sie schon lange nichts mehr gehört. Gelegentlich tauschten sie ein paar E-Mails aus, aber da die beiden oft unterwegs waren, ging das nicht so leicht. Immerhin jagten sie Dämonen – hoffentlich nur noch die, die wirklich Scheiße bauten!

Bald zwei Monate war es jetzt her, dass sie sich zuletzt geschrieben hatten.

Und Abby, ihre beste Freundin, studierte seit geraumer Zeit in Oxford. Daher sah sie jene nur noch sehr selten. Dafür telefonierten sie beide wenigstens noch regelmäßig.

Geblieben war ihr im Grunde nur ihr Freund Nick, ein arbeitsloser Volltrottel mit akutem Hirnschwund. Mit ihm traf sie sich am Wochenende regelmäßig, aber als Abby noch dabei war, hatte es wesentlich mehr Spaß gemacht.

 

Die Melancholie mit einem Kopfschütteln verscheuchend, wollte sich Anya gerade auf ihren Drahtesel schwingen, als dem Mädchen ins Auge stach, dass ihr gegenüber auf dem Bürgersteig etwas nicht stimmte.

Ein dunkler Dampf, fast schon Rauch, stieg mitten aus dem Boden.

„'kay“, sagte Anya mäßig beeindruckt, „entweder habe ich gerade Hallus oder wir haben mal wieder ein Problem. Bist du auch so ein Immaterieller, der im Turm eingesperrt war?“

Wäre ja nach Urila nicht der erste, dachte sie dabei grimmig. Das war noch das Beste gewesen, kaum hatte sie Eden überlebt, wollte diese Irre es auf noch viel hinterhältigere Weise öffnen!
 

Ehe Anya jedoch noch einen galligen Spruch loslassen konnte, erhob sich aus dem Nebel eine spiegelnde, dunkle Oberfläche und schoss zwei Meter in die Höhe. Und aus dieser trat einfach mir nichts, dir nichts eine lang gewachsene Gestalt heraus.

„Anya Bauer“, sagte jener Mann, noch bevor sein Gegenüber überhaupt reagieren konnte, „ich bin auf Anliegen meines Meisters hier, um dich zu holen.“

Das Mädchen blinzelte einen Moment verdutzt, ehe sie antwortete.

„Bist du der verdammte Sensenmann oder was soll der Auftritt?“

 

Nun gut, wie der Sensenmann sah er nicht gerade aus. Im Gegenteil.

Er trug einen schwarzen Anzug, unter dem ein weißes Hemd lag. Sogar eine graue Fliege hatte dieser Freak sich umgebunden und sah auf den ersten Blick aus, als wäre er aus einem dieser alten Filme entsprungen. Selbst weiße Handschuhe trug der Kerl. Demnach konnte man ihn beinahe als Klischee eines Butlers bezeichnen, so höflich und korrekt mutete er an.

Wobei sie noch nie einen Butler mit auf dem Millimeter gerade geschnittenem, bis zu den Schultern hängendem, schwarzem Haar und kreisrunder Sonnenbrille gesehen hatte. Genau das machte Anya auch stutzig.

 

„Hey Blassschnute, antworte gefälligst! Bist du ein Dämon? Wenn ja, hast du dir die Falsche zum Quatschen ausgesucht“, raunte sie, lehnte ihr Fahrrad an den hohen Zaun des abgesperrten Geländes und zeigte mit dem Daumen auf ihre Brust. „Mit mir und Dämonen ist das nämlich so'ne Sache, ich-“

„Ich weiß wer du bist“, wiederholte der Mann trocken, „kommst du mit mir?“

Mit einer einladenden Geste wich er zur Seite und deutete zu dieser Art Portal, das immer noch hinter ihm offen stand.

Erste Anzeichen der infernalen Anya Bauer-Premium Wut machten sich in Form zorniger Falten auf der Stirn des Mädchens bemerkbar, nachdem dieser Typ es doch tatsächlich gewagt hatte, sie mitten in ihrer Erklärung hinsichtlich ihres gemischten Verhältnisses zu Dämonen zu unterbrechen.

„Hackt es, oder was!?“, fauchte das Mädchen dementsprechend in ihrer wenig liebreizenden Art. „Ich komm nicht mit! Such dir einen anderen Dummen!“

Aufrecht wie ihr Gegenüber dort stand, schien er sich herzlich wenig von ihren Gebärden beeindrucken zu lassen. „Mein Meister hat mir aufgetragen, dich nicht eher gehen zu lassen, bis du mir folgst. Es ist von äußerster Dringlichkeit.“

„Hörst du schwer!? Ich sagte, ich komme nicht mit!“

 

Anya schnaubte wütend. Was wollte der Kerl überhaupt von ihr?

Hatte ihm seine Mutter denn nicht erzählt, dass man nicht mit Mädchen wie ihr allein weggehen sollte? Und was hieß hier Meister!?
 

„Okay, Laberbacke, nun fang' endlich an zu singen, wenn's sein muss! Wer ist dein Meister und was zum Henker will er von mir?“

Ein ungutes Gefühl beschlich sie nebenbei. Es war wohl keine Kunst darin anzunehmen, dass der Meister dieses Butlerverschnitts auch ein Dämon sein musste. Bloß wer könnte ausgerechnet an ihr Interesse haben?

Andererseits … was, wenn sich die Sache mit dem Turm herumgesprochen hatte? Man konnte sie immerhin als eine kleine Sensation bezeichnen, war sie schließlich dem Fluch des Tores Eden entkommen.

„Das alles wirst du erfahren, wenn du mir folgst“, erklärte der Fremde und ließ dabei den Arm sinken, den er die ganze Zeit einladend Richtung des Portals gehalten hatte. „Eher nicht.“

„Tch! Wenn du glaubst, mich neugierig gemacht zu haben, täuscht du dich!“, schnarrte Anya.

Sie hatte Besseres zu tun, als sich mit Dämonen herum zu ärgern. Zuhause lag noch ein unangerührter First Person Shooter, der dringend aus seiner Verpackung befreit werden wollte. Ödes Leben hin oder her, Zocken ging vor!

 

„Wenn das so ist“, sprach der Mann mit dem glatten, seidigen schwarzen Haar und streckte den Arm jetzt mit geballter Faust aus, „hat mein Meister mir aufgetragen, dich mit Nachdruck zu holen.“

Just in diesem Moment begann der linke Arm zu leuchten, als sich an ihm ein seltsamer Apparat materialisierte. Scheinbar aus tausenden bunten Mosaikteilen zusammengesetzt, ragte eine Duel Disk plötzlich von dort hervor, die ein wenig an einen Vogelflügel erinnerte.

„Ein Duell? Du willst mich durch ein Du-!“

Anyas Spott wurde jäh von einem Fingerschnippen ihres Gegenüber unterbrochen.

Einen Herzschlag später hatte sich ihre Welt in einen rosafarbenen Albtraum verwandelt – denn der Himmel war nicht mehr klar und blau, sondern sah nun aus wie ein Stück aus Barbies Kleiderkollektion. Und damit meinte Anya nicht ihren mit Nägeln, Rasierklingen und anderen scharfen Gegenständen ausgerüsteten Baseballschläger des gleichen Namens.

Irritiert warf sie einen Blick auf die Neubauten zu ihrer Rechten, dann zur Ausgrabungsstätte – die Menschen, Security-Leute, die Autos … alles war verschwunden. Die Straße war noch dieselbe wie vorher, aber irgendwie leer und verlassen. Bis auf Ausnahme dieses Freaks, der war -natürlich- noch da, whoop de-fucking-doo!

 

„Okay, ein Bannkreis“, schloss Anya wenig begeistert, da sie schon in der Vergangenheit das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, in einem eingesperrt gewesen zu sein.

„Korrekt. Du wirst ihn nur verlassen können, wenn du tust, was man dir sagt.“

„Dann“, murmelte sie mit unterdrücktem Zorn und legte langsam ihren geschulterten Rucksack ab, um daraus eine alte Battle City-Duel Disk hervor zu holen, „hast du gerade einen Freibrief in eine Welt voller Schmerzen unterzeichnet, Krümelhirn!“

Mit diesen Worten legte sie das Geschenk ihres Vaters an und reckte taff das Kinn vor. „Wenn du kämpfen willst, nur zu! Eine Anya Bauer kneift nicht.“

„Es ist mir eine Ehre“, erwiderte der in Schwarz gekleidete Butler und ließ mit einem weiteren Fingerschnippen das Portal hinter sich verschwinden.

Anya, welcher man durch solche Tricks schon lange kein „Uh“ oder „Ah“ mehr entlocken konnte, schnaubte ärgerlich. Heute war wirklich ein beschissener Tag!

„Okay, aber bevor wir anfangen, will ich wissen, wie du heißt, Laberbacke!“

„Mein Name lautet … Kyon.“

„Kyon also? Dann zeig mal, wie du mich dazu bringen willst mitzukommen! Duell!“

Auf ihren höhnischen Ruf erwiderte er nichts, sondern ließ nur gemeinsam mit ihr seine Duel Disk hochfahren, wobei in seinem Fall der Flügel ein Stück höher rückte und weitere 'Federn' für die Kartenzonen ausfuhren.

 

[Anya: 4000LP / Kyon: 4000LP]

 

„Als Herausforderer beginne ich das Duell“, bestimmte der Sonnenbrillenträger und zog neben seinem Startblatt von fünf Karten sogleich eine sechste auf. „Mein erstes Monster hört auf den Namen [Spellbook Magician Of Prophecy].“

Unter einem missfallenden Knurren Anyas legte er seine Karte auf eine der Monsterzonen.

Vor ihm gewann dadurch ein etwas kleinwüchsiger, junger Mann Gestalt. Von der blauen Robe an seinem Leib ging ein leichter Schimmer aus, ebenso wie von der gleichfarbigen Haube auf seinem Kopf. Doch er nahm davon keine Notiz, sondern las in dem dicken Wälzer, welchen er bei sich trug.

 

Spellbook Magician Of Prophecy [ATK/500 DEF/400 (2)]

 

„Uh!“, kommentierte Anya seinen Anblick gallig. „Der hat wohl zu lange in Tinkerbells Feenstaub gebadet?“

„Effekt dieses Monsters aktivieren“, setzte Kyon seinen Zug fort, „bei seiner Normalbeschwörung schickt er ein sogenanntes Spellbook, eine besondere Art von Zauberkarte, auf meine Hand.“

Da diese vom Deck kam, zog der junge Mann jenes aus seiner Duel Disk hervor und nahm sich gewählte Karte aufs Blatt, ehe er das Deck wieder im dazugehörigen Schacht positionierte.

„Meine Wahl, [Spellbook Of Secrets], aktiviere ich sogleich. Ihr Effekt ist identisch zu dem meines Magiers.“

Anya blinzelte verdutzt, während das Buch aus der Hand des Knirpses verschwand und kurz darauf ein neues, komischerweise identisches darin auftauchte. Jenes leuchtete blau, fast schon violett, als der Magier darin las.

Gleichzeitig durchsuchte Kyon sein Deck nach einer geeigneten Spellbook-Karte.

Warum tat er das, wunderte sich Anya? Er hätte doch gleich direkt mit seinem Monster nach der Karte suchen können, die er jetzt vorzeigte. Es war ein Spielfeldzauber.

„Wie du siehst, habe ich mich diesmal für [The Grand Spellbook Tower] entschieden. Bevor ich sie aktiviere, setze ich noch eine Karte.“

Der Butler schob erst besagten Zauber in den Zauber- und Fallenkartenslot seiner Flügel-Duel Disk, welcher sich daraufhin vor seinen Füßen materialisierte, ehe das Fach der Spielfeldzauber ausklappte und er seine gewählte Karte dort einlegte.

Die gesamte Umgebung veränderte sich schlagartig. Auch das letzte bisschen Livington war nun endgültig verschwunden. Stattdessen duellierten die beiden sich nun auf einer Straße, die direkt zu einem riesigen Turm führte, welcher hinter Kyon gefühlt bis in den Himmel ragte. Um ihn kreisten Ringe aus grünlichen Runen, sodass Anya sich unfreiwillig an den Turm von Neo Babylon erinnert fühlte.

„Damit beende ich meinen Zug“, sprach Kyon abschließend, „ich bin gespannt auf deine Antwort darauf, Anya Bauer.“

 

Die runzelte ärgerlich die Stirn, als sie zog.

„Meine Antwort? Die lautete nein, du schwerhöriger Volltrottel!“, keifte sie und führte innerlich einen kleinen Freudentanz ob der gezogenen Karte auf.

Mit diesem Schmierlappen würde sie jetzt den Boden putzen! Und wer Anya Bauer kannte, wusste, dass das mitunter wortwörtlich zu verstehen sein konnte.

„Ich aktiviere meine Zauberkarte [Gem-Knight Fusion]!“, krähte das Mädchen vor lauter Überheblichkeit und hielt besagte Magie mit ausgestrecktem Arm in die Luft.

Sogleich öffnete sich ein Wirbel aus dutzenden, verschiedenfarbigen Edelsteinen über Anya, der zwei Karten in sich aufsog.

„Damit verschmelze ich zwei Monster zu einem neuen, und zwar zu einem Gem-Knight! Für heute stehen [Gem-Knight Sardonyx] und [Kuriboss] auf dem Plan!“, erklärte sie. „Sardonyx, du bist das Gefäß! [Kuriboss], du bist die Seele! Werdet eins! Werdet [Gem-Knight Seraphinite]!“

Für einen kurzen Moment tauchten ein roter Ritter, bewaffnet mit einem gleichfarbigen Morgenstern und ein kleines, braunes Fellknäuel mit Sonnenbrille und grauem Cape auf, welche beide in den Wirbel gezogen wurden. Aus dem strahlte anschließend ein grelles Licht, bis daraus eine Ritterin sprang und sich vor Anya stellte.

Mit gezücktem Degen aus blauem Kristall und gleichfarbigen Umhang, ließ sie keine Zweifel offen, dass sie zum Kampf bereit war.

 

Gem-Knight Seraphinite [ATK/2300 DEF/1400 (5)]

 

„Als Normalbeschwörung“, rief Anya hinterher und knallte ein weiteres Monster auf ihre Duel Disk, „[Gem-Knight Iolite]!“

Was dazu führte, dass vor ihr ein weiterer Ritter die Szene betrat, diesmal in blauer Rüstung und mit einer Klinge in der Hand, welche ganz aus Wasser bestand.

 

Gem-Knight Iolite [ATK/1300 DEF/2000 (4)]

 

„Und weil sie so gut ist, ermöglicht Seraphinite mir gleich noch eine Normalbeschwörung! Duh!“

Schon pfefferte Anya regelrecht ihre vorletzte Handkarte auf die Duel Disk. „Los, [Gem-Knight Sapphire]!“

Noch ein Krieger in saphirblauer Rüstung tauchte vor ihr auf, doch dieser schuf einen Wall aus Eis zwischen sich und möglichen Angreifern.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

Kaum hatte sich das Ritter-Trio um Anya geschart, nahm jene die beiden schwächeren Exemplare und legte sie übereinander. Danach richtete sie sich an Kyon und streckte den Arm in die Höhe. „Und jetzt erschaffe ich das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster geboren! Lerne ihn kennen, den mächtigen Kristalldrachen!“

Unter lautem Getöse öffnete sich ein schwarzes Loch in der Mitte des Spielfeldes. Sapphire und Iolite verwandelten sich in braune Lichtstrahlen, die von dem Wirbel absorbiert wurden, welcher sich danach wiederum schloss.

„Xyz-Summon!“, schrie das Mädchen aus vollem Halse. Der Boden vor ihr brach laut krachend auf, wenngleich es nur eine holographische Darstellung war. „Erscheine, [Kachi Kochi Dragon]!“

Aus dem Spalt hervor trat ein massiver Drache, der tatsächlich mit einer silbrigen, durchsichtigen Kristallschicht bedeckt war. Hohl klang sein mächtiges Brüllen, als er aus dem Asphalt stieg und seine massiven Pranken in jenen bohrte. Zwei braune Lichtkugeln kreisten um ihn.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4} OLU: 2]

 

In einem Zug sowohl ein Fusions- als auch ein Xyz-Monster herausgebracht, dachte Anya stolz und reckte das Kinn vor. „So muss das laufen! Und jetzt volle Power, [Kachi Kochi Dragon]! Primo Sciopero!“

Mit einem Satz stieß der Kristalldrache sich vom Boden ab und stieg in die Luft auf. Anschließend, nachdem er die Hälfte der Strecke zum Feind hinter sich gelassen hatte, steuerte er im Sturzflug auf den Magier zu, holte bereits mit der Pranke aus.

Ein Fingerschnippen genügte, um Kyons verdeckte Karte aufspringen zu lassen.

„[Magical Dimension]“, nannte er sie, während sich sein Zauberbuchexperte aufzulösen begann. „Wenn ich einen Zauberer kontrolliere, erlaubt diese Karte mir, eines meiner Monster zu opfern, um einen anderen von meiner Hand zu beschwören. Zusätzlich zerstört sie dabei eines deiner Monster!“

Da die nächsten drei Ereignisse parallel zueinander abliefen, hatte Anya gewisse Schwierigkeiten, ihnen zu folgen.

Nicht nur zog ihr Drache mitten im Sturzflug die Notbremse, nein, vor Kyon materialisierte sich ein neuer, in violetter Robe gehüllter Magier. Und dieser wedelte sich geradezu abfällig wegschauend mit einem Fächer Luft zu.

Schlimmer war jedoch, dass hinter Seraphinite aus dem Nichts ein goldener, stehender Sarg erschien, der mithilfe von Ketten inmitten eines Gerüsts gehalten wurde. Seine Klappe schwang nach rechts auf, wodurch Seraphinite auf unbekannte Weise in sein Inneres gezogen wurde. Kaum war jene in seinem Inneren gefangen, verschloss er sich wieder von alleine und löste er sich unter einem Schrei der Ritterin auch schon wieder auf.

„Shit!“, fluchte Anya außer sich.

„Mein neuer Prophet hört auf den Namen [Emperor Of Prophecy]“, erklärte Kyon ruhig.

 

Emperor Of Prophecy [ATK/2300 DEF/2000 (5)]

 

„Ach ja!?“, herrschte Anya ihr Gegenüber jedoch ungehalten an und schwang den Arm aus. „Mir doch egal! [Kachi Kochi Dragon], setze den Angriff fort! Primo Sciopero!“

Noch während der Drache wieder zum Sturzflug ansetzte, schob Anya einen Schnellzauber – ihre letzte Handkarte – in die Duel Disk ein.

„Ha! Mal sehen, wie gut dein komischer Zauberfuzzi mit der [Forbidden Lance] umgehen kann!“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde der Fächer des überaus überraschten Kaisers durch einen schlichten, goldenen Speer ersetzt. Und da der Magier die Bedienungsanleitung nicht gelesen hatte, wurde er durch regelmäßige Stromstöße geschockt, die von dem Speer ausgingen.

 

Emperor Of Prophecy [ATK/2300 → 1500 DEF/2000 (5)]

 

Anya gluckste zufrieden in sich hinein.

Diesen Zauber und ein paar weitere Karten hatte sie Caroline Mayfield abgetauscht, die ebenfalls im Einkaufszentrum arbeitete. Die gute Caroline war einst von Abkömmlingen des Dämonen Another, dem Drahtzieher hinter den Ereignissen rund um Eden, besessen gewesen. Dabei hatte sie ein Deck erhalten, was unter anderem die Forbidden-Zauberkarten enthielt.

Da die schüchterne Blonde aber schon lange auf der Suche nach einem Abnehmer für diese Karten war, gruselte sie sich schließlich noch immer vor ihnen, hatte Anya ihr den 'Gefallen' erbracht und sie von den Karten befreit. Und dahinter hatten auch gewiss keine betrügerischen Absichten gesteckt!

Dummerweise hatte die hohle Nuss Caroline die besonders seltene [The Supremacy Sun]-Karte längst für ein Heidengeld auf eBay versteigert. Aber immerhin hatte sie dennoch die ein oder andere nette Karte von ihr bekommen, dachte Anya zufrieden.

So wie diese hier.

 

„[Forbidden Lance] macht ein Monster für einen Zug gegen Zauber- und Fallen immun“, erklärte sie mit ausgestrecktem Oberlehrerzeigefinger, „aber das kostet was! Nämlich 800 Angriffspunkte! Damit kann mein Drache deinen Macker jetzt besiegen! Auf ihn mit Gebrüll!“

Der Butler Kyon sah überrascht auf, wie [Kachi Kochi Dragon] seinen Sturzflug des Verderbens wieder aufnahm und mit nur einem Prankenhieb erreichte, dass sein Magier nun als lebendes Puzzle durchging. Formvollendet explodierte der Kaiser als Höhepunkt dieses Aktes schließlich.

„Kein Kampfschaden?“, stellte der junge Mann verwundert mit einem Blick auf seine Duel Disk fest, da ploppte vor ihm der braune Fellball von eben aus dem Nichts hervor und quietschte in hohen Tönen.

„Kuri, Kuri!“

„[Kuriboss]“, erklärte Anya und zeigte die Karte des Kuriboh-Oberhauptes vor, „hat einen netten Effekt. Er kann Kampfschaden annullieren, wenn er vom Friedhof verbannt wird.“

Ihr Gegner verstand jedoch die Absicht dahinter nicht. „Das war dumm. Meinen Kampfschaden damit zu annullieren, statt später den eigenen … warum?“

„Tja, 600 lausige Lebenspunkte sind es nicht wert geraubt zu werden“, gab sich das Mädchen cool und zuckte lässig mit den Schultern, dabei mit einem bitterbösen Lächeln auf den Lippen, „und weil es natürlich die Sondereffekte von [Kuriboss] auslöst, was sonst? Stoppe ich deinen Kampfschaden, darf ich eine Karte ziehen! Und mehr noch, eines meiner Monster erhält 300 Angriffspunkte!“

Sofort griff das Mädchen nach ihrer Duel Disk und riss ruckartig die oberste Karte von ihrem Deck. Zur selben Zeit glitt der Fellball mit Cape und Sonnenbrille herüber zu Anyas Drachen, welcher direkt vor Kyon verharrte und verschwand quietschend in ihm. Was bewirkte, dass besagter Kristalldrache aufschrie und in weißer Aura aufglühte.

„Prima!“, rief Anya beim Anblick ihrer neuen Karte und griff plötzlich nach dem Xyz-Monster auf ihrer Duel Disk. „Sorry, aber wenn du denkst, dass du so leicht davon kommst, täuscht du dich! Da [Kachi Kochi Dragon] ein Monster im Kampf besiegt hat, kann ich einmal pro Zug eines seiner Xyz-Materialien entfernen …“

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 → 2400 DEF/1300 {4} OLU: 2 → 1]

 

Was sie hiermit tat und es in den Friedhofsschacht schob. Gierig schnappte ihr Drache nach einer der beiden um ihn kreisenden Sphären und verschluckte sie.

„... und ihn dafür noch einmal angreifen lassen! Secondo Sciopero!“

Einen überrumpelten Laut von sich gebend, gelang es Kyon nicht mehr rechtzeitig dem Prankenhieb seines drakonischen Gegenübers auszuweichen. Die Klaue ging wie Butter durch seinen Körper hindurch und Anya verfluchte die Tatsache, dass sie nicht mehr über Levriers Kräfte verfügte, um realen Schaden anzurichten.

 

[Anya: 4000LP / Kyon: 4000LP → 1600LP]

 

„Das war gut“, lobte der Butler sie, nachdem der Drache sich wieder zu seinem herrischen Frauchen zurückgezogen hatte. „Ein exzellenter Treffer.“

Ihren Gegner als „Schleimer!“ titulierend, nahm Anya ihre neugewonnene Handkarte und schob sie in den Slot, der unter dem von [Kachi Kochi Dragon] lag.

„Die setze ich verdeckt“, erklärte sie, wobei sich die Karte vor ihren Füßen materialisierte, „sprich schon mal dein Gebet! Ich mag es nämlich gar nicht, wenn man mir meine One Turn Kills versaut! Zug beendet!“

 

Wortlos zog Kyon auf vier Karten auf und streckte dabei den Arm aus. Der Turm im Hintergrund begann grünlich zu leuchten. „Da auf meinem Friedhof Zauberer liegen, kann ich in meiner Standby Phase ein benutztes Spellbook unter mein Deck legen, um eine Karte zu ziehen.“

Demnach holte er [Spellbook Of Secrets] aus dem Friedhof, schob es unter das Deck und zog wie angekündigt.

Anya hasste dieses Deck jetzt schon.

Umso überraschter war sie anschließend, als Kyon drei Zauberkarten von seiner Hand vorzeigte, welche allesamt weitere dieser komischen Zauberbücher waren. So hießen sie [Spellbook Of Fate], [Spellbook Of Eternity] und [Spellbook Of Wisdom].

„Indem ich drei Spellbooks vorzeige, kann sie von meiner Hand als Spezialbeschwörung beschwören, die [High Priestess Of Prophecy]!“

Vor ihm erhob sich eine wunderschöne, pinkhaarige Zauberin, gekleidet in weißer Robe und gleichfarbigen Stiefeln. Sogar der Hut besaß dieselbe Farbe und Anya musste sich einen fiesen Kommentar bezüglich der von ihm herabhängenden Stoffstreifen mit eingenähten Zaubersprüchen darauf verkneifen, die ihrer Meinung nach verdammt dämlich aussahen.

 

High Priestess Of Prophecy [ATK/2500 DEF/2100 (7)]

 

„Uh!“, entfleuchte es ihr beim Anblick der Angriffspunkte der Hexe. „Nicht gut.“

„Von meiner Hand nun die Zauberkarte [Spellbook Organization]“, sprach Kyon in ruhigem Tonfall weiter und schob den Schnellzauber in seine Duel Disk ein.

Vor ihm tauchten die Abbilder dreier Karten auf, die er mit Bild sehen konnte, wohingegen Anya nur die Rückseite bestaunen durfte. Mit flinken Handbewegungen ordnete der schwarzhaarige Butler sie neu an und erklärte dabei den Effekt: „Die obersten drei Karten meines Decks, oder wahlweise auch die meines Gegners, können damit angesehen und neu arrangiert werden.“

Da er sein eigenes Deck bearbeitete, begann dieses mit einem komplizierten Mischprozess, die obersten drei Karten neu zu sortieren.

„Alles läuft nach meinem Plan“, erklärte Kyon und griff nach seinem Friedhof, „nun erlebe die Fähigkeit der hohen Priesterin. Indem ich ein Spellbook vom Ablagestapel verbanne, zerstört sie eine deiner Karten. Um nicht in eine Falle zu laufen, wähle ich ebendiese auf deiner Spielfeldseite.“

Anya wich einen halben Schritt zurück, als die Magierin ihres Gegners mit einem Händeklatschen ein Buch in ebendiese zauberte und daraus in einer seltsamen Sprache vorzulesen begann. Sogleich tauchten verschiedene, leuchtende Runen um ihre gesetzte Karte auf und fingen an um jene zu tanzen.

„Nicht mit mir!“, fauchte das Mädchen und drückte den Auslöser an ihrer Duel Disk, was ihren Schnellzauber zum Aufspringen brachte. „Ich kette [Forbidden Chalice] an. Sie annulliert eine Runde den Effekt eines Monsters, gibt ihm dafür aber 400 Extraangriffspunkte.“

Die Stirn runzelnd, überlegte Anya angestrengt. Es war sinnlos, jetzt noch den Effekt dieser ollen Schrulle zu negieren und sie noch stärker zu machen. Demnach kam nur ihr eigenes Monster infrage.

„Ziel ist [Kachi Kochi Dragon]“, gab die Blonde daher bestimmend von sich.

Schon tauchte über ihrem Drachen ein kleiner, goldener Kelch mitten in der Luft auf. Er neigte sich wie durch Zauberhand ein Stück nach vorn, um den Wein direkt in das Maul des Kristallungetüms zu schütten, welches seinen Kopf nach oben reckte und gierig den mit scharfen Zähnen bespickten Schlund öffnete. Kaum hatte er den Wein in sich aufgenommen, verschwand der Kelch wieder.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2400 → 2800 DEF/1300 {4} OLU: 1]

 

„Dann ist es sinnlos, einen Angriff zu wagen“, stellte Kyon im Angesicht des gestärkten Monstrums fest und zückte stattdessen eine Zauberkarte. „Daher aktiviere ich [Spellbook Of Eternity], welches mir erlaubt, ein verbanntes Spellbook auf die Hand zu nehmen. Die Wahl fällt auf [Spellbook Organization].“

Und während vor dem langhaarigen Butler ein weißes, leuchtendes Buch auftauchte, verstand Anya den Sinn hinter dieser Aktion nicht. Er hatte doch schon sein Deck neu formiert. Wollte er dasselbe jetzt bei ihr tun, oder warum war er so scharf auf das Ding?

„Ich setze zwei verdeckte Karten“, erklärte Kyon und ließ beide vor seinen Füßen erscheinen. Dabei hatte er seinen Blick jedoch auf seine letzte Handkarte gerichtet. „Alles geschieht zur rechten Zeit unter den richtigen Bedingungen. Damit gebe ich an dich ab, Anya Bauer.“

Bevor das Mädchen sich noch mehr darüber wundern konnte, warum er dieses komische Zauberbuch nicht aktiviert hatte, um ihr Deck umzugestalten, musste sie angewidert den Kopf zur Seite drehen. Denn ganz unverblümt verabschiedete sich ihr Drache von dem wohl doch nicht so köstlichen Wein und würgte ihn wieder hervor.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2800 → 2400 DEF/1300 {4} OLU: 1]

 

Wenig angetan vom reizenden Verhalten ihres Drachen, griff Anya nach ihrem Deck und zog eine neue Karte. Leider musste sie bei deren Anblick feststellen, dass Gott ihr einmal mehr seinen Mittelfinger herausgestreckt hatte.

„Na toll“, murrte sie, „auch das noch.“

Eine Falle. Sie brauchte aber etwas, das sie sofort einsetzen konnte!

Das Mädchen überlegte. Im Grunde blieb ihr keine andere Wahl als zu bluffen und auf ihr Glück zu vertrauen. Denn wenn man bedachte, dass diese pinkhaarige Hexe ihre Karten zerstören konnte, war es unsinnig, nur eine verdeckte Karte auszuspielen. Also besorgte Anya sich einfach eine zweite, um ihren Gegner zusätzlich einzuschüchtern.

„Ich verbanne [Gem-Knight Sapphire] von meinem Friedhof“, erklärte das Mädchen und holte dabei gleich zwei Karten von ihrem Friedhof, „um [Gem-Knight Fusion] von genau dort auf die Hand zu bekommen.“

Damit schob sie ihren Ritter in die hintere Hosentasche ihrer Jeans und fügte ihre Fusionskarte dem Blatt hinzu. Anschließend drehte sie [Kachi Kochi Dragon] auf ihrer Duel Disk widerwillig in die Horizontale, sprich die Verteidigungsposition. Jener versank auf magische Weise im Asphalt, bis nur noch sein Kopf und ein Teil seines Torsos zu sehen war.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2400 DEF/1300 {4} OLU: 1]

 

Das getan, schob sie ihre beiden letzten Handkarten in die Zauber- und Fallenkartenzonen.

„Die zwei Süßen verdeckt“, gab sie mürrisch zum Besten, wobei sich ihre beiden Bluffs vor ihr materialisierten, „Zug beendet. An deiner Stelle wäre ich jetzt vorsichtig mit dem, was ich mache!“

 

„Keine Sorge“, erwiderte Kyon unbehelligt und zog mit einer eleganten Handbewegung seine nächste Karte, „in der Ruhe liegt die Kraft. Ich habe nicht vor, etwas zu überstürzen.“

Hinter ihm leuchteten wieder das ganze [The Grand Spellbook Tower] in grellem, grünem Licht auf.

„Wie schon im letzten Zug, schicke ich [Spellbook Of Eternity] unter mein Deck, um eine weitere Karte zu ziehen.“

Entsprechend seiner Erklärung legte der Butler den verbrauchten Zauber unter sein Deck und zog auf fünf Handkarten auf.

Die mit einem weißen Handschuh bedeckte, rechte Hand einmal schnippen lassend, ließ Kyon sogleich eine seiner verdeckten Karten aufspringen. „Ich aktiviere [Spellbook Organization]. Damit arrangiere ich die obersten drei Deckkarten eines Spielers neu an. Diesmal deines.“

„Oh shit!“, entlockte er Anya damit.

Vor Kyon tauchten die drei Abbilder der Deckkarten des Mädchens auf, welche er mit schnellen Handbewegungen so arrangierte, dass seine Gegnerin minimalen Nutzen daraus ziehen konnte. Als er mit der neuen Reihenfolge zufrieden war, klatschte er zweimal in die Hände, um dies kundzutun.

Schon mischte Anyas Duel Disk die Karten um. Was nur dafür sorgte, dass er von ihr eine obszöne Geste mit geladener Mittelfingerpower erhielt.

„Du bist so tot, Dreckskerl!“, schickte sie begleitend hinterher. „Das ist unfair! Niemand rührt mein Deck an!“

Kyon schmunzelte. „Nicht ich, dein Drache. Ich aktiviere den Effekt von [High Priestess Of Prophecy] und verbanne [Spellbook Organization] von meinem Friedhof, um [Kachi Kochi Dragon] zu vernichten.“

Anya blieben die Worte im Halse stecken, als sie mit ansehen musste, wie diese pinkhaarige Schnepfe wieder aus ihrem Zauberbuch vorlas und diesmal dafür sorgte, dass der Kristalldrache von Innen heraus in tausend Teile auseinander gerissen wurde.

„Oh fuck, was soll das!?“, beklagte sich Anya, die am wenigsten damit gerechnet hatte, dass er sich auf ihr Monster konzentrieren würde, wo er doch zwei gesetzte Karten zur Auswahl hatte.

„Ruhig, aber mit Nachdruck, das ist, was meinen Duellstil ausmacht. Und nun sieh her“, bat er freundlich, aber distanziert und zeigte zwei Zauberkarten von seinem Blatt vor, „ich aktiviere [Spellbook Of Life], wobei ich für diesen Zweck ein weiteres Spellbook von meiner Hand vorzeigen muss. So, wie [Spellbook Of Fate] eines ist.“

Aus dem Friedhof seiner bunten, flügelartigen Duel Disk schoss förmlich der [Spellbook Magician Of Prophecy] heraus, den Kyon nahm und in den Schlitz darunter, die verbannte Zone, schob.

„Diese Karte genehmigt die Reanimation eines Zauberers, wenn ich einen weiteren, gefallenen Zauberer banne. Dabei wird das Wissen des Verbannten an den neu erwachten Zauberer weitergegeben.“

Anya lief ein Schweißtropfen über die Stirn, als neben der pinkhaarigen Magierin ihr Kollege im violetten Gewand mit dem Fächer in der Hand erschien.

 

Emperor Of Prophecy [ATK/2300 DEF/2000 (5 → 7)]

 

„Nur die Stufe hat sich verändert“, murmelte sie. Dann machte es klick. „Du willst doch nicht etwa-!?“

„Doch. Sicherlich wäre es einen Versuch wert, mit meinen Monstern direkte Angriffe auf deine Lebenspunkte zu wagen“, sagte Kyon und schob mit dem Zeigefinger seine minimal verrutschte Sonnenbrille zurecht, „aber wie ich sagte, ist mein Duellstil von Geduld und Gründlichkeit geprägt. Daher werde nun Zeuge, wie ich das Overlay Network erschaffe! Aus meinen zwei Stufe 7-Monstern …“

Schnaufend zuckte das Mädchen zusammen, als ihr Gegner den Arm ausstreckte. Zwischen ihnen beiden öffnete sich auf der Straße zum Turm ein schwarzer Wirbel, welcher seine Magierin in einem gelben und den Kaiser in einem violetten Lichtstrahl absorbierte.

„... wird ein Rang 7-Monster! Erhebe dich, oh heiligster aller Zauberweber und teile mit uns deine Weissagung!“

Ein gelbschwarzer Blitz schoss aus dem Wirbel heraus. Doch nicht er war es, der Anya den Atem stocken ließ – es war dieses weinrote Leuchten, das kaum bemerkbar unter dem rechten Ärmel des Butlers hervor schimmerte.

„Das kann nicht sein!“, stammelte sie und hoffte, sich zu täuschen.

„Xyz-Summon! Erscheine, [Hierophant Of Prophecy]!“, nahm Kyon ihren Ausruf jedoch gar nicht wahr.

Begleitet von den Blitzen tauchte aus dem Wirbel ein groß gewachsener Magier hervor. Gekleidet in schwarzer Robe, flatterten unzählige weiße Stoffbänder mit Zaubersprüchen darauf von ihr durch die Luft. Den langen Zauberstab fest umklammert, setzte der schwarzhaarige Hierophant einen strengen Blick auf. Zwei Lichtsphären kreisten um ihn.

 

Hierophant Of Prophecy [ATK/2800 DEF/2600 {7} OLU: 2]

 

Anya verharrte wie gelähmt auf der Stelle.

Das Leuchten von Kyons Arm und dieses Monster! Dieser Kerl stand doch nicht etwa in Pakt mit einem Immateriellen!?

Nein, eine andere Erklärung gab es dafür gar nicht!

Genau wie sie, Valerie Redfield, Marc Butcher, Matt Summers, Henry Ford und Alastair damals, schien er tatsächlich einen Pakt eingegangen zu sein. Aber mit wem!? Bisher hatte sie angenommen, er selbst wäre ein Dämon in menschlicher Gestalt!

 

„Ich aktiviere meine zweite verdeckte Karte [Spellbook Of Wisdom]“, rief Kyon derweil und ließ jene mit einem Fingerschnippen aufspringen, „sie macht einen Zauberer immun vor Magien oder Fallen und es sind letztere, die ich wähle!“

Kurz darauf tauchte vor dem düsteren Propheten ein Zauberbuch auf, welches jener eifrig las, ehe es verschwand. Was Anya jedoch kaum wahrnahm.
 

Isfanel, Another und Urila waren tot. Nun wusste Anya von dem Dämonenjäger Matt, dass nicht nur Immaterielle Pakte schließen konnten, aber sie hatte nie jemanden gesehen, der mit -richtigen- Dämonen einen solchen geschlossen hatte. Dieser Typ, mit wem stand er in Kontakt? Mit seinem Meister?

„Hast du es endlich erkannt, Anya Bauer?“, fragte Kyon und ein geheimnisvolles Lächeln umgab seine Lippen.

Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie redete nicht mit dem Gefäß, sondern demjenigen selbst, der sich jenes Körpers bemächtigt hatte! Nur die Immateriellen sprachen ihre Mitmenschen mit vollem Namen an, so'n Ehrending oder was auch immer!

„Du hast den Typen da besetzt!“, schrie sie ihn an. „Du bist so'n körperloser Freak, oder!?“

„Als Freak würde ich mich nicht bezeichnen. Und nein, dieses Gefäß ist nur eine leere Hülle, denn der wahre Besitzer ist schon lange fort.“

Verächtlich pfiff Anya durch die Zähne. „Als ob! Jeden von euch, den ich bisher kennengelernt habe, war ein mieser Halunke, der einen Scheiß auf seinen Wirt gegeben hat!“

Kyon zuckte immer noch lächelnd mit den Schultern. „Das streite ich nicht ab. Viele meines Volkes sind kompromisslos. Was ich sage entspricht jedoch der Wahrheit.“

„Tch, verarschen kann ich mich auch alleine!“, gab Anya misstrauisch zurück. „Ist mir im Endeffekt auch schnuppe, ich habe nämlich nicht die Absicht, dein Opfer zu retten!“

„Mein 'Opfer'“, sagte er und sprach es mit besonderer Betonung aus, „ist schon lange nicht mehr zu retten.“

 

Plötzlich wandelte sich sein Tonfall und wurde düsterer. „Aber hast du nicht andere Sorgen? Ich aktiviere nämlichen den Effekt von [Hierophant Of Prophecy] und hänge ein Xyz-Material ab!“

Anya knurrte regelrecht vor Wut, weil ihr Böses schwante.

Als der Magier nämlich seinen Stab in die Höhe hielt und damit das Xyz-Material absorbierte, begann seine Waffe grell in grünem Licht zu leuchten.

Kyon erklärte: „Der Hierophant nutzt das Wissen der Vergangenheit und setzt es ein, um die Zukunft zu beeinflussen.“

 

Hierophant Of Prophecy [ATK/2800 DEF/2600 {7} OLU: 2 → 1]
 

„Was soll das heißen!?“, empörte sich seine Gegnerin, die kein Wort verstand. „Red' Klartext!“

„Für jedes Spellbook auf meinem Friedhof wird eine deiner Zauber- oder Fallenkarten zerstört.“

„Uh- Was!?“

Da richtete der elegante Magier seinen Zauberstab bereits schräg nach unten, zielte damit auf Anyas gesetzte Karten. Zwei schwarze Feuerbälle lösten sich von seiner Spitze und schossen wie Kanonenkugeln auf ihre Ziele zu.

Kurz darauf wurde Anya in eine Explosion gehüllt. „Fuck! Und ich dachte, der Idiot würde Schiss vor meinem Bluff haben!“

Der Rauch verzog sich und statt der beiden gesetzten Karten, verharrte nun der Ritter des Saphirs in kniender Position vor Anya und schuf zwischen sich und dem Feind eine Eisbarriere.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

„Ein lausiger Bluff“, kommentierte Kyon das, „aber du hast deine Karte aktiviert, bevor sie vernichtet werden konnte, wie ich sehe.“

Anya schnaubte und schob ihre ehemals gesetzte [Gem-Knight Fusion] sowie die Falle, die sie aktiviert hatte, in den Friedhofsschlitz. „Verdammt richtig, Einstein! [Gem-Knight Barrier] beschwört einen verbannten Gem-Knight in Verteidigung auf mein Feld. Eigentlich wollte ich mir die noch aufheben …“

„Wenn du denkst, dich dadurch schützen zu können, irrst du dich“, sprach ihr Gegner und präsentierte ihr zwischen Mittel- und Zeigefinger seine letzten beiden Handkarten. „Ich aktiviere die zweite Kopie meines [Spellbook Of Secrets] und [Spellbook Of Fate]. Mit dem ersten Buch erhalte ich ein neues von meinem Deck. Für meine Zwecke wähle ich [Spellbook Of Eternity].“

Und als sein Hierophant in dem neu aufgetauchten, blauen Buch in seinen Händen zu lesen begann, zog Anya nebenher die Stirn kraus. Langsam kam sie bei diesen schwachsinnigen Zauberbibeln nicht mehr mit! Dauernd wechselten die vom Friedhof zum Deck, von der Verbannungszone zur Hand und was auch immer! Viel zu kompliziert für ihren Geschmack!

Kaum hatte Kyon sich [Spellbook Of Eternity] aus dem Deck aufs Blatt genommen, erklärte er den Effekt der zweiten aktivierten Karte. „Nun zu [Spellbook Of Fate], das nur unter Zuhilfenahme eines Zauberers aktiviert werden kann. Sein Effekt richtet sich nach der Anzahl an Spellbooks, die ich von meinem Friedhof verbanne.“

„Okay?“, erwiderte Anya skeptisch.

„Bei einem“, sagte er und entledigte sich des [Spellbook Of Wisdom], „zerstört er eine gesetzte Zauber- oder Fallenkarte.“

Sein Hierophant richtete den Zauberstab bedrohlich in die Höhe und absorbierte damit einen Lichtstrahl, der aus Kyons Duel Disk kam.

„Bei zwei hingegen“, sprach dieser weiter und verzichtete auch auf [Spellbook Of Life], „kann er die Position eines Monsters wechseln.“

Wieder nahm der Zauberstab des Hierophanten ein Licht von Kyons Friedhof in sich auf.

„Bei dreien, dem Höhepunkt dieser Macht“, setzte dieser seine Erklärung fort und schob letztlich auch [Spellbook Of Secrets] in den Schlitz unter dem Friedhof, „verbannt er direkt eine deiner Karten. Los!“

Kaum gesagt, wurde vom Zauberstab noch ein dritter Lichtstrahl absorbiert, ehe der Hexer diesen schreiend nach unten riss.

„Crap!“

Über [Gem-Knight Sapphire] tat sich ein merkwürdiges Tor auf, von einem Runenkreis umgeben, und zog den Ritter in sich hinein, ehe es so schnell verschwand wie es gekommen war.

„Nun bist du frei für einen direkten Angriff“, stellte Kyon gleichwohl fest und zeigte mit dem Finger auf sie, „los [Hierophant Of Prophecy], direkter Angriff! Prophecy #5 – Road To The Stars!“

Der Magier hob seinen Zauberstab in die Höhe, dann schwang er ihn in Anyas Richtung und feuerte dutzende, gar hunderte kleiner Lichtsterne auf Anya. Jene hielt ihre Arme schützend über Kreuz und versteckte den Kopf dahinter, als sie von der Salve heimgesucht wurde.

„Argh!“, schrie sie unter Qualen, denn bei jeder Berührung gab es eine winzige Explosion an ihrem Körper. Schließlich wurde sie von der Wucht des Angriffs nach hinten geworfen und landete auf dem Rücken.

 

[Anya: 4000LP → 1200LP / Kyon: 1600LP]

 

„Owwww“, stöhnte sie.

„Mein Meister hat mir aufgetragen, notfalls auch Gewalt anzuwenden. Von daher verzeihe mir bitte für die Brutalität, die ich bedauerlicherweise an den Tag legen muss. Die andere Möglichkeit, nämlich freiwillig mitzukommen, hast du ja ausgeschlagen.“

Hätte sie nicht ihre schwarze Lederjacke angehabt, hätten ihre Arme jetzt jedem Borderline-Patienten imponiert, dachte das Mädchen dabei panisch.

 

Moment – ihre Jacke!

Anya besah mit Schrecken das Resultat des Angriffs. In Fetzen hing das gute Stück ihr von ihren Armen. Das war ihre Lieblingsjacke gewesen. Die, die sie von ihrem Vater zum vierten Geburtstag bekommen hatte, weil sie schon in diesem zarten Alter auf Totenköpfe stand. Es war der letzte Geburtstag gewesen, den sie als Familie gefeiert hatten, alle hatten sich für sie und ihre Jacke gefreut, die sie als Umhang getragen hatte.

 

Langsam rappelte sich das Mädchen auf. Ihre Lider kniff sie dabei so eng zusammen, dass Rasierklingen Schwierigkeiten gehabt hätten, ihren Weg hindurch zu finden. Zwar sah sie dadurch fast nichts mehr, aber das war ohnehin egal.

Denn wäre Anya Bauer ein Stier, hätte Kyon ihr soeben seinen roten Mercedes vorgestellt. Nun war für ihn nur zu hoffen, dass dieses Ding genug PS drauf hatte, denn wenn nicht …

„Du bist so fucking tot, das glaubst du gar nicht“, murmelte sie überraschend beherrscht, „scheiß drauf, dass Kannibalismus verboten ist. Dir werde ich das Herz vor eigenen Augen herausreißen und verspeisen, du mieser Bast-“

„Na na na“, tönte Kyon da mit erhobenem Zeigefinger, „so etwas ist nicht witzig.“

„Ich werd' drüber lachen, während ich deine restlichen Gedärme für später einfriere.“

Der Butler schob sich wieder mit besagtem Finger die kreisrunde Sonnenbrille zurecht. „Eher nicht, denn das Duell habe ich in der Hand. Mit [Spellbook Of Eternity] kann ich auf jede verbannte Spellbook-Karte zugreifen. Ob Life, Wisdom oder sogar Secrets, um mit ihm aus meinem Deck eine passende Antwort für deinen Zug zu finden – den ich im Übrigen bereits kenne – es spielt keine Rolle.“

Ein unheilverkündendes Lächeln huschte so weit über sein Gesicht, dass man seine Mundwinkel am Hinterkopf regelrecht gegeneinander stoßen hören konnte. „Ich habe gewonnen. Denn die Zeit ist auf meiner Seite. Zug beendet.“

 

Sofort griff Anya vor Wut schnaubend nach ihrem Deck, doch zögerte beim Ziehen.

Auf ihrem Feld gab es nichts mehr. Genauso auf ihrer Hand. Die nächste Karte musste der Hammer werden, wenn sie diesem Scheißkerl so richtig in den Arsch treten wollte.

Nur gab es da ein paar kleine – Anya mochte sie eigentlich gar nicht so nennen – Probleme. Dieser verrückte Hierophant-Paktissimus, denn sie war überzeugt davon, dass der die Paktkarte dieses Freaks sein musste, konnte Fallen mühelos beseitigen. Und schlimmer noch, Kyon wusste das und dürfte dementsprechend ihr Deck mit seiner bekloppten [Spellbook Organization] arrangiert haben.

„Tch“, zischte sie ärgerlich.

Wie flexibel dieser Typ war und gleichzeitig wie ein Hellseher die Zukunft sehen konnte, gar selbst in diese eingriff, war erstaunlich! Was sollte sie dagegen tun?

Er wusste, was sie ziehen würde! Dann wusste er tatsächlich, dass er-

 

Könntest du ein wenig Hilfe vertragen, Anya Bauer?

 

Neben dem Mädchen tauchte urplötzlich das durchsichtige Abbild eines großen, weißen Ritters auf. Schlicht wie er war, trug er keinen Umhang. Nur die rot leuchtenden Stellen im Visier seines Helms, das dadurch sehr ungewöhnlich daherkam, gaben ihm etwas Markantes.

Aber dieses Monster, das normalerweise als [Gem-Knight Pearl] bekannt war – eigentlich war es nur Anya und Leuten aus ihrem Umkreis ein Begriff, da Pearl eine Paktkarte und somit einzigartig war – stellte in diesem Fall nur das Erscheinungsbild von Levrier dar, welcher nach der Auflösung seines Paktes mit Anya Bauer mit Pearl verschmolzen war.

 

„Schön, dass du dich auch endlich sehen lässt“, giftete die leise zurück.

Pearl war schließlich nur für sie sichtbar, da Levrier auf gewisse Weise immer noch mit ihr verbunden war.

Wenig liebreizend fragte sie: „Was hast du die ganze Zeit getrieben, während ich mich hier mit diesem lausigen Alucard-Cosplayer 'rumärgern muss!?“

 

Alucard?

 

„Hast du noch nie Hellsing gesehen!?“, gab das Mädchen aufrichtig empört von sich. Dann winkte sie ab. „Ist ja auch egal. Ich geb' es ja nicht gerne zu, aber im Moment sieht es schlecht aus. Hast du einen Plan?“

Ihr Blick fiel dabei auf Kyon, der ruhig verharrte.

Plötzlich sagte dieser: „Du brauchst nicht zu flüstern, ich höre dich und Levrier auch so.“

Daraufhin zuckte das Mädchen zusammen. Denn was er da sagte, war schlichtweg unmöglich!

Anya und Levrier unterhielten sich durch eine Verbindung über Anyas Elysion, der Grenze zwischen materieller und immaterieller Ebene, welche jedem Lebewesen zu eigen war.

Dabei besaß jeder Mensch sein eigenes Elysion, welches einerseits Zugangsort war, um mit Immateriellen in Kontakt zu treten, andererseits auch vor ebenjenen abgeschirmt werden konnte, wenn man nur wusste wie.

Und Anya konnte sich nicht erinnern, Einladungen zu einer Hausparty verteilt zu haben.

„Wieso hört der uns!? Und kennst du diesen Kyon zufällig, oder woher weiß er deinen Namen?“
 

In beiden Fällen muss ich leider sagen, dass ich es nicht weiß – mir ist nie jemand mit seinem Namen begegnet. Vermutlich ist es aber eine besondere Fähigkeit von ihm, die es gestattet, das Elysion entgegen aller Umstände zu durchdringen. Wie du weißt, verfügen Immaterielle über viele mögliche Gaben. Telepathie, Visionen, Illusionen, Schicksalsbeeinflussung …

 

„Ja ja ja, schon klar“, würgte Anya ihren Partner da ab, „ist auch egal, im Endeffekt wird er eh nicht mehr lange etwas davon haben. Denn weil du es gerade erwähnst …“

Sie griff wieder mit verkniffenem Blick nach ihrer Duel Disk. „Du könntest da schon etwas für mich tun.“

 

Es wird uns viel Kraft kosten. Und Anya Bauer, wenn ich das so sagen darf, dein Gesundheitszustand ist seit Neuestem besorgniserregend.

 

„Lieber krepiere ich, als mit dem mitzukommen!“, fauchte Anya wütend. „Also los, tu es!“

Kyons Mundwinkel zuckten kurz.

 

Wie du willst, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.

 

Schnaubend stellte Anya klar, wie viel sie doch von dieser Warnung hielt.

Dann schloss sie die Augen und spürte sie. Diese Kraft, die in ihr pulsierte. Warm, nein heiß wie Feuer, glühten die Überreste des Paktes in ihr.

„Ha“, schrie sie, wobei ihre ganze Hand an der Duel Disk in weißem Licht aufging, „jetzt kommt der Gegenangriff! Draw!“

Sie sah sie, die eine rettende Karte vor ihrem inneren Auge. Das Netz der Pfade des Schicksals veränderte sich, das spürte sie, während sie ausholend zog. Es war, als würde sie selbst das Labyrinth der Zukunft durchwandern, nein, bestimmen, wo welcher Gang platziert wurde!

Das Licht von ihrer Hand war auf die Karte zwischen ihren Fingern übergegangen. Ein neuer Pfad war dank Levrier entstanden!

 

Plötzlich zwang ein fürchterlicher Schmerz in ihrer Brust sie dazu, beinahe vorne über zu kippen. Keuchend hielt sie sich die nahezu pochende Stelle.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Kyon, allerdings ohne besondere Sorge in der Stimme. „Mein Meister könnte es richten.“

„Scheiß auf deinen Meister!“, fauchte Anya und richtete sich wieder auf. „Der kann sich schon mal nach einem neuen Versager umschauen!“

Ohne nachzusehen, was sie gezogen hatte, knallte sie die Karte auf die Duel Disk. „Erscheine, [Gem-Knight Turquoise]!“

„Nicht die Karte, die ich bestimmt habe“, stellte Kyon fest und hielt sich dabei mit einer Hand das Kinn. „Das überrascht mich tatsächlich. Ich hätte nicht gedacht, dass Levrier noch über so viel Macht verfügt.“

Anya missfiel die Art zutiefst, wie er das aussprach. Als würde es ihn nicht im Geringsten stören.

Dennoch ließ sie sich nicht davon beirren und griff nach ihrem Friedhof. Gleichzeitig tauchte vor ihr ein Ritter in hellblauer Rüstung auf. In diese eingelassen waren an Armen und Beinen feingeschliffene Türkise. Der Krieger spannte bereits seinen Bogen, bereit zum Angriff.

 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]

 

Schwungvoll zog Anya die [Gem-Knight Fusion] von ihrem Ablagestapel und rief: „Indem ich einen Gem-Knight vom Friedhof verbanne, erhalte ich sie zurück auf die Hand!“

Sprachs und zeigte zudem [Gem-Knight Iolite] vor, welcher dafür herhalten sollte.

„Und dank Turquoises Effekt kann ich [Gem-Knight Fusion] abwerfen, um einen verbannten Gem-Knight zu beschwören. Und welcher wäre da besser geeignet als Iolite? Erscheine!“

Das gesagt, knallte sie die Karte des Ritters auf ihre Duel Disk, anstatt sie sich in die Hosentasche, sprich ihre Version der Verbannungszone, zu stecken.

Neben ihrem Bogenschützen materialisierte sich der blaue Ritter mit dem Schwert aus Wasser.
 

Gem-Knight Iolite [ATK/1300 DEF/2000 (4)]

 

„Und jetzt wirst du 'ne ganze, beschissene Legosammlung staunen“, rief Anya und streckte dabei den Arm weit in die Höhe, „ich erschaffe das Overlay Network!“

Vor ihr öffnete sich der schwarze Schlund erneut und saugte ihre beiden Krieger als braune Lichtstrahlen in sich auf.
 

Ist es jetzt Zeit für meinen Auftritt?

 

„Hell yeah“, antwortete Anya mit einem fetten Grinsen auf den Lippen, während ihr Partner neben ihr verschwand, „aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Xyz-Summon! Mach diesen Dreckskerl platt, [Gem-Knight Pearl]!“

Sogleich entstieg aus dem Wirbel der weiße Ritter, der zuvor kurz neben Anya verharrt hatte. Doch anders als zuvor, war er dieses Mal nicht durchsichtig. Stolz verschränkte er die Arme, während zwei braune Lichtsphären um ihn kreisten. Genau wie sieben riesige Perlen, die um ihn schwirrten.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]

 

„Interessante Wahl“, gab Kyon zum Besten.

„Oh das kannst du mir glauben!“ Anya griff unter das Xyz-Monster auf ihrer Duel Disk. „Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, dass mein Pearl keinen Effekt besitzt. Aber dieses kleine Manko wird [Gem-Knight Turquoise] ausgleichen, indem ich ihn und einen anderen Gem-Knight abhänge.“

Das getan, schob Anya die beiden Xyz-Materialmonster in den Friedhofsschlitz. Pearl beziehungsweise Levrier absorbierte die beiden Sphären um ihn mit den Fäusten und begann in einer türkisfarbenen Aura zu leuchten.

„Das bewirkt“, schloss Anya den Kreis mit zusammengekniffenen Augen, „dass Pearls Angriffskraft sich verdoppelt.“

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 5200 DEF/1900 {4} OLU: 2 → 0]

 

Kyon wich einen Schritt zurück. „Das ist-!?“

Den Arm weit ausschwingend, rief Anya triumphierend: „Dein Ende, Sportsfreund! Auf ihn mit Gebrüll, Levrier! Blessed Spheres Of Purity!“
 

Wenn es sein muss.

 

„Und mach ihm ein bisschen Druck, klar!?“, fügte das Mädchen noch fordernd hinterher. „Er soll wissen, mit wem er es zu tun hat! Ich will Rache für meine Jacke!“
 

Ich denke, das weiß er auch so, aber wie du willst …

 

Genau wie sie, schwang Pearl seinen Arm aus und kommandierte damit seine Waffen, die Riesenperlen. Dem Befehl ihres Meisters folgend, schossen sie wie Kanonenkugeln auf den [Hierophant Of Prophecy] zu. Im Flug ragten aus ihnen plötzlich Pfeilspitzen heraus.

Kyon seufzte bitter und zuckte mit den Schultern. „Ich hätte es wissen sollen …“

Damit durchbohrten die Geschosse seinen Magier und brachten ihn dazu, in einer heftigen Druckwelle zu explodieren. Diese war so stark, dass sie den Butler im schwarzen Anzug mitriss und fort schleuderte. Selbst Anya hielt sich die Arme als Schutz vor den Oberkörper, zerrte der heftige Wind doch an ihrer zerfetzten Lederjacke und dem blonden Haar.

„Daaaah!“, schrie Kyon im Flug schmerzvoll.

 

[Anya: 1200LP / Kyon: 1600LP → 0LP]

 

Mit einem heftigem Ruck landete der schwarzhaarige Mann einige Meter von seiner Ursprungsposition entfernt auf dem Rücken.

„Ugh …“, stöhnte er im Liegen.
 

Gleichzeitig lösten sich die Hologramme auf. Der Turm verschwand, die Straße fand zu ihrer alten Erscheinung zurück und die Ausgrabungsstätte sowie die umliegenden Häuser tauchten wieder aus dem Nichts auf.

Nur eines blieb und das war Pearl, der jetzt wieder durchsichtig neben Anya verharrte. Was jedoch nach wie vor fehlte, waren die Bewohner der Stadt.

„Na, was sagst du dazu, Arschgeige!?“, ereiferte sie sich und zeigte ihm die doppelte Ladung Mittelfinger. „Das war für meine Jacke! Mistkerl! Levrier, du warst viel zu soft zu ihm!“

 

Dir ist die Tatsache, dass er deine Jacke zerstört hat, wichtiger als der Fakt, dass er dich zu einem vermutlich hochrangigen Dämonen führen wollte? Anya Bauer, hast du die vergangenen neun Monate über eigentlich irgendetwas gelernt?

 

Levriers aufrichtiger Empörung trotzte das Mädchen mit einem abfälligen Schnaufen. „Du hast ja keine Ahnung.“

 

Derweil richtete sich Kyon langsam wieder auf, bis er wieder kerzengerade stand und sich die Kleidung sauber klopfte.

„Ich muss gestehen“, sagte er dabei unterschwellig brüskiert, „dass das nicht geplant war. Wenn der Meister davon erfährt, habe ich ein Problem. Was bedauerlich ist, denn wie ich ihn kenne, weiß er es schon längst.“

„Wenn du nicht gleich abzischt, dann hast du mit -mir- ein Problem. Und zwar richtig!“ Anya runzelte ärgerlich die Stirn und verschränkte die Arme. „Außerdem kannst du deinem Meister bestellen, dass ich nichts von Pennern kaufe! Er soll sich einen anderen Dummen suchen, für was auch immer!“

Kyon sah nun auf und rückte seine Brille zurecht. „Nun, da ich verloren habe, gebietet es mir allein schon die Ehre, nicht noch einen Versuch der Überzeugung zu starten. Wie du wünscht, ich werde dich nicht länger behelligen. Aber eines solltest du wissen, Anya Bauer.“

„Und das wäre?“, hakte sie desinteressiert nach.

„Dein Leben wird in exakt einhundert Tagen enden“, antwortete Kyon ruhig, aber bestimmt, „und nur mein Meister ist in der Lage, dies zu verhindern.“

„... huh?“
 

Von diesen Worten etwas aus der Bahn gebracht, verstummte das Mädchen. Verdutzt blinzelnd, musste sie das eben Gehörte erst verarbeiten. Denn es geschah äußerst selten, dass jemand ihr mit dem Tode drohte.

Sie würde also in hundert Tagen sterben, was nur Kyons Meister verhindert konnte?

Vollkommener Schwachsinn! Sie war fit wie ein Turnschuh … fast so fit. Aber das bisschen Schmerz, was sie ab und zu verspürte, hatte nichts damit zu tun!

… oder doch?

Vielleicht ging es aber auch gar nicht darum. Könnte es nicht genauso gut jemand auf sie abgesehen haben? Bloß wer wäre so dummdreist? Und warum dann diese exakte Vorhersage von hundert Tagen?

Anya wurde daraus nicht schlau.

 

„Was soll das denn bitteschön heißen?“, fragte sie skeptisch. „Hat deine Kristallkugel ausgespuckt, dass ich's nicht mehr lange machen werde oder was!?“

Auf Kyons Lippen breitete sich ein geradezu siegesgewisses Lächeln aus. Ganz so, als habe er ihr diese Information bis zum Schluss vorenthalten. „Das erfährst du nur, wenn du mir folgst.“

Mit einem Schnippen ließ er hinter sich das schwarze, spiegelnde Nebelportal erscheinen, durch das er zuvor gekommen war. Sich verneigend, deutete er an, dass sie dort hindurch gehen sollte.

Jetzt waren sie wieder beim Anfang angelangt, dachte Anya wütend. „Ich werde nicht-!“

„Deine Schmerzen, die von Tag zu Tag schlimmer werden, sind ein eindeutiges Zeichen“, unterbrach Kyon sie ernst, „sei nicht so dumm und tue sie als Zufall ab. Deine Zeit verrinnt wie im Fluge und wenn du nichts dagegen unternimmst, wirst du binnen drei Monaten tot sein.“

Wütend stampfte das Mädchen auf. „Verarschen kann ich mich auch alleine!“

Also doch eine Krankheit? Von wegen, das war doch nur ein abgekartetes Spiel, um sie zum Mitkommen zu bewegen!

 

Anya Bauer, du solltest das überdenken. Dass er von deinen Schmerzen weiß ist noch unbedenklich, kennen wir das Ausmaß seiner Fähigkeiten nicht. Aber wenn sich mein Verdacht bestätigt, dann ist das keine bloße Lüge.

 

„Du jetzt auch noch!?“ Entrüstet sah Anya den durchsichtigen Ritter neben sich an. „Welcher Verdacht!? Was geht hier überhaupt ab!?“

 

Wir werden es nicht herausfinden, wenn du weiterhin so stur bist.

 

„Exakt“, stimmte Kyon mit ein und schwang wieder einladend den Arm aus, „dies ist deine einzige Chance, die Wahrheit zu erfahren, Anya Bauer.“

„Das ist doch 'ne Falle!“, beklagte das Mädchen sich.

Der Butler schmunzelte vergnügt. „Womöglich? Aber ist das nicht genau der Nervenkitzel, den du so lange vermisst hast?“

 

Das gehört, dachte Anya darüber nach.

Wenn sie jetzt mitging, hieße es, wieder in eine Welt voller Dämonen und Gefahren einzutauchen. Das spürte sie einfach, denn das Besuchen dieses komischen Meisters wäre erst der Anfang.

Sie hatte damals so erbittert um ihr Leben gekämpft, dass sie nicht im Traum daran dachte, es erneut aufs Spiel zu setzen.

Aber was, wenn es keine Lüge war und jenes Leben sich längst in Gefahr befand?

Hundert Tage, bis sie starb. Die Schmerzen. Steckte da wirklich mehr hinter?
 

Mit fragendem Blick richtete sie sich an Levriers Abbild, welcher nach einigem Zögern nickte.

„Also schön“, wandte sie sich damit an Kyon, „ich komme mit.“

„Wunderbar. Ich wusste, du würdest die richtige Wahl treffen.“ Er verbeugte sich vor ihr. „Der Meister erwartet dich, Anya Bauer.“

Das Mädchen ihm gegenüber zückte nur den Stinkefinger. „Fuck off!“

Dann ging sie auf ihn zu.

Als sie beide auf gleicher Höhe standen, blieb das Mädchen stehen. Ohne den gut einen Kopf größeren Mann anzusehen, sondern stur geradeaus starrend, sagte sie ganz leise: „Aber wenn du mich linken willst, dann mach dich schon mal frisch.“

„Mitnichten.“

Damit trat sie in das Portal ein, gefolgt von Kyon.

 

 

Turn 38 – Faces And Facades

Konfrontiert mit einem der mächtigsten Dämonen überhaupt, erfährt Anya, was es mit den geheimnisvollen Worten Kyons auf sich hat. Nicht gewillt, auf die Forderungen seines Meisters einzugehen, verwickelt sie ihn in einen Kampf, der jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen scheint …

Turn 38 - Faces And Facades

Turn 38 – Faces And Facades

 

 

Es fühlte sich an, als wäre Anya einfach nur durch eine Tür gegangen. Kaum hatte sie einen Schritt durch das Portal genommen, stand sie schon an dessen anderem Ende. Neben ihr gesellte sich Kyon, wobei sich das schwarze Loch hinter ihm schloss.

Für einen kurzen Moment musste das Mädchen irritiert blinzeln, denn die plötzliche Dunkelheit hatte sie überrascht. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war nicht sonderlich groß. Sofort fielen ihr zwei Sessel ins Auge, die vor einem knisternden Kaminfeuer standen. Aus edlem, weinroten Stoff gefertigt, den Anya nicht einmal benennen konnte, stellten sie sich mit all den Fransen an ihrem unteren Ende als erstaunlich kitschig heraus.

Der Blick des Mädchens wanderte nach links, wo sie eine Einbauwand mit unzählig vielen Büchern erspähte. Viele schienen ihre besten Zeiten längst hinter sich zu haben und ihr Anblick, gepaart mit dem Kaminfeuer, erklärte vermutlich den muffigen Geruch im Zimmer.

„Meister, ich bin zurück“, sagte Kyon formell.

 

Anya achtete gar nicht auf den dunkelroten Schopf, der über der linken Sessellehne hervorlugte, sondern schielte stattdessen nach rechts. Dort stand ein Schreibtisch – mit zwei seltsamen Gefäßen darauf, die sofort ihre Neugier weckten.

Ohne um Erlaubnis zu fragen, löste sich Anya von Kyon und trat an den Schreibtisch heran.

In einem der zylinderförmigen Behälter schwebte eine leuchtende Sphäre. Anya konnte sich nicht helfen, aber irgendetwas zog sie magisch zu dieser hin. Gerade wollte sie mit dem Finger gegen das Glas tippen, da rief Kyon streng: „Finger weg! Das gehört dem Meister.“

„Tch! Und was ist das, wenn man fragen darf?“, erwiderte sie mürrisch und ließ von dem Behälter ab.

Stattdessen wandte sie sich dem anderen zu, in dem ebenfalls etwas schwebte. Blau leuchtend, war es ein Symbol. Und dazu eins, das Anya verdächtig bekannt vorkam. Ein marineblauer, fünfzackiger Stern, um den zwei blaue Kreise gezogen waren. Das war ein Paktsymbol.

 

„Redfields Pakt!“, schoss die Erkenntnis aus ihr heraus.

Sofort wirbelte sie zu Kyon um, auf das Gefäß zeigend: „Was macht das denn hier!?“

„My my“, ertönte statt einer Antwort Kyons eine Stimme mit markantem, britischem Akzent von einem der beiden Sessel, „wenn das nicht das Mädchen ist, das Edens Fluch entkommen ist? Wie schön, dass du dich entschieden hast, meine Einladung anzunehmen, Anya Bauer.“

„Oh Gott …“, entfleuchte der fassungslosen Anya ein, für ihre Verhältnisse geradezu lascher Kommentar, „... nicht der. Alles nur nicht der.“

 

Denn es gab nur einen Menschen – wobei man wohl davon ausgehen konnte, dass es sich hierbei gewiss nicht um so einen handelte – mit britischem Akzent, den sie kannte.

Der Sammlerdämon!

Seines Zeichens der allwissende Donald Trump der Dämonenwelt. Immer auf sein Auftreten und gute Deals fixiert, verfügte der Collector über Mächte, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen. Gerüchten zufolge, welche direkt vom Dämonenjäger Matt stammten, war er unter den Top 5 der mächtigsten Dämonen dieser Welt.

Und Anya, die schon in der Vergangenheit das Vergnügen mit ihm hatte, war alles andere als begeistert, ihn jetzt wieder zu sehen.

 

„Okay“, stammelte sie etwas verloren, „was sind das da für komische Behälter? Hast du Redfield was getan? Erwartest du jetzt ein Danke dafür? Kriegste aber nicht! Das ist mein Job!“

Ohne sich ihr zuzuwenden, sagte der Sammler belustigt: „Nein nein, das da ist schon eine ganze Weile in meinem Besitz. Nimm doch Platz, dann können wir gleich zum Geschäft kommen. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt. Das heißt, -ich- habe alle Zeit der Welt, meine Liebe.“

„Quatsch keine Opern, Arschgeige“, fauchte Anya zurück, ehe sie überhaupt einen ersten Blick auf den zweifelhaften Gastgeber geworfen hatte, „wenn du nicht sofort anfängst freiwillig zu singen, werde ich dich dazu bringen. Und das Stück werde ich Symphonie der Schmerzen nennen!“
 

Bevor sie überhaupt reagieren konnte, hatte Kyon sie am Arm gepackt und dirigierte sie mit sanfter Bestimmtheit zum freien Sessel.

„Fass mich nochmal an und du bist tot, Scheißkerl!“, fauchte sie dabei, riss sich los und schritt freiwillig unfreiwillig herüber zu dem Kaminfeuer.

Dort saß er, der Sammler, in seinem gewohnten, schwarzen Designeranzug und starrte erfreut zu ihr herauf. Sein dunkelrotes Haar war perfekt nach hinten gegelt, einzig die Narbe an seiner Wange war ein Makel, den er scheinbar an sich duldete. Oder dulden musste, wer wusste das schon so genau?

 

„Nimm doch Platz“, bot er Anya mit einem Schwenk seiner Hand zu dem freien Sessel an.

Widerwillig ließ diese sich in jenen fallen und funkelte böse zu dem Briten herüber.

Dieser hingegen richtete sein höfliches, aber autoritäres Wort an seinen Bediensteten: „Kyon, wir haben einen Gast.“

„Natürlich“, erwiderte dieser mit einer formvollendeten Verbeugung und verließ augenblicklich das Zimmer durch eine Tür im hinteren Teil.

„Kann mir einer endlich sagen, was hier abgeht!?“, verlangte Anya schroff, was für ihre Verhältnisse bereits von außergewöhnlicher Selbstbeherrschung zeugte. „Wo bin ich hier, verdammt nochmal!?“

Der Sammler schmunzelte und starrte nur fasziniert in das Feuer, das vor ihnen im Kamin knisterte.

Die Arme trotzig verschränkend, schielte seine Gesprächspartnerin ihn derart böse an, dass man meinen konnte, sie beim Versuch zu ertappen, dem Sammler allein mit ihrem Blick ein Loch in die Schläfe zu bohren. Ein Unterfangen, das zu Anyas tiefstem Bedauern erfolglos blieb.

Gerade, als ihr Geduldsfaden endgültig zu reißen drohte, drehte der Sammler den Kopf in ihre Richtung und lächelte falsch. „Verzeih mir, ich war gerade etwas in Gedanken versunken. Was sagtest du doch gleich?“

Wenn man davon ausging, dass das folgende Knurren des Mädchens nicht Teil der Antwort war, konnte man unter dem imaginären Wutschaum so etwas vernehmen wie: „Wo-bin-ich!?“

„In meiner Villa in Hollow City natürlich“, antwortete der Sammler ganz lapidar, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. „Du musst entschuldigen, dass ich dich so plötzlich zu mir beordert habe. Aber wie Kyon dir bereits mitgeteilt hat, läuft die Zeit ab. Deine Zeit, um genau zu sein.“

 

Als Anya jedoch gerade diesen Wortlaut unter inflationärem Gebrauch von Drohgebärden und Schimpfwörtern noch einmal erfragen wollte, kam Kyon wieder in das kleine Arbeitszimmer. In den Händen hielt der dabei ein Silbertablett, auf dem zwei gut gefüllte Weingläser standen.

An seinen Herrn und das Mädchen herantretend, reichte er erst dem Sammler sein Glas, ehe er Anya das ihre anbot. Prompt stieß sie es mit dem Handrücken um, sodass der Inhalt sich auf dem Tablett ergoss. Wer in diesem Moment genau hinhörte, hatte das entsetzte Seufzen des Collectors vernommen.

„Von euch will ich nichts zu trinken, ist bestimmt vergiftet!“, fauchte Anya.

„Verzeihung“, bat Kyon steif, entfernte sich von den beiden und begann im Hintergrund damit, das Tablett zu balancieren, damit bloß kein Tropfen den Boden berührte.

„Wie ich sehe“, stellte der rothaarige Brite ebenfalls nicht sonderlich angetan von der Geste fest, „hat sich an deinem Benehmen nicht sonderlich viel getan, seit unserem letzten Treffen. Wie äußerst bedauerlich.“

„Hey!“, raunte Anya allerdings nur, was wohl den Versuch einer Rechtfertigung darstellen sollte. „Mir nichts, dir nichts taucht dein komischer Butler auf, schleppt mich hierher, nur damit ich ausgerechnet dich hier treffe! Und warum? Weil ich sonst angeblich in 100 Tagen hopps gehe! Meine Laune ist also nicht gerade die beste!“

Der Sammler nickte. „Das ist verständlich, aber dennoch dulde ich ein solches Benehmen nicht in meiner Gegenwart. Hättest du das Glas nicht wenigstens …“

„Nein!“, schnitt sie ihm das Wort ab.

 

Anya hatte sich richtig in Rage gesteigert, seit sie erkannt hatte, in wessen Arme sie gelaufen war. Wenn er sie schon hier haben wollte, dann sollte er jede verdammte Minute davon bereuen. Denn sie wusste bereits, dass -sie- diejenige sein würde, die am allerwenigsten von dem kommenden Gespräch begeistert sein würde. Da war es ja wohl ihr gutes Recht, ihr Umfeld daran so gut es ging teilhaben zu lassen!
 

„Okay, Laberbacke“, brummte sie, um besagtes Gespräch endlich voran zu treiben, „ich frag nicht nochmal! Was geht hier ab?“

Dabei verschränkte sie wieder abwartend die Arme.

„Du hast recht, genug Smalltalk. Ich mag es, wenn die Leute schnell zum Punkt kommen. Siehst du“, sagte der Sammler und beugte sich mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen vom Sessel aus zu ihr vor, dabei die Hände geschäftsmännisch ineinander faltend „da gibt es etwas, was ich unbedingt haben möchte. Und du bist genau die Richtige für diesen Job.“

„Wieso ich!?“, beklagte sich Anya mit ausgebreiteten Armen.

Das Kaminfeuer beleuchtete nur eine Gesichtshälfte der beiden, warf dafür tiefe Schatten in das kleine Arbeitszimmer.

„Nun, du hast den Test bestanden.“

„Welchen Test?“

Anya konnte sich nicht daran erinnern, jemals an etwas Dergleichen teilgenommen zu haben. Schon gar nicht, wenn der da involviert war.

Der Sammlerdämon lachte vergnügt, auch wenn man kein Genie sein musste, um zu erkennen, dass das lediglich gespielt war. „Na der Turm. Du hast die Herausforderung bestanden. Ein bisschen musste ich helfen, das gebe ich zu, aber du hast dich als äußerst würdig für mein Unterfangen erwiesen. Betrachte es als Ehre.“

„Was!?“, polterte Anya drauf los, die nicht glauben konnte, was sie da gerade vernommen hatte. „Was soll dass heißen, der Turm und Eden waren ein Test!?“

Unbedarft zuckte der Collector mit den Schultern. „Von deiner Warte natürlich nicht, aber von meiner schon. Wie ich schon zu deiner kleinen Freundin damals sagte, war Edens Erwachen für mich an sich völlig unbedeutend. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als ich auf dich aufmerksam wurde.“

„Du elende Ratte!“

 

Anya gefiel ganz und gar nicht, worauf das hinauslaufen könnte. Für den mag das ja nur ein Spiel gewesen sein, aber für sie war es damals ums Überleben gegangen. Was ging im kranken Hirn dieses Spinners vor sich, dass er auch nur auf die Idee kam, das Wort Test in den Mund zu nehmen?

Denn dazu sollte man wissen, dass Anya grundsätzlich alle Arten von Prüfungen hasste – umso mehr wenn Leute involviert waren, die ihr überlegen waren. Was leider viel zu oft der Fall war!

 

„Nun“, sprach der Sammler und schlug dabei ein Bein über das andere, „sagen wir, durch deinen Sieg über Edens Fluch hast du dich für meine Aufgabe qualifiziert. Noch besser: du stehst völlig außer Konkurrenz.“

„Warum sollte ich dir helfen wollen!?“, wollte Anya wissen. „Ich habe nichts mehr mit Dämonen und dem ganzen Kram zu schaffen!“

„Oh, da kommen wir zu dem Punkt, der dich letztlich hierher gelockt hat.“

„Soll heißen?“

Anya wurde mulmig zumute.

Der Sammler nahm dies mit einem Schmunzeln hin. „Kyon spricht die Wahrheit. Dein Leben wird in exakt einhundert Tagen enden. Verantwortlich dafür … bist ganz allein du. Du und deine Gier.“

Als Anya ihn nur verwirrt ansah, seufzte der Sammler künstlich.

„Hast du es schon vergessen? Unser Duell?“
 

Anya versuchte sich zurückzuerinnern. Damals hatte sie den Sammler getroffen, als sie gerade auf der Suche nach Hinweisen war, wie man Eden erwecken konnte.

Er hatte ihr Informationen über verschiedene Dinge zugespielt, allerdings in einem Duell. Mit-
 

„[Scales Of Wisdom]“, sprach der Sammler aus, was Anya dachte. „Meine Zauberkarte von damals. Du hast einen Preis gezahlt, um Wissen von mir zu erhalten.“

„Lebenspunkte“, murmelte Anya leise, „ich habe sie alle aufgegeben, weil ich durch [Scales Of Wisdom] nicht verlieren konnte …“

„Richtig. Allerdings hätte dir klar sein müssen, dass die Dinge nicht so einfach sind, wenn ich dein Gegner bin.“

Unsicher sah das Mädchen auf. „Der Schmerz, den ich nach jeder Frage in meiner Brust gespürt habe. Der immer schlimmer wurde, war das …?“

„Korrekt. [Scales Of Wisdom] verhindert den Tod eines jeden, der sich mit mir duelliert. Allerdings nimmt sie Stück für Stück Leben in sich auf, im Austausch gegen Informationen“, erklärte der Sammler schonungslos, „du hast all deine Lebenspunkte, die Repräsentanten deines Lebens, an mich abgegeben. Mit jedem einzelnen hat sich dein Leben exponentiell verkürzt. Wobei – ganz korrekt ist das nicht, du hast nicht all deine Lebenspunkte aufgegeben. 300 habe ich dir genommen, bevor ich die Karte aktiviert habe.“

„Und die sind …“

„Alles, was von deinem Leben ab dem Zeitpunkt unseres Duells noch übrig war. Der Rest befindet sich in meinem Besitz.“ Was den Sammler dazu brachte, heuchlerisch zu lächeln. „Du hättest ruhig einen Schluck trinken sollen, dann hättest du das sicher besser aufgenommen.“

„Du elender-!“, platzte es dort aus Anya heraus.

Sie sprang aus ihrem Sessel auf und holte mit der Faust zum Schlag aus, konnte sich jedoch mitten in ihrer angespannten Situation nicht mehr rühren. Es war, als hielte der bestimmende, kalte Blick des Sammlers sie fest, als sie ihm so gegenüber stand.

„Es ist wahr, fürchte ich. Genau einhundert Tage noch, bevor du stirbst“, erklärte er ihr abermals und nahm einen genüsslichen Schluck aus seinem Weinglas. „Aber ich bin kein Unmensch. Ich kann dich von deiner Schuld befreien. Wenn du etwas für mich erledigst, nämlich den Auftrag, den ich eben bereits angeschnitten habe. Nichts könnte simpler sein.“

 

Mit einem Mal lockerte sich der unsichtbare Griff um Anya, sodass sie den erhobenen Arm sinken ließ und ihn in einer Mischung aus Abscheu und verzweifelter Wut anstarrte. Die Informationen, die eben auf sie eingeprasselt waren, waren für jemand so einfach gestricktes wie sie zu überrumpelnd, als dass sie sie in ihrer vollen Tragweite und Komplexität bereits erfassen konnte.

 

„Ach ja? Einen Auftrag also?“ Das Mädchen runzelte die Stirn. „Und was hindert mich daran, dir einfach solange die Fresse zu polieren, bis ich meine Lebenskraft zurückhabe!?“

„Die Tatsache, dass ich davon nicht sterben werde?“

Anya winkte geradezu vor Hohn spritzend ab. „Pah, langweilig. Das ist eher ein Nachteil, wenn man bedenkt, mit wem du es zu tun hast!“

„Dann vielleicht die Tatsache, dass du dich in meinem Antlitz nicht einmal rühren kannst, wenn ich es so will?“
 

Was sozusagen das KO-Argument für Anya war. Mit einem Schlag kniff sie die Augen zusammen, dass jene wie kleine, böse blaue Perlen aus ihren Höhlen leuchteten. Er unterschätzte sie wohl maßlos, besonders ihr hervorragend arbeitendes Gedächtnis. Dieses war normalerweise nur für ihre nachtragende Ader gedacht, aber ab und zu speicherte es auch Informationen, die in der Zukunft noch sehr nützlich für die Blonde sein konnten. So wie in diesem Fall.

Jetzt kam sie dazu, endlich die Schwäche des Sammlers auszunutzen!

 

„Ist das alles? Stört mich nicht! Denn mit mir geht es ganz schön“, sagte sie und drückte die Lider noch etwas mehr aufeinander, betonte das nächste Wort geradezu über, „schmutzig zur Sache.“

Der Sammler setzte ein mildes Lächeln auf, wie er sie von seinem Sessel heraus ansah. „Wie süß, du willst meine Bakteriophobie ausnutzen? Das macht mir keine Angst.“

„Ahja!?“, erwiderte Anya gereizt. „Na wenn du meinst?“

Sprachs, zog kurzerhand den Rotz in ihrer Nase hoch und spuckte ihn wie eine Weltmeisterin auf den wertvollen, roten Teppich, der in dem kleinen Arbeitszimmer ausgelegt war. Und sah dann erwartungsvoll zum Sammler, den sie regelrecht erblassen spürte

 

„Kyon!“, schrie dieser nach einer Sekunde des Entsetzens geradezu herzzerreißend. „Mach das weg! Der Schmutz, die Spucke, das -Ding-!“

Er ließ sich schwach in den Sessel zurückfallen. „Oh ich ertrage das nicht … mein Teppich ist ruiniert! Die Stelle besudelt, für immer ein schwarzer Fle-fle-fleck in meinem Haus! Wir müssen umbauen!“

Derweil kam sein Diener, gerade erst zurück von seiner Tablettnummer, mit gezücktem Putzlappen und Reinigungsspray in der Hand und machte Anyas Sauerei bückend sauber. Dabei stöhnte er kaum hörbar.

Die knapp einen Meter sechzig große Blonde genoss das Bild, das sich vor ihr ergab, in allen Zügen. Dabei stemmte sie die Hände in die Hüften. „Ich hab dich gewarnt, Kumpel! Und nun her mit meiner Lebenszeit und zwar dalli!“

 

„Duuuuuuu“, entfleuchte es dem Sammler, der ruckartig aufstand und das Mädchen geradezu hasserfüllt ansah, „du kleines, dreckiges Biest.“

Als Antwort drehte sich Anya um, spuckte auf den Sessel und richtete sich erwartungsvoll an den Sammler. „Ja?“

Die Lippen des besagten Dämons bebten. Vor Zorn oder vor Ekel war dabei nicht eindeutig zu erkennen.

„Dafür zahlst du!“

„Ahja mit was? Meinem Leben? Ohhh, das hast du ja schon!“ Anya sah gar nicht ein, warum sie sich von diesem Dreckskerl einschüchtern lassen sollte. Der würde sowieso mit ihr machen was er will, wenn sie dem keinen Riegel vorschob! „Hör mal, Kumpel! Dass du mich in diesem Duell gelinkt hast ist scheiße, aber ich vergebe dir. Wenn du diesen Mist rückgängig machst!“

„Sonst?“, erfragte der Sammler kalt.

„Mach ich aus deinem Haus“, antwortete Anya und betonte den letzten Teil besonders deutlich, „die Arche Noah für Bazillen. Für jede Art ein eigenes Zimmer.“

„Du drohst mir? In deiner Lage?“

Anya nickte und verschränkte selbstbewusst die Arme. „Mit dir werde ich schon irgendwie fertig. Ach, wenn wir schon dabei sind, Redfield kannst du gleich auch aus ihrem Vertrag mit dir befreien, natürlich ohne Haken.“

Denn Anya wusste, dass Marc Butcher – Valeries Verlobter – sterben würde, wenn der Vertrag aufgelöst wurde. Denn sein Leben, was ausgerechnet Anya ihm einst genommen hatte, lag ebenfalls in den Händen des Sammlers.

 

Anya Bauer, bist du dir deiner Lage überhaupt bewusst!?

 

Levrier tauchte unverblümt neben Anya in [Gem-Knight Pearls] Form auf.

 

Er hat dich vollkommen in der Hand! Du solltest dir erstmal anhören, was er zu sagen hat, bevor du dich weigerst ihm zu helfen oder ihm gar drohst! Ich habe dich damals vor ihm gewarnt! Sei so klug und verschlimmere deine Lage nicht noch!

 

„Schnauze, Levrier!“, raunte Anya jedoch nur.

Sie dachte gar nicht daran, einen auf unterwürfig zu machen. Dieser Bastard vor ihr dachte vermutlich sowieso schon, dass sie sein Spielzeug war, aber da hatte er sich geschnitten! Anya hatte zu viel durchgemacht, um sich noch von irgendjemandem einschüchtern zu lassen.

Wenn der Typ Krieg wollte, sollte er ihn haben. Denn wenn er ihre Hilfe wollte, dann im wahrsten Sinne des Wortes nur über ihre Leiche.

 

Oh nein, ihr Verstand hat ausgesetzt …

 

„Das ist, was ich so an ihr schätze, Levrier“, richtete der Sammler sein Wort an Anyas Partner, ließ das Mädchen jedoch nicht aus den Augen. „Wie ich sehe, werde ich wohl mit Drohungen allein nicht viel ausrichten können.“

„Bingo!“

Sein schwarzes Sakko straffend, seufzte der Sammler. „Bedauerlich, eigentlich wollte ich diese Situation vermeiden. Was schlägst du vor, um sie zu lösen, Anya Bauer? Du wirst einsehen müssen, dass ich kein Interesse daran habe, dich, geschweige denn Valerie Redfield, von den Schulden zu befreien, die ihr bei mir habt.“

 

Anya fasste sich ans Kinn und grübelte.

Dieser Typ wollte für seinen komischen Job sie? Und anscheinend nur sie, sonst hätte jemand mit seiner Macht sie schon längst pulverisiert. Kam also nur sie dafür infrage?

Das war gut! Zumindest ein kleiner Strohhalm, nach dem sie greifen konnte.

Aber wie brachte sie ihn jetzt dazu, nach ihrer Pfeife zu tanzen?

Der Blick des Mädchens wanderte dabei zufällig über ihre Duel Disk.

 

Oh bitte, lass das nicht dein Ernst sein.

 

„Du hast es doch gesagt, Levrier“, erwiderte der Sammler, „ihr Verstand hat ausgesetzt.“

„Hey! Ich will eine Revanche, weil du mich gelinkt hast, klar!? Wenn ich diesmal wieder verliere, fein, dann helfe ich dir. Gewinne ich, dann tust du, was ich dir sage, klar!?“

„Nein“, lautete die knappe Antwort.

„Wie bitte!?“, überschlug sich Anyas Stimme, obwohl sie sehr wohl verstanden hatte, was der Sammler gesagt hatte.

„Nein“, erwiderte er im selben, bestimmenden Tonfall, „dieser Deal ist der Situation unangemessen. Ich habe dich bereits in- NEIN!“

Doch Anyas Finger steckte schon mitten in der Nase und wurde unter einem Grinsen der Besitzerin herausgezogen.

„Komm mir damit nicht zu nahe!“, kreischte der Sammler und wich wie ein verschrecktes Huhn zurück.

Als Anya Anstalten machte, die Bakterien stattdessen am noch unbefleckten Sessel abzuschmieren, brach die eben noch eiserne Entschlossenheit des Sammlers wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

„Okay, ich mach's, ich mach's! Kyoooooooon!“

Der Butler, der die ganze Zeit zwischen ihnen gekniet und Anyas 'Schandfleck' beseitigt hatte, richtete sich auf. „Meister?“

„Meine Duel Disk und mein Deck! Schnell, es geht um Leben und Tod!“

Mit diebischer Zufriedenheit beobachtete Anya den schwarzhaarigen Mann dabei, wie er sichtlich genervt von der Phobie seines Meisters zu einem Schrank lief, daraus einen Koffer holte und wieder zurückkehrte. Nebenbei legte der Sammler sein Sakko ab und offenbarte ein schwarzes Hemd.

Kyon derweil klappte den metallischen Koffer auf. In einer Fassung aus samtenem Polster lagen dort eine schwarze Duel Disk, anscheinend aus derselben Modelllinie wie die Battle City-Disk, und drei durchsichtige Deckboxen. Dadurch konnte Anya jeweils das erste Monster erkennen, das sich im Deck befand. Das Deck ganz links beherbergte [The Fabled Cerburrel], das mittlere [Fabled Raven] und das rechte … lag falsch herum in der Box, sodass Anya nicht erahnen konnte, was sich darin befand.

Was auch nicht weiter wichtig war, als der Sammler sich das mittlere Deck und die Duel Disk schnappte.

„Hör zu, Anya Bauer“, sagte er, während er sich die Duel Disk um den Arm schnallte, „für dich mag das lustig sein, weil du glaubst meine Schwäche zu kennen. Doch ich warne dich, treib es nicht zu weit. Du tätest besser daran, meinen Vorschlag zu akzeptieren.“

„Tch, als ob!“

„Dieses Duell ist sinnlos. Aber wenn du unbedingt wünscht, deine eigene Machtlosigkeit zu demonstrieren, werde ich dir dabei gerne behilflich sein.“

Anya zuckte nur unbedarft mit den Schultern. „Ich bin bisher mit allem fertig geworden, also hör auf Reden zu schwingen!“

„Wie du willst“, antwortete der Sammler steif, „niemand soll mir nachreden, ich wäre unfair meinen Partnern gegenüber. Aber deine Dreistigkeit wirst du noch bitter bereuen – denn egal ob du gewinnst, nachgeben werde ich deiner Forderung nicht. Deine Lebenszeit gehört mir, daran wird sich nichts ändern.“

Sein Gegenüber kniff die Augen zusammen. „Das wollen wir erstmal sehen.“

 

Kurz darauf hatten sie sich im kleinen Arbeitszimmer aufgestellt. Kyon beobachtete alles schweigend von der Seite, wobei er immer wieder interessierte Blicke auf Anya warf. Levrier wiederum war verschwunden, nachdem er erkannt hatte, dass sein Schützling im Berserkermodus leider nicht sonderlich kooperativ war.

Der Sammler seinerseits, mit dem Kamin im Nacken, schien ziemlich mit seiner Beherrschung zu ringen. Es bestand kein Zweifel, dass er diesmal Ernst machen würde.

Aber sollte er nur, dachte Anya, die vor der Tür stand, die aus dem Zimmer führte. Er hatte sie damals reingelegt und so war es nur fair, dass sie diese Chance erhielt. Sie würde nicht verlieren, nicht als jemand, der bereits einmal mit seinem bevorstehenden Tod konfrontiert war!

 

„Ich sage es dir noch einmal im Guten: dieses Duell ist sinnlos“, sprach der Sammler, als er sein ausgewähltes Deck in den passenden Schacht schob, „ich werde mich nicht erweichen lassen, weder deine Lebenszeit, noch Valeries Namen zurückzugeben. Selbst wenn du mich besiegst.“

„Tch, hast du auch andere Sprüche auf Lager?“

Anya funkelte ihn dermaßen böse an, dass ihr berühmter Todesblick wieder einmal regelrechte Löcher in seine Stirn bohrte – leider nach wie vor nur im übertragenen Sinne.

Ihr Plan, der eigentlich nur recht viel Gewalt beinhaltete und zwar mithilfe von [Gem-Knight Pearl] oder wahlweise auch [Gem-Knight Master Diamond], dem anderen Monster in ihrem Deck das realen Schaden verursachen konnte, war zugegeben recht simpel. Und Anya ahnte, dass es den Sammler nicht beeindrucken würde.

Aber was sollte sie sonst tun? Ihr Schicksal einfach hinnehmen? Beim letzten Mal hatte sie sich auch erfolgreich dagegen wehren können, einen Versuch war es also allemal wert!

„Du weichst also nicht von deiner Idee ab“, stellte der Sammler fest, mit einem erstaunlich zufriedenen Unterton, „das gefällt mir zugegebenermaßen. Was ich brauche ist jemand, der hartnäckig bleibt. Also schön, duellieren wir uns.“

„Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nie wieder eine Karte anrühren wollen! Wohlgemerkt, selbst wenn du es wolltest, könntest du es nicht mehr!“, redete Anya sich selbst in Rage.

Der rothaarige Brite lachte aufgesetzt.

Dann riefen sie beide: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Collector: 4000LP]

 

„Ich mach den ersten Zug!“, entschied Anya und riss mit einem Schlag sechs Karten von ihrem Deck.

Eine Falle aus dem Blatt nehmend, schob sie diese anschließend in einen der dafür vorgesehenen Slots ihrer alten Battle City-Duel Disk. „Die verdeckt!“

Kaum hatte sich jene Karte vor ihren Füßen in vergrößerter Form materialisiert, hielt sie schon ihre berühmt berüchtigte [Gem-Knight Fusion]-Zauberkarte zusammen mit zwei Monstern in die Höhe.

„Und jetzt verschmelze ich [Gem-Knight Garnet] und [Gem-Knight Emerald]! Emerald, du bist das Element, Garnet, du der Ursprung! Werdet jetzt zu [Gem-Knight Zirconia]!“

Vor dem Mädchen öffnete sich ein Wirbel aus Edelsteinen und verschlang die durchsichtigen Ebenbilder ihrer Ritter, ehe daraus ein breit gebauter, fast bis an die Decke reichender Krieger vor ihr erschien. Sein Markenzeichen waren die zwei gewaltigen Fäuste, die wie Dampframmen aus dem Namen gebenden Zirkon gemacht waren.

 

Gem-Knight Zirconia [ATK/2900 DEF/2500 (8)]

 

„Ich erinnere mich, die hast du letztes Mal schon eingesetzt. Das ist doch das Geschenk deines Dämonenjägerfreundes. Oder eher sein Bestechungsmittel.“

Anya schnaubte ob der Tatsache, dass der Sammler scheinbar darum wusste, dass sie diese Karte damals von Matt dafür bekommen hatte, eine Zusammenarbeit mit ihm und dem Narbengesicht Alastair einzugehen.

Egal, dieses Monster und ihre Falle würden sie schützen, solange sie selbst noch nicht angreifen konnte.

„Zug beendet“, zischte sie böswillig.
 

Wortlos nahm der Sammler seine nun sechste Karte auf, fügte sie seinem Blatt hinzu und schob mit dem Daumen eine andere daraus hervor, die er dann mit der freien Hand hinauszog.

„Ich aktiviere [Nobleman Of Extermination]“, sagte er seelenruhig und schob die Karte in seine Duel Disk, „damit verbanne ich eine gesetzte Nicht-Monster-Karte. Ist es dabei eine Falle, werden alle weiteren Exemplare von deinem Deck ebenfalls verbannt.“

Anya stieg einen nervösen Seufzer aus, als von der Decke unerwartet ein langes Schwert fiel, ihre [Negate Attack] in der Mitte durchbohrte und mit ihr verschwand.

„Das mag zwar eine Falle gewesen sein, aber weitere Kopien davon besitze ich nicht“, sagte das Mädchen unzufrieden.

Das fing ja toll an! Hoffentlich betrog der Kerl sie nicht klammheimlich!

Allerdings schien der Sammler mit seinen Gedanken ganz woanders, denn er nahm bereits die nächste Karte aus seinem Blatt hervor. „Normalbeschwörung: [Fabled Raven]. Und da ich jetzt ein Fabled-Monster besitze, kann ich [Fabled Grimro] abwerfen, um mir ein neues Fabled-Monster vom Deck zu suchen. Die Wahl fällt auf [Fabled Lurrie].“

Während er, unter einem Regen von schwarzen Federn, nach der genannten Karte in seinem Deck suchte, tauchte vor ihm ein düster wirkender, dämonischer Mann auf, der eine Maske trug, aus der seine Augen rot leuchteten. Die Schwingen an den Unterarmen ließen ihn wortwörtlich wie einen Raben in Menschengestalt wirken.

 

Fabled Raven [ATK/1300 DEF/1000 (2)]

 

Kaum hatte der Sammler seine gewählte Karte dem Blatt hinzugefügt, zeigte er sie schon zusammen mit einem anderen Monster Anya vor. Und das mit derart angewinkelter Hand, dass die Blonde schon darauf hoffte, jene abfallen zu sehen. Selbstredend vergebens.

„Effekt von [Fabled Raven]. Ich kann beliebig viele Karten abwerfen, um für jede seine Stufe und Angriffskraft um eins beziehungsweise 400 zu erhöhen.“

So trennte er sich von den vorgezeigten Monstern. [Fabled Raven] begann in roter Aura aufzuleuchten und lachte höhnisch.
 

Fabled Raven [ATK/1300 → 2100 DEF/1000 (2 → 4)]

 

Ehe Anya einen galligen Kommentar abgeben konnte, tauchte plötzlich neben dem Dämon ein kleinerer, mit ledrigen, schwarzen Flügeln beschwingter Knirps in dunkler Tunika auf. Er mutete wie das Gegenteil dieser Engelchen an, die in vielen historischen Gemälden, meist neben spärlich bekleideten Schönheiten, abgebildet waren. Was ihm immerhin ein paar lausige Sympathiepunkte bei Anya einbrachte.

 

Fabled Lurrie [ATK/200 DEF/400 (1)]
 

Trotzdem fragte die: „Was soll das? Ich dachte, du hast ihn abgeworfen!?“

Der Sammlerdämon schmunzelte vergnügt. „Aber natürlich habe ich das. Und genau deswegen ist er ja zurück.“

„Tch!“

Missmutig beobachtete das Mädchen, wie der Sammler seine verbliebenen beiden Handkarten in die Duel Disk schob und sie jeweils hinter Lurrie und Raven als gesetzte Zauber- oder Fallenkarten erschienen.

„Nun, da ich kein Blatt mehr besitze, kann ich bedenkenlos dies hier tun. Ich stimme den Stufe 4-Empfänger [Fabled Raven] auf das Stufe 1-Monster [Fabled Lurrie] ein.“

Schon zerplatzte Raven in vier grüne Lichtringe, die zusammen mit Lurrie in die Luft stiegen. Dieser verwandelte sich in eine leuchtende Kugel, die besagte Ringe durchquerte.

„Synchro Summon, Stufe 5!“, rief der Sammler ohne einen der sonst weit verbreiteten Beschwörungssprüche von sich zu geben. „Zeig dich, [Fabled Ragin]!“

Ein greller Lichtblitz erfasste den Raum, dann landete mit einem Satz ein Dämon in gold-schwarzer Rüstung und ebenfalls pechschwarzen Schwingen vor ihm. Dieser verschränkte die Arme und starrte Anya mit roten Augen hinter seiner düsteren Maske an.

 

Fabled Ragin [ATK/2300 DEF/1800 (5)]

 

Provokant gähnte Anya, um zu zeigen, was sie von diesem Monster hielt.

Der Sammler seinerseits griff nach dem Deck. „Wenn Ragin als Synchrobeschwörung gerufen wird, ziehe ich solange, bis ich zwei Karten auf meiner Hand halte.“

Da diese gerade leer war, konnte der rothaarige Brite also zweimal nachziehen, was er auch nur allzu gerne tat. Umso überraschender war dann jedoch, dass er diese gezogenen Karten, nämlich [Fabled Oltro] und eine Fallenkarte, die Anya nicht erkennen konnte, gleich auf den Friedhof schickte.

„Vom Friedhof, der Effekt von [Fabled Soulkius]: ich werfe zwei Karten ab und kann ihn aufs Feld rufen.“

Den musste er vorhin mit Ravens Effekt abgeworfen haben, erkannte Anya ärgerlich. Kurz darauf tauchte noch so ein finsterer Dämonenmacker vor ihrem Gegner auf, ebenso mit schwarzen Schwingen, dafür aber als Bonus noch mit langem, geschupptem Schweif versehen.

 

Fabled Soulkius [ATK/2200 DEF/2100 (6)]

 

„Oh toll, ruf nur einen Schwächling nach dem anderen!“, raunte Anya gallig. „Die walze ich alle mit Zirconia nieder!“

„Du unterschätzt mich“, sprach der Sammler mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme, „maßlos sogar. Verdeckte Zauberkarte aktivieren: [Monster Reborn].“

Seine linke verdeckte Karte klappte auf. „Sie reanimiert ein Monster, nämlich [Fabled Raven].“

Anya stöhnte ärgerlich, als sie kurz darauf wieder diesem unheimlichen Federvogelmenschwasauchimmer gegenüber stand, wie sie ihn insgeheim betitelte.

„Ich stimme den Stufe 2-Empfänger [Fabled Raven] auf das Stufe 6-Monster [Fabled Soulkius] ein.“

Das gleiche Spiel von vorn: Raven verwandelte sich in zwei grüne Ringe, die Soulkius durchquerte, was Anya alles andere als behagte.

„Synchro Summon, Stufe 8! Erscheine, [Fabled Valkyrus]!“

Was folgte war ein greller Lichtblitz und schon stand vor dem Sammler ein weiterer beflügelter Dämon. Dieser hier war jedoch etwas größer als seine Mitstreiter und durch seine rot-schwarze Rüstung ebenso edel wie Ragin.

 

Fabled Valkyrus [ATK/2900 DEF/1700 (8)]

 

„Oh shit!“, entfleuchte es Anya schließlich.

„Verdeckte Zauberkarte aktivieren: [Pot Of Avarice]“, rief der Sammler und schwang den Arm über seine zweite gesetzte Karte aus, die daraufhin aufsprang. „Ich mische fünf Monster von meinem Friedhof ins Deck und ziehe zwei Karten.“

Dies tat er schließlich, indem er [Fabled Oltro], [Fabled Raven], [Fabled Grimro], [Fabled Soulkius] und [Fabled Lurrie] vorzeigte, auf das Deck legte und jenes nachmischen ließ, eh er sein Blatt abermals aufstockte.

„Schmutzige kleine Kreatur“, titulierte er Anya, der mittlerweile der Schweiß auf der Stirn geschrieben stand, „bringen wir dir doch ein paar Manieren bei. [Fabled Valkyrus], greife [Gem-Knight Zirconia] an! Nights Hunger!“

Finster lachend, streckte der größere Dämonenmann seine Arme aus und erzeugte mit seinen Schwingen auf magische Weise eine Gruppe von leuchtenden Fledermäusen, die auf Anyas massiven Ritter zugeschossen kamen.

„Falle aktivieren, von meinem Friedhof“, rief der Sammler dabei und zog besagte Karte aus dem Friedhofsschlitz, „[Skill Successor]. Indem ich sie verbanne, erhält Valkyrus für diesen Zug 800 Angriffspunkte.“

Anya traute ihren Ohren kaum.

 

Fabled Valkyrus [ATK/2900 → 3700 DEF/1700 (8)]

 

Die Fledermäuse schossen wie ein Kugelhagel durch ihren Krieger und durchlöcherten ihn regelrecht. Die folgende Explosion war so stark, dass Anya zurückgeworfen wurde und gegen die Tür knallte, die sich hinter ihr befand.

„Ugh!“

 

[Anya: 4000LP → 3200LP / Collector: 4000LP]

 

„[Fabled Ragin], direkter Angriff! Legions Rage!“

Anya konnte sich noch nicht einmal vom ersten Angriff erholen, da sah sie schon einen Laserstrahl aus den Augen des Dämons kommen, der direkt auf sie abzielte. Noch eine Explosion erschütterte die Hallen des Sammlers.

Die Tür wurde aus ihren Angeln gerissen und Anya, direkt in die Brust getroffen, flog mit ihr in den quer zum Zimmer verlaufenden Gang. Auf dem Rücken landend und fast bis zur Wand des Ganges schlitternd, blieb Anya liegen und stöhnte. Sah sie schon nach dem Duell mit Kyon mitgenommen aus, vor allem aufgrund der zerfetzten Lederjacke, machte ihr mit Ruß beschmierter und Schnittwunden übersäter Körper keinen gesunden Eindruck mehr.

„Auuu …“

 

[Anya: 3200LP → 900LP / Collector: 4000LP]

 

Gerade wollte sie sich erheben, da wurde sie unter mächtigem Druck wieder zurück auf den Boden der Tatsachen gepresst.

Anya keuchte schmerzerfüllt auf, als der Schuh des Sammlers auf ihre Brust drückte.

„Was meine Besucher fühlen, suchen, so unendlich begehren“, sprach er dabei leise und sah auf sie herab, „ist mir gleich. Mein Interesse liegt darin, einen Weg zu finden, ihnen diese Dinge zu geben und dafür einen Gegenwert zu erhalten.“

„Du mieser-!“

Bevor Anya auch nur ihren Widerspruch kundtun konnte, schnitt ihr der rothaarige Mann scharf ins Wort.

„Du, die du geradezu gierig nach Antworten deine Hand ausgestreckt hast, ohne darüber nachzudenken woher sie kommen, solltest eines wissen. Als diejenige, die nie selbst nach Antworten gesucht, sondern gewartet hat, bis sie ihren Weg zu dir finden, hast du dein eigenes Schicksal besiegelt. Denn bin ich nicht gekommen und habe dir gegeben, was du begehrtest?“

Stöhnend griff Anya nach seinem Fußgelenk und wollte sich von der Last befreien. Aber ihr Rütteln und Zerren war erfolglos, wie ein tonnenschwerer Stahlträger drückte der Fuß des Sammlers sie nieder.

„Ich wusste nicht-“, presste sie daher leise hervor.

„Du wusstest es. Du hast es gespürt, als die Waagschalen dein Leben in sich aufgenommen haben.“ Es war der Sammler selbst, der den Fuß von ihr nahm. „Deinen Wunsch, noch etwas länger zu leben, Eden zu entkommen, habe ich erfüllt. Auf meine Weise. Und nun fordere ich dafür den wahren Preis ein. Deine Unterstützung gegen dein Leben.“

Sofort sprang Anya auf und wich gleichzeitig einige Schritte von dem Mann zurück, stieß an die gegenüberliegende Wand des Ganges. Sich die schmerzende Stelle haltend, erwiderte sie ungewohnt unsicher: „D-der Kampf ist noch nicht vorbei!“

„Es gab nie einen Kampf. Dieses Duell, du wirst es verlieren. Weil ich es so will. Aber gerne können wir das noch fortsetzen, wenn dich diese Kostprobe meines Könnens immer noch nicht von meiner Überlegenheit überzeugt.“

 

Anya, die in diesem Moment rot sah, wollte sich einfach auf den Sammler stürzen, der durch die zerstörte Tür schritt und dabei war, sich auf seine alte Position zurückzubegeben. Allerdings wurde Anya ein Strich durch die Rechnung gemacht, als sich Kyon ihr in den Weg stellte.

„Davon rate ich dringend ab.“

„Aus dem Weg!“

„Der Sammler hat bereits gewonnen. Du solltest deine Lage nicht noch verschlimmern, Anya Bauer.“

Zischend drängte das Mädchen den Butler mit dem Arm zur Seite, schob sich an ihm vorbei durch den Türrahmen und nahm ebenfalls ihre Duellposition wieder an.

„Mach weiter!“, forderte sie zornig. Noch war sie nicht am Ende!

„Wie du willst“, sprach der Sammler und schob eine Karte in seine Duel Disk. „Ich setze diese hier und beende meinen Zug.“

Die Falle materialisierte sich vor ihm, sodass er seinen Zug mit einer Handkarte abgab.

 

Besagte Falle war noch im Begriff eine vergrößerte Form anzunehmen, da hatte Anya schon schwungvoll gezogen. Das neue Monster ihrem Blatt hinzufügend, nahm sie aus ebenjenem eine Zauberkarte hervor und steckte sie in die Duel Disk.

„Ich aktiviere [Gem-Trade], was nur geht, wenn auf meinem Friedhof [Gem-Knight Fusion] oder etwas Vergleichbares liegt. Damit verbanne ich ein Gem-Knight-Fusionsmonster vom Friedhof und ziehe für jede drei Stufen besagten Monsters eine Karte, muss dafür aber anschließend für jede gezogene Karte auf eine Draw Phase verzichten!“

Nachdem Anya sich ihren Stufe 8-[Gem Knight Zirconia] in die Hosentasche gesteckt hatte, riss sie zwei Karten von ihrem Deck, womit sich nun vier auf ihrer Hand tummelten. Fünf, wenn man bedachte, dass Anya danach wortlos den Effekt von [Gem-Knight Fusion] aktivierte, um [Gem-Knight Emerald] vom Friedhof zu verbannen, damit besagte Zauberkarte wieder den Weg in ihr Blatt fand.

„Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion]! Damit verschmelze ich jetzt [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Obsidian] von meiner Hand zu [Gem-Knight Prismaura]! Und scheiß auf den Beschwörungstext, komm einfach!“

Über der feuereifrigen Anya entstand ein Wirbel aus Edelsteinen, der die Abbilder ihrer beiden Ritter in sich aufsog und anschließend einen neuen, weißen Ritter hervorbrachte, der mit Kristalllanze und Schild bewaffnet vor ihr Stellung bezog.

 

Gem-Knight Prismaura [ATK/2450 DEF/1400 (7)]

 

Allerdings war er nicht der Einzige, der auf dem Feld erschien.

„Wenn [Gem-Knight Obsidian] von der Hand auf den Friedhof wandert, beschwört er von dort ein normales Monster! [Gem-Knight Tourmaline]!“

So geschah es, dass neben Prismaura ein Ritter in goldener Rüstung erschien, welcher zwischen seinen Handflächen Blitze erschuf.
 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Derweil war Anya bereits dabei, [Gem-Knight Obsidian] vom Friedhof zu verbannen, um erneut [Gem-Knight Fusion] zu bergen. Dies getan, verfrachtete sie die Karte mit einem Rums gleich wieder auf den Ablagestapel.

„Effekt von [Gem-Knight Prismaura]! Indem ich eine Gem-Knight-Karte abwerfe, zerstöre ich eine deiner offenen Karten. Bye bye, Fucked Valkyrus!“

Ihr edler Ritter sammelte mit seiner Kristalllanze Energiepartikel, die er in Form eines Strahls auf den größeren der beiden Dämonen abfeuerte. Jener explodierte in einem gequälten Schrei.

„Nicht schlecht“, lobte der Sammler sie anerkennend.

„Keine Sorge, es wird noch viel besser“, raunte Anya.

Nun schon zum dritten Mal in diesem Zug recycelte sie [Gem-Knight Fusion], indem sie [Gem-Knight Garnet] zu seinen Kollegen in die Verbannungszone namens Hosentasche schob.

„Der Spaß fängt jetzt erst richtig an“, rief Anya und hielt die Zauberkarte zusammen mit einer ihrer anderen beiden Handkarten und den beiden Monstern auf ihrer Spielfeldseite in die Höhe. „Ich fusioniere [Gem-Knight Prismaura], [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Alexandrite] zu einer Einheit! Zeit, meinen Plan in die Wege zu leiten.“
 

Das nennst du einen Plan, Anya Bauer? Stupides Draufschlagen? Ich bitte dich, denk nach. Das wird nicht funktionieren, nicht bei jemandem wie ihm!

 

Levriers telepathisch vermittelte Kritik ignorierend, schrie das Mädchen förmlich: „Drei Lichter kreuzen den Weg des Lichts! Körper, Seele und Herz verschmelzen und werden zu der Macht, die in ihrer Reinheit einem Diamanten gleicht! Werdet eins! Werdet [Gem-Knight Master Diamond]!“

Über ihr öffnete sich der Edelsteinwirbel ein weiteres Mal und verschlang ihre drei Monster. Aus dem glitzernden Strom entsprang er dann auch. Der größte, prunkvollste unter den Gem-Knights.

Ein riesiges Breitschwert geschultert, in dessen Klinge sieben farbige Edelsteinen eingelassen waren, erhob sich Diamond in seinem roten Umhang vor Anya. Die freie Hand zu einer Faust geballt, reckte er den Kopf in den Nacken – und ließ besagte Faust in violetten Flammen aufgehen. Genau wie es auch mit Anyas rechter Hand geschah.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 DEF/2500 (9)]
 

„Du gibst also alles, was du zu bieten hast. Ich bin gespannt“, sagte der Sammler gelassen.

„Mir ist es schnuppe, ob ich gewinne oder verliere“, erwiderte Anya und griff nach ihrem Friedhof, „solange ich dir mit Diamond Schmerzen zufügen kann! Und du wirst ihn von seiner besten Seite erleben, denn ich aktiviere seinen Effekt! Indem ich einen Fusionskollegen verbanne, erhält Diamond dessen Effekt bis zur End Phase!“

Ihr Krieger umfasste sein Schwert daraufhin mit beiden Händen und hob es in die Höhe, bis dessen Spitze an die Decke ragte. Mit der Klinge absorbierte er die weiße Seele von [Gem-Knight Prismaura], der in Anyas Hosentasche landete. Kurz darauf begann Diamond in violetter Aura zu glühen.

„Und jetzt pass mal schön auf.“ Anya präsentierte [Gem-Knight Fusion], die sie abermals erhielt, indem sie [Gem-Knight Alexandrite] vom Friedhof verbannte. „Ich werfe die hier ab und nutze damit Prismauras Effekt in Diamonds Gestalt erneut! Los!“

Mit seinem gewaltigen Breitschwert absorbierte ihr Ritter weiße Partikel, die er dann wie einen Laserstrahl auf [Fabled Ragin] abfeuerte. Jener konnte nur noch schreien, als ihn die drauf folgende Explosion zerfetzte. Womit das Feld des Sammlers nun von Monstern getilgt war.

„Noch was: Diamond bekommt für jeden Gem-Knight, der noch auf meinem Friedhof ist, 100 Angriffspunkte als Bonus. Leider liegt dort durch die ganzen Aktionen nur noch Tourmaline, aber das ist nicht so schlimm …“

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 → 3000 DEF/2500 (9)]

 

Anya schloss ihre kleine Erklärung schließlich mit: „... denn jetzt ist Zahltag! Los, Diamond, direkt auf die Lebenspunkte! Shining Wave Breaker!“

Zeitgleich wie ihr Monster das Schwert in einer Halbkreisbewegung schwang, schwang Anya ihre flammende, rechte Hand weit aus. Was in einer gewaltigen Schockwelle resultierte, die auf ihrem Weg den Teppich unter sich förmlich zerfraß und ungebremst auf den Sammler zusteuerte.

„Du willst mich verletzten? Lass dir etwas Besseres einfallen. Verdeckte Falle, [Reanimation Wave]!“

Seine gesetzte Karte klappte auf. Violetter Nebel bildete sich um den Sammler und errichtete ein kuppelförmiges Kraftfeld, an dem Diamonds Attacke einfach abprallte. Zumindest der größte Teil, denn einige glitzernde Lichtklingen schafften es durch die Barriere und erfassten den Sammler – und schossen einfach durch ihn durch, wie gewöhnliche Hologramme.

 

[Anya: 900LP / Collector: 4000LP → 2500LP]

 

„Diese Falle halbiert den erlittenen Schaden und ruft zusätzlich ein Synchromonster aus meinem Friedhof auf das Feld“, erklärte der Sammler. „Erscheine, [Fabled Valkyrus]!“

Anya aber hatte so weit die Augen geöffnet, dass sie drohten, aus den Höhlen zu ploppen. Nichts? Kein Schaden? Nicht ein paar Kratzer, wenigstens ein paar Risse in seinem Anzug? Ja nicht einmal ein Zucken!?

„Ich dreht durch, was soll der Scheiß!? Du hättest längst tot am Boden liegen und verwesen müssen, Dreckskerl!“

„Mitnichten“, wiegelte der aber ab, „hattest du ernsthaft etwas anderes erwartet?“

Geschockt von dem Fehlschlag, sah sich Anya nun dem edlen Dämonenmann gegenüber, der höhnisch lachend die Arme verschränkte.
 

Fabled Valkyrus [ATK/2900 DEF/1700 (8)]

 

„Ich erkenne an, dass du mir Schaden zugefügt hast. Das ist mehr, als ich erwartet hätte. Aber ultimativ ist es doch bedeutungslos“, provozierte der Sammler seine Gegnerin noch weiter.

Anya spuckte förmlich vor Wut. „Ach ja? Ich nenne es 'ein Bein im Grab', denn den nächsten Treffer wirst du nicht so gut wegstecken! Ich spiele diese Karte verdeckt und beende meinen Zug!“

Vor Anya materialisierte sich die gesetzte Falle, mit der sie vorhatte, ihren Gegner nach allen Regeln der Kunst fertig zu machen. Der würde sich wundern!

 

Mit konzentrierter Mimik zog der Collector und betrachtete seine neue Karte. Dann schwang er den Arm aus.

„Ich aktiviere den Effekt von [Fabled Valkyrus]. Für das Abwerfen eines Unterweltlers ziehe ich eine Karte.“

So geschah es, dass er sich von [Fabled Krus] trennte und anschließend von seinem Deck zog. Kaum hatte er dies getan, erklang ein mädchenhaftes, bösartiges Kichern.

„[Fabled Krus'] Effekt aktiviert sich nun. Wird sie abgeworfen, beschwört sie ein Monster aus ihren Reihen vom Friedhof“, erklärte der Sammler und zeigte zwischen Mittel- und Zeigefinger [Fabled Ragin] vor. „Erscheine!“

Aus einer schwarzen Wolke erhob sich der geflügelte Dämonenmann vor seinem Besitzer.

 

Fabled Ragin [ATK/2300 DEF/1800 (5)]

 

Womit alles wieder auf Anfang stand, seine Synchromonster waren zurück. Dieses Mal zog Anya es vor, keine dicke Lippe zu riskieren. Am Ende fiel sie damit nur wieder auf die Nase. Aber solange sie Diamond besaß, das derzeit stärkste Monster auf dem Feld, konnte sie nicht verlieren. Und selbst -wenn- er zerstört wurde, war sie deshalb noch lange nicht am Ende!

„Ich beschwöre von meiner Hand [Fabled Miztoji]“, sprach der Sammler und legte besagtes Monster auf seine schwarze Battle City-Duel Disk.

Vor ihm materialisierte sich ein kleinwüchsiger, glatzköpfiger Dämonenmann, der auf einem Krückstock ging. Aus seinem Rücken ragten verhältnismäßig kleine Schwingen und wie jedes Fabled-Monster trug auch er eine Maske, die in diesem Fall am ehesten einer Pilotenbrille ähnelte.

 

Fabled Miztoji [ATK/400 DEF/200 (2)]

 

„Ich zeige dir, wie weit ich zu gehen imstande bin“, drohte der Sammler mit Unheil verkündendem Unterton. „Ich stimme den Stufe 2-Empfänger [Fabled Miztoji] auf das Stufe 8-Monster [Fabled Valkyrus] ab!“

Der Greis zersprang in zwei grüne Ringe, die sich zur Abwechslung durch die Luft bewegten und um [Fabled Valkyrus] legten, statt wie sonst passiert werden zu müssen. Ein greller Lichtblitz schoss durch sie nach oben, Valkyrus verschwand.

Anya ihrerseits schwante Böses. So hohe Stufen für eine Synchrobeschwörung zu verwenden bedeutete nur Chaos!

„Synchro Summon, Stufe 10! Steige aus der Dunkelheit herab, [Fabled Leviathan]!“

Schwarze Partikel innerhalb der Synchroringe – Überbleibsel Valkyrus' – formten erst einen Thron aus purem Silber, dann die majestätische Gestalt, die darauf saß. Ein gewaltiger Dämonenkönig, dessen rote Schwingen doppelt so breit waren wie die seiner Diener und Generäle. Geradezu blutrot war auch das schulterlange Haar der Kreatur, die hinter der Maske aus gleichfarbigen Augen Anya anstarrte.

 

Fabled Leviathan [ATK/3000 DEF/2000 (10)]

 

„Gleichstark!?“, stammelte Anya. „Oh shit!“

Sie wusste bereits, was der Sammler vorhatte. Und der machte keinen Hehl daraus, zeigte er schließlich mit dem Finger auf ihren [Gem-Knight Master Diamond].

„Sieh zu, wie ich deine Hoffnung vernichte! [Fabled Leviathan], greife ihn an! Final Oblivion!“

Heimtückisch lachend, schlug der König jenes Dämonenstammes ein Bein über das andere, zeigte mit einem Finger auf Diamond und schoss daraus einen roten Laserstrahl ab. Anyas Krieger, der wusste, dass seine Zeit gekommen war, schwang sein Schwert in einer Halbkreisbewegung und warf es auf den Feind. So geschah es, dass sich gleichzeitig ein Loch in Diamonds Brust bohrte, als auch das Schwert Leviathan aufspießte. Doch der lachte nur weiter, als beide explodierten.

„Oh fuck!“, klagte Anya wütend.

Als der Rauch sich lichtete, waren die Monster fort – doch der Sammler hielt plötzlich drei Karten in der Hand.

„In gewisser Hinsicht ist [Fabled Leviathan] unsterblich. Wird er vernichtet, erhalte ich bis zu drei Fabled-Monster von meinem Friedhof auf die Hand. Damit kann ich auch ihn selbst bergen, wobei er sich in dem Fall logischerweise ins Extradeck zurückzieht“, erklärte der Sammler.

So schob er Leviathans Karte zurück in den Schlitz für sein Extradeck, während er [Fabled Miztoji] und [Fabled Krus] zu seiner dritten Handkarte hinzufügte.

Geradezu hasserfüllt starrte Anya den Mann an, als sich die Flamme an ihrer Hand auflöste.

„Es sieht so aus, als hättest du deine eigene Machtlosigkeit bewiesen, Anya Bauer“, sprach der Sammler und streckte den Arm aus, „wie erwartet. Was auch immer, wir sind hier fertig. [Fabled Ragin], direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte. Legions Rage!“

Dem Befehl folgend, schoss der Dämon aus seinen Augen einen roten Laserstrahl.

„Vergiss es, so leicht mache ich's dir nicht, Dreckskerl!“, erwiderte Anya aufgebracht und schwang den Arm aus. „Verdeckte Falle aktivieren, [Return From The Different Dimension]! Für einen Zug beschwört diese Karte so viele meiner verbannten Monster wie nur möglich aufs Feld! Emerald, Garnet, Zirconia, Obsidian, Alexandrite, schützt mich!“

 

[Anya: 900LP → 450LP / Collector: 2500LP]

 

Ein breiter Dimensionsspalt öffnete sich. Hervor traten ein Ritter in blassgrüner Rüstung mit Rundschild am Arm, [Gem-Knight Emerald], einer in Bronzerüstung mit flammenden Händen, [Gem-Knight Garnet], dann natürlich der massive [Gem-Knight Zirconia], ein pechschwarzer Ritter mit riesiger Perlenkette als Waffe, [Gem-Knight Obsidian], und zuletzt ein Ritter in silberner Rüstung, die mit verschiedenen Edelsteinen gespickt war – [Gem-Knight Alexandrite].

Zusammen stellten sie sich schützend vor Anya.

 

Gem-Knight Emerald [ATK/1800 DEF/800 (4)]

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

Gem-Knight Zirconia [ATK/2900 DEF/2500 (8)]

Gem-Knight Obsidian [ATK/1500 DEF/1200 (3)]

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Vergeblich“, denunzierte der Sammler Anyas Gegenreaktion, „selbst wenn du diesen Zug überlebst, was willst du tun? Du kannst nächste Runde keine Karte ziehen, besitzt auch keine auf der Hand oder auf dem Feld, abseits deines temporären Verteidigungswalls.“

Plötzlich schmunzelte Anya böswillig. „Sorry dich enttäuschen zu müssen. Klar, es stimmt, dass meine Ritter am Ende der Runde wieder verschwinden. Allerdings nur die, die durch meine Falle beschworen worden sind.“

Der Sammler legte ein geheimnisvolles Lächeln an den Tag. „Ich verstehe …“

„Ganz recht! Ich aktiviere jetzt [Gem-Knight Emeralds] Effekt! Wenn ich ihn und ein normales Monster wie [Gem-Knight Garnet] verbanne, kann ich ein Gem-Knight-Fusionsmonster reanimieren!“

Anyas rechte Hand ging in lodernden, violetten Flammen auf. „Komm zurück, [Gem-Knight Master Diamond]!“

Emerald warf seinen Rundschild in die Höhe, der über ihm und Garnet zu einem Dimensionsportal wurde. Noch während die beiden Krieger in jenes gezogen wurden, kam ihnen aus dem Tor [Gem-Knight Master Diamond] entgegen, zog an ihnen vorbei und nahm ihren Platz vor Anya ein. Dabei schulterte er stolz sein Breitschwert.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 → 3000 DEF/2500 (9)]

 

„Daran kommst du nicht vorbei!“, raunte Anya stolz.

„Muss ich auch gar nicht. Da es sich um ein Replay handelt, breche ich [Fabled Ragins] Angriff ab und wechsle in die Main Phase 2“, verkündete der Sammler. Dann schob er eine Zauberkarte in seine Duel Disk. „Ich muss dich leider enttäuschen, Anya Bauer. Ob mit oder ohne deine Schlüsselkarte, dein Schicksal war bereits besiegelt. Ich aktiviere [Thunder Short].“

Erschrocken wich Anya zurück, als sich über ihr eine seltsame Verzerrung im Raumgefüge breit machte. Blitze knisterten dort daraus bedrohlich und bewegten sich wie Schlangen in der Anomalie hin und her.

„[Thunder Short] ist ein Zauber, der dir für jedes deiner Monster Schaden zufügt.“ Der Sammler wandte sich mit einem Mal vom Duellgeschehen ab. „Genauer gesagt 400 pro Monster. Lass dir das eine Lehre sein.“

Dann begann es. Ein Blitz nach dem anderen schoss aus der Verzerrung hervor und schlug direkt im Körper des Mädchens ein. Bei jedem der vier Treffer schrie sie qualvoll, sank schon nach kurzer Zeit zu Boden, doch wurde von den elektrischen Entladungen um ihren Körper weiter gefoltert.

 

[Anya: 450LP → 0LP / Collector: 2500LP]

 

Da lag sie nun, geschlagen und gedemütigt am Boden. Selbst jetzt knisterten noch kleine Entladungen um Anya, die regelrecht dampfte von der gnadenlosen Attacke. Nur unter größten Mühen konnte sie ihr Haupt anheben. „Du-!“

Ihr Gegner, der es sich mittlerweile wieder auf seinem Sessel bequem gemacht hatte, sprach ruhig, ja geradezu beschwichtigend auf sie ein. „Keine Sorge, meine Liebe. Wenn du meinen Auftrag erfüllt hast, werde ich dir deine Lebenskraft zurückgeben, so wie du sie mir damals überlassen hast.“

„Ich werde niemals-!“

 

Du hast keine Wahl!

 

Levrier erschien als [Gem-Knight Pearl] kniend neben Anya und sah sie aus seinem emotionslosen, weißen Helm an.

 

Ich fürchte, du hast diesen Kampf endgültig verloren, Anya Bauer …

 

„Levrier hat vollkommen Recht“, sprach der Sammler, der wieder ins Feuer starrte, „so stur du auch sein magst, du wirst einsehen müssen, dass 100 Tage keine lange Zeitspanne ist. Sie wird gerade so reichen, um deine Aufgabe zu erfüllen.“

Anya, die sich mit den Händen gegen den Boden stemmte, ignorierte Kyon, der ihr aufhelfen wollte und kam wackelig auf die Beine.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, kam der Sammler schließlich zum Punkt. „Besagte Aufgabe besteht daraus, sieben Individuen zu suchen und jedem von ihnen einen bestimmten Gegenstand abzunehmen. Wenn du das erfüllt hast, bringst du mir jene sieben Gegenstände.“

„Tch! Und was sollen das für Dinger sein, die ich für dich holen soll? Und wieso kannst du das nicht alleine!?“

„Die Gegenstände“, sprach der Sammler, „haben unterschiedliche Erscheinungsformen, du wirst selbst herausfinden müssen, um was es sich bei ihnen handelt. Um sie zu erhalten, wirst du jedoch Hilfe benötigen. Kyon, überreiche Anya bitte ihre Hilfsmittel.“

Der langhaarige Butler trat neben die Blonde und hielt einen metallischen Koffer in der Hand, der exakt dem glich, in dem schon die Decks und die Duel Disk des Sammlers gelegen hatten. Kyon klappte den Deckel auf, sodass Anya neugierig hinein spähte.

„Handschuhe!?“

Dort lagen sie. Drei paar fingerloser, weißer Handschuhe mit goldenen Nähten.

„Nur mit ihrer Hilfe wirst du die Gegenstände erhalten können. Sobald du das erste Paar anziehst, ist es mit den anderen beiden verbunden“, erklärte Kyon anstelle des Sammlers.

„Warum brauche ich drei?“

„Nun“, antwortete letztlich sein Meister wieder, „ich war so frei, etwas voraus zu planen. In erster Linie sind es Ersatzpaare, aber“, er machte eine Kunstpause, „ich bin mir sicher, dass du auch außerhalb dieses Zwecks Verwendung für sie finden wirst. Denk nur dran, dass alle drei Paare immer noch dir gehören. Mit allen Vor- und Nachteilen.“

 

Könnte das eine Art Zauber sein, für den du der Katalysator bist, Anya Bauer?
 

„Warum fragst du ausgerechnet mich das, Levrier!?“ Das Mädchen hielt sich ihren schlapp herabhängenden, tauben rechten Arm. „Als ob ich davon Ahnung habe!“

„Man kann es so ausdrücken, ja“, erklärte der Sammler, „deswegen ist es von äußerster Wichtigkeit, dass dir nichts geschieht, Anya Bauer. Denn ich will nicht lügen. Deine Aufgabe wird schwer und vor allem gefährlich werden. Also bereite dich gut darauf vor.“

Kyon, der den Koffer abstellte, schritt zu einer Kommode in der Ecke des kleinen Arbeitszimmers und holte aus der Schublade ein Pamphlet, das er anschließend Anya reichte. Die riss es ihm missmutig aus der Hand und warf nur einen kurzen Blick darauf.

„Was ist das!?“

„Wir haben einige Informationen zu den Zielobjekten zusammen getragen. Mit ihnen wird es dir leichter fallen, die sieben gesuchten Personen ausfindig zu machen“, erklärte Kyon.

Anya stemmte ihre linke Hand, welche sie noch fühlen konnte und mit der sie die Papiere hielt, missmutig in die Hüfte. „Das habt ihr euch ja alles schön ausgedacht! Könnt ihr mir wenigstens einen Helfer oder so etwas zur Seite stellen, wenn ich schon dazu gezwungen bin, eure Arbeit zu machen? Ich würde sogar die Pornozwiebel nehmen!“

Der Sammler stöhnte von seinem Sessel aus theatralisch. „Ich fürchte, das geht nicht. Orion ist nicht mehr hier und sein Ersatz, Kyon, ist bereits mit anderen Aufgaben betraut. Du wirst also alleine nach den Sieben suchen müssen.“

 

Dass diese Botschaft bei Anya nicht gerade auf Anklang stieß, ließ sich schon daran erahnen, wie trotzig sie die drei Paar fingerloser Handschuhe aus Kyons Händen riss, welcher sie ihr nun aushändigte.

„Ich glaub das alles nicht …“, murmelte sie dabei leise.

Nein, es lag nicht daran, dass sie ja nur in 100 Tagen sterben könnte. Oder daran, dass sie schon wieder in irgendwelche gefährlichen Dämonenspielchen verstrickt war. Was am allermeisten an Anya nagte war der simple Fakt, dass sie sich von einem Trottel wie dem Sammler herumkommandieren lassen musste!

Wie konnte er es wagen, sie zu linken!? Das musste der doch alles von Anfang an geplant haben, als er ihr das erste Mal über den Weg gelaufen war!

Oh, sie würde ihn-! Eines Tages!

 

„Ich denke, wir sind hier fertig“, sprach der Sammler entspannt, ohne sich Anya vom Sessel aus zuzuwenden, „Kyon wird dich jetzt nachhause begleiten. Falls du Fragen haben solltest, stell sie am besten sofort. Mit uns nachhaltig in Kontakt zu treten ist nicht gerade einfach für jemanden wie dich. Ich gebe nämlich nicht gerne meine Telefonnummer an andere weiter, musst du wissen.“

Anya, erstaunlich gefasst, stellte die einzig für sie relevante Frage. „Muss ich diese sieben Menschen töten?“

„Ha ha … nein. Das wäre sogar sehr … unvorteilhaft. Zumindest solange du noch nicht im Besitz der Gegenstände bist. Deswegen möchte ich dich bitten, behutsam mit ihnen umzugehen.“

Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, atmete Anya innerlich auf. Auf solche Killerspielchen hatte sie wirklich keinen Bock.

„Und wenn ich dir diese sieben Gegenstände bringe, wirst du mich retten? Ohne Haken?“

„Ja. Dein Restleben im Austausch für deine Unterstützung. Das ist der Handel zwischen uns.“

Anya war jedoch noch nicht zufrieden. „Wenn ich das mache, will ich wissen, wofür. Warum willst du diese Dinger haben?“

„Das geht dich nichts an“, gab ihr der Sammler mit einer Entschiedenheit genau die Antwort, mit der sie ohnehin gerechnet hatte. „Tu einfach, was ich dir auftrage, alles andere muss dich nicht kümmern. Und nun geh, du hast nur noch einhundert Tage Zeit.“

Noch während Kyon hinter sich eines dieser Portale öffnete, warf Anya einen hasserfüllten Blick herüber zum Sammler, von dem sie nur dessen rotes Haar hinter dem Sessel erblickte.

Denn wenn er glaubte, damit schon gewonnen zu haben … täuschte er sich. Niemand legte sich mit Anya Bauer an und drohte mit ihrem Leben, niemand!

 

 

Turn 39 – Identity

Entgegen ihrem Willen sieht sich Anya dazu gezwungen, Livington zu verlassen und nach der ersten der sieben Zielpersonen in einer Stadt namens Dice zu suchen. Dazu will sie eine Inszenierung starten, in der sie wegrennt, um niemandem über ihre Lage in Kenntnis setzen zu müssen. Als sie ihrem besten Freund Nick dies beichtet, will er sie unbedingt begleiten. Anya, wenig davon begeistert, wird in ein Duell mit ihm verwickelt, um genau dies zu verhindern. Und schließlich …

Turn 39 - Identity

Turn 39 – Identity

 

 

Mit dem vom Schoßhündchen des Sammlers ausgehändigten Pamphlet in der Hand, lag Anya der Länge nach auf ihrem Bett und nahm nur widerwillig die Informationen über die erste Zielperson in sich auf.

Einhundert Tage hatte sie für dieses Unterfangen Zeit – nein, nur noch 99, wenn man das gestrige Treffen mit ihrem neuen Erzfeind, dem Sammler, und die schlaflose Nacht danach abzog. Wenn er ihr wenigstens das Fahrrad ersetzt hätte, welches ihr an der Ausgrabungsstelle des zerstörten Turms gestohlen wurde, während sie fort war! Aber nein, selbst dazu war er sich zu fein!
 

Eins hatte sich für Anya bereits recht schnell herauskristallisiert. Wo damals zu Zeiten Edens noch Livington der Schauplatz des Geschehens gewesen war, würde sie dieses Mal weitaus weniger Glück haben. Keine der fünf, ja fünf, in den Informationsblättern erwähnten Personen lebte auch nur ansatzweise in der Nähe ihrer Heimat.

Oder noch präziser ausgedrückt: sie tummelten sich -irgendwo- arschweit weg. Denn dummerweise musste dieser Kyon wohl vergessen haben, die Adressen dieser Typen zu vermerken. Das, oder sie waren schlichtweg unbekannt. Denn wie sonst ließ sich erklären, dass gleich beim ersten Zielobjekt stand: 'zuletzt in der Nähe von Dice gesehen'.

Dice … das war eine Stadt, die laut Google etwa 400 km westlich von Livington lag. Praktisch ein Katzensprung für jemanden wie den Sammler, für Anya hingegen totaler Mist. Sie hatte ja nicht einmal mehr ihren verdammten Führerschein!

 

Seufzend schmiss das Mädchen das Pamphlet in die Ecke ihres unordentlichen Zimmers, wo es neben der schwarzen Ledercouch landete.

„Sieben sagt er“, raunte sie verärgert, „warum sind dann nur fünf in dem Mistding erwähnt?“
 

Weil die anderen zwei vermutlich erst noch geboren werden müssen.

 

Gem-Knight Levrier, wie Anya ihn mittlerweile immer öfter nannte, tauchte mit verschränkten Armen vor ihr auf und sah erwartungsvoll auf sie herab.

 

Im Ernst, es ist bedenklich, dass selbst der Sammler nur so wenige Informationen über diese Menschen sammeln konnte.

 

„Ja“, schnarrte Anya sauer, „vom ersten wissen wir nur den Vornamen, den letzten Ort, an dem man ihn gesehen hat und dass er ein verdammter Werwolf ist!“

 

Immerhin hat der Sammler nicht übertrieben damit, dass es gefährlich werden würde.

 

„Über die zweite Person weiß er immerhin besser Bescheid, auch wenn ich das Wort 'Eden' nicht mehr lesen kann. Von der nächsten ist auch nur bekannt, dass sie die ganze Welt bereist und im Dämonenjägerbusiness arbeitet. Nummer 4 und 5 dagegen sind die Einzigen, unter denen ich mir was vorstellen kann.“

Zu denen gab es nämlich konkrete Namen. Immerhin etwas.

 

Und das Beste ist, dass unsere Nummer 5 vermutlich noch die harmloseste aus diesem Haufen darstellt. Zwischen Dämonenjägern, Werwölfen und Bewohnern Edens ist eine Duel Monsters-Weltmeisterin geradezu auffällig gewöhnlich. Bei der vierten Person, dem Adligen, wissen wir nicht, welche Leichen er im Keller vergraben haben könnte.

 

„Egal, mein erstes Ziel ist der Werwolf. Dieser Zanthe!“

 

Wie willst du ihn aufspüren? Geschweige denn stellen?

 

„Darum mache ich mir Gedanken, wenn ich in Dice bin. Laut Kyons Informationen ist es noch nicht lange her, dass man den Typen dort gesehen hat“, meinte Anya gewohnt kopflos, „heißt also, ich muss mir jetzt ein Flugticket besorgen und da hin fliegen.“

 

Worauf sie natürlich überhaupt keine Lust hatte. Geschweige denn sich das leisten konnte. Ja, da war ihr Magerlohn vom Kartenladen, aber das Meiste von dem Geld strich ihre Mutter ein, damit Anya nicht in eine eigene Wohnung ziehen musste.

Außerdem gab es noch ein anderes Problem. Sie konnte schlecht am Wochenende nach Dice fliegen, wenn die Suche nach dem Typen vielleicht Wochen dauern würde. Urlaub nehmen war wegen des Jobs nicht drin – denn Mr. Palmer hatte ihr genau dies strikt untersagt, nachdem sie vielleicht den einen oder anderen Kunden verschreckt hatte.

Nicht, dass das an und für sich ein Problem für Anya darstellte. Aber wie machte sie ihrer Mutter bekömmlich, dass sie keinen Bock mehr auf kleine Rotzgören und Noobs hatte? Die warf sie doch achtkantig raus, wenn Anya mit der Erklärung kam, sie müsse in Dice etwas erledigen!

Ganz zu schweigen davon, dass sie mit der Wahrheit gar nicht erst ankommen brauchte. Denn erstens: wer würde ihr diesen Schwachsinn glauben, zweitens: wie konnte sie das ihrer Mutter verständlich machen, ohne dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitt und drittens: wieso so kompliziert, wenn es auch einfach ging?
 

Sie würde wegrennen und für eine Weile untertauchen. Ja, das war dumm, das wusste sie. Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Wenn sie nichts tat, würde man in drei Monaten einen Feiertag mehr in Livington genießen und das gönnte sie diesen Spießern schlichtweg nicht!

Außerdem hatte ihre Mutter schon Erfahrung mit Anyas gelegentlichen Ausbrüchen von Zuhause, von daher würde sie es vermutlich nur als weitere Trotzreaktion aufnehmen. Und da war es Anya auch egal, dass sie mit 20 Jahren noch so kindliches Verhalten an den Tag legte, solange es zum Erfolg führte.

Natürlich hatte sie deswegen auch Zweifel und ein schlechtes Gewissen, was für Anyas Verhältnisse nun wirklich Anerkennung verlangte. Aber all das war eben ihre Art, die Dinge anzupacken.

 

Stöhnend rollte sie über das Bett und setzte sich letztlich auf dessen Kante.

„Ich brauch Kohle.“

Der einzige Mensch in Livington, der dumm genug war ihr welche zu leihen, hieß Nick Harper. Ihr idiotischer, bester Freund. Nun musste sie beten, dass er genug Geld in seinem Zimmer herumliegen hatte, um die Kosten für Ticket und Unterkunft abzudecken.

 

Eins beschäftigt mich nach wie vor. Warum schickt der Sammler dich, statt diese Aufgabe selbst zu erledigen? Ganz offensichtlich hat er schon lange alles so ausgelegt, dass er dich in der Hand haben würde.

 

Levrier glitt durch das Bett an Anyas Seite.

„Weil ich gut bin?“, erwiderte diese, als wäre es die einzig logische Erklärung.

 

Er ist dir in jeder Hinsicht überlegen. Ich verstehe das nicht …

 

„Ist vollkommen egal, da ich nicht glaube, dass mir dieses Wissen irgendeinen Vorteil bringen würde. Denn wie du sagst, er ist'n bisschen“, es kostete Anya einiges an Überwindung, dies zuzugeben, „besser als ich. Und jetzt muss ich zusehen, Nicks Sparschwein zu plündern, du entschuldigst mich?“

Denn mittlerweile hatten auch die letzten Livingtoner den Schuss gehört und liefen mit Pfefferspray durch die Gegend, sodass Anya nicht riskieren wollte, auf der Suche nach Geld dem Falschen seine Dollarscheine abzunehmen.

 

~-~-~

 

Anya schwor sich, dass wenn Mrs. Harper jetzt die Tür aufmachen und ihr erster Spruch eine Andeutung sein würde, ihren Sohn zu ehelichen, sie leider ausflippen musste. Denn es war schon unentschuldbar genug, dass sie nun schon seit fünf Sekunden auf die Klingel drückte und immer noch niemand die Tür geöffnet hatte!

 

Vielleicht ist niemand zuhause? Andere Menschen haben nicht das Glück, regelmäßig von ihrem Chef schon am frühen Nachmittag rausgeworfen zu werden.

 

Ne, die waren einfach zu doof dafür, dachte Anya griesgrämig auf Levriers telepathischen Kommentar hin.

Schließlich hatte ihr penetranter Klingelversuch doch Erfolg, die Tür wurde aufgerissen und Nick stand ihr in seinen vollen zwei Metern Größe gegenüber. Die braunen Haare typischerweise zerzaust, neuerdings mit Hipster-Brille auf der Nase und mit nichts bekleidet als einer rot gepunkteten Unterhose.

In Anya starb etwas bei dem Bild, das sich ihr bot.

„Hi, Anya-Muffin“, grinste er über beide Backen.

Zu geschockt, um etwas zu sagen, drehte Anya sich beim Anblick seiner Hühnerbrust weg.

„Willst du mit mir spielen?“, fragte er hoffnungsfroh.

„Geld“, stotterte Anya aus der Fassung gebracht, „ich muss mir ein bisschen was leihen, Nick. Hast du was?“

„Nope. Aber Liebe, hehe.“

„Die will ich nicht!“, donnerte das Mädchen ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf. „Du lügst doch, bei dir liegt immer was 'rum. Geh hoch, zieh dich an und fang' an zu suchen!“

Nick kratzte sich verwundert am Kopf. „Warum denn? Willst du dir endlich die Brustvergrößerung gönnen, die ich dir seit der Middle School ans Herz gelegt habe?“

„Nein!“, schäumte Anya knallrot vor Wut, wagte es aber nicht, sich diesem grässlichen Anblick ein zweites Mal auszusetzen „Erklär' ich dir, wenn du angezogen bist!“

„Schade … aber okay“, gluckste er, „für dich zieh ich meine sauberste Hose an. Nur drei Wochen nicht gewaschen!“

Anya knirschte mit den Zähnen vor soviel Idiotie.

Aber irgendwem musste sie ja die Wahrheit erzählen und sich anvertrauen. Dafür war Nick geradezu ideal, denn er war so dumm, dass er morgen vermutlich schon die Hälfte vergessen hatte. Und selbst wenn er es ausplauderte, würde ihm sowieso niemand glauben. Es war schließlich Nick!

 

~-~-~

 

„Einundzwanzig Dollar“, fasste Anya ernüchtert zusammen und hielt die Scheine mehr als unzufrieden in den Händen.

Hatte sie dafür tatsächlich zwei Stunden ihrer neuerdings besonders wertvollen Lebenszeit damit verbracht, Nicks Chaostempel zu durchforsten? Dort wo sich die Klamotten, Mickey Maus-Hefte, Playboy-Ausgaben und der ganze andere Kram schon gefühlt bis an die Decke stapelten?

Pah! Das war zu wenig, jetzt hatte sie keine Lust mehr, ihm auch nur irgendwas über den Sammler und seinen hinterhältigen Plan zu verraten!

Nick, der an seinem Schreibtisch saß und zwischendurch was am PC erledigt hatte, grinste breit. „So viel?“

„Viel zu wenig! Ich gehe!“

Sprachs und stampfte zur Tür.

 

Immerhin machst du keinen Hehl daraus, dass du deine Freunde ausnutzt. Das habe ich schon immer an dir bewundert, Anya Bauer.

 

„Schnauze, Levrier!“, wies sie ihren Partner zurecht. „Ich hab Wichtigeres zu tun, als Nick dabei zu beobachten, wie er in dieser Müllhalde versifft.“
 

Das kommt von der Frau, von der Nick Harper sich offensichtlich bei seiner Zimmergestaltung hat inspirieren lassen. Und was hast du vor?

 

„Packen, was sonst!? Das hier war reine Zeitverschwendung, die paar Dollar reichen ja kaum für die Belüftung eines Hotelzimmers.“

In einer scharfen Halbdrehung richtete Anya sich an Nick. „Danke für die Knete, kriegste irgendwann wieder, wenn ich besser gelaunt bin. Wir sehen uns dann irgendwann, bye!“

Schon verkündete nur noch das Knallen der Tür, dass die Blonde noch vor wenigen Sekunden Nicks Gast gewesen war.

 

Jener saß auf seinem Stuhl und zog die Stirn kraus, nachdem ein weiteres Knallen deutlich machte, dass Anya den Ausgang gefunden hatte.

„Was ist denn mit ihr los?“, wunderte er sich, seine Idiotenidentität fallen lassend.

 

Nick, der sich seither der Aufgabe verschrieben hatte, Anya durch seltendämliches Verhalten ein ehrliches, herzliches Lächeln auf die Lippen zu zaubern, hatte seine Freundin selten so flügge erlebt.

Natürlich wusste er gut Bescheid um Anyas finanzielle Lage, da kam man bei jemandem wie ihr nicht drum herum. Dennoch überraschte es ihn, dass sie so plötzlich eine große Menge an Geld zu brauchen schien. Und dann für ein Hotelzimmer? Wollte sie verreisen, obwohl ihr Chef ihr untersagt hatte, für die nächsten Wochen Urlaub zu nehmen?

Irgendetwas stimmte da nicht und Nick war nicht wohl dabei. Vielleicht wäre es besser, wenn er ihr hinterher ging, um herauszufinden, warum sie so angespannt war.

 

~-~-~

 

Knapp eine Viertelstunde später war Anya wieder in ihrem ganz eigenen Chaostempel angelangt, hatte sich ihren Koffer von unter dem Bett geschnappt, auf ebenjenes geschmissen und fing damit an, wahllos irgendwelche Klamotten von ihrem Kleiderschrank neben der Tür hineinzuwerfen. Welche man kaum auseinander halten konnte, waren sie doch alle mehr oder weniger schwarz.

Jedes Mal, wenn sie zum Schrank lief, verspürte sie einen kleinen Stich. Denn an einem Haken an der Innenseite der Tür hing ihre zerfetzte Lederjacke.

„Tch“, zischte sie, griff sich das gut Stück und schleppte es zum Koffer.

Und wo sie andere Sachen achtlos in den riesigen Koffer gequetscht hatte, legte sie die Jacke mit größter Sorgfalt hinein.

Nebenbei hörte sie, wie es unten an der Tür klingelte. Da ihre Mutter mittlerweile von der Arbeit zurück war, würde die sich um den garantiert ungebetenen Gast kümmern.

 

Anya indes packte weiter ihre Sachen, als plötzlich die Tür aufflog und Nick strahlend hereingeplatzt kam.

Das Mädchen, auf halben Wege zum Bett, ließ glatt den Stapel T-Shirts in ihrer Hand fallen.

„Was willst du denn hier!?“

„Fragen wie's dir geht. Hab ich eben vergessen!“

„Beschissen. Und noch beschissener wird’s mir gehen, wenn du nicht gleich Leine ziehst!“

Sich nach den Sachen bückend, schmiedete Anya bereits Pläne, was sie mit Nick anstellen würde, wenn er ihrer höflichen Aufforderung nicht nachkommen würde. Eine der harmloseren Möglichkeiten war noch, dass sie ihm mit Hammer und Nägeln einen ganz neuen Look verpassen würde.

„Was hat mein Anya-Muffin denn“, ließ sich Spasmo-Nick jedoch nicht davon beeindrucken, warf sich neben ihren Koffer aufs Bett und wartete ab, „der Nickinator merkt doch, wenn sein Bügelbrett unglücklich ist.“

„Kch …“
 

Sag ihm einfach die Wahrheit, Anya Bauer.

 

Mit den aufgehobenen Shirts in der Hand, gab sich Anya schließlich einen Ruck.

„Ich bin so gut wie tot“, brummte sie, „wortwörtlich … mal wieder.“

Nick weitete die Augen und stand betroffen von ihrem Bett auf. Einen kurzen Augenblick seine Rolle vergessend, fragte er perplex: „Warum, was ist passiert?“

Und Anya begann schließlich zu erzählen. Über die Begegnung mit Kyon und dem Sammler, der Aufgabe und ihre verbliebenen 99 Tage.

 

Als sie ihre Geschichte beendet hatte, legte sie die T-Shirts neben ihre Jacke und schnaufte wütend. „Und so sieht's aus. Ich bin am Arsch. Deshalb muss ich Livington für eine Weile verlassen.“

Nick, der ganz blass geworden war, fuchtelte wild mit den Händen. „Aber der Anya-Muffin kann doch nicht zum Handlager des Oberfiesos werden!“

„Ich habe keine andere Wahl, Nick!“, zischte Anya und stopfte wütend die T-Shirts in den Koffer auf ihrem Bett, welche widerspenstig über den Rand ragten. „Wenn ich nicht mitspiele-!“

Mit der Faust schlug sie neben den Koffer auf ihr Bett. „Dieser verdammte Dreckskerl, das hat er alles geplant gehabt! Ich dachte, ich wäre endlich frei, aber im Endeffekt hat sich nichts verändert!“

„Anya“, erwiderte Nick traurig und legte seine Hand auf ihre Schulter, „ich will meinen Muffin nicht allein ins Unbekannte ziehen lassen. Deswegen komme ich mit.“

„Nein!“ Sofort wich sie von ihm zurück und lachte hysterisch. „Ich weiß nicht, was mich erwartet. Hast du schon mal einen Werwolf gesehen? Ich nicht! Und ich habe keine Lust, mit einem Klotz wie dir am Bein zu krepieren! Du bleibst schön hier!“

„Aber ich kann dich nicht alleine gehen lassen“, beklagte sich Nick, „irgendwer muss dir doch auf die Nerven gehen und ich bin die beste Wahl!“

„Ich hab Levrier, das reicht!“

Nick ließ aber nicht locker, warf sich auf die Knie und hielt sich in gespielt weinerlicher Manier an ihrem Bein fest. „Ich will doch nur helfen!“

„Ach ja!? Dann bleib ganz weit weg von mir, damit ist mir mehr geholfen als mit Geld oder sonstwas!“

 

Wollte sie ihn nur nicht in Gefahr bringen oder war es wirklich die Tatsache, dass sie ihn für Ballast hielt, fragte Nick sich insgeheim.

Er wusste, dass er vorsichtig sein musste mit dem, was er zu Anya sagte. Natürlich wollte er ihr aus ihrer mehr als misslichen Lage helfen. Nur war Anya nicht gerade jemand, dem man zu gutmütig entgegen kommen sollte. Denn wenn man ihr den kleinen Finger reichte, riss sie einen daran schon mal ins Verderben.

Andererseits war sie ihm das Wichtigste und er im Moment der Einzige, der ihre Lage verstehen und ihr zumindest ein wenig helfen konnte. Und vor allem wollte. Bloß wie konnte er sie dazu bringen, ihn mit sich zu nehmen?

 

Flehend sah er auf. „Ich hab noch ganz viel Geld im geheimen Sparstrumpf. Wenn du mich mitnimmst, bekommst du es.“

Anya reckte den Kopf wütend zur Seite, auf solche Albernheiten hatte sie keine Lust. „Von wegen!“

Doch die Gier in ihr war stärker, sodass sie aus den Augenwinkeln auf ihn herab starrte. „ … wie viel?“

Nick zeigte ihr die fünf Finger seiner rechten Hand.

„… fünf Dollar?“, kam es ernüchtert von seiner Freundin.

Grinsend schüttelte er den Kopf. „Fünf Scheine mit zwei Nullen drauf. Sind die viel wert?“

Seine Freundin verstummte wie erwartet. Das waren mindestens 500$, musste sie jetzt vermutlich denken, was wohl durchaus für ihre Zwecke dienlich wäre.

„Vergiss es!“, entschied sie jedoch. „Damit kann ich eine Reise finanzieren, aber was ist mit den anderen sechs? Und den ganzen Unkosten?“

Für Nick alles kein Problem, aber das ahnte Anya leider nicht.

„Bitte“, flehte er kindlich und zwinkerte, „nimm mich mit, ich bin auch ganz artig.“

„Tch! Nein! Und jetzt verzieh dich! Eher würde ich mich freiwillig von Redfield besiegen lassen, als dich mitzunehmen!“

 

Plötzlich sprang Nick auf und grinste über beide Backen.

„Ich hab die Idee“, sagte er, „wir duellieren uns! Kopf, du bekommst das Geld, Zahl, ich komme mit. Oder so.“

„Pah! Du hast nur einmal in deinem kümmerlichen Spinnerleben ein Duell gewonnen, und das nur durch Zufall wie mir zu Ohren kam! Aber wenn du willst, bitte, mit dir wisch' ich den Boden!“

Umso schneller wurde sie ihn los, dachte Anya säuerlich. Wie blöd musste sie sein, solch eine Gelegenheit verstreichen zu lassen!?

„Okay, Deal?“, fragte er und hielt ihr die Hand hin.

„Klar!“, schlug Anya ein.

Was für ein Trottel! Zu dumm, dass nicht nur sie dies in jenem Moment dachte.

 

~-~-~

 

Das Abendrot stand bereits am Himmel, als Anya und Nick vor dem Grundstück der Familie Bauer mit erhobenen Duel Disks Stellung bezogen.

„Reden wir gar nicht lange um den heißen Brei herum, ich will das hinter mir haben!“, verlangte Anya wütend.

„Ok“, gab Nick sich ungewohnt wortkarg.

So riefen beide nur synchron: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Nick: 4000LP]

 

„Ich fange an!“, bestimmte Anya und zog hintereinander weg sechs Karten. Nur einen halbherzigen Blick auf ihr Blatt werfend, legte sie ein Monster auf die Battle City-Duel Disk. „Dieses hier gesetzt, Zug beendet!“

Vor ihr materialisierte sich in vergrößerter Form und horizontaler Lage ein Kartenrücken. Allein daran würde Nick sich die Zähne ausbeißen, dachte sie grimmig.

 

„Hehe, Draw“, gluckste dieser und füllte sein Blatt ebenfalls auf sechs auf. Als Erstes griff er sich danach eine Zauberkarte aus seinem Blatt. „[Wind-Up Factory] für die Massenproduktion! Ich liebe Spielzeug!“

Durch die permanente Zauberkarte tauchte hinter dem brünetten Kerl ein Fließband auf, das aus einer Luke im Boden Pakete in eine andere Luke auf der gegenüberliegenden Seite transportierte.

Nick knallte im Anschluss ein Monster auf seine Duel Disk. „Los, [Wind-Up Soldier] und gleich den Effekt aktivieren! Stufe rauf, mit Angriffskraft auch, hehe!“

Vor ihm erschien ein etwa ein Meter großer, grüner Spielzeugroboter mit Zangenhänden und einem Kopf, der stark an einen U-Magneten erinnerte. Der Aufziehschlüssel auf seinem Rücken begann sich wie wild zu drehen, kaum dass er das Spielfeld betreten hatte.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]

 

Das Fließband hinter Nick begann sich in Bewegung zu setzen und er erklärte: „Wenn ich was aufziehe, gibt’s ein Geschenk!“

Aus seinem Deck schoss eine einzelne Karte hervor, die Nick kurz vorzeigte und als [Wind-Up Shark] identifizierte, ehe er sie seinem Blatt hinzufügte.

„Und nun Angriff, ka-pow!“, strahlte er mit ausgestreckter Faust.

Sein Aufziehkrieger schoss wie ein Pfeil auf Anyas gesetzte Karte zu, die um 180° um ihre eigene Achse wirbelte und aus sich einen riesigen Elefanten erscheinen ließ, der überall am Körper mit Rubinen bespickt war. Gar seine Stoßhörner bestanden daraus.
 

Gem-Elephant [ATK/400 DEF/1900 (3)]

 

„Wow, deine Hirnzellen laufen ja heute auf Hochtouren, das war ja ein halbwegs kluger Zug! Hast du Koks geschnüffelt oder was?“, spottete Anya und schwang den Arm aus. „Ist auch egal, reichen tut das nämlich nicht! Ich aktiviere den Effekt von [Gem-Elephant]!“

Der Spielzeugroboter schlug mit seiner kleinen Faust gegen einen der Stoßzähne des Elefanten. Anya schob gleichzeitig [Gem-Knight Tourmaline] in ihren Friedhofsschacht.

„Wenn ich ein normales Monster während des Kampfes abwerfe, erhält er 1000 Verteidigungspunkte!“

Sofort glühte ihr Monster kurz in gelber Aura auf, warf den Feind schließlich unter lautem Tröten zurück zur anderen Spielfeldseite.

 

Gem-Elephant [ATK/400 DEF/1900 → 2900 (3)]

 

[Anya: 4000LP / Nick: 4000LP → 3300LP]

 

„Hm“, gab Nick kurz und knapp von sich. Dann grinste er aber wieder, schob eine Zauberkarte in seine Duel Disk und verkündete: „Die verdeckt und Ende in der Maus!“

Während der Schnellzauber vor ihm holographische Form annahm, hörte der Aufziehschlüssel von [Wind-Up Soldier] auf sich zu drehen.

 

Wind-Up Soldier [ATK/2200 → 1800 DEF/1200 (5 → 4)]

 

Anya war gerade im Begriff die nächste Karte zu ziehen, da tauchte Levrier neben ihr auf.

 

Irgendetwas ist anders. Täusche ich mich, oder spielt er besser als sonst?

 

„Tch, er hat ausnahmsweise etwas Glück, mehr nicht. Wie ging das Sprichwort noch, jedes blinde Huhn findet einen Schlächter?“

Für Anya war das nicht mehr als Zufall. Nick und gut? Als ob!

 

Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass sein Verhalten seltsam aufgesetzt auf mich wirkt. Beherzige meinen Rat und unterschätze ihn nicht.

 

Damit verschwand Levrier wieder und wie könnte es auch anders sein, hatten seine Worte bei Anya genau gar nichts bewirkt. Denn für sie stand fest: Nick war ein Idiot und würde es selbst dann noch bleiben, wenn man irgendwann künstliche Gehirnzellen verpflanzen konnte.

„Draw!“, rief sie kämpferisch. Die gezogene Falle betrachtet, schmiedete ihr erzböses Hirn sogleich einen finsteren Plan, wie sie den Trottel schön auflaufen lassen konnte. „Die hier verdeckt!“

Sprachs und schob die Karte in den dazugehörigen Slot unter [Gem-Elephant], woraufhin die Falle hinter ebenjenem erschien.

Dann zückte Anya eine Zauberkarte von ihrem Blatt. „Mit [Silent Doom] reanimiere ich [Gem-Knight Tourmaline] vom Friedhof in Verteidigungsposition!“

Aus einem Loch im Boden entstieg der Krieger in goldener Rüstung, der zwischen seinen Händen Blitze erschuf und in die Knie ging.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Ihre beiden Monster von der Duel Disk nehmend, rief Anya: „Und jetzt Tributbeschwörung! Ich opfere die zwei dort und rufe [Gem-Knight Crystal] aufs Feld!“

In blauem Licht lösten sich Tourmaline und der Elefant auf und machten Platz für einen stolzen, weißen Ritter, der seine Hände in die Hüften stemmte. Aus seinen Schulterplatten ragten durchsichtige Kristalle, die ihm seinen Namen gaben.

 

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Angriff!“, befahl Anya umgehend. „Clear Punishment!“

Seine Faust in den Boden rammend, erzeugte Crystal eine Erdspalte, die auf Nicks Spielzeugsoldaten zuschoss und ihn schließlich in die Tiefe riss. Mehr noch, als spitze Kristalldornen daraus empor schossen, war klar, dass der Kleine keine Überlebenschancen gehabt hatte.

 

[Anya: 4000LP / Nick: 3300LP → 2650LP]

 

„Verdammt, ist das einfach!“, raunte Anya mürrisch und gab mit zwei Handkarten ab. „Zug beendet.“

Zugunsten ihrer Falle hatte sie diesmal auf etwas Fusionsaction verzichtet, damit der 'Nickinator' sich schön selber die Tour vermasselte. Sollte er ruhig angreifen. Und wenn nicht, umso besser!

 

Ihr Gegner zog auf eine fünfte Karte auf und fixierte sich auf das Mädchen. „Ich rufe [Wind-Up Hunter]! Und dazu, weil ich einen Kumpel beschworen habe, [Wind-Up Shark] als Spezialbeschwörung!“

Gleich zwei Monster materialisierten sich vor Nick. Zum Einen ein weißgrüner, vierbeiniger Roboter mit einer Armbrust in der Hand, zum Anderen ein blauer Aufziehhai – beide reichten kaum über Nicks Hüfte hinaus.

 

Wind-Up Hunter [ATK/1600 DEF/500 (3)]

Wind-Up Shark [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

 

„Jetzt gibt’s wieder ein Geschenk, weil mein Haichen durch seinen Effekt beschworen wurde! Wie Weihnachten!“, strahlte Nick.

Das Fließband hinter ihm setzte sich in Bewegung, wobei gleichzeitig eine Karte aus seinem Deck geschossen kam, die er zwischen seinen Fingern aufnahm. Es war [Wind-Up Juggler].

„Das ist aber nicht das Ende der Kette, denn eigentlich aktiviere ich noch [Inferno Reckless Summon]. Da Shark als Spezialbeschwörung das Feld betrat und nur 1500 Angriffspunkte besitzt, kann ich ihn hiermit verdreifachen! Dasselbe kannst du mit Crystal machen, aber ich weiß ja, dass du nur eine Kopie davon spielst.“

„Uuuuuhhh … okay?“

Wie Nick da seine zwei weiteren Hai-Kopien aus dem Deck nahm und auf die Duel Disk legte, wurde Anya plötzlich unwohl zumute. Das vorhin hätte man als Zufall abtun können, aber täuschte sie sich, oder spielte Nick auf gehobenem Niveau!?

Quatsch, das musste er sich irgendwo abgeguckt haben, auf Youtube gab es dauernd irgendwelche Kloppis, die ihre Kombos erklärten!

Links und rechts neben dem Aufziehhai tauchten derweil zwei weitere seiner Spezies auf.

 

Wind-Up Hunter [ATK/1600 DEF/500 (3)]

Wind-Up Shark x3 [ATK/1500 DEF/1300 (4)]

 

„Effekt des ersten Hais, ich reduziere seine Stufe dank seines Effekts um eins auf drei“, rief Nick, „weshalb ich mit ihm und [Wind-Up Hunter] jetzt das Overlay Network öffne! Erscheine, Rang 3 [Wind-Up Carrier Zenmaity]!“

Verblüfft verfolgte Anya mit, wie seine Monster als blauer und violetter Lichtstrahl in den sich nun öffnenden, schwarzen Galaxienwirbel gezogen wurden und daraus wiederum ein riesiger Spielzeugschiffsträger erschien, der sich vor Nick und den beiden Haien breit machte. Um ihn kreisten zwei leuchtende Sphären.
 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3} OLU: 2]

 

„Huh!?“

„Effekt von Zenmaity! Im Austausch gegen ein Xyz-Material ruft er ein Wind-Up-Monster von meinem Deck!“, rief Nick, zog den Hunter unter Zenmaity hervor und knallte stattdessen ein anderes auf die Duel Disk. „Zeig dich, [Wind-Up Rat]!“

Vor ihm tauchte eine blaue Aufziehratte auf Rädern statt Beinen auf, gerade groß genug, um von Anyas Schuh nicht vollkommen verdeckt zu werden, sollte diese sich entschließen einfach drauf zu treten. Und sie verspürte irgendwie das Gefühl, genau dies zu tun, da sonst etwas Schlimmes geschehen würde.
 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

 

„Effekt der Ratte! Ich wechsle sie in Verteidigung und reanimiere dafür Hunter, ebenfalls in Verteidigung!“

Das kleine Tierchen fuhr einmal vor Nick im Kreis, woraufhin aus der umfahrenen Stelle der vierbeinige Jäger wieder auftauchte und somit keinen Platz mehr für Monster auf Nicks Duel Disk zuließ.

 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

Wind-Up Hunter [ATK/1600 DEF/500 (3)]

 

„Effekt Hunter! Ich opfere jetzt Zenmaity und stehle dir einmalig eine Handkarte!“

„Huh!?“, gab Anya wieder nur zum Besten, da sie bei all den Effekten Schwierigkeiten hatte mitzukommen.

Der Spielzeugflugzeugträger verwandelte sich einen kleinen Pfeil, der sich von selbst in die Armbrust des Jägers einlegte und von diesem auf Anyas Blatt abgefeuert wurde. So zischte er durch eines von Anyas Effektmonstern hindurch, welches diese missmutig in den Friedhofsschlitz schob.

„Tch, was soll das!?“

„Oh, nur eine meiner kleinen Kombos“, grinste Nick und kniff die Augen zusammen, „eine etwas fiese, zugegeben. Denn du musst wissen: ich kann das Ganze ab der Beschwörung von Zenmaity einfach wiederholen.“

„Huh!?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Denk nach. Ich rufe jetzt mit Hunter und Rat einen weiteren Zenmaity, rufe mit dem die nächste Ratte von meinem Deck, die reanimiert den abgehangenen Hunter, welcher genau wie eben Zenmaity opfert. Sieh selbst!“

Und in erstaunlich schneller Abfolge wiederholte Nick dieselbe Kombo, bis auch Anyas zweite Handkarte, [Gem-Knight Fusion], getroffen von Hunters Pfeil in den Friedhof abgeschoben werden musste. Womit Anya nun blank war.

Aber anscheinend dachte Nick gar nicht daran aufzuhören, rief er doch mit Hunter und Ratte Nummer 2 einen dritten [Wind-Up Carrier Zenmaity] aufs Feld.

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3} OLU: 2 → 1]

 

Der riesige Schiffsträger feuerte einen Torpedo ab, wie er es immer tat, wenn er ein Monster beschwor. Und genau wie die zwei Male zuvor, verwandelte der sich in die Ratte, die Anya so gerne zerquetschen würde. Die Ratte, die Nick auf seiner Duel Disk einfach in die Horizontale wechselte, um [Wind-Up Hunter] zu reanimieren, den er zuvor abgehangen hatte.

 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

Wind-Up Hunter [ATK/1600 DEF/500 (3)]

 

Schon befand sich sein Feld wieder in der Ausgangsposition mit zwei Haien, der Ratte, dem Schiffsträger und dem Jäger.

Und Anya fragte sich und Nick: „Was zur Hölle geht'n hier ab!?“

„Nichts, bin nur gut drauf“, erwiderte ihr Freund geheimnisvoll, „da du keine Handkarten mehr hast, ändert sich ab hier meine Kombo ein wenig. Ich errichte mit Rat und Hunter das Overlay Network! Erscheine, Rang 3-[Wind-Up Zenmaines]!“

Vor ihm tat sich der schwarze Galaxienwirbel nun schon zum vierten Mal auf und sog den braunen und violetten Lichtstrahl der beiden Monster in sich auf, ehe daraus eine längliche Maschinenkreatur mit Flugzeugflügeln auf den Schultern und Zangenhänden erschien. Der Spielzeugkampfbomber hielt sich über Nick in der Luft mit seinen Propellern. Auch um ihn kreisten zwei Lichtsphären, ähnlich der, die um Zenmaity rotierte.

 

Wind-Up Zenmaines [ATK/1500 DEF/2100 {3} OLU: 2]

 

„Du solltest vorsichtig sein. Er mag schwach anmuten, aber wer sich mit ihm anlegt, zieht viel zu oft den Kürzeren“, rief Nick seiner Gegnerin vergnügt zu.

Er kam so selten dazu, seine besten Monster auszuführen, weil er normalerweise als Idiot zu dumm für solche Sachen sein musste. Es war regelrecht befreiend für ihn, Anya mal mit voller Spielstärke gegenüber zu stehen. Auch wenn die wohl noch gar nicht begriff, was überhaupt los war.

Umso seltsamer war es, dass dies Nick gar nicht kümmert. Die Kombos professionell und ernsthaft durchzuführen war eine Sache, aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr begriff er, dass sein Alterego hier nicht helfen konnte, selbst wenn er das Duell gewann. Anya war zu stur, um ihn mitzunehmen und würde niemals auf seinen Rat hören, solange sie glaubte, er wäre ein Idiot. Womöglich hatte er das bereits unbewusst eingesehen und sich deshalb gar nicht die Mühe gemacht, seine Fassade großartig aufrecht zu erhalten. Vielleicht war die Zeit gekommen, um …

Nick schüttelte den Kopf. Erstmal musste er das hier gewinnen, dann konnte er weitersehen.

So schwang er den Arm aus. „Natürlich habe ich meine Haie nicht umsonst beschworen. Sie können nämlich nicht nur ihre Stufe verringern, sondern auch um eins erhöhen. Das tue ich jetzt und errichte mit ihnen zum fünften Mal in Folge das Overlay Network! Erscheine, Rang 5-[Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Seine Haie verwandelten sich ebenfalls in blaue Lichtstrahlen, die von dem schwarzen Loch des Überlagerungsnetzwerks absorbiert wurden. Aus dem Wirbel hervor trat dieses Mal ein riesiger Roboter, der nur noch wenig von einem Spielzeug hatte. Eine Hand ein Bohrer, die andere als separate Einheit neben ihm fliegend, schien der rote Mecha tatsächlich respekteinflößend.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 2]

 

Und ohne jemals damit gerechnet zu haben, stand Anya nun drei Xyz-Monstern gegenüber.

„Fuck“, war alles, was sie dazu sagen konnte.

„Das war nur der halbe Spaß.“ Nick zeigte eine Zauberkarte vor. „Da ich ein Xyz-Monster besitze, kann ich [Generation Force] aktivieren. Damit erhalte ich eine Xyz-Unterstützungskarte von meinem Deck und dies wird der Spielfeldzauber [Xyz Territory] sein, welchen ich jetzt aktiviere!“

Unweigerlich musste Anya zurückschrecken, als überall um das Spielfeld herum rote Blitze eine Kuppel bildeten, die die beiden Duellanten in sich einschloss.

Nick erklärte: „Damit steigt die Potenz eines Xyz-Monsters während des Kampfes mit anderen Monstern. Es erhält pro Rang 200 Angriffspunkte. Aber warum findest du das nicht selbst heraus? Ich greife deinen [Gem-Knight Crystal] mit [Wind-Up Arsenal Zenmaioh] an! Wind-Up Power Punch!“
 

Er hat deine Hand geleert, ganze fünf Xyz-Beschwörungen durchgeführt und besitzt nun ein Monster, das auf 3600 Angriffspunkte kommt! Dieser Junge ist gut!

 

„Schnauze, Levrier!“, befahl Anya, die diese Erkenntnis kategorisch ausschloss. „Eher ist er von einem Immateriellen besessen!“
 

Keine Chance.

 

Jedoch fehlte Anya die Zeit, dem zu widersprechen, denn Zenmaioh schoss nun seine abgekoppelte Faust auf den weißen Ritter des Mädchens ab.

„Das funktioniert nicht!“, fauchte jenes und betätigte den Knopf ihrer Duel Disk, welcher ihre Fallenkarte hochklappen ließ. „[Justi-Break]! Wenn du ein normales Monster angreifst, wird jeder Fucker auf dem Feld zerstört, der keinen gelben Rand hat!“

„Wie erwartet“, murmelte Nick und nutzte den Auslöser seiner eigenen gesetzten Karte, die sich als Schnellzauber zu erkennen gab. „[My Body As A Shield]! Damit zahle ich zwar 1500 Lebenspunkte, annulliere jedoch einen Zerstörungseffekt, der meine Monster betrifft. Netter Versuch, Anya, aber absolut berechenbar.“

 

Wo er Recht hat-
 

„Er kann nicht mal rechnen!“

Allerdings nützte Anyas Protest ihr herzlich wenig, als ihre Falle zersprang und ihr Ritter direkt in die Brust getroffen wurde. In tausend Teile zersprang er, ähnlich wie Anyas Weltbild, was Nicks Person anging. Keuchend wich sie der fliegenden Faust Zenmaiohs aus, die es nun auf sie abgesehen hatte und schließlich zu ihrem Besitzer zurückkehrte.

 

[Anya: 4000LP → 2850LP / Nick: 2650LP → 1150LP]

 

„Ich hätte auch den Effekt von Zenmaioh aktivieren können, um zwei gesetzte Karten zu vernichten“, erklärte Nick nachhaltig gelassen, „aber es ist nicht mein Stil, meine eigenen Karten für so etwas zu opfern, wenn ich nicht zu 100% sicher bin, ob ich damit auch Erfolg haben werde.“

„Stil!?“

Nick zog überrascht eine Augenbraue hoch. Dann begann er schelmisch zu grinsen. „Vergiss es … öh … ich … meinte Stiel. Meinen Besenstiel, weißt du?“

Der junge Mann blinzelte abwartend. Wie würde sie jetzt reagieren? Selbst Anya musste doch bemerkt haben, was er ihr schon die ganze Zeit, erst unbewusst, jetzt willentlich zu zeigen versuchte. Die Erkenntnis aber würde er ihr nicht abnehmen, denn sie musste selbst begreifen, mit wem sie es wirklich zu tun hatte. Sollte sie trotz all der Hinweise keine Schlüsse ziehen, nun …

„Was ist denn jetzt los!? Nick, was treibst du hier!?“

Ihr Gegner seufzte, konnte er aus dieser Reaktion nicht genau abschätzen, was in ihr vorging. Also spielte er das Spiel weiter und duckte sich plötzlich mit Händen über dem Kopf, quiekte „Vergib mir, direkter Angriff mit Zenmaity und Zenmaines!“

„Crap!“

Während der Flugzeugträger zwei kleine Torpedos auf Anya abfeuerte, flog der Spielzeugbomber über das Mädchen hinweg und ließ eine Reihe von Sprengkörpern auf sie herab fallen.

Anya langte panisch nach ihrem Friedhofsschacht. „Effekt von [Kuriboss] aktivieren! Ich verbanne ihn und annulliere einmal Kampfschaden!“

Wenn Nick den nicht dorthin verfrachtet hätte mit seiner ätzenden Kombo, wäre sie jetzt geliefert gewesen. So tauchte über ihr ein brauner Fellball in grauem Cape und mit Sonnenbrille auf der nicht existierenden Nase auf, welcher unter „Kuri!“ ein Dimensionsloch erschuf und die herabfallenden Minen in eine andere Welt mitnahm. Weniger Glück hatte Anya da mit den Torpedos, die neben ihr einschlugen und heftige Explosionen auslösten.

 

[Anya: 2850LP → 1350LP / Nick: 1150LP]

 

„Oh Mist!“, schoss es aus Nick panisch heraus, der sich das offensichtlich anders vorgestellt hatte. Seine vorletzte Handkarte in die Duel Disk schiebend, verkündete er: „Bitte hass' mich nicht! Diese verdeckt! Ich geb' auch an dich ab, Anya-Muffin! Hehe! Eis am Stiel und so.“

Anya zog eine Augenbraue hoch. Dann sagte sie erleichtert: „Puh, er ist wieder normal …“

Ihr entging der scharfe Blick ihres Gegners, den dieser ihr in seiner geduckten Position zuwarf.

 

Anya Bauer … ach vergiss es.

 

„Huh?“

Was hatte der denn jetzt schon wieder, fragte sie sich argwöhnisch. Heute benahmen sich diese beiden Trottel wirklich komisch!

„Mein Zug! Levrier!?“

 

nein.

 

„Doch!“
 

Nein.

 

„Ohne bin ich aber verloren!“ Aufgebracht fuchtelte Anya mit den Händen hin und her. „Nur ein bisschen, um nicht aus der Übung zu kommen!“

 

Vergiss es! Was ist aus deinem Vorsatz, solche Kräfte nicht zu benutzen, geworden!? Außerdem habe ich meine Kräfte erst gestern genutzt! Ich bin nicht mehr das, was ich einst war, Anya Bauer!

 

„Nützlich!? Hmpf, das warst du noch nie! Und nun mach, bevor wir … du weißt schon. Ihn mitnehmen müssen! Du wirst es bereuen, wenn du mich jetzt hängen lässt!“

„Ich kann dich hören, Anya“, mischte sich Nick trocken ein.

 

fein. Lieber riskiere ich bei dem Versuch zu verschwinden, anstatt mir die nächsten Wochen permanent dein Gemotze anzutun. Warum sind wir doch gleich befreundet?

 

„Weil ich so anderen Leuten besonders kräftig in den Arsch treten kann“, erwiderte Anya gallig, streckte ihre Finger ein paar Mal durch und griff dann nach ihrem Deck. Ein weißes Licht begann um die Hand zu leuchten.

Nick griff sich ans Kinn. „Der Cheat-Draw …“

„Für dich die Deluxe-Version mit besonders viel Demütigung!“, keifte Anya und riss die Karte von ihrem Deck, wobei vor ihrem inneren Auge ein genaues Bild im Kopf erschien, welche es sein würde. „Draw!“

Bei der schwungvollen Bewegung ging das Licht ihrer Hand auf die Karte über und Anya wusste instinktiv, dass Levrier sie mal wieder nicht im Stich gelassen hatte.

Sofort knallte sie das nachgezogene Monster auf die Duel Disk. „Ich beschwöre [Gem-Knight Turquoise]!“

Woraufhin vor ihr ein Ritter in türkisblauer Rüstung, mit Bogen bewaffnet, Gestalt annahm.

 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]

 

Mit flinken Fingern fischte das Mädchen Sekunden später [Gem-Knight Tourmaline] und [Gem-Knight Fusion] aus ihrem Friedhof und zeigte diese vor.

„Ich verbanne Tourmaline, um [Gem-Knight Fusion] zu recyceln, die ich wegen dir abwerfen musste. Aber sie bleibt nicht lange auf meinem Blatt, denn mit Turquoises Effekt werfe ich sie ab, um einen verbannten Gem-Knight zu rufen. Nämlich Tourmaline! Erscheine!“

So geschah es, dass Anya besagte Zauberkarte wieder auf den Ablagestapel legte und den goldenen Ritter vor sich einberief.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

„Und jetzt erschaffe ich das Overlay Network!“, krähte Anya und streckte den Arm weit in die Höhe.

Die beiden Krieger verwandelten sich in braune Lichtstrahlen, die von dem schwarzen Galaxienwirbel absorbiert wurden, welcher sich in der Mitte des Feldes auftat. Und so oft, wie Anya dies heute gesehen hatte, würde sie davon vermutlich Albträume bekommen.

„Mach ihn alle, Levrier!“

Aus dem Strom stieg der schlichte Ritter in der weißen Rüstung hervor. Stolz verschränkte [Gem-Knight Pearl] die Arme, umgeben von den sieben rosafarbenen Riesenperlen, die ihm seinen Namen gaben.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]

 

hättest du nicht meinen Kollegen, den Drachen rufen können?
 

Levrier fasste sich an die Stirn, schüttelte den Kopf und seufzte vor Selbstmitleid.

„Nein!“, fauchte Anya. „Der ist zwar viel nützlicher als du, aber in dem Fall brauche ich vor allem eins: rohe Gewalt! Und dafür ist deine Crapkarte genau die richtige!“

Nick verschränkte abwartend die Arme.

Seine Gegnerin griff zeitgleich unter Pearl, um dessen Xyz-Material darunter hervorzuziehen. „Pearl hat keinen Effekt, dafür aber Turquoise, wenn er als Xyz-Material herhält! Ich kann ihn und 'nen anderen Gem-Knight abhängen, um den Angriffswert des gerufenen Xyz-Monsters für diesen Zug zu verdoppeln! Los!“
 

Immer wieder dieselbe Nummer …

 

Levrier streckte seine zu Fäusten geballten Hände weit aus und absorbierte damit die beiden Lichtsphären, die um ihn kreisten. Anschließend begann er in türkisfarbener Aura aufzuleuchten.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 5200 DEF/1900 {4} OLU: 2 → 0]

 

„Perfekt!“, jauchzte Anya und streckte den Arm aus. „Jetzt zeigen wir dem da, warum ich auch gut alleine klar komme! Levrier, Angriff auf [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]! Ach, und Einstein!“

Nick erwiderte grinsend: „Was denn, mein Muffin?“

„Du bist so dumm! Deine kack Feldzauberkarte stärkt auch meine Xyz-Monster! Sieh zu, wie ich dich zermantsche! Blessed Spheres Of Purity!“

Levrier hob die Arme daraufhin in die Höhe, nur um sie dann mit Schwung wieder nach vorne zu richten. Damit kommandierte er seine sieben Sphären, die wie Kanonenfeuer auf Nicks Kampfroboter zu schnellten.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/5200 → 6000 DEF/1900 {4} OLU: 0]

 

„Da können selbst 3600 Angriffspunkte nicht mithalten!“, feixte Anya.

„Ich sagte, ich werde dich begleiten“, murmelte Nick leise und kniff die Augen zusammen. „Und wenn ich das sage, dann meine ich das auch so. Sorry Anya, dieser Sieg gehört mir!“

„Vergiss es!“

Doch Nick schwang bereits mit strengem Blick seinen Arm aus, sodass seine gesetzte Fallenkarte aufklappte. „Mitnichten! [Overwind]! Damit verdopple ich Zenmaiohs Werte, wofür er in der End Phase in mein Extradeck zurückkehrt!“

„Huh!?“

Levrier schlug die Hände über den Kopf zusammen, als er das vernahm.

 

Nicht doch!

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 → 3600 → 7200 DEF/1900 {5} OLU: 2]

 

„Fuck!“, kreischte Anya alarmiert.

Wie kleine Kieselsteine prallten die sieben Perlen an der Panzerung des Roboters ab und kamen nun mit doppelter Geschwindigkeit auf Levrier und Anya zugeschossen. Ersterer ergab sich seufzend seinem Schicksal und wurde von den leuchtenden Kugeln regelrecht zerfetzt, doch Anya war da weitaus weniger kooperativ. Sie zeigte ihnen und Nick per unmissverständlicher Fingergestik, was sie davon hielt. Die Perlen wiederum dankten es Anya mit wenig Erbarmen und deckten sie bei Körperkontakt regelrecht mit Explosionen ein.

 

[Anya: 1350LP → 150LP / Nick: 1150LP]

 

Vor Schreck stolperte Anya und fiel rückwärts auf ihr Hinterteil.

In diesem Moment, als sie zu Nick herüber sah, wie er da fest entschlossen stand und sie nicht aus den Augen ließ, wurde sich das Mädchen dreier Dinge bewusst.

Erstens: Sie hatte sich die letzte Viertelstunde und darüber hinaus ihr ganzes Leben lang eingeredet, ihr bester Freund wäre der schlechteste Duellant auf dem Planeten.

Zweites: Auch hatte sie sich eingeredet, er wäre der dümmste Mensch auf dem Planeten.

Drittens: Beides traf nicht zu. Eher das Gegenteil.

Woraus sie beängstigend schnell für ihre Verhältnisse ein Fazit zog. Nick war so gut wie tot.

Wutentbrannt sprang das Mädchen auf und legte ihre Hand dabei auf ihr Deck. „Ich gebe auf!“

 

[Anya: 150LP → 0LP / Nick: 1150LP]

 

Prompt verschwanden die Hologramme von Nicks Xyz-Armee.

Nick lockerte vor Überraschung glatt seine verbissene Miene auf. „Was? Du und aufgeben?“

„Ja!“, fauchte Anya, nahm ihre Duel Disk vom Arm und warf sie mit derartigem Karacho über den Zaun des Bauergrundstücks, dass es nur so schepperte. Wortwörtlich, sie hatte das Fenster des Wohnzimmers erwischt. Was Anya nicht im Geringsten störte.

Sich die nicht existierenden Ärmel ihres T-Shirts hochkrempelnd, stampfte sie auf Nick zu. „Bild dir bloß nichts ein. Das mache ich nur, um mehr Zeit damit verbringen zu können, deine neuen Gehirnzellen einzeln aus deinem verkorksten Schwammkopf zu zupfen, während ich mir dabei den neuesten Saw-Film als Inspirationsquelle für andere Foltermethoden reinziehe!“

„Aha.“

Anya flogen bald die Augen ob jener daher gesagten, gelangweilten Antwort heraus. Das war Nick, der müsste doch längst die Beine in die Hand genommen und die Flucht ergriffen haben! Wieso rannte er nicht weg, jetzt, wo er offensichtlich intelligent war!?

Vor ihm angelangt, schaute das Mädchen drohend zu ihm hinauf. „Noch irgendwelche letzten Worte, bevor ich dich skalpiere? Vielleicht, warum du neuerdings so gut Duel Monsters spielst?“

„Ja.“ Nick sah zur Seite. „Ich … habe mich im Duell etwas gehen lassen.“

„Das hab ich gemerkt!“

Der Anflug eines Lächelns breitete sich auf Nicks Lippen auf. „Sonderlich oft komme ich nicht dazu, mich ernsthaft zu duellieren. Und mit dir habe ich mich so bisher noch nie duelliert. Du … hättest gewonnen, wenn du nicht ausgerechnet Zenmaioh angegriffen hättest.“

„Wie schade“, ätzte Anya, „aber ich sag dir was! Du kommst trotzdem nicht mit! Weil du noch viel schlimmer bist, wenn du einen auf Intelligenzbestie machst!“

 

Nick, der es nun wagte, die gut einen Kopf Kleinere anzusehen, gab einen überraschten Laut von sich. Statt ihn nämlich böse anzufunkeln, war es nun Anya, die betrübt ins Leere starrte.

„Ich“, nuschelte sie leise, „hab's echt nicht geschnallt bis eben. Dass du … anders bist. Und wenn Levrier es nicht dauernd sagen würde, würde ich am ehesten glauben, dass du jemand Fremdes bist, ein Doppelgänger oder so. Nicht der echte Nick, den ich seit meiner Kindheit kenne.“

„Ich wollte es dir sagen. Schon oft. Aber … es ging nicht.“

Das Mädchen wandte sich von ihm ab. „Keine Ahnung, von was du sprichst. Komm einfach mit, ich will jetzt … einfach woanders sein. Bevor meine Mutter das mit dem Fenster spitz kriegt.“

Sich fragend, wohin es gehen sollte, begann Nick Anya zu folgen.

 

~-~-~

 

Wenig später waren sie am Ziel angelangt. Der Spielplatz. Mittlerweile war kaum noch etwas vom Abendrot zu sehen, stattdessen begann nun die Nacht Livington in ihren Bann zu ziehen. Der Schein der am Straßenrand stehenden Laternen drang bis hierher.

Über den Sand zu den beiden Schaukeln laufend, schwieg Anya, wie sie es getan hatte, seit sie sich auf den Weg hierhin gemacht hatten.

Diese Zeit der Stille hatte sie gebraucht, um ihre Gedanken zu ordnen. Denn so wirklich einschätzen konnte sie ihren Freund nicht. Es kam ihr plötzlich so vor, als kannte sie Nick gar nicht, als wäre das ein Fremder. Wie viel von dem, was er in den letzten Jahren abgezogen hatte, war nur gespielt? Und noch viel wichtiger, warum hatte er anscheinend die ganze Zeit nur den Idioten gemimt? Wieso hatte sie das nicht eher bemerkt?

 

Sich auf einer der beiden Schaukeln neben der großen Rutsche niederlassend, wies sie Nick stumm an, die andere zu besetzen. Der tat dies auch ergeben.

Zusammen schwiegen sie noch eine Weile, starrten in den Himmel, der immer dunkler wurde und beobachteten die Sterne.

Schließlich fand Anya einen Anfang. „Warum?“

Nick antwortete gedämpft. „Nur so. Hab mir nichts weiter dabei gedacht. Wollte euch einfach etwas aufmuntern mit der Art des anderen Nick und irgendwie hat sich das in all den Jahren immer weiter entwickelt. Bis es kein Zurück mehr gab.“

„Du bist dumm“, erwiderte Anya trocken.

Ihr Freund lachte auf. „Ja, vielleicht hab ich mehr mit meinem Alter Ego gemein als man glauben möchte.“

Anya starrte bewusst weiter in den Himmel. „Wer weiß noch davon?“

„Abby, aber noch nicht all zu lange. Ich habe sie erpresst, damit sie dir nichts erzählt, also sei bitte nicht wütend auf sie.“

„Bin ich nicht. Wütend bin ich auf dich.“

„Umso besser. Verdient hab ich es.“ Er ließ den Kopf hängen. „Wer hätte gedacht, dass ich mich ausgerechnet bei einem Duell verraten würde?“
 

Der Ausbruch kam so plötzlich und vor allem für Anyas Verhältnisse erst so spät, sodass es an ein Wunder grenzte, dass Nick nur von der Schaukel in den Sand fiel und nicht aufgrund der Lautstärke bis zum Mond flog.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, du grenzdebiler Spasmo!?“, überschlug die Stimme der Blonde sich förmlich, als sie sich auf den groß gewachsenen, jungen Mann stürzte. „Du hast mich damals bei diesem scheiß Tag Turnier sowas von hintergangen! Wir hätten das Ding locker gewinnen können, wenn Mr. Mime hier sich nicht dazu entschlossen hätte, mir die Tour zu vermasseln!“

Nick am Kragen zu sich hoch ziehend, starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen, die einen bedenklich wahnsinnigen Touch gewonnen hatten, diabolisch an. „Irgendwelche letzten Worte, ehe ich dir den Arsch bis zum Genick aufreiße!?“

„Darüber regst du dich als Erstes auf?“

„Worüber sonst, du Hohlbirne!?“, gab Anya ihm mit passender Kopfnuss zurück, ließ ihr Opfer schließlich wieder los und setzte sich zurück auf die Schaukel. Leise nuschelte sie: „Den meisten anderen Scheiß hab ich sowieso vergessen, bei so viel verliere selbst ich den Überblick. Außerdem ist es nicht so, dass ich im Moment Zeit dafür habe, mich für all die Blamagen zu rächen.“

Nick richtete sich auf und klopfte seine Hose sauber, ehe er es Anya gleichtat und wieder Platz nahm.

„Dann bin ich ja beruhigt“, witzelte er, da er sich bewusst war, wie knapp er daran vorbei geschlittert war, den Rest seines Lebens 'Hölle' zu nennen.

„Aber wir sind keine Freunde mehr.“

Anyas kalte Worte schafften es tatsächlich, dass ihm die Kinnlade hinunter klappte.

„Ich kenne dich nicht“, meinte sie weiter und schloss die Augen, „deswegen müssen wir uns erst kennenlernen. Auf der Reise nach Dice. Und vielleicht bin ich so nett und lasse mich irgendwann wieder dazu herab, dich so zu nennen.“

 

Zuerst wollte Nick widersprechen, aber wie er sie so ansah, fehlten ihm die Worte. Ausgerechnet jemanden wie Anya so nachdenklich zu erleben, brachte selbst den sonst so gefassten Nick ins Schwanken. Denn anscheinend nahm sie sich das mehr zu Herzen, als man es ihr jemals zutrauen würde.

Aber war es denn so überraschend?

Sie hatte eben erst auf eine für sie sehr schmerzhafte, demütigende Weise erfahren, dass er sie all die Jahre angelogen hatte. Normalerweise hätte Anya ihn, statt zum Spielplatz, in eine dunkle Gasse führen und auf mindestens zehn kaltblütige Weisen umbringen müssen. Zumindest wäre das ihr gewohntes Muster gewesen.

Dass sie ihm 'nur' die Freundschaft vorläufig kündigte, qualifizierte sie praktisch für einen Platz in Gottes Reich, an ihrer mangelhaft ausgebildeten Gutmütigkeit gemessen.

 

„Heißt das, dass du einverstanden bist, wenn ich dich begleite?“

„Ja“, brummte sie, „aber nur, weil Levrier sagt, dass du ganz nützlich sein könntest.“

Nick schmunzelte. „Keine Sorge, das werde ich. Mach dir um die Kosten für die Reise keine Sorge, die werde ich tragen.“

Anya warf ihm einen verstohlenen Blick herüber, hielt sich dabei an den Trägern der Schaukel fest. „Und wie?“

„Lass das meine Sorge sein, ich bin recht gut in Sachen Hacking. Erinnerst du dich an Nina Placatelli?“

Sofort verfinsterte sich Anyas Ausdruck. „Leider ja! Diese strunzhohle Reporterin, die Abby so übel- Moment mal! Wenn du klug bist, heißt das ja, dass du damals absichtlich-!“

„Warum ich das gemacht hab, erkläre ich dir ein anderes Mal“, schmetterte Nick den aufkommenden Sturm eilig ab und hob die Hände, „es war nur zu unserem Besten! Wenn es dich beruhigt: ich kann ihr Konto knacken und dir damit alles kaufen, was du willst!“

„Tch! … alles?“

Er grinste breit. „Alles. Auch die Brust-OP.“

Nick wusste, dass er nur noch mehr Öl ins Todesfeuer Anya goss, aber genauso kannte er seine Freundin gut genug, um sich in Sicherheit zu wiegen. Denn wie Anya selbst des Öfteren sagte, tötete sie ihre Nutztiere nicht. Außerdem war es sein geborener Zwang, sie zur Weißglut zu treiben, den Teil hatte er nie spielen müssen.

 

„Aber mal was anderes“, änderte er dennoch mit plötzlichem Ernst das Thema, „der Sammler. Ich habe darüber nachgedacht. Dass du seinen Auftrag erfüllen sollst.“

Anya beugte sich interessiert nach vorne. „Ach ja? Lass hören, Einstein!“

„Er kann es nicht.“

„Kann was nicht?“

„Die Aufgabe selbst erledigen. Das ist der einzige logische Schluss“, sprach Nick und sah seine Vorübergehend-nicht-Freundin vielsagend an. „Jemand von seiner Macht müsste locker mit einem Werwolf fertig werden. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber vielleicht wird er beobachtet.“

Der skeptische Tonfall Anyas wollte nicht abklingen. „Von wem?“

„Jemanden, der noch mächtiger ist als er.“ Nick schüttelte den Kopf. „Das ist aber nur eine Möglichkeit. Eine andere wäre, dass er selbst nicht mehr so mächtig ist, wie er uns glauben lassen will. Da wir nicht einmal wissen, was für Gegenstände du suchen sollst, wäre es denkbar, dass er sie braucht, um sich zu stärken.“

Anya runzelte ärgerlich die Stirn. „Der hat nicht den Eindruck gemacht, neuerdings an Altersschwäche oder sonstwas zu leiden.“

Etwas Schwung holend, begann Nick zu schaukeln. Dabei sagte er: „Als Laie fällt einem das nicht auf. Für ihn geht es darum, anderen Dämonen voraus zu sein. Was denkst du, was sie mit ihm anstellen würden, wüssten sie, dass er geschwächt ist? Aber natürlich ist auch das nur ein Gedanke. Im Endeffekt wissen wir nur, dass du kannst, was er selbst nicht zu tun vermag. Und wohl auch niemand sonst, wenn man bedenkt, dass er auch diesen Kyon hätte losschicken können, statt dich in eine aufwendig geplante Falle zu locken.“

Garstig erwiderte Anya: „Soll ich jetzt einen Freudentanz aufführen?“

„Nein.“ Nick bremste mit den Hacken den Schwung, blieb stehen und sah überzeugt zur Blonde herüber. „Aber es könnte sich noch zu unserem Vorteil erweisen. Außerdem sollten wir noch etwas bedenken. Jemand, der so gut über alles informiert ist wie er, weiß nur in Ansätzen, wonach du suchen musst?“

„Yeah“, brummte Anya, „normalerweise müsste der doch nur mit dem Finger schnippen, um diese Leute vor sich erscheinen zu lassen. Da ist was faul. Entweder ist das wieder so ein dummer Test, oder … keine Ahnung, irgendwas anderes halt.“

„Was auch immer es ist, wir werden es herausfinden, irgendwie. Spiel' erstmal sein Spiel mit, damit wir etwas mehr erfahren. Dann, wenn wir uns sicher sein können, dass du die wichtigste Komponente in seinem Plan bist, werden wir den Spieß umdrehen.“

 

Die Blonde zog überrascht eine Augenbraue hoch. Um dann breit zu grinsen. „Langsam gefällst du mir, Harper!“

Er lachte auf. „Hätte ich das geahnt, hätte ich mich nicht jahrelang zum Affen für dich gemacht. Na ja. Wir sollten zurück. Ich buche noch heute Tickets für den Flug nach Dice, sodass wir so schnell wie möglich los können.“

„Mit gefallen meinte ich, dass ich dich weniger hasse“, stellte Anya eiskalt klar, „auf meiner Racheliste #1 stehst du seit heute nämlich ganz weit oben, Harper!“

„Ich nehme das mal als Kompliment, denn normalerweise ist die nur mit dem Namen Redfield gefüllt.“

„Erinnere mich jetzt bloß nicht noch an die“, brummte Anya und senkte den Kopf, „die dumme Kuh ist ein absolutes Hindernis.“

Nick horchte irritiert auf. „Hindernis? Ich dachte, du wärst über Marc hinweg?“

„Nicht wegen Marc, du Idiot! Sie ist eine von wenigen, an denen ich vorbei muss, um meinen Traum zu verwirklichen.“ Anya sah auf in den Sternenhimmel. „Ja, Harper, du hast richtig gehört. Ich habe einen Traum.“

Als Nick das hörte, zuckten seine Mundwinkel augenblicklich nach oben. „Das ist gut, oder?“

„Natürlich ist das gut! Seit ich weiß, dass ich nicht mehr lange leben könnte … will ich beweisen, dass ich die Duel Queen sein kann! Ich glaube, das ist der erste Traum, den ich je hatte. Und der ist verdammt nochmal perfekt!“

Überrascht davon, erwiderte Nick: „Duel Queen? Der Titel der besten Duellantin auf dem Planeten?“

„Ja! Und um den zu bekommen, muss ich Redfield vernichten. Und dich. Und noch ein paar andere Nervensägen, die ich erst noch treffen muss. Aber alles zu seiner Zeit, ich bin momentan nicht gut genug, mich so zu nennen.“

Dass Anya so viel Einsicht und Ehrgeiz zeigte, erfüllte Nick nur umso mehr mit Stolz. Denn dass sie ihm dies erzählte, zeigte, dass sie auch einen Schritt in die Richtung genommen hatte sich zu öffnen.

„Erzähl mir mehr darüber“, bat er.

Und das tat Anya.

 

 

Turn 40 – Moon Shine Night

Nach einem anstrengenden Flug kommen Anya und Nick schließlich in Dice an. Während Nick die Polizeiarchive durchforstet, um Infos über den geheimnisvollen Zanthe zu finden, bereitet Anya sich auf ihre ganz eigene Art und Weise vor. Mitten in der Nacht, dank eines genialen Einfalls von Nick, machen sie sich schließlich auf die Suche, wobei es Anya tatsächlich gelingt, Zanthe im in der nähe befindlichen Wald ausfindig zu machen. Allerdings …

Turn 40 - Moon Shine Night

Turn 40 – Moon Shine Night

 

 

Stöhnend ließ Anya sich in den Sitz neben Nick fallen. Die Economy Class war zwar nicht gerade das, was man leergefegt nennen konnte, aber das war es auch nicht, was sie störte. Okay, diese ganzen lauten, nervigen Mitpassagiere im Flugzeug störten sie sogar erheblich, aber verglichen mit anderen Dingen waren sie noch das geringste Übel.

Nein, Anya Bauer war aufgrund ganz anderer Dinge sauer.

Erstens: sie hatte es nicht geschafft, Barbie ins Flugzeug zu schmuggeln.

Zweitens: ihr Nicht-Freund Nick war selbst jetzt noch ein Idiot, weil er „nur“ zwei Tickets für die Economy Class gebucht hatte.

Und drittens: wer zum Henker empfand es als gute Idee, aufgrund des knapp einstündigen Fluges nach Dice die Monitore an der Rückenlehne der Sitze, die zur Unterhaltung der Fluggäste gedacht waren, wegen Einsparungsmaßnahmen auszuschalten!? Sie wollte abgelenkt werden, verdammt!

 

Griesgrämig verschränkte Anya die Arme.

Immerhin waren ihr Fahrrad und der Rucksack wieder aufgetaucht. Der vermeintliche Dieb hatte sie am Morgen nach dem Duell mit Nick klammheimlich bei ihr an der Garage abgestellt. Musste wohl zu viel Schiss vor ihr gehabt haben, überlegte Anya mit grimmiger Zufriedenheit.

Nick neben ihr las unbekümmert die Financial Times, bemerkte aber ihren Unmut dennoch.

„Was ist los?“

„Ist das Hotelzimmer genauso schäbig wie dieses Müllflugzeug?“

„Es hat drei Sterne, was ausreichend für unsere Zwecke ist“, antwortete Nick ein wenig pikiert ob der Undankbarkeit seiner Freundin, „wir sind nicht zum Urlaub machen unterwegs.“

„Ich weiß! Trotzdem … haben die wenigstens 'nen Pool?“

Nick blinzelte zweimal. „Nein.“

Damit schlug Anya schnaubend auf die karamellfarbene Lehne ihres Sitzes. „Verdammt!“

Ärgerlich stierte sie aus dem kreisrunden Guckloch nach draußen auf die Landebahn. Dafür war sie also früh morgens aufgestanden? Was für ein Witz! Wenn es nicht um ihr Leben ginge, säße sie gar nicht hier!

„Ich hab dir aber einen Termin beim Onkel Doktor verschafft. Für die Implantate“, gluckste Nick, um Anya aufzuheitern.

Aber als sie ihn aus den Augenwinkeln mit dem Todesblick anstarrte, vertiefte er sich eilig wieder in seine Zeitung und gab keinen Mucks mehr von sich.
 

Wo er schon Ärzte erwähnte: ihrer war jetzt ein Fall für einen guten Psychologen, dachte Anya mit bitterböser Genugtuung. Bisher waren alle Mediziner immer sehr kooperativ gewesen, wenn sie eine Befreiung für die Schule oder in dem Fall für die Arbeit brauchte. Aber dieses erstaunlich widerwillige Exemplar hatte erst klein beigegeben, als sie damit gedroht hatte, ihn mit dem Aquariumsglas seines Goldfisches zu ertränken … als er ebendieses schon auf dem Kopf sitzen hatte.

Damit reihte der Kerl sich jetzt in die Riege der Allgemeinmediziner ein, die ihren Beruf Anya-bedingt hatten aufgeben müssen. War es der sechste oder schon der siebte? Sie hatte irgendwann aufgehört zu zählen.

 

Gerade als Anya dies nachholen wolle, sprach der Bruchpilot des Billigfliegers zu ihnen und wünschte einen angenehmen Flug. Ehe es einen Ruck gab und das Flugzeug sich langsam in Bewegung setzte.

Die Faust in die Wange stemmend, starrte Anya auf die Landebahn, die sich langsam immer weiter von ihnen fort bewegte.

„Das kann ja heiter werden. Ich reise um die Welt, nur um einen Werwolf zu fangen. Was kommt danach, ein Vampir? Soll ich die Twilight-Crew zusammensammeln oder was!?“

Nick, der still zu ihr über seine Financial Times herüber linste, wusste es bereits, da er sich die vom Sammler ausgehändigten Unterlagen angesehen hatte. Und sein unzufriedener Gesichtsausdruck sprach Bände.

 

~-~-~

 

Etwa zwei Stunden später setzte Anya mit ungläubiger Miene ihren Koffer in der „Lobby“ des Hotels ab. Es war ein länglicher Durchgang, welcher geradeaus weiter zum Innenhof führte, zur Linken hingegen über eine Treppe nach oben. Rechts von Anya kümmerte sich Nick gerade um die Formalitäten an der kleinen Rezeptionsnische.

„Nicht 'mal Strom haben die hier“, giftete das Mädchen und starrte an die Decke. Der ganze lange Flur war nicht beleuchtet, sondern spendete zugeben angenehmen Schatten vor der grellen Sonne.

„Hier“, trat Nick an sie heran und reichte ihr einen der beiden Schlüssel, „im dritten Stock.“

„Müssen wir …?“

Anya sah sich noch einmal genau um. Nein. Kein Aufzug in Sicht.

„Du wirst es überleben. Seit wann benimmst du dich wie eine verwöhnte Göre?“

„Tch“, schnaubte sie da und schnappte sich ihren Koffer, „du hast wohl Halluzinationen! Eine Anya Bauer scheißt auf Luxus! Ich bin doch nicht Redfield! Komm jetzt!“

Damit stampfte sie auf die Treppe zu und machte deutlich ihren Unmut hörbar. Nick hingegen grinste nur triumphierend hinterher, bereitete es ihm doch immer wieder Freude, seine Sandkastenfreundin nach allen Regeln der Kunst zu manipulieren. Schließlich folgte er ihr.

 

Kaum hatten sie das kleine Zimmer erreicht, sah Anya sich zunächst misstrauisch um. Vor ihnen erstreckte sich ein kleiner Flur, in dem sowohl eine Küchenzeile, als auch ein Kühlschrank eingebaut war. Gleich neben ihr ging es zum Bad, geradeaus schon zu den Betten, die glücklicherweise getrennt voneinander standen.

„Tch, da ist ja das letzte Rattenloch noch komfortabler“, raunte sie und trat in den Hauptraum ein, der neben einem kleinen Schreibtisch in der hinteren Ecke, besagten Betten und einer Sitzecke nicht viel bot. Nicht einmal einen Fernseher gab es hier.

„Soll ich fragen, ob sie noch eins für dich frei haben?“, gluckste Nick und zog an ihr vorbei.

 

Sein Ziel war der Schreibtisch, an den er sich setzte. Neben diesen konnte man von einem Fenster aus auf den Innenhof schauen, in dem aber nur ein paar Mülltonnen standen. Dort spielten ein paar Kinder lauthals Ball.

Doch das störte Nick nicht, stattdessen wandte er sich auf dem Schreibtischstuhl zu seinem Koffer um, holte daraus seinen Laptop hervor und begann damit, diesen internetfähig zu machen.

„Wir wissen im Moment leider nicht sehr viel über dein erstes Zielobjekt“, begann er, während der Laptop sich hochfuhr.

Anya derweil setzte sich an die Bettkante, kaum hatte sie ihren Koffer neben das Bett gestellt und den zuvor geschulterten Rucksack auf ebendieses geschmissen.

Es war nur gut, dass die Dinger getrennt voneinander standen. Denn wenn sie mit Nick … nein, diese Vorstellung verbannte Anya aus ihrem Kopf, ehe jene ernsthafte Schäden verursachte.

„Von dem Sammlerdämon hätte ich in diesem Punkt mehr erwartet“, redete der weiter, „im Grunde ist der einzige Hinweis zahlreiches totes Wild, das in den letzten Tagen im nahegelegenen Wald gefunden wurde. Zu viel für normale Wölfe, zumal jene auch zu den Opfern zählen. Ich habe mich schon vorab informiert, diese Erscheinung ist erst vor Kurzem aufgetreten. Der letzte Fund ist erst gestern her.“

„Uaaaah“, gab Anya zu verstehen, was sie davon hielt, „ein vegetarischer Werwolf? Wie eklig!“

„Ich habe noch vor, mich um Mordfälle und dergleichen zu kümmern. Aber ich denke, dass der Typ noch in der Nähe sein muss.“

„Hier in der Stadt?“

„Ich weiß nicht, durchaus möglich. Aber … die Innenstadt ist nicht betroffen, unter den Kadavern war nicht ein Puschi oder Bello. Demnach vermute ich eher, dass er sich außerhalb von Dice aufhält, allein um nicht Gefahr zu laufen entdeckt zu werden.“

Anya schnaubte. „Also glaubst du, dass er sich im Wald versteckt?“

„So ist es. Die Behörden zumindest sind ratlos, was diese Welle an gerissenem Wild losgetreten hat.“ Nick schnalzte mit der Zunge, lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück und sah aus dem Fenster. „Aber ich bin kein Werwolf-Experte. Bis ich mir da ganz sicher sein kann, muss ich wohl noch etwas Recherche betreiben.“

Damit stürzte er sich wieder auf den Laptop.

 

„Hmm, wenn's sein muss. Ich hab eh noch was zu tun, ehe wir loslegen können. Wegen diesen blöden Sicherheitsbestimmungen muss ich erstmal zusehen, einen angemessenen Ersatz für Barbie zu finden. Ohne sie fühl' ich mich einfach nicht wohl“, überlegte Anya ärgerlich.

„Tu das“, meinte Nick nun völlig abgelenkt, begann zu tippen.

Neugierig sprang das Mädchen vom Bett auf und trat hinter ihn. „Was machst du da?“

„Habe ich doch eben gesagt. Genau jetzt fang' ich an, den Polizei-Server nach Informationen abzusuchen. Geh du ruhig ein bisschen shoppen, ich werde derweil alle möglichen Archive nach diesem Zanthe durchsuchen, den Polizei-Funk nebenbei abhören und mir überlegen, wie wir den Kerl finden werden. Gerade Leichenfunde in den letzten Tagen dürften hilfreich sein, wenn es welche gibt. Aber das alles wird eine ganze Weile dauern.“

„D-du bist ja richtig nützlich“, stammelte Anya verblüfft unter einem Hauch Anerkennung. „Ich glaub, ich fang' wirklich an dich ein bisschen weniger zu hassen.“

„Danke“, erwiderte Nick tonlos.

Anya sah ein, dass er sie offensichtlich nicht wirklich wahrnahm, sondern in seiner eigenen Hackerwelt zu schweben schien.

„Ich bin dann mal einen Baseballschläger und ein paar andere Nettigkeiten kaufen. 'Ken' bastelt sich ja nicht von selbst, also bis nachher.“ Anya wandte sich von Nick ab und machte sich auf dem Weg zur Tür. Noch einmal kurz anhaltend, fügte sie hinzu: „Und lass dich ja nicht erwischen!“

„Keine Sorge, ich bin gut in dem, was ich mache.“

 

Ehe sie aber ihr mühsam verdientes Geld in Tötungsmaschinen investieren wollte, wäre es eine gute Idee, einen alten Bekannten anzurufen, so dachte Anya. Unten in der Lobby hatte sie ein Telefon gesehen.

So trampelte sie die drei Stockwerke bewusst lautstark nach unten, sprang vom Treppensatz und steuerte geradewegs auf das Telefon gegenüber der Anmeldung zu. Aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke – die sie zutiefst hasste und die keinen adäquaten Ersatz für die Lederjacke ihres Vaters darstellte! – holte sie einen gelben Zettel, auf dem eine Telefonnummer geschrieben stand.

Ein paar Geldstücke in den scheinbar uralten Apparat einflößend, tippte sie die Nummer ein und wartete mit ungeduldig wippender Fußspitze darauf, dass ihr Informant abnahm. Nachdem aber selbst nach dem zweiten Tut noch keiner abnahm, schlug sie die Faust verärgert gegen die Wand.

„Geh gefälligst ran, Summers!“

Beim dritten war sie versucht, das Telefon 'rundum zu erneuern'. Nummer vier setzte es auf ihre schwarze Liste #3, fünf ließ sie innerlich schon regelrecht verkrampfen und sechs war schließlich der Punkt, an dem sie unter einem Wutschrei auflegte.

Scheinbar war Matt nicht in seiner Basis, wie er es mal genannt hatte. Andererseits verdiente er seinen Lebensunterhalt damit, Dämonen ausfindig und anschließend kalt zu machen. Also wäre es nicht verwunderlich, wenn er mal wieder unterwegs war.

Demnach konnte sie ihn auch nicht nach Werwölfen ausquetschen.

„Tch, Mistkerl“, schnaubte sie frustriert, „dafür werde ich dir deine Kauleiste justieren, wenn wir uns das nächste Mal sehen!“

Ihre einzige Möglichkeit, eventuell an sein Wissen zu gelangen, war jetzt, ihm eine E-Mail zu schreiben. Blöd war nur, dass er schon auf ihre letzte nicht reagiert hatte, aber die war auch nicht gerade angenehm zu lesen gewesen. Egal. Erstmal musste sie sich jedoch abreagieren und das ging am besten, wenn sie sich mit 'Ken' beschäftigte.

Man, was würde 'Barbie' glücklich werden, wenn sie endlich ihren Traummann nach all den Jahren liebevoller Planung zu Gesicht bekommen würde!

 

~-~-~

 

Einige Stunden später platzte Anya, schwerbeladen mit Tüten, aus dem schon der schwarze Kopf eines Baseballschlägers lugte, in das gemeinsame Zimmer rein. Und wie sie es erwartet hatte, saß Nick immer noch am Laptop.

„Oh, wie ich sehe hast du dich, seit ich weg war, nicht einen Millimeter gerührt“, giftete sie und pfefferte die offene Tür hinter sich mit einem Tritt zu, „du kannst dir gar nicht vorstellen, wie kurz davor ich bin auszurasten! Also ich war da in dem Laden mit den Knarren und dann wollte dieser Typ mir doch tatsächlich-“

„Keine Morde. Also scheint er wirklich, wie du sagst, 'vegetarisch' zu sein. Weitere Tierkadaver wurden bisher nicht gefunden, woraus ich schließe, dass unser Freund nachtaktiv sein muss“, unterbrach Nick Anyas Geschichte in immer noch demselben, emotionslosen Tonfall wie vorhin, „alles andere wäre aber ohnehin undenkbar. Mir ist jedoch zwischenzeitlich eine sehr interessante Idee gekommen. Nur leider werden die Leute nicht dümmer …“

 

Anya trat mit ihren Tüten in den Armen zu ihm. Er drehte sich kurz um, warf mit Entenschnute einen Blick hinein, musste aber schnell feststellen, dass sie nur Nägel, einen Hammer, den Baseballschläger und ein paar andere Sachen gekauft hatte – nichts Essbares. Sein Magen knurrte daraufhin aus Frustration, ehe er sich wieder seiner Arbeit zu wandte.

„Ich versteh nur Bahnhof“, gab die Blondine zu verstehen. „Aber wenn es um den Werwolf geht, werde ich gleich mal Matt eine E-Mail schreiben.“

„Kannst du gerne machen, auch wenn bisher alles, in das er involviert war, schiefgegangen ist“, zeigte sich Nick von der Idee wenig begeistert, „was auch immer, wir müssen schnell sein. Ich weiß nicht, wie lange der Werwolf sich noch hier in Dice aufhalten wird.“

„Und was ist jetzt mit dieser Idee?“

Auf den hellblauen Bildschirm starrend, erkannte Anya sofort, dass sie besser nur zuhören und nicht versuchen zu verstehen sollte.

„In einer Welt, in der praktisch jeder Duel Monsters spielt, also in einer Welt, in der praktisch jeder und alles vernetzt ist, gibt es im Falle bestimmter Außenseiter eine witzige Möglichkeit, ebenjene zu finden. Auch wenn wir dafür noch ein paar Stunden warten müssen, was aber kein Problem ist, da ich ohnehin noch Zugriff brauche.“

Anya blinzelte verdutzt. Man, bei dem war ja schon zuhören anstrengend. „Zugriff worauf?“

„Auf die Server der AFC. Nur haben die ihre Sicherheitsvorkehrungen seit meinem letzten Besuch vor einigen Monaten etwas verschärft“, erklärte Nick gelassen, „muss wohl jemandem sauer aufgestoßen sein, dass ich ein bisschen mit den Sicherheitsfunktionen der Duel Disks gespielt hab.“

 

Anya erinnerte sich. Nick hatte ihr auf dem Flug hierher erzählt, dass er damals, als er gegen den Dämon Isfanel gekämpft hatte, die Sicherheitsregler deaktiviert hatte. Somit konnte seine Duel Disk physischen Schaden verursachen.

Um das zu erreichen, hatte er die Server der Abraham Ford Company, kurz AFC, gehackt. Die waren für den Vertrieb von Duel Monsters in den Staaten zuständig. Anya kannte sogar den Sohn des Vorsitzenden, Benjamin Hendrik Ford, oder kurz Henry.

Diese Pestbacke, der stand auch auf ihrer Eliminationsliste auf dem Weg zur Duel Queen! Im Grunde war er das männliche Pedant zu Redfield, selbstgerecht, stinkreich und absolut unerträglich! Um seine Schwester Melinda zu finden, die damals unter Isfanels Einfluss stand, hatte er sich sogar heimlich nach Livington begeben. Um nicht aufzufallen, verzichtete er dabei auf den Einsatz von Daddys Kohle und ließ sich dabei so gehen, dass er wie ein Penner aussah – wie lächerlich!

 

„Das war doch bestimmt das Schnöselkind!“, schloss sie daher gallig.

„Wahrscheinlich, er muss wohl damals mitbekommen haben, dass ich nicht ganz sauber gespielt habe“, überlegte Nick und tippte dabei eifrig, „aber keine Sorge, spätestens in ein paar Stunden ist das hier geknackt.“

„Und was willst du damit erreichen? Ist ja nicht so, als ob wir was davon haben, wenn wir plötzlich Zugriff auf die Kundendaten des Werwolfs haben.“

„Das nicht, dazu müssten wir seine Kundennummer kennen“, erklärte Nick, „aber die AFC kann Duel Disks per GPS orten. So werden wir praktisch rund um die Uhr überwacht. Jeder Zug wird dokumentiert, um später für Statistiken ausgewertet zu werden.“

„Wusst' ich gar nicht“, gestand Anya und sah Nick verblüfft an, „du weißt aber 'ne Menge.“

„Das ist gesunder Menschenverstand, Anya“, wies er sie ab, „worum es mir geht ist Folgendes: wenn ich auf die AFC-Server zugreifen kann, kann ich feststellen, wie viele Duel Disks hier in der Nähe aktiv sind.“

„Moment, selbst wenn, weißt du nicht, welche ihm gehört.“ Anya schnaubte abfällig. „Das ist bescheuert!“

„Ist es nicht. Oder wie viele Leute kennst du, die nachts mitten im Wald mit einer Duel Disk rumlaufen? Ich bin mir irgendwie ziemlich sicher, dass er ein Duellant ist. Und wenn dem so ist, finde ich ihn. Nenn' es einfach Bauchgefühl.“

„Sicher, dass das nicht dein Kohldampf ist? Muss die Duel Disk dafür nicht an sein?“

„Nein, es reicht, wenn sie auf Standby geschaltet ist. Aber im Moment wäre es sinnlos, schon nach ihm zu suchen, da um diese Zeit noch Spaziergänger unterwegs sein könnten. Die Verwechslungsgefahr ist zu groß. Erst wenn es spät genug ist, können wir ungefähr eingrenzen, wer infrage kommt.“

Nick drehte sich mit Schwung zu ihr um und grinste breit. „Fang schon mal an, deinen 'Ken' zu basteln, vielleicht können wir heute schon loslegen.“

„D-das ging ja schnell. Ich dachte schon, wir müssen wochenlang nach dem Deppen suchen“, murmelte Anya überrascht, setzte dann aber ihre fieseste Grimasse auf, „aber umso besser, denn je eher ich dem Wolf das Fell abziehe, desto schneller bin ich gerettet! Nick, du bist wirklich nützlich! Bleib gefälligst so!“

Er zwinkerte verspielt. „Mit einem guten Plan gelingt einem alles.“

 

So geschah es, dass Anya zunächst eine E-Mail an Matt absetzte, ehe sie damit begann, Nägel in ihren 'Ken' zu hauen, damit diese das Fleisch seiner Opfer vom Körper reißen konnten. Nick versuchte zeitgleich, die Sicherheitsmaßnamen der AFC zu umgehen, was sich als weitaus schwieriger entpuppte, als er anfangs angenommen hatte.

Die Zeit verging wie im Flug, es wurde allmählich dunkel. Sie beide sprachen in der Zeit kaum ein Wort miteinander, abgesehen von gelegentlichen Nachfragen nach Matts Antwort, die leider ausblieb.

Irgendwann, Anya war zwischenzeitlich auf ihrem Bett weggedöst, wurde jedoch von Nicks lautem Ruf schließlich aufgeschreckt.

„Anya, ich hab ihn!“, rief er felsenfest überzeugt, „Wach auf!“

„Mach nich' so'nen Lärm, Harper“, brummte Anya verschlafen und schlug die Augen auf.

 

Erst jetzt fiel ihr auf, wie dunkel es im Zimmer war. Nur das Leuchten von Nicks Laptop erhellte es.

„Wie spät ist's überhaupt?“

„Kurz nach 1 Uhr.“

„Und wieso bist du dir so sicher, ihn gefunden zu haben?“, hakte sie müde nach, setzte sich an den Bettrand.

Nick antwortete nachdenklich: „Die Duel Disk hier ist nicht registriert. Im Gegenteil, sie ist überhaupt nicht verzeichnet, hat keine Produktnummer, gar nichts. Außerdem ist es doch etwas ungewöhnlich, allein, mitten im Wald um Mitternacht bewegungslos vor sich zu verharren.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Uns beeilen und der Sache nachgehen. Das heißt: du beeilst dich. Ich werde hier bleiben und dir per Headset sagen, wo du hin musst.“ Als wolle er dies unterstreichen, drehte er sich um und machte sich an seinem neben dem Schreibtisch abgestellten Koffer zu schaffen, aus dem er das besagte Headset und ein Handy herausfischte. Zu Anya aufsehend, meinte er geradezu verblüfft: „Was stehst du so 'rum? Mach dich fertig, in zwei Minuten kommt das Taxi, das ich für dich bestellt habe. Damit fährst du bis an den Waldrand. Von da sind es noch knapp zwei Kilometer, die du zu Fuß zurücklegen musst.“

 

Anya, die schon im klaren Zustand ihre Schwierigkeiten mit Nicks Anweisungen gehabt hätte, war im halbwachen Zustand gar nicht in der Lage, besagte Anweisungen zu verarbeiten, geschweige denn zu kritisieren.

So wurde ihr nicht ganz gewahr, was um sie herum abging, aber es klang gut. Umziehen musste sie sich eh nicht, 'Ken' war fertig und eine Taschenlampe hatte sie auch eingekauft. Im Grunde war sie bereit, diesem Werwolf richtig in den Arsch zu treten. Und sei es nur deswegen, weil sie wegen ihm mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen wurde!

 

„Hier, damit bleiben wir in Verbindung“, meinte Nick und reichte Anya kurz darauf das Handy, zusammen mit einem 100$-Schein. „Und der ist für den Taxifahrer. Denk nicht einmal dran, was davon einzustreichen.“

Danach erklärte er ihr noch, wo in etwa der Taxifahrer sie abzusetzen hatte. Anya warf sich ihre Jeansjacke über, zog diese komischen Handschuhe des Sammlers an, schulterte den Rucksack mit all dem Krempel und war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, da rief Nick noch: „Pass auf dich auf. Und geh kein unnötiges Risiko ein.“

Anya wirbelte um und zog eine verärgerte Grimasse. „Das einzige Risiko für mich ist, gar nichts zu tun. Außerdem solltest du dich eher um das Wölfchen sorgen, nicht um mich.“

Ihr Gegenüber schmunzelte. „Hast recht. Dann viel Erfolg!“

„Hmpf!“

Damit verschwand Anya aus dem Zimmer.

 

Was folgte war eine etwa zehnminütige Fahrt zum Wald, gespickt mit nervigen Fragen des Taxifahrers und einem schweigsamen Nick am Handy, der per Anyas Duel Disk ihre Position im Auge behielt.

Schließlich kam der Moment, an dem sie mitten im Nirgendwo aussteigen und den verdutzten Fahrer bezahlen musste. So stand sie mitten auf einer Landstraße im Dunkel der Nacht, umringt von einem nicht allzu dichten Wald.

„Wo lang jetzt?“, fragte sie mit dem Hörer am Ohr.

„Westen.“

Anya drehte sich nach links und begann zu laufen.

„Das andere Westen“, mahnte Nick sie leicht angenervt.

Stöhnend drehte die Blondine sich um und überquerte die Straße.

Da sich an der Richtung nicht viel änderte, lief Anya die meiste Zeit über wortkarg geradeaus. Der Wald stieg leicht an, insgesamt war es eine hügelige Gegend. Immer wieder drehte Anya sich einmal um die eigene Achse, leuchtete mit der Taschenlampe durch die Gegend, in der Hoffnung, bald zur Tat schreiten zu können.

Der Weg aber schien kein Ende zu nehmen. Auch schoben sich immer wieder Wolken vor den Mond, wobei sie sich fragte, ob Werwölfe sich wirklich bei Vollmond verwandelten – was heute also nicht der Fall sein konnte.

 

„Ist es noch weit?“, murrte Anya irgendwann ins Handy und leuchtete durch den finsteren Wald. „Ich komme mir vor, als würde ich jetzt seit Stunden hier herumlaufen!“

Der leichte Anstieg nach oben, gepaart mit den Bäumen, die wie schattenhafte Gestalten um sie herum standen und nicht zuletzt diese unheimliche Stille sorgten dafür, dass Anya zunehmend ein aufregendes Kribbeln in der Magengegend verspürte.

„Seit 27 Minuten läufst du jetzt“, quittierte Nick Anyas schlechte Laune trocken, „es ist nur noch ein kurzes Stück. Sei vorsichtig! Und vor allem nicht so laut!“

„Ach was, ich soll vorsichtig sein!?“, keifte Anya in das Handy und blieb stehen. Wild mit der Taschenlampe umher fuchtelnd, ließ sie ihrem Unmut freien Lauf und ignorierte gekonnt Nicks Warnung, leise zu sprechen. „Eher sollte dieser Werwolf-Typ vorsichtig sein, immerhin hab ich schon so einige Dämonen in die Flucht geschlagen, wohingegen er nur ein paar altersschwache Köter erlegt hat!“

Sie hörte, wie Nick seufzte. Es dauerte einen Moment, ehe er, um Fassung ringend, sagte: „Geh einfach weiter, es sind nur noch ein paar Meter.“

„Tch!“

 

Also richtete sie ihre Taschenlampe wieder auf den Weg vor sich und gelangte alsbald an einer steilen Erhöhung an, die sie so nicht nehmen konnte. Auch ein Blick zu beiden Seiten verriet, dass Mutter Natur ihr nicht wohl gesinnt war und sie praktisch gezwungen war, einen Umweg zu nehmen.

„Toll, was jetzt? Ist 'ne Sackgasse, der scheiß Hügel hier ist zu steil um ihn zu erklimmen!“

„Warte mal, du bist noch gut fünf Meter vom Signal entfernt. Anya, such nach einer Höhle!“

„Eine … Höhle?“, erwiderte die Blondine ungläubig, verspürte aber im gleichen Moment den Drang, Ken zu zücken. „Wenn du meinst.“

Also leuchtete Anya die etwa drei Meter hohe Anhöhe vor sich an allen Ecken und Enden an. Und siehe da, gar nicht weit von sich entfernt bemerkte sie ein klaffendes, nicht allzu großes Loch in ihr.

„Nicht schlecht, Nick. Da ist tatsächlich was“, lobte sie den jungen Mann, „sorry, muss auflegen, ich brauch jetzt meine Hände für was anderes. Ich melde mich gleich wieder, bye!“

Schon hatte Anya aufgelegt und ließ das Handy in ihrer Hosentasche verschwinden.

„Dann wollen wir mal sehen, was du so drauf hast, Flohzirkus“, murmelte sie leise und zog Ken aus ihrem Rucksack.
 

Leise näherte sie sich dem Loch in der Erde, welches gerade so groß war, dass sie gebückt hindurch laufen konnte. Ihr erster Gedanke dazu war die flehende Bitte, dass der Werwolf möglichst nicht so winzig wie ein normaler Hund sein mochte, denn das wäre ja langweilig und sowieso keine Herausforderung.

Die Taschenlampe zwischen die Zähne nehmend, beugte sie sich zu dem Loch und begann sich hineinzuzwängen. Dabei ließ sie sich nicht dran stören, dass sie schmutzig wurde, im Gegenteil, endlich war sie völlig wach und erlebte etwas!

Der kleine Tunnel war überraschend lang, verlief leicht abwärts und wurde zunehmend enger. Umso erstaunter war Anya, als sie schließlich an dessen Ende nach vorne rutschte und in einer etwas größeren Ausbuchtung landete. Sofort richtete sie sich auf und ließ die Taschenlampe kreisen, während sie gleichzeitig Ken kämpferisch nach oben riss und erstmal gegen die Decke stieß, was einen Regen von Erde auf ihr Haupt nach sich zog.
 

Hier drinnen konnte sie gerade so aufrecht stehen, was schon ein kleines Wunder an sich darstellte. Trotzdem war es immer noch höllisch eng. Der Lichtkegel fiel auf einen Schlafsack der in der rechten Hälfte der Höhle lag. Neben ihm stand ein prall gefüllter Rucksack und ein flacher, länglicher Stein, auf dem … ein metallischer Handschuh lag.

„Huh?“, gab Anya verwundert von sich und näherte sich Letzterem.

Denn in ihm gab es ein Fach für ein Deck, welches aber gerade nicht gefüllt war. Anya zählte 1 und 1 zusammen und erkannte, dass es sich hierbei um die Duel Disk handeln musste, die Nick geortet hatte. Neugierig schnappte sie sich den seltsamen Apparat und beäugte ihn.

„Schön und gut, aber wer sagt, dass hier ein Werwolf lebt?“

 

Am Boden liegt kein Fell oder Ähnliches. Trotzdem spüre ich eine ungewöhnliche Atmosphäre, die diesen Raum und die nähere Umgebung ausfüllt.

 

Levriers Worte in Anyas Kopf brachten diese zum Schnauben. „Heißt, wir haben uns nicht in der Hausnummer geirrt?“
 

Vermutlich nicht, auch wenn ich Werwölfen nie begegnet bin.
 

„Wie auch immer, hier ist niemand. Sag bloß, ich darf den ganzen beschissenen Wald nach dieser verdammten Töle absuchen!?“, raunte sie und verfrachtete Ken wieder in ihrem Rucksack.

Schlechter gelaunt denn je entschied sich Anya, dass sie lange genug in diesem Miefstall verharrt hatte und krabbelte kurzerhand wieder zurück zur Oberfläche. Dabei hatte sie den Handschuh mitgenommen, sollte Nick sich den mal ansehen.

 

Endlich wieder an der frischen Luft, schüttelte sie den Dreck aus ihrem Haar und wollte gerade zum Handy greifen, als eine kratzende, aber dennoch geschmeidige Stimme sie zutiefst erschrak.

„Der da gehört mir.“

Sofort wirbelte Anya mit gezückter Taschenlampe einmal im Kreis, doch sie konnte zwischen den Bäumen niemanden entdecken.

„Komm ruhig raus, Werwolf! Zanthe, oder wie auch immer du heißt“, forderte sie und trat einen Schritt nach vorne.

„Werwolf? Zanthe?“ Der Unbekannte lachte überrascht auf. „Das ist schlecht. Du hättest nicht herkommen sollen.“

In dem Moment erkannte Anya, woher die Stimme gekommen war, allerdings zu spät. Der junge Mann war von der Anhöhe direkt auf sie herauf gesprungen und rammte das Mädchen damit in den Boden. Dabei ließ sie die Taschenlampe und den Handschuh ächzend fallen.

An den Schultern gepackt, wurde sie herum gerissen, doch anstatt sich ihren Angreifer überhaupt anzusehen, winkelte Anya die Beine an und verpasste ihm so einen Tritt in die Rippen. Wodurch der Mann glücklicherweise von dem Mädchen abließ, was diesem wiederum genug Zeit gab, sich aufzuraffen und etwas Abstand zu gewinnen.

Dabei schnappte sie sich die Taschenlampe und leuchtete den Kerl an. Und erschrak.

 

Was da vor ihr stand, konnte weder als Mensch, noch als Wolf bezeichnet werden. Zwar trug die Gestalt ganz gewöhnliche Kleidung, in dem Fall eine schwarze Hose, ein weißes Shirt, darüber eine blaue Sportjacke und nicht zuletzt ein gleichfarbiges Kopftuch, das ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes, schwarzes Haar bedeckte, aber der Rest war …. unnatürlich.

Seine Augen leuchteten im Kegel der Taschenlampe golden auf wie Bernstein. An den knorrigen Fingern der einen Hand – an der anderen hatte er nämlich den Handschuh angebracht, den er klammheimlich zurückerobert hatte – prangerten längliche, blutverschmierte Krallen. Generell hatte der Typ eine leicht gebückte Haltung angenommen. Aber die ganze Haut war verschrumpelt, faltig, einerseits wie die eines alten Mannes, andererseits aber dennoch jünger. Besonders das Gesicht war nicht identifizierbar, denn es war komplett schwarz im Kontrast zur eher hellen Haut. Wohlgemerkt war aber keine Spur von Fell zu sehen.

 

„Gott, siehst du scheiße aus“, konnte Anya da nur sagen.

„Hast wohl was anderes erwartet, was?“, erwiderte er. „Kommt ja nicht sonderlich oft vor, dass jemand nach einem wie mir sucht.“

Sein Gegenüber setzte ein heimtückisches Grinsen auf, legte den Rucksack ab und zog daraus Ken hervor. „Dann ist wohl heute dein Pechtag.“

„Bist du eine Dämonenjägerin?“

„Schlimmer: ich bin Anya Bauer und will ...“

Ja, was wollte sie eigentlich?

„Ganz egal, was du willst, du hast mich gerade zu einer ziemlich ungünstigen Gelegenheit erwischt. Aber da du mich offensichtlich sowieso töten willst, sehe ich keinen Grund, dich von der Speiseliste zu streichen!“

Unter einem kehligen Geheule stürmte er unerwartet auf sie zu. Anya zückte Ken und wich dem ersten Prankenhieb seitlich aus, rannte dafür aber direkt in den zweiten und wurde an der Schulter getroffen. Mit einem Wutschrei wirbelte sie sich und Ken im Halbkreis, doch der Werwolf sprang zurück, nur um sich dann erneut auf sie zu stürzen.

Anya, ganz Möchtegernprofi, ließ sich absichtlich nach hinten fallen, um ihm im Flug den Fuß in den Magen zu rammen und über sich hinweg zu katapultieren. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr Gegner mithilfe einer Halbschraube elegant auf den Füßen landete, wohlgemerkt in ihrer Blickrichtung, und sich gleich wieder auf sie stürzte. Im Affekt rollte Anya sich zur Seite weg, machte anschließend eine Rückwärtsrolle, um wieder selbst auf die Beine zu kommen und sah sich schon dem Werwolf gegenüber, der mit beiden Klauen nach ihr schlug. Vor Schreck ließ sie die Taschenlampe fallen.

Sie konnte nur nach hinten ausweichen, wagte es nicht mit Ken zuzuschlagen, aus Angst, damit nur ungewollt eine Schwachstelle zu entblößen. So wurde sie immer weiter nach hinten getrieben, rannte immer schneller rückwärts, um etwas Abstand zu gewinnen.
 

„Man ist das langweilig“, raunte der Werwolf, nachdem Anya ein gutes Stück zwischen sich und ihn gebracht hatte.

Die fallengelassene Taschenlampe warf hinter Zanthe ihren Lichtkegel gegen einen Baum, sodass Anya nur schwerlich erkennen konnte, wie plötzlich eine Veränderung stattfand.

Seine Haut straffte sich, die schwarze Farbe in seinem Gesicht schien zu verschwinden, auch die Haltung wurde zunehmend gerader. Er wurde zu einem Menschen!

„Okay, bisher halte ich mich nur zurück, damit du das gleich weißt“, sagte er mit nun klarer Stimme, „scheinbar hast du keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast. Also, was willst du? Woher weißt du wie ich heiße und wie hast du mich gefunden?“

Also war das wirklich Zanthe, dachte Anya zufrieden. Allerdings konnte sie sich nur wenig darüber freuen, denn der Kampf hatte sie bereits ziemlich ausgezehrt. Und was war das, er hielt sich zurück?

„Alles was ich will“, keuchte sie, „ist einen bestimmten Gegenstand von dir!“

„Meinen Duellhandschuh etwa?“ Er besah die Apparatur an seinem Arm. „Warum solltest du ausgerechnet den wollen?“

In dem Moment schoben sich die Wolken, die den Mond verdeckten, beiseite. Dadurch konnte Anya Zanthe besser erkennen. Er war tatsächlich menschlich, nichts an ihm erinnerte noch an die Fratze von eben. Braune Augen sahen ihr skeptisch entgegen.

„Du weißt genau, was ich meine“, erwiderte sie in der Hoffnung, dass er mit Infos herausrückte, die sie gar nicht besaß.

Und scheinbar funktionierte es, denn er zog eine Augenbraue hoch. „Das? … okay, jetzt bin ich wirklich neugierig. Woher weißt du -davon-?“

„Geht dich gar nichts an!“

 

Keuchend hielt sich Anya die verwundete Schulter und verfluchte Gott und die Welt dafür, dass Levriers Heilkräfte nur noch in ihrer Erinnerung existierten. Sich auf Ken abstützend, stierte sie herüber zu Zanthe, der sich in halb schräger Haltung an einen Baum lehnte.

„Für ein Mädchen bist du ganz schön auf Zack“, lobte er Anya. Und diskreditierte sie sogleich wieder: „Aber für jemanden, der genau zu wissen schien, mit wem er sich anlegt, ziemlich schlecht vorbereitet.“

„Und für einen Werwolf bist du überraschend langweilig und schwach“, giftete Anya zurück. „Und so gar nicht haarig noch dazu!“

„Also bitte, ich habe mich nicht mal voll verwandelt“, winkte Zanthe ab, „wollt' dich ja nicht in den ersten zehn Sekunden unseres Kennenlernens zerfleischen. Ach quatsch, so dumm wie du bist, hätten fünf gereicht. Abgesehen davon hat eine volle Verwandlung den Nachteil, dass mir meine Klamotten nicht mehr passen, wenn du verst-“

Auch wenn er das Geschoss schon auf sich zukommen sah, zuckte der Kerl mit dem Kopftuch nicht einmal mit der Wimper, als Ken neben ihm dank der vielen Nägel im Baum stecken blieb, welcher unter dem harten Treffer gefährlich zu schwanken begann.

Nach einem anerkennenden Pfeifen lobte er Anya. „Guter Schuss. Aber dumm bist du trotzdem, denn jetzt bist du ganz wehrlos.“

„In Sachen nach Leuten werfen hab ich Übung“, raunte Anya und zog aus ihrer Jackentasche ihr Handy hervor. „Aber du bist ganz schön blöd. In dem Teil ist nämlich Sprengstoff, den ich mir von -damals- eingesteckt habe!“

Unter einem entsetzten Aufschrei wich Zanthe augenblicklich von dem Baum und Ken zurück, nur um Anyas hämisches Gelächter ertragen zu müssen.

„Als ob!“, gackerte die nämlich hysterisch, ließ das Handy wieder verschwinden und zeigte mit dem Finger auf Zanthe. Dabei nahm sie ihn jedoch scharf ins Visier. „Aber gut zu wissen, dass man dir damit was anhaben kann.“

Aufatmend fasste Zanthe sich an die Stirn und schmunzelte. „Haha, der war gut.“

Er neigte sein Haupt ein wenig vor und grinste spielerisch. „Dafür werde ich dich jetzt zerfleischen und deinen ausgehöhlten Schädel an den Weihnachtsbaum deines Vaters hängen.“

„Ach bitte, den Spruch hab ich schon vor Jahren gebracht“, winkte Anya unbeeindruckt, gar überheblich ab. „Außerdem ist gerade mal August! Als ob so eine halbe Portion wie du mir im Weg stehen würde. Du bist ganz bestimmt nicht Teil meines Traums! Und jetzt rück' das -Ding- raus!“

 

Der schwarzhaarige Pferdeschwanzträger horchte auf. „Deines Traums?“

„Duel Queen zu werden, was sonst?“

„Pah! So jemand Hohles wie du wird höchstens Miss Country Pumpkin!“ Zanthe sah an seinen Arm herab, an dem dieser seltsame, silberne Handschuh angebracht war. „Aber interessant … so kann ich dich natürlich auch fertig machen. Ist mir auch lieber, denn eigentlich vergreife ich mich nicht an Frauen. Auch wenn ich dich per se nicht als eine definieren würde.“

Sichtlich Gefallen daran findend, dass Anyas Augen aus ihren Höhlen ploppen wollten, streckte Zanthe den behandschuhten Arm aus, ballte eine Faust. „Lass uns doch in einem Duell entscheiden, ob ich bereit bin, dir -die- hier zu geben. Danach bist du doch hinterher, oder?“

Er griff mit der anderen Hand in die Brusttasche seiner Jacke und zog daraus eine Karte hervor. Mit weißem Rand, identifizierte Anya sie sofort als Synchromonster.

„... ne oder?“, gab sie dabei fassungslos von sich. „Der Typ will, dass ich für ihn Karten suche!?“

„[Angel Wing Dragon] ist mehr als das“, erwiderte Zanthe geheimnisvoll und schob die Karte in einen Schlitz seines Handschuhs. Dieser klappte daraufhin wie eine Apparatur aus und präsentierte zwei klingenartige Auswüchse, die die Zonen des Spielplans beinhalteten. „Besieg' mich, und du bekommst ihn. Verlierst du, naja, dann hast du eben Pech gehabt.“

Anya, die sich nicht im Traum einfallen ließ, dieses in ihrer zugegeben recht verzwickten Situation geradezu willkommene Angebot auszuschlagen, aktivierte die alte Battle City-Duel Disk an ihrem eigenen Arm.
 

Dennoch war es merkwürdig.

Er hatte keinen Grund, ihr so ein Angebot zu unterbreiten. Zugegeben, er schien sich selbst und die Welt um ihn herum nicht allzu ernst zu nehmen. Und wenn es stimmte, dass er sich gar nicht wirklich verwandelt hatte, dann war er wohl auch nicht wirklich auf ihren Tod aus, oder?

Dass er jedoch die Karte riskierte, obwohl er es nicht müsste, gab Anya zu denken.
 

„Warum der zweifelnde Blick?“, hakte Zanthe nach. „Ich mag das Risiko, wenn du dich wundern solltest, warum ich dir ein Duell zur Lösung unseres 'Problems' anbiete. Außerdem bin ich auch nicht -so- scharf darauf, das Teil zu behalten.“

„Achja, dann gib es mir doch.“

„Nein, so einfach mache ich es dir nicht. Außerdem gibt es noch etwas anderes, das ich herausfinden will.“ Dabei lag sein Blick auf Anyas weißen Handschuhen. „Ich glaube, ich weiß worauf das hier hinauslaufen könnte … ist ja auch egal.“

„Ich habe keine Ahnung, was du da gerade für geistigen Dünnschiss von dir gibst“, erwiderte Anya desinteressiert, „aber jemand, der das Risiko mag, ist mir sympathisch. Vielleicht biste ja gar nicht so übel, Wölfchen?“

„Du wirst dich wundern, wie übel ich sein kann“, gab er schmunzelnd zu verstehen, „die meisten Menschen, denen ich begegnet bin, haben es nicht lange mit mir ausgehalten.“

„Pff, im Vergleich zu mir bist du harmlos!“

„Na dann zeig mir, dass du es drauf hast, Anya Bauer! Duell!“

„Worauf du sowas von garantiert Gift drauf nehmen wirst! Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Zanthe: 4000LP]

 

„Ich fange an!“, entschied Anya, nachdem beide Duellhaltung angenommen und ihr Startblatt gezogen hatten. „Draw!“

Sofort zog sie nach und knallte noch im gleichen Augenblick ein Monster in horizontaler Lage auf ihre Duel Disk. „Ich setze dieses hier im Verteidigungsmodus! Zug beendet!“

In vergrößerter Lage tauchte die Karte vor ihr auf, begleitet von einem eisigen Wind, der durch die vereinzelt stehenden Bäume sauste und Anya frösteln ließ. Aber dank des Mondlichts und dem Licht der Hologramme konnte sie diesen Zanthe jetzt besser erkennen und im Auge behalten.
 

„Dann ich“, sagte dieser mit einer regelrechten nach Aufregung hungernden Mimik, „mach bloß nicht so schnell schlapp, Hohlkopf!“

„Fuck off!“, schrie jener und schickte den Mittelfinger hinterher.

Zanthe jedoch schob eines seiner Monster in die linke Klinge seines Handschuhs. Doch statt einem Monster, erschien vor ihm ein weiß leuchtender, goldener Schlüssel, den er mit Daumen und Zeigefinger ergriff. Mit ihm in der Hand, schwang er den Arm zur Seite aus. „Open the door to the lion! Erscheine, [Constellar Leonis]!“

Dort, wo er den Schlüssel hinhielt, breitete sich plötzlich eine Vielzahl weißer Ringe aus, zwischen denen viele verschiedene Symbole steckten. Anya erkannte ein paar von ihnen aus den Klatschzeitschriften wieder, die ihre Mutter las – es waren Sternzeichen.

Doch ehe sie diese Erkenntnis verarbeiten konnte, brach das Siegel auseinander, als Zanthe den Schlüssel von dessen Mitte entfernte. Daraufhin kam ein weißer Krieger aus dem Nichts gesprungen. Mit einem Satz neben Zanthe landend, begannen der einer Löwenmähne gleichende Helm und die langen Krallen an den Handschuhen des Mannes hellblau zu leuchten, was aufgrund der Nacht umso eindrucksvoller anmutete.

 

Constellar Leonis [ATK/1000 DEF/1800 (3)]

 

„Willst du mir mein Horoskop vorlesen oder was?“, raunte Anya gallig und verschränkte die Arme. Dabei kurz die Augen aufgrund des Schmerzes in ihrer Schulter zusammenkneifend.

„Ich mag die Sterne, denn sie können so viele Bedeutungen haben. Was ich nicht mag … bist du. Ich benutze jetzt den Effekt von Leonis, der es mir erlaubt, eine zweite Normalbeschwörung eines Constellars vorzunehmen.“

Mit einem Ruck schob er eine weitere seiner Handkarten in den Handschuh, ehe wieder ein goldener Schlüssel, aber mit anderem Schlüsselbart, vor ihm auftauchte. „Open the door to the ram! [Constellar Sheratan]!“

Demselben Muster wie eben folgend, schwang er den Arm aus und ließ ein weiteres dieser Siegel erscheinen, aus dem ein flinker Krieger gesprungen kam. Sein brauner Mantel leuchtete auf und anhand der beiden gebogenen Hörner an seinem Helm konnte man erkennen, dass es sich hierbei um den Widder handelte.
 

Constellar Sheratan [ATK/700 DEF/1900 (3)]
 

„Bei der Normalbeschwörung Sheratans aktiviert sich sein Effekt: ich erhalte einen Constellar von meinem Deck!“, erklärte Zanthe und zog aus seinem Kartenstapel eine hervortretende Karte heraus, die er vorzeigte. „[Constellar Pollux], wenn es dich interessiert.“

„Steuert der seine Duel Disk über Gedankenkontrolle, oder warum musste er nicht einmal ansagen, was er sich suchen will?“, beschäftigte sich Anya nebenbei abgelenkt mit den wirklich wichtigen Fragen des Lebens und achtete kaum auf das, was Zanthe tat.

Dieser zuckte unbedarft mit den Schultern, wissend, dass jemand im Verlaufe des Duells noch sehr große Augen machen würde. Unbedarft schob er seine permanente Zauberkarte, die er bereits gezückt hielt, in die andere Klinge des Duellhandschuhs. „Ich aktiviere [Constellar Star Chart]! Bei der Beschwörung eines Constellars-Xyzs ziehe ich einmal pro Zug eine Karte. Wenn das mal nicht eine gute Einleitung ist …“

Er nahm die beiden Monster aus den entsprechenden Zonen, legte sie übereinander und schob sie dann wieder zurück in ebenjene. Vor ihm tauchte augenblicklich ein neuer Schlüssel auf, doch anders als die zwei bisherigen, war er so groß, dass man ihn wie ein Schwert halten konnte. Genau das tat Zanthe schließlich auch. Den goldenen Schlüssel an die Stirn lehnend, sprach Zanthe: „Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network!“

Seine beiden Monster verwandelten sich daraufhin in gelbe Lichtsphären, die von der Spitze des Schlüssels absorbiert wurden. „Aus zwei Stufe 3-Lichtern wird ein gleißender Stern! Rang 3!“

Damit rammte er das Schwert vor sich in den Boden. „Xyz-Summon! [Constellar Hyades]!“

Der Schlüssel wurde von der Erde förmlich verschluckt, öffnete aber im Gegenzug eine Art Portal sehr ähnlich derer, die Zanthe zuvor geöffnet hatte. Wie durch einen Aufzug kam aus ebenjenem ein stolzer Krieger in weiß-goldener Rüstung nach oben gefahren. Die zwei Klingen in seinen Händen zeigten nach unten, wobei rot glühende Ringe am Schwertknauf befestigt waren. Der goldene Helm war ebenfalls mit Hörnern bestückt. Um Hyades kreisten zwei Lichtsphären.

„Nette Show“, meinte Anya abfällig, „für ein ansonsten langweiliges Monster.“

 

Constellar Hyades [ATK/1900 DEF/1100 {3} OLU: 2]

 

„Keine Sorge, ich fange erst an mich aufzuwärmen“, versprach Zanthe und griff nach seinem Deck, „gemäß des Effekts von [Constellar Star Chart] darf ich eine Karte ziehen.“

Kaum hatte er sein Blatt aufgestockt, streckte er den Arm mit ebenjenen Karten in der Hand nach unten haltend aus. „Zeit für den ersten Angriff! Hyades, attackiere ihr Monster! Red Star Raid!“

Mit einem Satz sprang Hyades in einer geraden Linie in die Höhe … und landete wie aus dem Nichts direkt auf Anyas Karte, rammte seine Klingen in diese.

„Lass dir das nicht gefallen, [Gem-Turtle]!“, befahl die ihrem Monster.

Die gesetzte Karte unter Hyades drehte sich um 180° und wurde zu einer Schildkröte mit Smaragdpanzer, an dem die Klingen des Kriegers schlichtweg versagten. Unter einem Stöhnen schleuderte das Tier seinen Angreifer von sich weg, der vor Zanthe landete.

 

Gem-Turtle [ATK/0 DEF/2000 (4)]

 

„Flippeffekt! Wenn [Gem-Turtle] aufgedeckt wird, bekomme ich [Gem-Knight Fusion] von meinem Deck auf die Hand.“

Anya zeigte den Zauber zwischen ihren Fingern vor, ehe sie ihn ins Blatt schob.

„Wer hätte das gedacht? Ihr Monster ist genauso ein Granitschädel wie sie“, scherzte Zanthe und nahm die 100 Punkte Schaden hin.

 

[Anya: 4000LP / Zanthe: 4000LP → 3900LP]

 

„Aber wollen wir mal schauen, ob wir nicht am Ende den größeren Dickschädel haben. Ich setze die hier und beende meinen Zug.“

Damit tauchte vor Zanthe und hinter Hyades eine verdeckte Falle auf. Demnach besaß er jetzt vier Handkarten und Anya sechs, wobei dies sich gleich ändern sollte.

 

Die zog mit großem Schwung die nächste Karte und beäugte sie skeptisch, ehe sie die Falle ihrem Blatt hinzufügte und über den Rand von ebenjenem zu Zanthe herüber lugte.

Sie könnte ihn jetzt vernichten, auf der Stelle, ohne Mühen. Wenn da nicht seine gesetzte Karte wäre. Immer, wenn sie einen Großangriff auf ihre Feinde plante, kam etwas dazwischen. Also würde sie diesmal nicht den Fehler begehen und am Ende als die Dumme dastehen! Nein, erst würde sie ihn aus der Reserve locken, dachte Anya und war dabei geradezu stolz auf sich.

„Ich beschwöre [Gem-Armadillo]! Wenn der gerufen wird, erhalte ich einen Gem-Knight vom Deck auf die Hand!“

So ließ sie das beinlose, braune Gürteltier vor sich erscheinen, welches dank Jetpack flog, und zeigte nebenbei [Gem-Knight Lazuli] vor, die sie in ihr Blatt aufnahm.

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Was du kannst, kann ich schon lange“, schnarrte sie und streckte den Arm weit aus, „ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Ein schwarzer Galaxienwirbel öffnete sich in der Mitte des Spielfelds. Das Gürteltier und ihre Smaragdschildkröte wurden in ebendieses als braune Lichtstrahlen aufgesogen.

„Xyz-Summon! Zerfetze meine Feinde, [Kachi Kochi Dragon]!“

Aus dem Overlay Network erhob sich ein eindrucksvoller Drache, dessen ganzer Körper mit silbernen Kristallen überzogen war. Dabei machten gerade die Auswüchse um seinen Kopf den Eindruck, als würde er einen Helm mit gebogenen Hauern auf Kieferhöhe tragen. Um ihn kreisten zwei Lichtkugeln.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4} OLU: 2]

 

„Attacke auf [Constellar Hyades]!“, befahl Anya mit dem Zeigefinger auf den Krieger gerichtet. „Primo Sciopero!“

Sofort schwang sich ihr Drache mit seinen weiten Schwingen in die Luft und setzte zum Sturzflug auf Zanthes Monster an. Dieses hob bereits schützend seine Klingen, um die Pranke abzuwehren, mit der [Kachi Kochi Dragon] zuschlagen wollte.

„Keine Sorge, Hyades, ich lass dich nicht im Stich!“, rief der Schwarzhaarige und schwang die Hand über seine Falle aus, die daraufhin aufklappte. „Hier, etwas Unterstützung! [Draining Shield]!“

Am linken Arm seines Kriegers materialisierte sich daraufhin ein runder, silberner Schild. Mit ihm konnte Hyades die Pranke des Drachen abwehren und mehr noch, aus ihr ein gelbliches Licht entziehen. Anyas Kreatur schrie auf.

„Was zum-!?“

„[Draining Shield] annulliert den Angriff und überträgt dessen Wucht auf meine Lebenspunkte“, erklärte Zanthe mit einem verschmitzten Lächeln. Dann brannte auch um ihn dieses gelbe Leuchten.

 

[Anya: 4000LP / Zanthe: 3900LP → 6000LP]

 

„Kch!“, zischte Anya wütend, als ihr Drache sich erschrocken auf ihre Spielfeldseite zurückzog.

Damit konnte sie dessen Effekt vergessen, denn nur wenn er ein Monster im Kampf zerstörte, konnte er ein zweites Mal angreifen. Aber immerhin war sie die Falle jetzt los. Nächste Runde war der Kerl sowas von fällig!

„Ich setzte die hier verdeckt und beende meinen Zug!“, kündigte sie daraufhin an. Nun war es Zeit für ihre eigene Falle, die sie in ihre Battle City-Duel Disk einschob. Kaum hatte jene sich vor ihr materialisiert, drehte sie regelrecht beleidigt den Kopf zur Seite, um zu zeigen, wie wenig sie von ihrem Gegner hielt.

 

Dieser legte seine Hand an das blaue Kopftuch und grinste. „Du bist nervig, weißt du das? Stell dich nicht so an. Du tust ja geradezu so, als hättest du schon gewonnen.“

„Pfff, mir doch egal, was -du- von mir denkst!“

„Mir eigentlich auch, weil du mir als Person so ziemlich am Arsch vorbei gehst“, erwiderte er und griff nach seinem Deck, „ich lege keinen Wert auf langweilige und nervige Bekanntschaften! Draw!“

Mit Schwung zog Zanthe nach, ehe er eines seiner Monster aus dem Blatt nahm und in die linke Klinge seines Handschuhs schob. Dann schnappte er sich den in der Luft auftauchenden Schlüssel, schwang diesen zur Seite aus. „Open a door to the twins! Zeig dich, [Constellar Pollux]!“

Ein neues Siegel entstand, das von einem stolzen, weißen Krieger durchbrochen wurde. Dieser schwang ein langes Schwert, aus dessen Parierstange tatsächlich zwei parallel verlaufende Klingen wuchsen, eine golden, eine weiß – genau wie die beiden Seiten seiner Maske.
 

Constellar Pollux [ATK/1700 DEF/600 (4)]

 

„Mit Pollux' Effekt kann ich im Zug seiner Beschwörung noch eine Normalbeschwörung durchführen!“ Zanthe nahm die Karte seines Kriegers aus der Monsterzone und ersetzte sie durch eine andere. „Und die nutze ich für eine Tributbeschwörung, bei der ich ihn opfere! Open a door to the maiden! [Constellar Virgo]!“

Den Schlüssel, der vor ihm auftauchte, auf Pollux werfend, erzeugte er so eine grelle Lichtsäule unter diesem. In jener verschwand der Sternenritter und machte einer anmutigen, maskierten Kriegerin Platz, um die mehrere Maschinen schwebte. Zwei stellten Schwingen dar, zwei andere Laserkanonen in Form von Sphären.

 

Constellar Virgo [ATK/2300 DEF/1600 (5)]

 

Die Hand bereits nach einem weiteren Schlüssel ausstreckend, erklärte Zanthe: „Bei Virgos Beschwörung kann sie einen Stufe 5-Constellar vom meiner Hand in Verteidigung zuhilfe rufen! Open a door to the scales! Spezialbeschwörung, [Constellar Zubeneschamali]!“

Kaum hatte er so einen weiteren Lichtzirkel neben sich erzeugt, trat dort ein schlaksiger, langer Krieger vor, der an seinen Händen Schilde mit herausragenden Krallen befestigt hatte.
 

Constellar Zubeneschamali [ATK/2100 DEF/1400 (5)]
 

Zanthe zog eine Karte aus seinem Deck, die hervorgeschossen kam. „Das Gute hierbei ist noch, dass Big Z mir Zugriff auf einen Constellar gewährt, wenn er gerufen wird.“

Jenes hieß [Constellar Kaus] und wurde ganz zu Anyas Missfallen dem Blatt ihres Gegners hinzugefügt.

„Wie viele Monster willst du eigentlich beschwören!?“, beklagte diese sich lautstark. „Jedes dieser Mistviecher ruft entweder ein anderes oder sucht dir Verstärkung!“

„Herzlichen Glückwunsch, dein Erbsenhirn hat gerade meine Strategie entschlüsselt!“, machte sich Zanthe lustig und hob verschmitzt den Zeigefinger an. „Aber um die Frage zu beantworten, für diese Runde nur eins noch!“

Damit nahm er die eben erst beschworenen Monster von seinem Handschuh und legte sie übereinander, ehe er dann in die Luft griff und plötzlich einen goldenen, riesigen Schlüssel in der Hand hielt.

„Nicht das schon wieder“, stöhnte Anya auf.

Längst aber hielt ihr Gegner sich den Schlüssel an die Stirn, welcher die beiden Lichtstrahlen von Zanthes Monstern absorbierte. „Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network! Aus zwei Stufe 5-Lichtern wird ein gleißender Stern! Rang 5!“

Wie bei seiner letzten Beschwörung dieser Art, rammte er damit den Schlüssel in den Boden und brach ein neues Siegel. „Xyz-Summon! [Constellar Pleiades]!“

Aus diesem, mit Runen gezeichnet, erschien ein anmutiger Krieger, der selbst Anya insgeheim beeindruckte. Von kräftiger Statur, trug er ein langes Schwert mit sich, das er aber mit der Klinge nach unten zeigend hielt. Auf seinem Rücken thronte eine Art Platte, die insgesamt sieben Spitzen aufwies und ein wenig wie ein Stern anmutete. Zwei Lichtsphären kreisten um ihn.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 2]

 

„Effekt von [Constellar Star Chart]“, rief Zanthe, als er sich aufraffte, „da ich diese Runde einen Constellar-Xyz beschworen habe, darf ich ziehen!“

Flink die neue Karte nachziehend, legte er stolz den Kopf in den Nacken. „Na, beeindruckt dich mein Spiel?“

„Pff, ich kenne jemanden, der das viel besser kann und mit dir den Boden wischen würde.“

„Dann gib mir doch seine Adresse, damit wir das klären können“, lachte Zanthe und winkte symbolisch zu sich. Unter dem Mondlicht wirkte er auf einmal sehr bedrohlich, wie er eine grimmige Mimik aufsetzte. Als wolle er Anya unbedingt beweisen, wie unterlegen sie ihm doch war. „Aber da du eh nur redest, muss ich mir gar keine Hoffnungen auf einen gescheiten Kampf machen!“

Damit griff er unter [Constellar Pleiades'] Karte und zog ein Xyz-Material hervor. „Effekt von Pleiades! Anders als du brauche ich nämlich keine Angst vor einer gesetzten Karten haben! Denn er schickt jede beliebige deiner Karten einmal pro Zug postwendend auf die Hand zurück! Los!“

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 2 → 1]

 

In einer 360°-Drehung schwang Pleiades sein Schwert, das vorher ein Xyz-Material absorbiert hatte, und erzeugte eine Schockwelle, die Anyas Falle mit sich riss. Jene kam aus der Duel Disk ihrer Besitzerin geschossen. Die nahm sie wutentbrannt wieder aufs Blatt. „Was soll der Scheiß!?“

„Muss ich dir das ernsthaft erklären, weil du zu dumm bist, das Offensichtliche zu erkennen?“

Anya verstummte perplex. Noch nie hatte jemand sie wegen rhetoirgendwas Fragen kritisiert, natürlich wusste sie schon, dass das nicht willkürlich war. Aber-!

„Na also, still bist du viel angenehmer! Und ich hoffe das bleibt selbst dann so, wenn ich jetzt Hyades' Effekt hinterher schicke!“

Auch sein anderer Krieger absorbierte mit überkreuzten Klingen eine seiner Lichtkugeln und erzeugte anschließend ein X aus Energie, welches er auf Anyas [Kachi Kochi Dragon] abfeuerte. Dieser ging schwer atmend in die Knie.

 

Constellar Hyades [ATK/1900 DEF/1100 {3} OLU: 2 → 1]

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4} OLU: 2]

 

„[Constellar Hyades] kann alle deine Monster in die Verteidigung zwingen“, erklärte Zanthe dazu, „womit er sich jetzt mit deinem Drachen messen kann. Wollen wir es gleich mal ausprobieren? Und um Himmels Willen, antworte jetzt bloß nicht darauf!“

„Huh!? Aber-!?“

„Los“, rief er und schwang den Arm aus, „Red Star Raid!“

Augenblicklich schnellte sein Krieger vor und nutzte seine beiden Klingen dazu, Anyas [Kachi Kochi Dragon] zurechtzustutzen. Die Kristalle an dessen Körper flogen durch die Luft, ehe eine Explosion von seinem Ableben zeugte. Der heftige Wind, der Anya dabei entgegen schlug, ließ sie alarmiert zurückweichen.

„Und jetzt gibt es einen direkten Angriff obendrauf“, versprach Zanthe unheilvoll, zeigte mit dem Finger auf Anya. „Los, [Constellar Pleiades]! Seven Star Raid!“

Er war vor ihr. Das Mädchen hatte noch gar nicht geblinzelt, da war Pleiades aus dem Nichts vor ihr erschienen, bewegte sich wie ein Tänzer um sie herum und versetzte ihr dabei mit seinem riesigen Schwert genau sieben Schläge und Schnitte.

„Ahhhhhh“, kreischte Anya, als der letzte Angriff sie in den Rücken traf und unter seiner Wucht auf die Knie zwang, „fuck!“

 

[Anya: 4000LP → 1500LP / Zanthe: 6000LP]

 

„Sag jetzt nicht, dass du dich von so etwas beeindrucken lässt?“, sprach Zanthe verblüfft, während sein Krieger wieder vor ihm neben Hyades erschien. „Realer Schaden ist bei solchen wie mir normal oder denkst du, man ist als 'Hüter' wehrlos?“

Anya, die keuchend aufsah, funkelte ihn böse an. „Nicht das, du Trottel! Deine Angriffe …“

Sie setzte einen Fuß auf den erdigen Boden und erhob sich langsam, setzte ein herausforderndes Grinsen auf. „... sind verdammt schwach! Abby hätte das besser hinbekommen. Die ist eine Sirene, musst du wissen.“

„Ist das so?“ Einen Moment lang starrte Zanthe nachdenklich in sein Blatt, ehe er wieder aufsah, eine Karte daraus hervor nahm und in seinen Handschuh schob. „Ist auch egal, die verdeckt. Zug beendet.“

Die Falle materialisierte sich vor seinen Füßen, ganz zu Anyas Ärgernis.
 

Die riss im Anschluss Speichel speiend die nächste Karte von ihrem Deck. „Draw!“

Womit sie satte acht Stück auf der Hand hielt. Und nun hatte sie den Salat: statt ungestört angreifen zu können, hatte sich Zanthes Feldsituation sogar noch verbessert! So ein verdammter Kackmist!

Aber nochmal würde sie nicht kuschen! Er wollte Krieg!? Den sollte er haben!

„Zauberkarte!“, brüllte sie förmlich durch den Wald. „[Gem-Knight Fusion]! Ich verschmelze [Gem-Knight Lazuli] und [Gem-Knight Garnet] von meiner Hand!“

Ein Wirbel aus Edelsteinen öffnete sich über dem Mädchen, in das die schattenhaften Silhouetten zweier Ritter gezogen wurden. Aus dem Strom landete ein breit gebauter, großer Krieger vor Anya, dessen Markenzeichen seine langen, mit tellergroßen Zirkonen besetzten Fäuste waren.

„Du bist das-!“
 

Gem-Knight Zirconia [ATK/2900 DEF/2500 (8)]

 

Noch ehe Anya ihren Beschwörungsspruch aufsagen konnte, absorbierte Pleiades sein verbliebenes Xyz-Material und schwang seine Klinge in einer 360°-Drehung aus, wodurch Zirconia von der anschließenden Schockwelle in die Luft gerissen wurde – und sich auflöste.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 1 → 0]
 

Anya stand der Mund offen.

„Pleiades' Effekt ist auch in deinem Zug einsetzbar. Pech für dich, dein Monster ist jetzt wieder in deinem Extradeck, da du es ja schlecht auf die Hand nehmen kannst.“

Mit bebender Lippe griff Anya nach ihrem Friedhofsschacht. „Effekt! [Gem-Knight Lazuli]! Normales Monster auf die Hand zurück!“

„Zum Neandertaler zurückmutiert oder was?“

„Das soll Wut ausdrücken! Unbändige Anya Bauer-Premiumwut! Garnet kommt also auf meine Hand!“

Sie zeigte den eben erst verfusionierten Ritter vor, zusammen mit der ebenfalls vom Friedhof geborgenen [Gem-Knight Fusion]. „Wenn ich einen Gem-Knight wie Lazuli verbanne, kommt meine Lieblingszauberkarte auf mein Blatt zurück! Und sieh mal, ich benutze sie gleich nochmal! Und diesmal kannst du mich nicht aufhalten!“

Genervt zuckte Zanthe mit den Schultern, starrte dabei schicksalsergeben in den bewölkten Sternenhimmel. „Was du nicht sagst …“

Als Anya den Zauber in die Höhe hielt, öffnete sich erneut der Edelsteinwirbel über ihr. „[Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Sardonyx], du die Rüstung! Vereint euch! Werdet zu [Gem-Knight Ruby]!“

Der in bronzene Rüstung gekleidete Garnet und der Morgenstern schwingende Sardonyx wurden in den Strom gezogen, ehe daraus ein neuer Ritter gesprungen kam. Dieser führte eine Lanze mit sich, wobei sein blauer Umhang über der roten Rüstung flatterte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Nicht genug!“, schrie Anya aber schon, die zwischenzeitlich Sardonyx vom Ablagestapel verbannt hatte, um sich [Gem-Knight Fusion] von dort aufs Blatt zu holen. Genau die hielt sie jetzt zusammen mit zwei neuen Rittern wieder in die Höhe, sodass sich der Wirbel über ihr gar nicht erst schloss. „[Gem-Knight Sapphire], du bist das Herz, [Gem-Knight Torumaline], du die Rüstung! Und das ergibt [Gem-Knight Aquamarine]!“

Ein hellblauer und ein goldener Ritter wurden in den Sog gezogen, der unter dem Glanz der tanzenden Edelsteine einen dunkelblauen Krieger preisgab. Aus dessen am rechten Arm befestigten Rundschild wuchs eine kurze, breite Klinge.

 

Gem-Knight Aquamarine [ATK/1400 DEF/2600 (6)]

 

„Immer noch nicht genug!“, keifte dessen Besitzerin noch weiter, hielt neben der durch das Verbannen von [Gem-Knight Sapphire] recycelten [Gem-Knight Fusion] auch einen Zauber sowie die ebenfalls zurückgeholten Gem-Knights Garnet und Tourmaline in die Höhe. „Mit [Dark Factory Of Mass Production] erhalte ich zwei normale Monster von meinem Friedhof! Und die nutze ich jetzt für eine Fusion! [Gem-Knight Tourmaline], du bist das beschissene Herz und Garnet, du die verdammte Rüstung! Einer geht noch, einer geht noch rein! Los, [Gem-Knight Topaz]!“

Genau dieser, ein Krieger in goldener Rüstung mit zwei Blitzdolchen bewaffnet, erschien ebenfalls aus dem Wirbel und gesellte sich zu seinen Kameraden.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

Durch das ganze Hin und Her hatte Zanthe zwischenzeitlich den Überblick verloren, nun jedoch bemerkte er, dass Anya lediglich eine Handkarte geblieben war – vermutlich den Zauber beziehungsweise die Falle, die er ihr mit Pleiades' Effekt aufs Blatt geschickt hatte.

Anya schwang bereits den Arm aus. „Wollen mal sehen, wessen Monsterarmee besser ist! Effekt von Ruby! Ich kann einen Gem-Knight opfern, um bis zur End Phase dessen Stärke auf Ruby zu übertragen!“

In leuchtenden Funken löste sich Aquamarine auf. Die glitzernden Partikel sammelten sich um den roten Ritter, in welchem sie letztendlich verschwanden und zu einer roten Aura wurden.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 3900 DEF/1300 (6)]

 

„Nett-“

„Es kommt noch besser“, unterbrach Anya ihren Gegner, „denn wenn Aquamarine auf den Friedhof wandert, schickt er eine deiner Karten auf die Hand zurück! Wie du mir, so ich dir! Verpiss dich, Pleiades!“

Unter diesem schoss eine riesige, dampfende Fontäne hervor, welche ihn einfach verschlang.

Zanthe machte große Augen. „Vielleicht hast du ja doch ein bisschen Restintelligenz?“

Allein für diesen Spruch würde sie ihm im Anschluss alle Knochen brechen, schwor sich Anya, obwohl sie genau wusste, dass das alles andere als ein leichtes Unterfangen werden würde. Solange sie dieses nicht in die Tat umsetzen konnte, musste eine Demütigung per Kartenspiel reichen.

Dementsprechend schwang sie den Arm aus. „Los, Ruby, greif [Constellar Hyades] an! Sparkling Lance Thrust!“

Womit Ruby augenblicklich begann, auf den weißen Krieger mit den zwei Klingen los zu stürmen. Mit seiner Lanze ausholend, brachte er die zur Abwehr erhobenen Schwerter Hyades' zum Zerbersten und landete einen Treffer direkt in die Brust. Sein Feind ging in einer Explosion unter.

 

[Anya: 1500LP / Zanthe: 6000LP → 4000LP]

 

Zanthe verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Anscheinend kannst du wirklich keinen realen Schaden verursachen. Das wird ja immer besser und mit immer besser meine ich, immer uninteressanter.“

Etwas leiser fügte er, nur für sich, hinzu: „Merkwürdig, wo sie doch -die- hat …“

„Brauch ich auch nicht! Jedenfalls noch nicht! Mach dich lieber bereit, direkt angegriffen zu werden von [Gem-Knight Topaz]!“ Anya setzte ihr hässlichstes Grinsen auf. „Zu deiner Information: er kann zweimal angreifen! Thunder Strike First und Second, in einem Rutsch!“

Kaum war Ruby an seinem Platz neben Topaz zurückgekehrt, rannte dieser los und zückte seine beiden Blitzdolche. Zanthe allerdings schenkte dem gar keine Beachtung, sondern fasste sich nachdenklich ans Kinn und grübelte. So bekam er nur am Rande mit, als die beiden Klingen in einem Kreuzhieb durch ihn hindurch glitten.

 

[Anya: 1500LP / Zanthe: 4000LP → 400LP]

 

„Führung ahoi!“, jubelte Anya.

„Conqueror's Soul … hast du sie wirklich?“

Anya horchte auf. „Was hab ich?“

„Nichts“, winkte Zanthe ab und richtete wieder sein Augenmerk auf sie, wenngleich auch mit einer gewissen Spur von Skepsis, „das kann nicht sein. Dann würdest du deine Zeit nicht mit mir vergeuden …“

Seine Gegnerin, die nicht verstand, wovon der junge Mann dort sprach, zischte wütend. Wenn er glaubte, dass auf geheimnisvoll zu tun auch nur irgendwie ihre nicht existierende Gnade herbei beschwören würde, täuschte er sich gewaltig.

Schnaubend rammte sie geradezu ihre Falle in die Duel Disk. „Die da verdeckt! Zug beendet, wodurch Rubys Angriffskraft wieder normal wird.“

Im selben Atemzug verschwand die rote Aura um ihn, wobei sich gleichzeitig die Falle vor Anyas Füßen materialisierte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/3900 → 2500 DEF/1300 (6)]
 

„Ich weiß, es ist sinnlos, aber ich versuch's nochmal: warum bist du hier?“, begann Zanthe plötzlich. „Warum willst du [Angel Wing Dragon]? Was weißt du über mich und ihn?“

„Das geht dich immer noch'n Feuchten an!“

Unzufrieden mit dieser Antwort verzog Zanthe den Mund. „Blöde Ziege. Aber andererseits kann man von deiner Sorte wohl kein Entgegenkommen erwarten.“

„Was war das!?“ Anya hob drohend die Faust.
 

„Wie wär's“, erwiderte Zanthe. Plötzlich zogen dunkle Wolken über den Mond. Finsternis legte sich über den Wald, die nur durch die Hologramme gebrochen wurde. „Mit deinem Untergang?“

Mit einem Schlag begannen seine Augen goldgrün zu leuchten, als er nach seinem Deck griff. „Draw!“

Mit Schwung riss er die Karte von seinem Deck.

 

Anya Bauer!

 

Jene erschrak regelrecht, als „Gem-Knight Levrier“ neben ihr auftauchte. „Hat er gerade-!?“

 

Nein. Ich wollte dir nur mitteilen, dass er dem Schicksal keinen neuen Pfad hinzugefügt hat, so wie wir es zusammen imstande sind. Es besteht also kein Grund zur Sorge.

 

Verdutzt blinzelte Anya. „M-mehr nicht?“
 

Nein.

 

Damit verschwand Levrier wieder und hinterließ eine mehr oder weniger ziemlich irritierte Anya, die zunehmend den Eindruck gewann, dass ihr Partner sie lediglich hatte verarschen wollen.

„Levrier, du nutzloses Stück Pappe-!?“

„Netter Geisterfreund, den du da hast“, sprach Zanthe mit Verachtung, „schön, dass er sich endlich mal zeigt! Ich hab ihn gespürt, musst du wissen.“

„Du hast …?“

„Ja. Und ich fände es nur fair, wenn ich dir jetzt meinen Partner zeige, wenn man ihn so nennen kann!“ Mit einer schnappenden Geste griff er nach vorn in die Luft und zückte einen goldenen Schlüssel. „Open a door to the archer! [Constellar Kaus]!“

Den Arm zur Seite schwingend, ließ er neben sich eines dieser bereits bekannten Portale erscheinen, aus dem ein vierbeiniger, weißer Krieger gesprungen kam, der stark an einen Zentaur erinnerte. Jener spannte den Bogen in seiner Hand.
 

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4)]
 

„Effekt von Kaus, jetzt!“, brüllte Zanthe und streckte den Arm mit offener Handfläche nach oben aus, griff zu, als wollte er nach den von Wolken verdeckten Sternen schnappen. „Zweimal pro Zug kann er die Stufe eines Constellars um plusminus eins ändern! Zweimal plus auf ihn!“

Dem Befehl folgend, schoss der Zentaurkrieger zwei Pfeile in gerader Linie in die Luft, welche schließlich als goldene Strahlen auf ihn zurück sausten und in seinem Körper verschwanden.

 

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4 → 6)]

 

Unerwartet schnappte sich Zanthe eine Karte, die aus seinem Deck hervorgeschossen kam und zückte sie. „Jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben. Die hier nennt sich [Constellar Rasalhague] und besitzt die Stufe 2.“

Das Monster in seinen Friedhofsschacht schiebend, setzte Zanthe ein Grinsen auf. „Da du mir generell etwas minderbemittelt vorkommst, erkläre ich dir kurz die Grundlagen einer Synchrobeschwörung. Du brauchst einen Empfänger-“

„Ich weiß wie das geht!“

„-und mindestens einen Nicht-Empfänger auf dem Feld. Zusammen ergeben sie die Stufe des Synchromonsters, das du vom Extradeck beschwören willst.“

Sich genervt wiederholend, fauchte Anya: „Ja doch, was soll damit sein!?“

„Wie du siehst, fehlt mir ein Empfänger. Und stell dir vor: ich spiele nicht einen einzigen davon im Deck. Trotzdem werde ich jetzt eine Synchrobeschwörung durchführen. Sieh her!“

Ruckartig riss Zanthe den Arm in die Höhe. Verblüfft folgte Anyas Blick jenem, ehe sie erschrocken die Augen weitete. Über ihrem Gegner formte sich aus goldenen Funken ein Gebilde, das Anya völlig fremd war. Ein goldener Ring von etwa einem Meter Durchmesser, aus dem insgesamt vier gebogene Ausläufer ragten.

„From the light of a different world, the herald of starlight decends upon the ravaged land!“

[Constellar Kaus] zersprang während Zanthes Spruch in sechs grüne Sphären, die in die Höhe stiegen und in einem leichten Bogen den goldenen Ring nach und nach durchquerten.

„By discarding a single star, I call upon you! Synchro Summon!“

Als alle sechs Sphären durch den Ring geflogen waren, wurde dieser von einem grellen Lichtblitz durchdrungen. Anya wandte sich geblendet ab, erschauderte aber anhand des tiefen Knurrens, das aus Zanthes Richtung kam.

„Shine forth, [Angel Wing Dragon]!“

In diesem Moment wuchsen aus den vier Ausläufern des goldenen Ringes schneeweiße, federbesetzte Flügel. Der Lichtblitz selbst hatte die Form einer schlangenhaften Gestalt angenommen, die sich im Ring befand. Den Oberkörper wie eine lauernde Kobra anhebend, öffnete der weiße Drache sein spitz zulaufendes Maul und brüllte majestätisch. Seine Fänge mochten klein sein, aber auch spitz – genau wie das kragenhafte Gestell um seinen Hals.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Ah! Fuck!“, schoss es aus Anya beim Anblick der Kreatur heraus. „Wie kann die-!?“

„Ganz einfach“, begann Zanthe nun zu erklären, „es geht zwar nur einmal während des Duells, aber ist die Sache wert! Angel Wing kann ohne Empfänger gerufen werden, wenn ich ein Licht-Monster von meinem Deck auf den Friedhof schicke. Dessen Stufe wird dann mit den Monstern, die man wie bei einer normalen Synchrobeschwörung vom Feld schicken muss, verrechnet. Na? Hast du genug Grips, um selbst auf die Gleichung zu kommen?“

Anya antwortete nicht, sondern rechnete verkrampft im Kopf nach, um sich nicht die Blöße zu geben. Stufe 6 vom Feld und Stufe 2 vom Deck … ohne Empfänger also. Stimmt, damit kam er auf Stufe 8. Aber so etwas ging doch gar nicht! Was war das für ein verrücktes Vieh!?

„Ich bin aber noch lange nicht fertig mit dir! Denn Angel Wing ist nur eines meiner Ass-Monster! Sieh her, ich aktiviere meine Falle [Limit Reverse] und belebe ein Monster mit 1000 oder weniger Angriff vom Friedhof!“, unterbrach Zanthe sie in ihrem inneren Monolog und streckte den Arm aus.

Die Falle sprang auf, wobei ihr Besitzer sich gleichzeitig den nächsten Schlüssel schnappte und ausschwang. „Open a door to the serpent! Komm zurück! [Constellar Rasalhague]!“

Aus dem von Zanthe erzeugten Tor sprang ein kleiner, maskierter Jüngling in goldener Rüstung, der einen aus zwei Schlangen verwobenen Zauberstab mit sich trug.

 

Constellar Rasalhague [ATK/900 DEF/100 (2)]

 

„Effekt Rasalhagues!“, rief Zanthe weiter. „Ich opfere ihn, um einen anderen Constellar vom Friedhof in Verteidigung zu beschwören! Open a gate to the Sacred Star Knights! Kehre zurück, [Constellar Hyades]!“

Der schwarzhaarige Werwolf-Jüngling schnappte sich den goldenen, schwertartigen Schlüssel vor ihm und rammte jenen in den Boden, woraufhin aus einem Siegel der Krieger mit den zwei roten Klingen erschien und niederkniete.

 

Constellar Hyades [ATK/1900 DEF/1000 {3} OLU: 0]

 

„Und da ich damit in dieser Runde einen Xyz-Constellar beschworen habe, darf ich dank [Constellar Star Chart] eine Karte ziehen!“

Sofort riss Zanthe diese von seinem Deck und schmunzelte bei ihrem Anblick.

Anya hingegen zeigte sich nicht überzeugt von dessen Vorgehen. „Pah! Ohne Xyz-Material ist Hyades doch nur ein nutzloses Stück Pappe!“

„Dann verwandeln wir ihn eben in etwas Nützliches“, erwiderte Zanthe und streckte den Arm in die Höhe, „das ist so einfach, dass einer Amateurin wie dir die Augen rausfallen werden!“

 

Anya Bauer! Ich befürchte, er wird-!

 

Jedoch brauchte Anya nicht Levriers Warnung in ihrem Kopf, um zu ahnen, was Zanthe vorhatte.

Unter seinem Krieger öffnete sich der schwarze Wirbel des Overlay Networks und sog Hyades in sich auf. Gelbe und schwarze Blitze schlugen um sich, trafen die umstehenden Bäume und sprengten an den getroffenen Stellen die Rinde fort.

„Ich rekonstruiere das Overlay Network! Aus meinem Rang 3-Monster wird ein Rang 6-Monster!“

„Rang 6!? Bisher waren die immer auf demselben Rang!“

„Keine Ahnung wovon du sprichst“, erwiderte Zanthe salopp und schwang den in die Höhe gestreckten Arm nach vorne aus. In dessen Hand materialisierte sich ein Schlüssel ganz aus Platin, der zu leuchten begann, ehe Zanthe ihn in den Schlund warf. „Open a gate to the Sacred Star Knights! Incarnation Summon! [Constellar Ptolemy M7]!“

Da tauchte er auch schon aus dem Wirbel auf. Von gewaltiger Größe, erschien es Anya regelrecht absurd, dass dieser weiß-goldene, mechanische Drache mit den schwarzen Schwingen und dem gleichfarbigen, langen Schweif tatsächlich eine Inkarnation sein sollte – eine Art von Monster, die normalerweise nur Immateriellen wie Levrier zugänglich war.

„Heißt das, er ist-!?“, fragte Anya und wurde vom Gebrüll des Drachen übertönt, um den eine goldene Lichtsphäre als Xyz-Material kreiste.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 DEF/2000 {6} OLU: 1]

 

Diese Kraft … sie ist nicht seine eigene. Aber ich kann nicht sagen, woher er sie haben könnte. Er besitzt definitiv kein Paktmal.

 

„Nützlich wie immer“, giftete Anya und schielte von einem Drachen zum anderen, „toll, jetzt habe ich es mit zwei Viechern dieser Größenordnung zu tun.“

Zanthe winkte ab. „Das war doch noch gar nichts. Ich mache Messier 7 noch stärker, damit eine Anfängerin wie du auch mal was zu sehen bekommt.“

Das gesagt, schob er eine Zauberkarte in seinen Duellhandschuh und erklärte: „Ich rüste Messier 7 mit [Xyz Unit] aus, die ihn für jeden Rang um 200 Punkte stärker macht und noch dazu ein Xyz-Material simulieren kann, wenn Bedarf besteht!“

„Noch stärker!?“

Schon glühte der Mechadrache in gelber Aura auf, wodurch er seinen organischen Kameraden, den [Angel Wing Dragon], regelrecht harmlos aussehen ließ.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 → 3900 DEF/2000 {6} OLU: 1]

 

„Und geschützt ebenso.“ Ihr Gegner zeigte noch eine Zauberkarte vor, eine permanente. „Denn ab sofort wird [Constellar Belt] dafür sorgen, dass die Effekte von Licht-Monstern nicht mehr annulliert werden können!“

Ein heller Schimmer ging plötzlich von seinen Monstern aus, der wie eine feine Staubwolke anmutete.

„Du hast Glück“, sagte Zanthe beim Anblick der verstummten Anya, „wenn ich Messier 7 als Inkarnation beschwöre, kann ich diese Runde seinen Effekt nicht nutzen. Andererseits ist das auch nicht mehr nötig, schätze ich.“

 

Derweil fragte Anya sich, über was für Effekte Messier 7 verfügen musste, wenn er keinen davon aktivieren konnte. Inkarnationen waren bekannt dafür, ihr Xyz-Material vom Friedhof recyclen zu können und besaßen drei Effekte, von denen der beste, welcher in der Regel drei Materialien kostete, erst einen Zug nach Beschwörung einsetzbar war. Es war demnach ein endloser Kreislauf des Terrors, den Anya schon am eigenen Leibe erfahren hatte.

Aber wenn Zanthe laut Levrier gar kein Paktträger war, woher stammte dann dieses Vieh!?

 

„Bist du bereit?“, erkundigte sich Zanthe vergnügt und zeigte mit dem Finger auf [Gem-Knight Ruby], schwang dann herüber zu [Gem-Knight Topaz]. „Ein Angriff von mir und das Duell ist vorbei. War ja ganz nett mit einer Hohlbirne wie dir, aber ich bevorzuge dann doch lieber die Einsamkeit.“

Anya pfiff verächtlich zwischen den Zähnen. „Und ich bevorzuge Leute, die sich auch mal neue Beleidigungen einfallen lassen. Dass du mich für dumm hältst, hab ich irgendwann zwischen dem zehnten und zwanzigsten Mal kapiert! Nur leider juckt es mich immer noch nicht!“

 

Die Zornesfalten auf deiner Stirn strafen deiner Worte Lügen, Anya Bauer.

 

„Schnauze, Levrier“, zischte das Mädchen verärgert.

„Wie gut für dich“, murmelte Zanthe und kniff die Augen zusammen, „wäre auch zu schade, wenn du in Selbstzweifel vergehst, während ich aus dir einen Festtagsbraten ala Zanthe mache! Und jetzt klau mir nicht länger meine Zeit, du nervige Kuh!“

Prompt schwang er den Arm aus. „[Constellar Ptolemy M7], greif [Gem-Knight Ruby] an! M7 Star Launcher! [Angel Wing Dragon], dein Ziel ist [Gem-Knight Topaz]! Seraphim Judgment!“
 

Da kommen sie!

 

Beide Drachen öffneten zeitgleich ihr Maul und feuerten mächtige Lichtstrahlen auf Anyas Ritter ab, welche furchtsam zurückschreckten. Messier 7s Attacke hatte einen orangefarbenen Kern, umhüllt von gelbem Licht, wohingegen Angel Wings Angriff strahlend weiß war und von einer um ihn drehenden, goldenen Flamme begleitet wurde.

„Wenn das durchgeht, lande ich auf dem Teller dieses Typen“, schnaufte Anya und sah auf die verdeckte Karte vor sich. „No fucking way! Falle! [Negate Attack]!“

Sofort betätigte sie den Knopf an ihrer Duel Disk und ließ die Karte aufspringen.

„Das nützt dir nichts, während der Battle Phase kannst du dank Angel Wings Effekt keine Fallen aktivieren!“, ging Zanthe dazwischen.

„Was!?

„… reingelegt! Du bist nicht nur dumm, sondern auch naiv! Das ist die Rache für die Lüge mit der Bombe!“

Die beiden Lichtstrahlen prallten vor Anyas Kriegern an einer unsichtbaren Mauer ab, verteilten sich wie ein Feuerwerk in der Luft und sorgten so für jede Menge kleiner Detonationen in der Umgebung. Anya achtete gar nicht darauf, sondern musste sich erst von dem Schock erholen, denn für einen Moment hatte sie geglaubt, jede Sekunde als Werwolf-Pastete zu enden.

„Du elender Mistkerl!“, kreischte sie wutentbrannt, als sie sich der Lage gewahr wurde. „Dafür werde ich dich-!“

Zanthe schob vor sich hin summend eine Falle in seinen Handschuh. „Da du meine Battle Phase abgebrochen hast, setzte ich diese Karte hier verdeckt und beende meinen Zug.“

Die Karte materialisiere sich vor seinen Füßen, wobei er aufsah und plötzlich eine ernste Mimik an den Tag legte, die er so noch nicht gezeigt hatte. „Aber denke nicht, dass du es leicht haben wirst. Im Grunde war das alles erst der Anfang. Wenn du Angel Wing wirklich haben willst, musst du ihn erst kennenlernen. Und das wirst du!“

Für einen Moment hatte selbst die sonst so taffe Anya etwas gefühlt, was ihr schon seit Monaten nicht mehr untergekommen war – er hatte sie tatsächlich eingeschüchtert mit seinen Worten.

„Ich freu' mich schon“, raunte sie missmutig, setzte dann aber ihr altbekanntes, dreckiges Grinsen auf, „ich hab nämlich auch erst angefangen.“

 

„Interessant … da sind sie also“, murmelte derweil ein heimlicher Beobachter des Duells. Dieser saß auf dem Ast eines Baumes, welcher sich auf der Anhöhe befand, die über Zanthes Höhle lag.

Mit verschränkten Armen murmelte die völlig von der Dunkelheit der Nacht eingenommene Person leise: „Zeig mir die Macht eines Hüters, Zanthe.“

 

 

Turn 41 – A Formidable Opponent

Das Duell mit Zanthe geht in die zweite Runde. Obwohl Anya versucht, ihn mit mächtigen Angriffen zu Fall zu bringen, erweisen sich Zanthe und insbesondere [Angel Wing Dragon] als ziemlich zäh. Es mündet schließlich in einem Kampf zwischen Levirer als [Gem-Knight Pearl] und [Angel Wing Dragon], womit Anya sich dem Siege gewiss ist, doch …

Turn 41 - A Formidable Opponent

Turn 41 – A Formidable Opponent

 

 

Kyon nahm seine Sonnenbrille ab, um sie mit einem Tuch aus der Brusttasche seines Butleranzuges zu putzen. Das Spektakel dort unten interessierte ihn an und für sich nur mäßig, aber es war sein Auftrag, Anya Bauer im Auge zu behalten. So wollte der Sammler es.

Aber nicht nur deswegen saß er jetzt hier auf dem Ast eines knorrigen alten Baumes oberhalb der Höhle und wohnte unbemerkt dem Duell zwischen Anya Bauer und ihrem Gegner bei. Nein, er wollte Letzteren mit eigenen Augen sehen. Zanthe …

 

Dessen Feld war gefüllt mit zwei mächtigen Monstern. Dem schwarzgeflügelten, gold-weißen Sternendrachen [Constellar Ptolemy M7], welcher von einer Lichtsphäre umkreist wurde. Und natürlich das erhabene Synchromonster [Angel Wing Dragon], eine weiße, schlangenartige Kreatur, um deren Körpermitte ein goldener Ring mit vier Schwingen schwebte.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/3900 DEF/2000 {6} OLU: 1]

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Aber nicht nur Monster füllten Zanthes Feld aus. Allein drei Slots seiner Backrow wurden durch Zauber gefüllt, namentlich [Constellar Star Chart], [Constellar Belt] und [Xyz Unit], wobei Letztere eine Ausrüstung für Messier 7 darstellte, die dessen Angriffskraft erhöhte und ein zusätzliches Xyz-Material simulierte. Wegen [Constellar Belt], der sich als dunstartiger Schimmer um Zanthe und seine Monster bemerkbar machte, konnte Anya die Effekte seiner Licht-Monster auch nicht annullieren. Mehr noch, besaß Zanthe zu guter Letzt noch eine verdeckte Falle und eine Handkarte.

Seine Gegnerin wiederum kontrollierte den roten Rubinritter mit einer Lanze und blauem Umhang, [Gem-Knight Ruby], und den goldenen, Blitzklingen schwingenden Topazritter, [Gem-Knight Topaz]. Mehr hatte sie nicht zu bieten, weder auf dem Feld, noch auf der Hand.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

Anya schnaubte und blickte auf ihre Duel Disk. Das Mondlicht und das Licht der Hologramme sorgten dafür, dass sie einigermaßen gut sehen konnte. Dieser elende Wald, mehr noch, die Gesamtsituation ging ihr ziemlich auf die Nerven. Sie wollte nach Hause und einfach nur ausspannen, aber nein, sie musste ja unbedingt ein paar Duel Monsters-Karten hinterher jagen!

Gerade so hatte sie den Angriff des Werwolfs abwehren können. Wäre er durchgekommen, sähe es jetzt ganz düster für sie aus. Das Letzte, was sie wollte, war als Mitternachtssnack für diesen Idioten zu verkommen!

Mit angezogenen Brauen sah sie auf und griff nach ihrem Deck. „Mein Zug, du Torfnase! Fang schon mal an um Gnade zu winseln! Draw!“

Voller Eifer riss sie die Karte von ihrem Deck und identifizierte sie noch während der ausholenden Bewegung als Falle. Schlecht, aber es hätte sie schlimmer treffen können, sagte sie sich.

„Du denkst, du hast die besseren Monster, ja?“, raunte sie anschließend und nickte ihm hochnäsig zu. „Guck mal auf deinen Duellhandschuh oder was auch immer das Ding sein soll!“

Aber der Kopftuchträger tat nichts dergleichen. „Soll mir das Angst machen?“

„Ja! Denn du wirst merken, wie wenig Spielraum du noch hast!“

 

[Anya: 1500LP / Zanthe: 400LP]

 

„Ich mach mir da ehrlich gesagt keine Sorgen.“

„Solltest du aber“, giftete sie und streckte den Arm aus, „denn scheinbar hast du Rubys Effekt schon vergessen! Ich kann einen Gem-Knight opfern, um seine Angriffskraft temporär um die seines Kameraden zu erhöhen! Los!“

In leuchtenden Funken löste sich Topaz anschließend auf und wurde von Rubys Lanze absorbiert.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4300 DEF/1300 (6)]

 

Das waren genug Punkte, um ihn unangespitzt in den Boden zu rammen, dachte Anya zufrieden. Egal welches seiner Monster sie angriff. Genau das war allerdings auch ihr Problem.

Sie kannte von keinem der beiden den Effekt. Und da war noch die verdeckte Karte. Aber was sollte sie sonst tun, ihr blieb nur ein offensives Vorgehen!

Einerseits wäre es am logischsten, [Angel Wing Dragon] anzugreifen, denn sollte Zanthe seine Monster stärken wollen, wäre bei dem Drachen die Chance größer, dass es nicht ausreichte. Außerdem war jener kein Constellar, konnte also nicht auf volle Unterstützung von Zanthes Decktyp hoffen. Andererseits … wäre das genau das, was man von ihr in dieser Situation erwarten würde.

Außerdem war der andere Drache, [Constellar Ptolemy M7] wesentlich gefährlicher, weil er stärker war. Der durfte nicht frei herumlaufen, sollte der Werwolf nur etwas liegen haben, was Schaden annulliert.

Verdammt, so viele Möglichkeiten …!

„Ne Idee, was ich tun soll, Levrier?“, murmelte sie leise.

 

Die Chancen stehen bei 100%, dass du scheitern wirst, egal welches Monster du angreifst. Also tu das, was du am besten kannst. Sei Anya Bauer, wie sie leibt und lebt.

 

„Sehr hilfreich“, kommentierte sie die Stimme aus dem Off ärgerlich, hatte den Wink aber verstanden, „mit dem Kopf durch die Wand, huh? Also Messier 7! Okay, Ruby, greif diesen kack Glitzerdrachen an, den ertrage ich ohnehin keine Sekunde länger! Sparkling Lance Thrust!“

Ohne Verzögerung schoss ihr Krieger wie ein Pfeil auf den halbmechanischen Drachen zu und richtete seine Lanze auf ihn.

„Heh, gar nicht so dumm für deine Verhältnisse“, grinste Zanthe, schwang daraufhin den Arm aus. „Angel Wing!“

„Huh!?“

Der schlangenhafte Drache schrie grell auf und bewegte sich in einer gleitenden Bewegung einfach vor Messier 7, bekam Rubys Lanze direkt durch den Kopf gejagt und explodierte. Es passierte so schnell, dass Anya glatt die Worte fehlten.

 

[Anya: 1500LP / Zanthe: 400LP]

 

„Ja ja“, kam Zanthe ihr mit langgezogenem Tonfall zuvor, „du hast doch Messier 7 angegriffen, wieso wurde Angel Wing getroffen, bla bla bla bla.“

 

Seid ihr zufällig verwand? Ich könnte schwören, dass mir seine respektlose Art bekannt vorkommt.

 

„Schnauze, Levrier!“, fauchte Anya wütend und zeigte ungeniert mit dem Finger auf Zanthe. „Und mir ist schon klar, dass dein bekloppter Drache sich einfach vorgedrängelt hat, Flohzirkus! Wieso stehst du noch!?“

„Angel Wing negiert jeden Schaden, den ich erleide, wenn er im Kampf involviert ist. Das ist seine Art, mich vor allen Gefahren zu beschützen.“ Zanthes Blick verfinsterte sich. „Er ist die perfekte Verteidigung, wie du noch merken wirst.“

 

Jetzt haben wir ein Problem, Anya Bauer.

 

„Tch, ich dachte, du hast das kommen sehen? Dann wirst du bestimmt wissen, wie ich zu kontern gedenke!“, fauchte das Mädchen aufgebracht und rammte ihre Falle in die Battle City-Duel Disk. „Die hier gesetzt! Ich beende meinen Zug!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/4300 → 2500 DEF/1300 (6)]
 

Noch während sich die Karte vor ihren Füßen materialisierte, tauchte noch etwas anderes auf dem Feld auf – der goldene, beflügelte Ring des eben erst erlegten Drachen! Zanthe griff nach seinem Friedhof und zeigte [Constellar Pollux] und [Constellar Kaus] vor.

„Während der End Phase, in der Angel Wing getötet wurde, kann ich zwei Stufe 4-Monster von meinem Friedhof verbannen“, erklärte er und streckte den Arm in die Höhe, „um Angel Wing wiederauferstehen zu lassen! Komm zurück!“

Vor Schreck klappte Anya die Kinnlade hinunter. Der Ring über Zanthe begann sich im Uhrzeigersinn zu drehen, wobei sich gleichzeitig eine hellblaue, wässrige Oberfläche in seinem Inneren ausbreitete. Zu beiden Seiten kamen Kopf und Schwanzspitze des Drachen daraus hervor geschoben, bis der vollständige Drache dem Dimensionsspalt entsprungen war.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Oh fuck!“, fluchte Anya beim Anblick der schlangengleichen Kreatur. „Was ist das für ein Mistvieh!?“

„Wie ich sagte, Angel Wing ist die perfekte Verteidigung! An ihm wirst du dir die Zähne ausbeißen, Mädchen!“, rief Zanthe aufgebracht und griff nach seinem Deck. „Sofern du überhaupt noch dazu kommen wirst! Mein Zug, Draw!“

Schwungvoll riss er die nächste Karte von seinem Duellhandschuh und besah sie für einen Moment erstaunt, ehe er seinen Blick wieder auf Anya richtete. Dann zog er [Constellar Hyades] unter Messier 7 hervor und erklärte dabei: „Da nun eine Runde verstrichen ist, kann [Constellar Ptolemy M7] seinen Effekt aktivieren. Mit diesem ist es mir erlaubt, ein Monster vom Feld oder dem Friedhof auf die Hand des jeweiligen Besitzers zurückzugeben.“

Anya erschrak. Auf den ersten Blick hörte sich das zwar nicht nach viel an, ermöglichte aber tatsächlich diverse Optionen.

„Meine Wahl fällt auf [Gem-Knight Ruby], welcher damit in dein Extradeck geschickt wird! Los Messier 7, Return Of The Star!“

Der mechanische Drache schnappte nach der Lichtsphäre, die um ihn kreiste, und verschlang sie mit einem Happen. Anschließend stieß er eine Mischung aus Heulen und seltsamen Singsang aus, bei dem Anya alarmiert die Taste zur Aktivierung ihrer Falle betätigte.

„Vergiss es!“, rief sie dabei angespannt. „Falle: [Gem-Enhancement]! Mit ihr opfere ich einen Gem-Knight und beschwöre stattdessen einen anderen von meinem Friedhof!“

Gerade als unter ihrem Ruby ein goldener Runenzirkel erschien, begann er von sich aus in alle Richtungen Lichtstrahlen auszusenden und löste sich langsam auf. Anya nahm ihn von der Duel Disk und ersetzte ihn mit dem gewählten Gem-Knight von ihrem Friedhof.

„Kehre zurück, [Gem-Knight Aquamarine]“, rief sie dabei, „in Verteidigung! Da das alte Ziel nicht mehr vorhanden ist, verpufft Messier 7s Effekt!“

Der goldene Lichtkreis verschwand zusammen mit Ruby. Stattdessen kniete vor Anya nun ein blauer Ritter, ausgerüstet mit einem Rundschild, aus dem eine breite, kurze Klinge herausragte.

 

Gem-Knight Aquamarine [ATK/1400 DEF/2600 (6)]

 

Zanthe begann zu grinsen. „Ah verstehe. Das hast du also vor. Gar nicht mal so übel.“

Nebenbei nahm er ein Monster aus seinem Blatt und legte es in die dazugehörige Klinge des Apparates ein. Sofort schnappte er nach dem kleinen Schlüssel, der vor ihm erschien.

„Open the door to the crab! Zeig dich, [Constellar Acubens]!“

Er schwang den Arm neben sich aus. Dort, wo die Schlüsselspitze mündete, entstand ein weißes Siegel mit vielen verschiedenen Symbolen auf drei ringartigen Ebenen verteilt. Aus jenem Portal brach, als Zanthe den Arm wieder zurück riss, ein kräftig gebauter Krieger, dessen Waffenarsenal aus zwei orange leuchtenden Zangenarmen bestand.

„Acubens verstärkt bei seiner Beschwörung alle Constellar um genau 500 Angriffspunkte!“

Sowohl er, als auch der Drache Messier 7 begannen in weißer Aura zu erstrahlen.

 

Constellar Acubens [ATK/800 → 1300 DEF/2000 (4)]

Constellar Ptolemy M7 [ATK/3900 → 4400 DEF/2000 {6} OLU: 0]

 

Anya schluckte beim Gedanken daran, was so ein Angriff von Zanthes Assmonster anrichten könnte. Dennoch würde sie nicht den Schwanz einziehen!

Seinerseits war ihr Gegner am Überlegen. Glücklicherweise kannte er den Effekt von [Gem-Knight Aquamarine] bereits von Anyas vorletztem Zug. Wenn er den Ritter zerstörte, würde dieser eines seiner Monster zurück aufs Blatt geben. Das hieß im Klartext, dass entweder Angel Wing oder Messier 7 ins Extradeck wandern musste. Allerdings war Anya dazu gezwungen, bei einem Angriff der beiden das jeweils andere Monster als Ziel zu bestimmen, da sie andernfalls durch die direkte Attacke des nicht betroffenen verlieren würde. Was im Klartext bedeutete: er konnte entscheiden, ob er Angel Wing oder Messier 7 behalten wollte.

Nachdenklich sah er auf seinen Duellhandschuh. „Perfekter Angriff oder perfekte Verteidigung?“

Nein, eigentlich wusste er bereits genau, was ihm wichtiger war. So streckte er den Arm weit aus und rief: „Los, [Angel Wing Dragon], greif [Gem-Knight Aquamarine] an! Seraphim Judgment!“

Der schlangengleiche Drache, um dessen Körpermitte der goldene Ring mit den Engelsflügeln kreiste, öffnete sein Maul und feuerte einen strahlend weißen Lichtstrahl auf Anyas Krieger ab, wobei eine goldene Flamme sich um den Angriff schlängelte.

„Da kommt er!“, murmelte Anya und wandte sich ab, die Arme schützend über den Kopf gelegt.

Unter einer heftigen Explosion wurde ihr Ritter zerfetzt, sengender Wind schlug dem Mädchen entgegen. Durch einen Spalt zwischen den Armen lugte sie zu Zanthe und rief: „Effekt von Aquamarine! Er schickt bei seinem Tod eines deiner Monster auf die Hand zurück, nämlich [Constellar Ptolemy M7]! Also in dem Fall ins Extradeck! Damit hast du dein stärkstes Monster verloren!“

Zanthe zuckte nur unbedarft mit den Schultern, als unter dem Mechadrachen eine Fontäne empor schoss und ihn mit sich riss. „Messier 7 zurück zu beschwören ist leichter als du denkst.“

„Tch!“

Den Arm anhebend, zeigte der schwarzhaarige Werwolf schließlich auf seine Gegnerin. „Aber erstmal kannst du dir jetzt etwas Quality Time mit [Constellar Acubens] gönnen. Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte!“

Der Krieger im Zeichen der Krebses stürmte nach vorn und schnappte mit seinen Zangenhänden nach Anya, die erst zurückwich, dann aber doch erwischt und mit spielender Leichtigkeit in die Höhe gerissen wurde.

„Argh, lass mich runter!“, stöhnte sie dabei unter dem Druck, der auf ihre Oberarme und den Torso ausgeübt wurde. Natürlich dabei wild strampelnd.

 

[Anya: 1500LP → 200LP / Zanthe: 400LP]

 

Seine letzte Handkarte ansehend, seufzte Zanthe kopfschüttelnd. „Und die wollte sich ernsthaft mit mir anlegen? Was für'n Witz. Zug beendet.“

Damit ließ Acubens seine Gefangene unsanft auf den Boden plumpsen und kehrte zu seinem Besitzer zurück.

 

Anya rieb sich den rechten Oberarm, der von dem Klammergriff ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Sie befand sich jetzt in der wunderbaren Situation, keinerlei Karten auf Hand oder Feld zu besitzen. Also gab es nur noch eine Möglichkeit, das Duell nicht zu verlieren. Aber sollte sie das tun? Ihren Vorsatz mal wieder brechen? Andererseits, wenn sie es nicht tat, würde sie der Welt womöglich nie beweisen können, dass sie diesen überhaupt einzuhalten vermochte.

„Keine Wahl“, stöhnte sie, „Levrier, tu, was du tun musst!“

 

Stets zu Diensten. Wenn ich dabei sterbe, weil mir die Energie ausgegangen ist, möchte ich-

 

„Schnauze! Mach gefälligst das, was man dir sagt, sonst stirbst du wirklich!“, fauchte Anya. Ihr war jetzt nicht danach, mit ihm herumzualbern.

Unter Zanthes interessiertem Blick legte das Mädchen ihre Finger an die oberste Karte ihres Decks und schloss die Augen. Ihre Hand begann weiß zu leuchten.

Sie sah es. Das Labyrinth aus endlos vielen Pfaden. Aber keiner davon war der, den sie gehen wollte. Ihr Verstand zeichnete einen neuen Pfad, immer dem Licht entgegen, das am Ende des Wirrwarrs wartete. Dann zog sie schwungvoll und unter lautem Ausruf. „Draw!“

Die Karte, die sie gezogen hatte, leuchtete weiß auf. Als Anya sie schließlich ansah, grinste sie dreckig. „Gute Arbeit, Levrier! Das ist genau das, was ich gebraucht habe!“

 

Sonne, Mond und Sterne, die Karte tanzt um meine Laterne …

 

Was auch immer das zu bedeuten hatte!

Anya wirbelte den Zauber mehrmals zwischen den Fingern, ehe sie ihn stolz präsentierte. „Ich aktiviere [Gem-Trade]! Da [Gem-Knight Fusion] auf meinem Friedhof liegt, darf ich ein Gem-Knight-Fusionsmonster von meinem Friedhof verbannen, um für jeden dritten seiner Stufensterne eine Karte zu ziehen!“

Mit tolldreistem Grinsen auf den Backen schob sie [Gem-Knight Topaz] in ihre Hosentasche, wodurch sie anschließend zwei Karten ziehen konnte. Und obwohl jene diesmal auf legale Weise in ihr Blatt gefunden hatten, fühlte Anya sich, als wäre sie immer noch im 'Cheater-Modus'. Nicht, dass sie daran etwas auszusetzen hatte!

„Zauberkarte! [Pot Of Avarice]! Ich schick fünf Monster von meinem Friedhof ins Deck und ziehe nochmal zwei Karten!“

Prompt legte sie [Kachi Kochi Dragon], [Gem-Knight Ruby] und [Gem-Knight Aquamarine] zurück ins Extradeck. Danach noch [Gem-Turtle] und [Gem-Armadillo] aufs Deck, welches sich automatisch durchmischte, ehe Anya zweimal nachzog und nun drei Karten auf der Hand hielt.

Perfekt, wenn man bedachte, dass sie mit wortwörtlich nichts in die Runde gestartet war! Und gleich würde es noch eine Karte mehr werden, jaha!

„Effekt von [Gem-Knight Fusion] auf meinem Friedhof! Ich verbanne [Gem-Knight Garnet] von meinem Ablagestapel und erhalte meinen Zauber von ebendort zurück!“ Kaum war die in ihrem Blatt gelandet, zückte Anya schon eine andere Zauberkarte. „[Gem-Refinement]! Damit beschwöre ich einen Gem-Knight von meinem Deck, aber nur, wenn ich [Gem-Knight Fusion] vorzeigen kann!“

Vor dem Mädchen materialisierte sich ein stolzer Ritter in türkisblauer Rüstung, der einen Bogen spannte und damit auf Zanthe zielte. „Darf ich vorstellen? [Gem-Knight Turquoise]!“
 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]

 

„Da ich noch keine Normalbeschwörung durchgeführt habe, rufe ich jetzt [Gem-Knight Alexandrite] von meiner Hand aufs Feld!“

Neben Turquoise erschien ein weiterer Ritter, diesmal in Weiß. An seinem ganzen Körper waren verschiedenfarbige Juwelen angebracht, die im Mondlicht nur so funkelten.

 

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Effekt von Turquiose aktivieren!“, rief Anya unerbittlich weiter und schwang ihren Arm aus. „Indem ich [Gem-Knight Fusion] abwerfe, kann ich einmal pro Zug einen verbannten Gem-Knight beschwören. Komm zurück, Garnet!“

Daraufhin feuerte Turquoise von seinem Bogen einen Pfeil direkt über sich in die Luft ab, der zwischen ihm und Alexandrite landete. Dort öffnete sich ein leuchtender Riss, aus dem Garnet entstiegen kam.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Jetzt der Effekt von Alexandrite!“

Anya fühlte sich, als wäre sie in einem Rausch gefangen. Sie hatte vor, diesem Kerl eine deftige Lektion zu erteilen! Der würde schön die Glotzer aufsperren, wenn er erst sah, was sie vorhatte.

„Ich kann ihn opfern, um einen normalen Gem-Knight vom Deck zu beschwören! Erscheine, [Gem-Knight Crystal]!“

In buntem Licht löste sich der Krieger auf und machte einem anderen, weißen Ritter Platz. Dieser stemmte stolz die Hände in die Hüften, wobei die Kristalle an seinen Schulterplatten zu leuchten begannen.

 

Gem-Knight Crytsal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Und zuletzt“, schrie Anya förmlich und streckte den Arm aus, „erschaffe ich das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Lass es krachen, Levrier!“

Ihre beiden Ritter verwandelten sich in braune Lichtstrahlen, die umeinander wirbelten und in einem schwarzen Loch verschwanden, das sich vor Anya auftat. Daraus hervor kam der einzig Wahre.

„[Gem-Knight Pearl]!“

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]

 

Umgeben von seinen sieben riesigen Perlen sowie den beiden Xyz-Materialien, schwebte der schlichte, weiße Ritter herüber zu Anya, die nun zwei starke Monster kontrollierte.

 

mir ist immer noch schwindelig von eben.

 

„Reiß dich zusammen!“, motzte Anya ihn ohne Umschweife an. „Schau dir lieber seine Monster an!“

Zanthe, der es nicht für nötig gehalten hatte, Anya in ihrem Eifer zu unterbrechen, kontrollierte neben seinem schlangenhaften Drachen noch den Krebskrieger Acubens.
 

Verstehe. So viel taktisches Geschick hätte ich dir gar nicht zugetraut.

 

„Was soll'n das heißen, huh!?“ Anya stieß ein wütendes Grummeln aus. „Ach, was auch immer! Ich werde jetzt erstmal gewinnen! Mach dich bereit, Trantüte!“

Pearl streckte seine Hand aus. Die Perlen um ihn herum begannen wie aufgescheuchte Hühner durch die Luft zu schwirren.

„Angriff auf [Constellar Acubens]!“, befahl das Mädchen aus voller Kehle. „Sacred Spheres of Purity!“

Wie Kanonenkugeln schossen die Schmucksteine auf den Krieger im Zeichen des Krebses zu.

Zanthe grinste verschmitzt. „Ach komm schon, du kannst doch nicht wirklich an Alzheimer leiden, oder? Angel Wing, blockiere den Angriff, indem du dich zum Ziel machst! Konterangriff, Seraphim Judgment!“

Unmittelbar danach teleportierte sich [Angel Wing Dragon] direkt vor Acubens und feuerte einen weißen Lichtstrahl in Pearls Richtung ab, um den eine kleinere, goldene Flamme rotierte.

„Als ob mich das juckt! Effekt von [Gem-Knight Turquoise]! Wenn ich ihn und einen anderen Gem-Knight als Xyz-Material abhänge, verdoppelt er die Angriffskraft von Pearl! Los, volle Power!“

Eine cyanfarbene Aura begann sogleich um ihren Partner zu glühen.

„Nicht im Ernst!?“, erschrak Zanthe.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 → 5200 DEF/1900 {4} OLU: 2 → 0]

 

Levrier streckte die Brust nach vorn. Aus ihr heraus ragte ein mit Türkisen besetzter Pfeil, der die Lichtsphären absorbierte, welche um seinen Wirt kreisten. Dann schoss er aus Pearls Körper heraus und teilte in seinem Flug Angel Wings Gegenangriff, der rechts und links neben Anya einschlug und heftige Explosionen verursachte. Der Pfeil traf den Schlangendrachen direkt ins Maul, woraufhin auch dieser effektvoll verendete.

Die dadurch entstandene Druckwelle warf Zanthe ein Stück zurück, welcher sich mit erhobenem Ellbogen dagegen wehrte. Dabei rief er unter dem Getöse: „Kämpfe mit Angel Wing fügen mir trotzdem keinen Schaden zu!“

„Aber Kämpfe mit [Constellar Acubens]! [Gem-Knight Crystal], ich will endlich gewinnen! Clear Punishment!“

Der weiße Ritter rammte seine Faust in den Boden, woraufhin dieser aufplatzte wie eine zu lange gebratene Wurst. Spitze Kristalldornen schnellten überall aus dem Spalt hervor, welcher sich seinen Weg zu Acubens bahnte.

„Wer hätte das gedacht, du bist ja lernfähig“, staunte Zanthe über Anya. Gleichzeitig schob er seine letzte Handkarte in den Schlitz an seinem Duellhandschuh, welcher für den Friedhof stand, „aber das reicht nicht! Effekt von [Constellar Alrakis] aktivieren! Ich werfe ihn ab, um die Position eines Constellars zu ändern! Ab in die Verteidigung, Acubens!“

Ein leuchtender, blauer Stern begann über seinem Krieger zu strahlen. Dieser ging in die Knie.

 

Constellar Acubens [ATK/1300 DEF/2000 (4)]

 

Kaum hatte er dies jedoch getan, wurde er schon von der zerstörerischen Schneise erreicht, aus der die Kristallspitzen schossen. Diese spießten ihn erbarmungslos auf, sodass er in tausend Teile zersprang.

„Nicht wahr!“, zeterte Anya ungläubig. „Das gibt’s nicht, mein Plan war doch so gut!“

„Aber eben nur gut!“, erwiderte Zanthe und schwang den Arm aus. „Denk nicht, dass ich dich dafür ungeschoren davonkommen lasse! Fallenkarte aktivieren, [Constellar Meteor]!“

Die Karte sprang vor ihm auf. Eine flammende, rote Kugel entstand über der Stelle, an der Acubens sein Ende gefunden hatte und wuchs dabei bedrohlich an. Tatsächlich war es, als sah man in ihr Acubens durchsichtige Silhouette.

„Wenn in diesem Zug deine Monster gegen Constellare kämpfen, werden sie postwendend ins Deck geschickt, sollten sie es wagen zu überleben! Also verabschiede dich von [Gem-Knight Crystal]!“

Unter lautem Zischen flog die Flammensphäre auf Anyas weißen Krieger zu, der sich bei Kontakt schreiend auflöste.

„Oh shit!“

„Du kannst noch so viel schummeln, so leicht gebe ich nicht klein bei!“, kommentierte Zanthe den Zug selbstbewusst. „Da reicht es auch nicht, einmal im Jahrhundert einen glücklichen Zug hinzulegen!“

 

Wenn der nur wüsste, dachte Anya grimmig. Für was hielt der sie, irgendso'ne Aushilfsamöbe von der Klasse eines Pre-Beichte-Nicks!?

Man wurde nicht Livingtons gefürchtetste Einwohnerin, indem man einfach nur die Fäuste sprechen ließ. Klar, damit hatte man auch Chancen, zum Bully des Jahres gewählt zu werden. Aber wahren Schrecken verursachten nur diejenigen, die neben ihrer Kraft auch ein Mindestmaß an bösartiger Intelligenz und Kreativität besaßen. Und wenn Anya eines ihr Eigen nannte, dann das!

 

Demnach relativierte sie selbstverliebt, mit bis zum Himmel reichender Nase: „Ach, so schlimm ist das auch wieder nicht. Umso mehr werde ich es genießen können, dich Stück für Stück zu zerpflücken. Zapple ruhig noch ein wenig, das machen manche Tiere auch, selbst wenn ihnen schon der Kopf abgeschlagen wurde. Damit dürftest du dich doch am besten auskennen.“

Damit nahm sie ihre letzte Handkarte und schob sie in ihre Duel Disk. „Die hier verdeckt! Zug beendet!“

Zischend materialisierte sich die Karte vor ihren Füßen. Damit erlosch die hellblaue Aura um Levrier, der sich geradezu schützend vor Anya positionierte.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/5200 → 2600 DEF/1900 {4} OLU: 0]

 

Hohes Gekreische drang von Zanthes Spielfeldseite. Über ihm erschien der goldene, geflügelte Ring, aus dem der schlangenhafte Drache geschossen kam.

„Ich verbanne die beiden Stufe 4-Monster Acubens und Alrakis, um Angel Wing durch seinen Effekt zu reanimieren!“, rief der junge Mann bestimmend, doch klang seine Stimme überraschend belegt.

Wie eine lauernde Kobra bäumte der weiße Drache sich auf, sah er dank des goldenen Gestells um seinen Kragen einer solchen sogar recht ähnlich.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Anya quittierte das mit einem abfälligen „Hmpf!“.

Daraufhin griff Zanthe nach seinem Handschuh und zog ruckartig. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Zornesfalten gebildet, von der anfänglichen Lockerheit war mit einem Male nichts mehr zu spüren. Er funkelte Anya an, die ihrerseits nicht weniger feindselig zurück starrte.

„Du denkst wohl, mir macht es Spaß, mich von Wild zu ernähren?“, fragte er verbittert. „Schon mal darüber nachgedacht, dass nicht alle so ein einfaches Leben haben wie du?“

„Nein“, erwiderte sie kalt. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich.“

„Dachte ich mir. Bestimmt bist du nicht von deinem Rudel ausgestoßen worden, nur weil du anders warst als sie! Nachdem sie dich erst zu dem gemacht haben, was du bist.“

„Und wie bist du zu dem geworden, was du jetzt bist?“ Anya verschränkte abwartend die Arme, blickte dabei bewusst zur Seite. „Nicht, dass es mich interessieren würde. Aber offenbar bist du auch nicht gerade beliebt unter deinesgleichen. Genau wie ich. Der Unterschied zwischen uns ist nur, dass es mir so gar nichts ausmacht!“

Zanthe schloss die Augen. „Was spielt es für eine Rolle, darauf jetzt zu antworten? Du willst es nicht hören … und ich möchte auch nicht darüber nachdenken. Die Dinge sind ohnehin nicht mehr zu ändern.“

Ruckartig öffnete er seine Augen. „Jetzt ist nur wichtig, dass wir diesen Kampf beenden! Mach dich bereit …“

Er drehte die Karte zwischen seinen Fingern um, um sie anzusehen. Anya stand der Schweiß auf der Stirn. Bloß kein Monster, dachte sie. Das wäre fatal! Scheinbar dachte er dasselbe, denn er starrte gebannt die Karte zwischen seinen Fingern an. Doch die aufkommende Enttäuschung in seinen Zügen verriet, dass er wohl nicht gezogen hatte, was ihm vorschwebte.

Trotzdem streckte er voller Ehrgeiz den Arm aus. „Los, Angel Wing, zerstöre ihren Partner, [Gem-Knight Pearl]! Seraphim Judgment!“

Der Drache lud in seinem Maul weiße Energie auf. Anya stöhnte. „Gute Nacht, Levrier. Das wird jetzt weh tun.“
 

Deine Anteilnahme rührt mich zu Tränen, Anya Bauer.

 

Pearl positionierte sich direkt vor Anya und hielt die Arme über Kreuz. Angel Wing schoss den Lichtstrahl ab, um welchen eine goldene Flammenspirale kreiste. Von jener wurde Levrier voll erfasst, doch trotz der Tatsache, dass er den Kampf verlieren würde, blieb er standhaft. Anya, die hinter ihm verharrte, murmelte leise: „Sorry … ich lass dich nicht zu lange warten, versprochen.“

Dann explodierte Pearl, Anya wurde zurückgeschleudert und landete auf dem Rücken.

 

[Anya: 200LP → 100LP / Zanthe: 400LP]

 

Ächzend richtete das Mädchen den Oberkörper auf, ihre Jeansjacke war mittlerweile schmutzig bis zum Gehtnichtmehr. „Ouch!“

Zanthe stand dort drüben, regungslos, umgeben von Bäumen, die genauso finster anmuteten wie die Schatten, die sie warfen. Das Licht, welches von den Hologrammen ausging und ihn anleuchtete, ließ den junggebliebenen Mann wie einen Geist wirken.

„Du bist dran“, sagte er gefasst.

 

Anya ließ sich zurückfallen, stützte sich mit den Händen nach hinten ab, als wolle sie eine Rolle rückwärts machen, sprang dann aber nach vorne und landete auf den Füßen. Was man von Buffy so alles lernen konnte!

„Das ist es!“, murmelte sie dabei fasziniert.

„Was ist was?“

„Mein Herz rast vor Aufregung. Man, wie habe ich das vermisst!“

Den Nervenkitzel. Alles gewinnen zu können oder alles zu verlieren. Anya fühlte sich lebendiger denn je, wie sie erst jetzt erkannte. Duelle wie dieses, sie waren immer noch die besten!

 

Unbedarft zuckte sie mit den Schultern. „Da ich in meinem letzten Zug [Gem-Trade] aktiviert und zwei Karten gezogen habe, kann ich erst in zwei Runden wieder Karten durch die Draw Phase ziehen. Macht aber nichts, ich habe eh alles was ich brauche!“

Zanthe schnalzte mit der Zunge. „Ach wirklich? Zeig her.“

„Gerne, Flohzirkus!“, schrie sie und schwang den Arm aus. „Zunächst verbanne ich [Gem-Knight Pearl] von meinem Friedhof, um [Gem-Knight Fusion] von dort zu erhalten!“

Gesagt, getan. Levrier landete in ihrer Hosentasche, die Zauberkarte in ihrem nicht existierenden Blatt. Plötzlich sprang Anyas gesetzte Karte durch einen Knopfdruck an der Duel Disk auf. „Dann aktiviere ich meine verdeckte Karte [Return From The Different Dimension]! Bis zur End Phase kehren beliebig viele meiner Monster aus der Verbannung zurück, auch wenn mich das die Hälfte meiner Lebenspunkte kostet! Erscheint!“

 

[Anya: 100LP → 50LP / Zanthe: 400LP]

 

Eine ganze Reihe von Monstern tauchte vor Anya auf. Zuerst war da eine weibliche Ritterin in braun-grauer Rüstung, an deren Helm zwei lange Schleifen herab hingen. Neben ihr der hellblaue Ritter des Eises. In der Mitte befand sich ein Krieger in rot-schwarzer Rüstung, welcher einen Morgenstern an einer Kette schwang. An dessen Seite stand ein Krieger in goldener Rüstung, dessen schwarzer Umhang über dem Boden entlang schliff, als er mit seinen beiden Blitzdolchen wirbelte. Und das Schlusslicht? Das bildete Levrier.

 

Gem-Knight Lazuli [ATK/600 DEF/100 (1)]

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

Gem-Knight Sardonyx [ATK/1800 DEF/900 (4)]

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 0]

 

Der weiße Ritter, um den sich seine sieben Perlen drängten, verschränkte die Arme.
 

Gut gemacht, Anya Bauer. Nun beende es.

 

„Wie du willst, Levrier“, raunte jene voller bösartiger Vorfreude und zückte ihre [Gem-Knight Fusion], „jetzt lernst du mein bestes Monster kennen, Dreckstöle! Ich verschmelze Lazuli, Sapphire und Sardonyx!“

Sie streckte die Hand mit den vier Karten in die Höhe. „Drei Lichter kreuzen den Weg des Lichts! Körper, Seele und Herz verschmelzen und werden zu der Macht, die in ihrer Reinheit einem Diamanten gleicht! Werdet eins!“

Über dem Mädchen öffnete sich ein regelrechtes, funkelndes Loch, aus dem dutzende Edelsteine geflogen kamen. Die drei genannten Ritter stiegen als durchsichtige Abbilder ihrer selbst in die Luft auf, wurden absorbiert und verschwanden in dem Wirbel.

Das war der Moment, indem Anyas rechte Hand in violetten Flammen aufging, ohne dabei die Karten zu versengen. „Werdet [Gem-Knight Master Diamond]!“

Ein bunter Blitz schoss aus dem Strom. Unter lautem Getöse wirbelte von dort ein riesiges Breitschwert in die Mitte des Spielfelds und blieb in der Erde stecken. Aus funkelndem Staub materialisierte sich genau dort ein prächtiger Krieger, der, nachdem er vollständig war, die mit sieben verschiedenfarbigen Edelsteinen besetzte Klinge an sich nahm. Seine silberne Rüstung reflektierte das Mondlicht, als er das wuchtige Schwert mit nur einer Hand schwang, während die andere, genau wie Anyas, in violettem Feuer brannte.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 DEF/2500 (9)]

 

Zanthe stand der Mund offen. Er konnte sie am ganzen Leib spüren, diese unglaubliche Macht, die von Anyas neuem Monster ausging.

„Wo hast du diese Karte her!?“, verlor er die Fassung. „Das ist keine Paktkarte, so wie dein Pearl!“

„Das geht dich'n Feuchten an! Mach dich lieber auf dein Ende gefasst! Diamond bekommt für jeden Gem-Knight auf meinem Friedhof 100 Zusatzangriffspunkte, auch wenn er die eh nicht braucht!“

Die Edelsteine an dessen Klinge begannen zu strahlen.

 

Gem-Knight Master Diamond [ATK/2900 → 3600 DEF/2500 (9)]

 

„Diesmal wird dein blöder Drache endgültig das Zeitliche segnen!“, verkündete Anya selbstsicher und zog sich mit dem Daumen über die Kehle, als sie rief: „Abmarsch, [Gem-Knight Master Diamond]! Shining Wave Breaker auf [Angel Wing Dragon]! Rest in pieces, Miststück!“

Zanthe zupfte an seinem Kopftuch, sodass es fast die Augen verdeckte. Dann senkte er den Kopf, als Diamond sein Schwert in einer halbmondförmigen Bewegung ausschwang. Eine glitzernde Schockwelle löste sich von der Klinge, welche auf Angel Wing zusteuerte. Dabei riss sie den Boden mit elektrischen Ladungen auf.

„Leb wohl“, murmelte Zanthe leise.

Dann wurde sein Drache getroffen, regelrecht zerfetzt von der Wucht des Angriffs. Heftiger Wind schlug ihm entgegen, auch wenn er keinen Kampfschaden nahm. Damit war der Weg frei für den letzten Angriff.
 

Und Zanthe streckte die Arme mit einem Male weit aus. „Töte mich! Beende meine jämmerliche Existenz!“

Kurz herrschte von Anyas Seite aus verwirrtes Schweigen über den plötzlichen Ausbruch des Werwolfs.

„Tu es!“, verlangte dieser.

„Tch, wenn du Dramarama schieben willst, mach's woanders!“, schnappte Anya und rollte genervt mit den Augen.

„Du verstehst das nicht! Zu leben wie ein Hund! Sich verstecken zu müssen, weil man die Bestie in sich nicht herauslassen darf!“, fauchte Zanthe sie erstickt an. „Ich könnte auch einfach machen, was andere meiner Art tun und Menschen reißen! Aber worin würde ich mich dann von einem Monster unterscheiden!?“

Da platzte Anya unerwartet der Kragen. Wütend zeigte sie mit dem Finger auf ihn. „Oh, jammer jammer, bla bla, heul heul! Du bist ja so ein armes Seelchen und so bemitleidenswert, weil du dich, aufopferungsvoll wie du bist, in einer Höhle verschanzt! Nicht! Das ist doch alles nur selbstherrliches Getue, um zu kaschieren, dass du dich aufgegeben hast!“

„Das ist nicht wahr! Ich will nicht zu einer vollkommenen Bestie werden, so wie einige aus meinem alten Rudel! So viel Menschlichkeit will ich mir bewahren!“

„Oh Gott, du bist so menschlich, menschlicher geht’s doch kaum! So'n paar Klauen und Fangzähne machen dich nicht automatisch zu 'nem Monster!“ Anya schwang aufgebracht den Arm zur Seite aus. „Du hast doch nur Schiss davor, wieder ausgestoßen zu werden! In 'ner stinkenden Höhle bist du dein eigener Herr, keiner kann dir weh tun! Bloß wirst du da auch keinen Grund finden, warum das Leben Spaß macht! Selbst als Werwolf oder was auch immer!“

Zanthe weitete seine Augen, die unheilvoll golden aufzuleuchten begannen. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wovon du redest!?“

„Und wie ich das habe! Meine beste Freundin ist eine Sirene! Als sie das erfuhr, hat sie sich fast in die Hose geschissen, weil sie Angst hatte, anderen weh zu tun! Und soll ich dir was sagen? Sie hat ihre Probleme in den Griff bekommen!“ Der Speichel flog regelrecht von Anyas Mund, wie sie ihre Moralpredigt hielt. „Und jetzt heul nicht 'rum, es wäre nicht dasselbe! Solche wie du machen mich krank, weil sie darauf warten, dass irgendein Ritter auf seinem hohen Ross sie retten wird! Aber weißt du was!? Der beste Weg gerettet zu werden ist der, zuzugeben, dass man auch mal daneben liegt! Und indem man seinen Arsch selbst bewegt, der Lösung entgegen! Manchmal muss man sich selbst retten!“

Pearl beziehungsweise Levrier sah in seiner holografischen Gestalt ausdruckslos herüber zu Anya.

 

Keine Sorge, ich werde niemandem davon erzählen, dass du gerade allen Ernstes versuchst, jemandem etwas Gutes zu tun. Aber ich fürchte, sein Leid ist tiefer verwurzelt.

 

Zanthes Augen gewannen wieder ihre normale Farbe zurück. Er ließ den Kopf hängen, erwiderte zerknirscht: „Wenn du das sagst …“

„Pft, du musst mir nicht glauben. Aber ich weiß, dass es immer Menschen gibt, die einen so akzeptieren werden wie man ist.“ Anya streckte den Finger in die Höhe. „Und genau deswegen werde ich dich auch nicht umbringen, Flohzirkus! Wenn du nämlich erstmal kapiert hast, dass ich Recht habe, wirst du mir die Füße küssen!“

Und das, so sagte sich Anya innerlich mit diabolischer Vorfreude inklusive Gottkomplex, würde sie sich nicht entgehen lassen. Nur deswegen redete sie ihm ins Gewissen, aus -absolut keinem anderen Grund-!

Mit voller Wucht riss sie den Arm nach unten. „Levrier, gib ihm eine Kostprobe davon, was das Freundschaftsgeschwafel bei uns bewirkt hat! Direkter Angriff! Blessed Spheres of Purity!“

 

Wie du wünscht!

 

Wie ein Dirigent schwang Levrier den Zeigefinger. Eine nach der anderen begannen seine Perlen wie Kanonenkugeln auf Zanthe zuzufliegen. Der nach außen hin junge Mann schloss die Augen und atmete tief durch. Dann hagelte es Explosionen um ihn herum, als die leuchtenden Perlen in seinem direkten Umfeld einschlugen.

 

[Anya: 50LP / Zanthe: 400LP → 0LP]

 

Tiefer Rauch hüllte den Waldabschnitt ein.

„Ah!“

Es kam so plötzlich, dass Anya nur die Augen aufreißen konnte. Wie von Geisterhand geführt hob sich ihr rechter Arm, streckte die Hand aus. Dann schossen dutzende Lichtstrahlen von dorther, wo Zanthe eben noch gestanden hatte. Dieser stieß einen gequälten Schrei aus, während die Lichtstrahlen in Anyas fingerlosen Handschuh verschwanden.

Ehe sich das Mädchen versah, hielt sie das in der Hand, wonach sie so eifrig gesucht hatte.

„Angel Wing …!“

 

Ein grelles Licht blendete sich urplötzlich. In unglaublicher Geschwindigkeit, so schien es, flog sie ihm entgegen. Um sie herum Mauern, nach links und rechts, das Labyrinth. Aber Anya glitt wie ein Geist durch die Wände. Und hörte verzerrte Stimmen.
 

Nex … ssel … Real … i … tät … thex … Sie-Au … Undiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii …
 

Das letzte Wort dröhnte derart in ihrem Kopf, dass sie die Hände gegen ebenjenen drückte.

Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Anya stand im Wald, nahm Levriers Worte nur unwesentlich zur Kenntnis.

 

Du hast es geschafft, Anya Bauer. Aber ich frage mich … zu welchem Preis.

 

Da die Hologramme inzwischen verschwunden waren, hörte sie Levriers Stimme nun in ihrem Kopf. Auch der Rauch verzog sich langsam. Zanthe torkelte verkrampft zurück, hielt sich die Brust und keuchte, sackte gar in die Knie. Er war leichenblass.

„Krass“, murmelte Anya und bestaunte ihre Handschuhe. Plötzlich war ihr mulmig zumute, ihre Beine fühlten sich auf einmal wie Pudding an. War das so etwas wie eine Vision gewesen, was sie da gerade gesehen hatte?

Aber sie stand aufrecht – als Sieger. Neugierig betrachtete sie die neugewonnene Karte des [Angel Wing Dragons] und sah dann überrascht auf, nachdem sie das Gefühl beschlich, dass sich ihre Umgebung verändert hatte.

 

Ihr war während des Duells nicht aufgefallen, wie der Himmel zunehmend heller geworden war. Zwar regierte immer noch die Nacht, doch am Horizont machte sich bereits das Licht der Sonne bemerkbar. Es sah irgendwie wunderschön aus, als würde man ihr mitteilen wollen, dass es Hoffnung gab. Sie hatte den ersten von sieben Siegen errungen – sie solle nicht aufgeben!

Trotzdem war da auf einmal diese aufkommende Bitternis …

 

Zanthe raffte sich genervt stöhnend auf.

„Gegen eine so durchschnittliche Duellantin wie dich verloren zu haben“, sprach er dabei und schüttelte seufzend den Kopf, „ist irgendwie demütigend. So demütigend, dass mir schlecht ist. Du hättest es echt durchziehen können, weißt du!?“

Erstaunt blickte er auf, als Anya überraschend geknickt den Kopf senkte. „Das musst du mir nicht sagen, du Möchtegern-Emo. Aber ... es gab eine Zeit, in der ich nicht einmal durchschnittlich war.“

„Huh?“

Sie ballte eine Faust. Die Gedanken an diese seltsame Vision verdrängte sie dabei.

„Vor einigen Monaten noch konnte ich ohne die Hilfe eines Freundes nicht einmal ein Duell gewinnen. Und wäre er nicht gewesen, wäre ich immer noch so schlecht. Aber ich habe ein Ziel.“

Zanthe zog den Mund schief, Zweifel und Hohn schwangen deutlich in seiner Stimme mit. „Immer noch diese Duel Queen-Sache?“

Schlagartig sah Anya mit einer derartigen Inbrunst auf und verschränkte frech grinsend die Arme, dass ihr Gegenüber glatt für einen Moment vergaß, sie zu verspotten. „Verdammt richtig! Ich werde eines Tages die Surpreme Duel Queen sein! Das ist mein Traum! Solange werde ich überleben, ob es dir und den anderen Knalltüten passt oder nicht!“

 

Wann war dieser Wunsch überhaupt in ihr aufgekommen, fragte Anya sich dabei insgeheim.

Als Marc ihr damals einen Korb gegeben hatte, war ihr alter Traum, seine Freundin zu werden, erloschen. Von da an war es nur noch der Kampf gegen Eden, dem sie sich gewidmet hatte. Aber nachdem auch diese Schlacht geschlagen war, wurde ihr Leben zunehmend öder. Irgendwann war die Schule vorbei, ihr Berufsleben fing an.

Aber Anya Bauer als Verkäuferin? Nein! Sie war zu Höherem berufen! Und was könnte größer sein als der Titel der Duel Queen?

Dass ihr das erst durch das Duell mit diesem Typen in aller Konsequenz aufgegangen war, mochte eine Fügung des Schicksals sein. Der Nervenkitzel, der Adrenalinschub, den sie all die Zeit unwissentlich vermisst hatte, er war zurückgekehrt. Und am stärksten war er dann, wenn man etwas zu verlieren hatte.

Dieser Titel ... sie würde ihn an sich reißen, dachte Anya zuversichtlich. Diese anderen sechs Schwachmaten, die sie zu besiegen hatte, um ihre verlorene Lebenszeit zurückzuerlangen, sie waren die perfekte Gelegenheit für einen Testlauf!
 

Zanthe lachte derweil amüsiert auf und fasste sich an den Kopf, ganz zu Anyas Missfallen.

„Man, da hast du dir aber etwas vorgenommen. Duel Queen? Den Titel gibt es doch gar nicht! Aber ... irgendwie ist das interessant.“ Plötzlich grinste er auf dieselbe Weise, wie Anya zuvor. „So eine dumme Nudel wie du will eine unbesiegbare Duellantin werden? Das will ich sehen.“

„Mach dich weiter darüber lustig und du wirst bald vor lauter Graberde gar nichts mehr sehen!“

Jedoch winkte Zanthe unbekümmert ab. „Was auch immer.“

Unerwartet trübte sich sein Gesichtsausdruck, er blickte nachdenklich nur Seite und schien scheinbar mit sich zu ringen. Dann schnaufte er.

 

Ehe Anya sich versah, kam er schnellen Schrittes auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Gratulation!“

„W-was?“

„So macht man das, wenn man verloren hat. Sieh es als deine erste Lektion in Sachen Duel Queen an, du blutige Anfängerin“, maulte Zanthe, zwinkerte aber dabei, „und danke übrigens, dass ich dich ab heute begleiten kann.“

„W-was!?“, platzte es aus Anya heraus, die sofort zurückwich. „Du willst mit mir kommen!? Ich glaub, Levrier hat wohl etwas zu doll zugehauen! Warum sollte ich dich mitnehmen!? Eben wolltest du noch sterben, schon vergessen!? So hast du mir übrigens wesentlich besser gefallen!“

„Ganz einfach. So hohl wie du bist, muss irgendjemand auf dich aufpassen. Außerdem“, sprach Zanthe und sah über die Schulter herüber zu der Höhle, in der er lebte, „habe ich mich lange genug versteckt. Da du sehr überzeugt von deinen Worten warst, will ich herausfinden, ob etwas dran ist.“

Sich wieder zu Anya umdrehend, schnappte er sich ihre Hand und schüttelte sie fest. „Danke, dass du gesagt hast, was du denkst. Andere hätten sich nicht die Mühe gemacht.“

„I-ich hab gar nichts gemacht, 'kay!?“ Sofort riss sie den Arm wieder weg und drehte sich demonstrativ zur Seite. „Was interessiert mich auch deine kümmerliche Existenz, Flohzirkus? Den Gedanken, mich zu begleiten, kannst du dir abschminken!“

„Und wie willst du mich dran hindern?“, fragte Zanthe schnippisch.

„Also, indem ich … wie kommst du überhaupt darauf!? Ich bin deine Feindin!“

Der dunkelhaarige, junge Mann zuckte entspannt mit den Schultern. „Nun, jetzt nicht mehr, Angel Wing gehört dir. Außerdem scheinst du viel rumzukommen auf dieser Reise, was für mich durchaus von Vorteil sein könnte.“

Skeptisch, gleichwohl aber auch neugierig, blickte Anya über ihre Schulter zu ihm herüber. „Wie meinst du das?“

„Ich will“, erwiderte Zanthe leise und sah ihr dabei entschlossen in die Augen, „wieder ein ganz normaler Mensch sein. Sprich: ich suche nach einem Gegenmittel und du wirst mir dabei helfen.“

Anya blinzelte zweimal verdutzt. Dann wandte sie sich ab. „Pah! Tu was du willst, aber wenn du denkst, dass ich dir dabei helfen werde, irrst du! Ich habe meine eigenen Sorgen!“
 

Fühlt sich da jemand etwa an die eigene Situation erinnert? Im Turm von Neo Babylon?

 

Als Levrier neben ihr auftauchte, zischte Anya leise. Mittlerweile kannte er sie zu gut, als dass er noch mit seinen Vermutungen falsch lag. Aber deswegen musste er sie doch nicht gleich laut aussprechen, dieser Idiot!

„Außerdem wüsste ich nicht mal, wie …“, fügte sie dann nachhaltig noch an.

Zanthe jedoch lachte nur auf, sprang sie von hinten an und legte seinen Arm um ihre Schulter, stieß ihr mit der Faust kumpelhaft in die Rippen. „Das ist mir auch klar, so viel kann man nicht von jemandem wie dir erwarten.“

„Fass mich nicht an, schon gar nicht von hinten!“, fauchte Anya erzürnt und hielt sich die schmerzende Stelle, während sie erfolglos versuchte ihn abzuschütteln. Der hatte doch garantiert absichtlich so hart zugestoßen, verdammte kacke, tat das weh!

„Sorry Anya, aber ich steh nicht auf dich“, palaverte Zanthe jedoch unbekümmert und schleifte sie unter seinem regelrechten Schwitzkasten weiter Richtung Höhle, „Weiber sind nichts für mich.“

„Das sehen die sicher genauso!“, röchelte sie und versuchte krampfhaft, sich zu befreien, scheiterte aber an seinem eisernen Griff. „Lass mich lo-“
 

„Lass sie sofort los!“

Beide hielten erstaunt inne, als ein Lichtkegel sie von hinten anleuchtete. Der Werwolf ließ Anya gehen, als die beiden erstaunt herum wirbelten.

„Nick!?“

„Wen haben wir denn da? Ist das dein Lover?“, gluckste Zanthe beim Anblick des groß gewachsenen Sandkastenfreund Anyas, welcher hinter einem Baum hervor trat und sie mit der Taschenlampe anstrahlte.

Mit wütendem Gesichtsausdruck stampfte der Harper-Spross auf die beiden zu.

„Was willst du hier?“, blaffte Anya ihn überrumpelt an. „Ich dachte du bist im Hotel und tust Nerdzeugs!“

Vor ihr angekommen, strafte er sie mit einem missbilligenden Blick. „Das wollte ich auch, aber dann ist mir mittendrin eingefallen, dass du dich spielend leicht in ernste Schwierigkeiten bringst. Und da bin ich-“

„Mit mir mitgekommen. Das ist doch, was dir auf die Zunge liegt, lieber Nick Harper.“

 

Nick drehte sich mit grimmiger Miene herum. Hinter ihm traten noch zwei Personen hervor. Es waren der rothaarige Sammlerdämon und sein Diener Kyon. Der Brite stellte sich neben den größeren Nick und tat lediglich so, als würde er ihm die Schulter klopfen. Zu groß war wohl die Gefahr, sich Bakterien von ihm einzufangen, daher musste diese mehr als seltsame Geste reichen.

„Ich war auf dem Weg zu dir, Anya Bauer, und da habe ich ihn aufgegabelt, wie er gerade in ein Taxi steigen wollte“, erklärte der Sammler ohne Umschweife.

„Uhh, ich hoffe, ihr habt nicht irgendwo einen kleinen Zwischenstopp eingelegt“, scherzte Zanthe und machte einen Schritt nach vorn, wobei er seine dicken Augenbrauen in eindeutiger Manier auf und ab bewegte, „wenn ihr wisst, was ich meine.“

Nick schnaubte. „Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen! Du hättest tot sein können, Anya! Als er-“

„Ja ja, das könnt ihr später klären, ich habe nicht viel Zeit.“

Der Sammler ging bedachten Schrittes herüber zu Anya. Welche bisher nur verdattert geglotzt hatte. Was wollte dieser Typ denn ausgerechnet jetzt von ihr!?“

„Herzlichen Glückwunsch zu deinem ersten Sieg“, sagte der Rotschopf vor ihr angekommen, „du hast dich wacker geschlagen. Deswegen habe ich eine Belohnung für dich.“

„Was immer es ist, ich will es nicht!“, raunte Anya nun, um nun auch zu Wort zu kommen.

„Nun, dann gib sie doch deinen Freunden.“

In die Innentasche seines feinen Sackos greifend, holte er daraus vier Karten hervor. Er reichte sie Anya, die ihren Gegenüber ansah wie eine Kuh, wenn es donnerte. Zanthe gesellte sich dazu, beugte sich über die Karten und blinzelte verdutzt.

„Das ist unfair, von denen kann ich keine gebrauchen!“

Anya schien, nach einer kurzen Denkpause, plötzlich doch an der unerwarteten Gabe interessiert, was man allerdings eher ihrer angeborenen, manchmal schier unermesslichen Gier zuschreiben konnte statt etwa tatsächlicher Überlegung. „Wieso gibst du mir die?“

„Du wirst sie brauchen. Oder eher deine Freunde. Nimm sie oder nicht, mehr kann ich momentan nicht für dich tun. Außer du zählst meine schiere Anwesenheit ebenfalls dazu.“

„Tch, gib her!“, fauchte sie schlussendlich und riss ihm die vier Karten aus der Hand.

 

Derweil standen Kyon und Nick nebeneinander. Letzterer war es, der dem schwarzhaarigen Diener des Sammlers einen scharfen Seitenblick zuwarf. Und ihm fiel auf, dass jener völlig auf Zanthe fixiert war.

Als Kyon bemerkte, wie feindselig Nick ihn ansah, schloss er die Augen. „Wenn ich du wäre …“

„Ja?“

„Kyon. Wir gehen“, hallte es da vom Sammler dazwischen.

„Schon gut“, winkte dessen Diener schließlich ab, „nicht alles muss ausgesprochen werden, damit der andere versteht, was nicht sein sollte.“

Nick blinzelte verwirrt ob dieser kryptischen Worte. War das …?

 

Kyon und der Sammler trafen sich in der Mitte. Der Dämon wandte sich noch einmal an Anya, während Kyon mit einem Handschwenk eines seiner Portale hinter ihnen öffnete.

„Ich wünsche dir noch weiterhin viel Erfolg auf deiner Suche, Anya Bauer“, sagte der Collector feierlich, „wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns wiedersehen und deine Fortschritte auswerten. Bis dahin verabschiede ich mich von dir.“

„Kch, verpiss dich bloß!“, zischte Anya böswillig mit den Karten in ihrer Hand.

Zanthe trat überraschend vor das Mädchen. „Überlass' sie mir, Opa. Mit mir an ihrer Seite kann sie gar nicht scheitern.“

„Die Glückliche“, kommentierte Kyon das Ganze geheimnisvoll. Dabei warf er dem Sammler, der vergnügt grinste, einen argwöhnischen Blick zu. Dann sagte er: „Meister, wir müssen gehen.“

„Natürlich. Also dann, wir werden uns hoffentlich bald erneut zu einem kleinen Plausch treffen. Bleibt bis dahin am Leben, ihr alle.“

Die beiden drehten sich um und durchquerten das Portal, aber nicht, bevor der Sammler sich noch einmal umdrehte und jemanden eindringlich ansah. Und zwar Nick, wobei er das „ihr alle“ besonders betonte. Anschließend verschwanden die beiden hinter dem Tor, das leise verpuffte.

 

Nun waren es nur noch Anya, Zanthe und Nick. Die Sonne war fast aufgegangen.

„Kennst du diesen Kyon?“, fragte Nick ohne Umschweife. „Ja, dich mein ich.“

Zanthe schürzte die Lippen, als ihm zugenickt wurde. „Nein, nie zuvor gesehen. Aber von dem Ginger hab ich schon viel gehört. Eins muss man deiner Freundin lassen, selbst im Anblick des Todes auf zwei Beinen riskiert sie eine kesse Lippe.“

Nick kommentierte das nicht weiter. Einzig sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet, dass er Zanthe kein Wort zu glauben schien.

„Was auch immer“, raunte Anya und stemmte die Hände in die Hüften, „die wichtigere Frage ist: wie kommen wir jetzt zurück zum Hotel?“

„Mit deinem Handy, wir rufen ein Taxi“, antwortete Nick ihr, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Als Anya aber ihre Taschen durchforstete, machte sie große Augen. „Ich glaub, ich hab das Teil verloren. Dann nehmen wir halt deins.“

„Siehst du ein Headset auf meinem Kopf?“ Leicht verärgert zuckte Nicks Augenbraue. „Ein eigenes Handy habe ich nicht, aus gutem Grund.“

Zanthe seufzte. Ratloses Schweigen.

 

~-~-~

 

Anya ließ sich missmutig auf die Kante ihres Betts fallen. Der mehrstündige Marsch zurück ins Hotel hatte sie völlig ausgelaugt. Selbst ein Nick war schließlich machtlos, wenn er keinen Zugang zur Technik besaß. Während des Rückwegs hatten die Drei zwar wenig gesprochen, dennoch das Wichtigste untereinander ausgetauscht. Nick und Zanthe mochten sich nicht besonders, das war Anya schnell aufgefallen. Aber sie würden miteinander auskommen müssen. So ein Werwolf könnte durchaus noch praktisch werden, hatte sie nach einer Weile entschieden.
 

Sich die Schulter reibend, fasste sie zusammen: „Okay, eine haben wir, sechs bleiben noch. Ich hab die Schnauze voll von Dice! Was kommt als Nächstes, Nick?“

Jener drehte sich auf dem Stuhl vor seinem Laptop zu ihr um und schielte sie mit halboffenen Augen sonderbar tadelnd an. „Du weißt genau, was.“

„Nein?“, erwiderte Anya.

Zanthe, der die beiden vom Türrahmen aus beobachtete und nebenbei seinen Seemannsrucksack absetzte, spürte die seltsame Spannung. Anyas Ton hatte sich minimal verändert, war etwas heiserer geworden. Es war klar, dass sie log.

„Doch, das weißt du“, sagte Nick mit Nachdruck.

„Ich will aber nicht!“, platzte es aus seiner Kindheitsfreundin heraus, die vom Bett wild gestikulierend aufsprang. „Alles, nur das nicht!“

„Wir müssen.“

„Nein!“

Dem Dritten im Bunde wurde dieses Spiel jedoch sehr schnell langweilig, weswegen er dazwischen rief: „Darf ich auch erfahren, worum es hier geht oder muss ich erst einem von euch das Gehirn rausfressen?“

Sofort fragte Anya fasziniert: „Hast du das schon mal gemacht? Kann man damit Gedanken der Person lesen?“

Zanthe winkte spielerisch ab. „Ach bitte-“

„Das interessiert jetzt nicht“, ging Nicks Stimme scharf dazwischen, „das Thema ist ernst.“

„Müssen wir gegen Graf Dracula kämpfen oder was?“, scherzte Zanthe jedoch weiter. „Den kenne ich nicht persönlich, aber dafür einen anderen Vampir. Und mit Verlaub, der Typ ist eine Zumutung.“

„Pah“, rümpfte Anya jedoch die Nase, „schön wär's! Es ist viel schlimmer als das!“

Überrascht kratzte sich Zanthe am Kopf. „Sieh an.“

„Wir müssen zurück nach Livington“, brummte das Mädchen missgelaunt und zog eine Miene, als würde man ihr gerade Nicks mindestens ein Jahr lang nicht mehr gewaschene Unterhosen unter die Nase halten. „Dort steigt in einer Woche die Hochzeit von Redfield … und ich bin eingeladen. Das hat die doch mit Absicht gemacht!“

 

Was dafür sorgte, dass Zanthe nach kurzer Überlegung anfing, beim Gedanken an Anya und Hochzeitseinladung mädchenhaft zu kichern, während Nick sich stöhnend die Hand vor die Stirn schlug.

Keiner von den beiden ahnte, dass Nick bewusst die Frage nach der zweiten Zielperson aus dem Weg ging. Er kannte sie immerhin … nur wie sollte er sie jemals finden? Bloß war das nichts, was er Anya zeigen durfte. Nicht ihr!

 

 

Turn 42 – Demon Goddess

Zurück in Livington, wollen sich Anya und Co von den Strapazen der Reise erholen, da bis zu Valeries Hochzeit noch etwas Zeit ist und sie erst weitere Anhaltspunkte für die nächste Zielperson sammeln müssen. Allerdings wird der Ruhepause ein jähes Ende gesetzt, als Anya am Folgetag mitten in ihrem Zimmer einer verhüllten Person begegnet, die einen sehr von Anya geschätzten Gegenstand mit sich nimmt. Die daraus entstehende Verfolgungsjagd quer durch Livington mündet darin, dass Nick den Übeltäter in einer Seitengasse stellt. Doch jener …

 

Turn 42 - Demon Goddess

Turn 42 – Demon Goddess

 

 

„Hier wohnst du also?“, erkundigte sich Zanthe und sah sich in Anyas unaufgeräumtem Zimmer eingehend um. „Irgendwie habe ich genau das erwartet. Blutige Poster, Spielkonsolen en masse, überall Klamottenstapel, einen aufgemotzen Baseballschläger neben dem Bett … der sieht ja noch schärfer aus als der letzte.“

„Halt die Klappe!“, raunte die Besitzerin dieses chaotischen Reichs und schmiss ihren Koffer neben das Bett, auf welches sie sich anschließend niederließ. Es war schon schlimm genug, dass sie 'Ken' nicht aus Dice hatte mitnehmen können, Flugkontrollen und der ganze Scheiß. Da musste er jetzt nicht noch Salz in die Wunde streuen! 'Barbie' würde wohl weiterhin Single bleiben …

 

Endlich wieder zuhause, dachte sie, streckte sich und atmete tief durch.

Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, die Begegnung mit Kyon und dem Sammler, der Kampf gegen Zanthe … die ganze nächste Woche hin bis zu Redfields Hochzeit würde sie ausspannen. Zumindest wollte sie das gerne, aber dummerweise hatte sie Verpflichtungen, die sich Arbeit schimpften.

Jetzt stand aber erst einmal das bevorstehende Wochenende auf dem Programm! Da Valeries Hochzeit erst am nächsten Freitag stattfand und sie von ihrer Mutter schon gehört hatte, das ihre Erzrivalin samt Verlobten Marc bereits aus Florida eingeflogen war und dafür eigens ihr Studium unterbrochen hatte, wollte sie die verbliebenen, kitschfreien Tage für sich selbst nutzen! Und nur für sich!

Während Nick unten noch den Taxifahrer bezahlte, der sie vom Flughafen hierher chauffiert hatte, überlegte Anya, wie sie diese mehr oder weniger freien Tage verbringen wollte.

 

„Und wo soll ich schlafen?“, unterbrach Zanthe sie gerade bei der Vorstellung, wie sie zwischen den Regalen der Videothek entlang schlenderte und sich ein paar nette, nicht jugendfreie Ballerspielchen auslieh – lies, erst zurück brachte, wenn der Laden pleite war. Er stand auf der Türschwelle und wartete.

Voller Unverständnis reckte Anya den Kopf in seine Richtung und sah ihn an, als stamme er von einem anderen Planeten. „Was?“

Mit den Augen rollend, verschränkte ihr Gegenüber die Arme und lehnte sich schräg an den Türrahmen. „Ein Hotel kann ich mir nicht leisten.“

„Niemand hat dich gebeten mitzukommen“, erwiderte Anya gallig, die schon ahnte, worauf das hinauslaufen würde, „nicht mein Problem!“

„Ich werde wohl kaum Nick fragen können, ob ich bei ihm bleiben kann. Er kann mich nicht ausstehen.“

„Kann ich auch nicht, also wo liegt das Problem? Frag jemand anderen!“

„Ich kenne niemanden!“ Eilig rutschte der junge Mann auf den Knien zum Bettrand. „Bitte Anya, ich brauche deine Hilfe! Du bist doch die allerbeste, netteste und warmherzigste Person in Livington! … okay, das war gelogen, aber du weißt, was ich meine.“

Die Blondine wusste nicht, ob sie ihn wegen der Schleimspur oder dem „nett“ erschlagen sollte. Aber selbst wenn sie ihre Gleichgültigkeit seiner Lage gegenüber abstreifen könnte, reichte schon ein einziger Grund aus, warum sie ihm unmöglich Unterschlupf gewähren konnte.

„Das geht nicht! Mum würde mich umbringen!“

„Ich kann mich als dein Freund ausgeben“, schlug Zanthe mit schelmischen Grinsen vor.

 

Welches eine ganz und gar schiefe Form annahm, als Anya ihm mit voller Wucht die Faust gegen die Wange donnerte. Kaum schlug er auf dem Boden auf, spürte er schon, wie sich das Mädchen auf ihn setzte und am Kragen packte.

„Nie-im-Leben!“, fauchte sie, wobei ihre Augen gefährlich aus den Höhlen traten.

„Nur'n Witz!“, lächelte er beschwichtigend und schob die Hände nach vorn, an ihren Armen vorbei. „So tief würde ich niemals sinken.“

„Was!? Bin ich etwa nicht gut genug für dich!?“, kreischte sie außer sich und schüttelte ihn heftig.

„Nicht ansatzweise! Außerdem bist du 'ne Frau, Gerüchten zufolge jedenfalls!“

Gerade wollte Anya mit Speichel vor dem Mund zum Würgegriff ansetzen, da wurde sie von hinten gepackt und fortgerissen.

„Lass mich los, Nick!“, keifte sie und versuchte nach dem am Boden liegenden Zanthe zu treten, leider erfolglos.

Ihr hochgewachsener Freund stöhnte, während er die einen Kopf kleinere Anya unter Mühen wegzerrte. „Sobald du aufhörst, ihn umbringen zu wollen.“

„Als ob sie das könnte“, setzte Zanthe nach und löste damit einen wütenden Kreischanfall bei der Furie in Menschengestalt aus.

„Dich reiß ich in Fetzen, bis du selbst unterm Mikroskop nicht mehr zu erkennen bist, elende Mistmade! Wenn ich erst deinen Hohlschädel wie eine Nuss geknackt habe, wirst du schon sehen, was du davon hast, eine Anya Bauer zu beleidigen! Und jetzt lass mich gefälligst los, Nick, ehe ich dir sehr, sehr weh tun muss!“

„100$ damit du aufhörst“, bot dieser und hielt Anya prompt den versprochenen Schein vor die aufgerissen Guckhöhlen, welcher sie ohne Verzug einhalten ließ. Er schwenkte den Zaster verführerisch vor ihrer Nase hin und her.„Na? Na?“

 

Als sie aber nach ihm schnappen wollte, zog Nick ihn weg und ließ von Anya ab.

„Der ist dafür, dass du ihn bei dir wohnen lässt. Die Idee mit dem Freund ist gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, wie sehr sich deine Mutter wünscht, dich endlich vergeben zu sehen“, taktierte Nick und schritt durch das Zimmer. „Ihr werdet ja nicht gleich den Bund fürs Leben schließen, oder?“

Die Antwort kam synchron. „Niemals!“

Anya und Zanthe folgten ihm mit entgeisterten Blicken, bis er sich zu ihnen umdrehte.

„Hört mal“, meinte Nick beruhigend, „ich werde eine Weile brauchen, bis ich den nächsten Kandidaten auf der Liste ausfindig gemacht habe. Solange wäre es toll, wenn ihr euch nicht gegenseitig zerfleischen würdet.“

Zanthe raffte sich schließlich auf und rieb sich dabei den Hals. „Mir ist es egal. Ich kann auch unter der Brücke schlafen, wenn sie will.“

„Anya?“, hakte Nick mit einem scharfen Blick auf seine Freundin gerichtet nach.

Die rümpfte die Nase. „Pft! Solange er nicht mit dieser Freund-Nummer kommt, kann er meinetwegen hier bleiben, wir haben eh 'n Gästezimmer frei. Ich tische Mum schon irgendwas auf. Und jetzt gib mir die Kohle, Harper!“

„Geht doch“, lobte Nick die beiden, stützte sich mit einer Hand an Anyas Schreibtisch ab und richtete sein Wort an Zanthe, wobei er den Schein dort liegen ließ, „wie sieht's aus. Ist der Magen voll?“

„Macht so schnell keine Probleme“, winkte der ab.

„Das hoffe ich für dich. Dann würde ich vorschlagen, ruhen wir uns nach dem anstrengenden Flug erstmal für heute aus. Ich melde mich bei dir, wenn ich was Neues in Erfahrung bringe, Anya.“

„D-danke.“

 

So geschah es, dass Nick sich von den beiden verabschiedete und mit dem noch wartenden Taxi nach Hause fuhr. Anya zeigte Zanthe das Gästezimmer, einigte sich nur mühevoll mit ihm auf die Erklärung, er wäre einer von Abbys Stiefbrüdern – Mrs. Bauer hatte nämlich so ihre Schwierigkeiten, jene auseinander zu halten – und müsse erst einmal hier bleiben, weil sein Zimmer im Haus der Masters gerade renoviert wurde.

Als Anyas Mutter von ihrer Arbeit schließlich nach Hause kam, nahm sie die Erklärung ihrer Tochter wie üblich überhaupt nicht ab und vermutete zunächst, dass es sich bei Zanthe um eine Geisel handelte. So eine hatte Anya mit Leslie Connors aus ihrem Mathematikkurs nämlich vor Jahren schon einmal genommen und tagelang gezwungen, so zu tun, als wäre jene freiwillig hier. Schließlich war Leslie durch einen glücklichen Zufall die Flucht gelungen, als Anya gerade dabei war, das Haarfärbemittel ihrer Mutter im Bad zu suchen. Was sie damit vorgehabt hatte, darüber sprach Leslie selbst heute noch nicht.

Letztlich war es Anya dann aber doch gelungen, ihre Mutter von ihren reinen Absichten zu überzeugen, wenn auch eine gewisse Skepsis geblieben war. Die allerdings aus dem Weg geräumt wurden beim gemeinsamen Abendbrot, wo Zanthe sich tatsächlich wie ein Klon Abbys verhielt – friedlich, freundlich und geschwätzig.

Anschließend zockten die beiden noch zusammen in Anyas Zimmer Duel Monsters, wobei die Gastgeberin ohne Levriers Hilfe Schwierigkeiten hatte, mit Zanthe mitzuhalten.

 

„Zehn zu zehn“, schloss Zanthe, nachdem er mit [Constellar Pleiades] den ausgleichenden Sieg einfahren konnte.

Zusammen hockten die beiden inmitten des Zimmers und duelliert sich auf einem Spielplan, den Anya mal aus irgendeinem Starterdeck erhalten, aber nie benutzt hatte.

Das Mädchen gab einen frustriert Laut von sich. „Man, ich hab keinen Bock mehr! Ich glaube, ich geh pennen!“

Zanthe warf einen Blick herüber zum Wecker, der auf Anyas Nachttisch stand. „Schon 2 Uhr. Wäre wohl das Beste. Ich geh auch schlafen.“

 

Beide erhoben sich. Zanthe steuerte auf die Tür zu und drehte sich noch einmal um, da fiel ihm auf, dass Anya abgelenkt etwas auf ihrem Schreibtisch anstarrte. Und zwar nicht etwa den Geldschein, der immer noch dort lag. Also ging er zurück und sah über ihre Schulter.

Neben einem Foto, was wohl Anyas Abschlussklasse vor der Kulisse eines großen, weißen Anwesens abbildete, lag am hinteren Rand des Schreibtisches auch eine silberne, fragile Krone, die schon ein wenig eingestaubt war.

„Was ist das?“, erkundigte er sich neugierig.

„Die habe ich bekommen, weil ich Ballkönigin geworden bin“, antwortete Anya tonlos.

Zanthe konnte sich einen Lacher nicht verkneifen. „Du!?“

„Ich hab sie mir erkämpft. War das beste Duell meines Lebens.“

„In einem Duell? Wusste nicht, dass Ballköniginnen so gewählt werden, aber okay.“ Er wollte nach der Krone greifen, um sie sich genauer anzusehen, doch wurde von Anya am Handgelenk gepackt.

„Fass das nicht an“, knurrte sie plötzlich zornig.

„Oookay?“, erwiderte er und zog den Arm zurück, sie ließ es geschehen.

Irgendwie benahm sie sich auf einmal seltsam, schoss es ihm dabei durch den Kopf. Vielleicht wäre es besser, wenn er sie jetzt wirklich alleine ließ.

„Also ich bin dann mal schlafen“, meinte er schulterzuckend und drehte ab, „gute Nacht.“

„Nacht“, murmelte sie, gewann dann aber ihren typischen Biss zurück, „und wehe, du spannst, während ich schlafe.“

Was der junge Mann mit dem Kopftuch auf dem Haupt nur lachend quittierte. „Glaub mir, das ist mit das Letzte was ich sehen will.“

Damit schritt er aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

 

~-~-~

 

„Das sieht aber lecker aus“, staunte Sheryl, als Zanthe am nächsten Morgen gegen neun Uhr mit einer Bratpfanne bewaffnet zum runden Holztisch der kleinen Küche schritt. Dort drinnen brutzelten formschöne Spiegeleier mit etwas Basilikum garniert, die Zanthe vorsichtig auf einen Teller hievte. Zum Glück war Anya noch in ihrem Zimmer, sonst hätte sie sicher einen abfälligen Spruch abgelassen, dachte der schwarzhaarige, junge Mann erleichtert. Der konnte man sicher auch beim Essen nichts recht machen.

„Meine Mum ist die beste Lehrerin, die man sich vorstellen kann“, log Zanthe nebenher ohne Rot zu werden, „sie hat mir alles beigebracht. Nur bei Fleisch, Fisch und Dergleichen bin ich noch ein unbeschriebenes Blatt.“

Die Mitvierzigerin, deren dunkelblondes, gelocktes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden war – Sheryl kopierte neuerdings die Frisur ihrer Tochter – lachte mitfühlend auf. „Oh, das glaube ich dir gern. Deine Mutter ist in der Hinsicht sehr streng, war sie schon immer. Wenn du möchtest, bereite ich dir heute zum Mittag ein saftiges Steak zu.“

Zanthe stellte die Pfanne auf die Herdplatte in der Küchenzeile zurück, drehte sich um und rieb sich verlegen mit dem überproportionalen Kochhandschuh an seiner Rechten den Hinterkopf. „Wirklich? Ich weiß nicht …“

„Du solltest es zumindest probieren.“

„Also gut“, grinste er, „wenn Sie schon ein so nettes Angebot machen, wie könnte ich da ablehnen?“

 

Die beiden wurden in ihrem Plausch unterbrochen, als es an der Tür klingelte.

„Ich gehe schon“, sagte Sheryl und erhob sich von ihrem Platz, zog nebenbei ihren dünnen, beigen Poncho etwas zurecht, da dieser verrutscht war.

Wenige Minuten später kam sie wieder, in Begleitung Nicks, der sofort die Nase in die Höhe reckte und zu schnüffeln anfing. „Riecht das gut!“

„Oh, du hier?“ Zanthes gute Laune war wie verflogen. Gezwungen höflich fragte er: „Was gibt’s denn?“

„Anya hat noch die Unterlagen, die ich für die Recherche brauche“, antwortete Nick, „ich wollte nachher damit anfangen. Aber gegen eine Einladung zum Frühstück hätte ich nichts einzuwenden, hehe.“

„Oh, gerne doch, Nick. Setz' dich“, bot Sheryl ihm lächelnd an, wobei sie ihm mütterlich über den Rücken strich. „Was recherchierst du denn?“

Nick gluckste, als er sich zusammen mit Anyas Mutter am runden Tisch niederließ. „Die Auswirkungen von Videospielen auf den Charakter, Mrs. Bauer.“

„Ahja?“, staunte die und stöhnte. „Na dann ist Anya wohl die beste Wahl als Forschungsobjekt. Du hast wohl auch Duel Monsters miteinbezogen?“

Nick hob seinen Arm an, an dem eine Duel Disk befestigt war. „Nein, die hab ich aus einem anderen Grund mitgenommen. Anya soll mich damit verdreschen, damit ich auch das Maß ihrer Kraft einschätzen kann, hehe.“

„W-wie du meinst“, stotterte Sheryl irritiert.

Strich. Als solchen konnte man Zanthes Mund bezeichnen, denn der hatte sehr wohl etwas dagegen einzuwenden, dass er für diesen Typen jetzt auch noch kochen durfte. Nick konnte ihn nicht leiden. Und er konnte Nick nicht leiden. Hauptsächlich deshalb, weil er etwa so humorvoll war wie Margarethe Thatcher während ihrer Amtszeit. Das waren noch Zeiten … aber dass er, Zanthe, ein Werwolf war, nahm Nick ihm offenbar noch zusätzlich übel. Und die Duel Disk hatte er sicher auch nicht ohne Grund mitgenommen. Der war hier um zu bleiben.

„Ich mache noch ein paar Eier“, meinte jener wenig begeistert und wandte sich wieder dem Herd zu. Mit dem festen Vorsatz, sie anbrennen zu lassen.

 

Er sollte aber nicht dazu kommen, denn ein dumpfes Poltern und aufgebrachtes Geschrei rissen die Drei aus ihrer mehr oder weniger harmonischen Stimmung.

„Oh man“, stöhnte Zanthe, der gerade die Eier in die Bratpfanne schlagen wollte, „hat sie wieder einen Wutanfall?“

„Der Anya-Muffin hat bestimmt wieder ein Spiel verloren“, gluckste Nick und erhob sich, „ich gehe sie mal eben retten.“

Weiteres Geschrei erschütterte die Gemäuer des kleinen, zweistöckigen Einfamilienhauses. Sheryl seufzte schicksalsergeben. Derart infernalisches Gebrüll war sie schon seit den Tagen gewohnt, als Anya noch im Kinderwagen gelegen hatte. „Mach das, Nick. Sag ihr, sie soll runterkommen, sonst frühstücken wir ohne sie.“

 

Vergnügt pfeifend schlenderte Nick von der kleinen Küche ins Wohnzimmer, ab in den Flur und die Treppen hoch, wo er scharf nach links abbog und sich vor der Tür wiederfand, an der schon ein gelbes Warndreieck mit „Keep out!“-Schriftzug angebracht war. Darunter war mit roter Farbe, die eindeutig Blut darstellen sollte, noch vermerkt: „Oder es ist das Letzte, was du tust!“

Sich von der Warnung nicht weiter beeindrucken lassend, verschaffte sich Nick Einlass – und stieß ungewollt mit der Tür gegen Anya.

„Ich bin gerade beschäftigt!“, fauchte die, noch in Boxershorts und Pyjamahemd eingekleidet. Und einer halb geflickten, schwarzen Lederjacke, an der noch die Nähnadel samt Garn hing.

Sofort fiel Nick ihre verkrampfte Haltung auf – und Barbie, ihr mit Nägeln und Rasierklingen bespickter Baseballschläger, den sie wie ein Schwert vor sich hielt.

„Gib das her!“, verlangte Anya, die offenbar beim Flicke ihrer Jacke eingeschlafen war, zornesrot im Gesicht.

Erst jetzt wanderte Nicks Blick über das mit Tretminen in Form von Wäschebergen, Comicheften und anderen Sachen überfüllte Zimmer herüber zu Anyas Schreibtisch. Auf dem eine maskierte Gestalt in schwarzer Kutte in der Hocke verharrte. In ihren Händen hielt sie Anyas Abschlusskrone.

„W-was!?“, stammelte Nick und stellte sich neben Anya. „Wer ist das!?“

„Keine Ahnung, als ich aufgewacht bin, war der Dreckskerl einfach da“, knurrte sie und ließ jenen nicht aus den Augen, „muss durchs Fenster gekommen sein!“

Jenes, welches direkt neben dem unordentlichen Schreibtisch zu finden war, stand sperrangelweit offen.

„Das kann nicht sein …“

Nick war sich sicher, dass man unmöglich bis nach dort oben klettern konnte, dafür gab es zu wenig Halt an der Hausfassade. Zudem niemand so dumm sein würde, weil Anyas Fenster der Straße zugewandt war. Kein Mensch bei klarem Verstand würde mitten am helllichten Tag ein Haus, dazu noch -dieses- Haus, hochklettern – niemand außer Anya zumindest, bei der wäre das nicht weiter ungewöhnlich. Bloß war die in dem Fall das Opfer. Umso erstaunlicher erschien es ihm, dass es dieser Person nichts ausmachte gesehen zu werden. Mehr noch, sie wollte allen Anschein nach gesehen werden!

 

„Ich wiederhole mich nicht nochmal“, brummte Anya gefährlich und nahm nun einen Schritt nach vorne, „gib die Krone her, aber dalli! Dann kommst du auch nur mit ein paar Knochenbrüchen davon!“

Stumm hob der maskierte Fremde die Abschlussball-Krone an, als wolle er sich vergewissern, dass Anya auch wirklich jene meinte. Er sah sie kurz an, dann sprang er rückwärts vom Schreibtisch und landete gebeugt vor dem Fenster. Noch zum Abschied winkend, dauerte es nur einen Herzschlag, ehe er sich über die Fensterbank schwang und verschwunden war.

Anya und Nick sahen sich an wie Kühe wenn es donnerte.
 

„Oh fuck!“, platzte es aus dem Mädchen heraus, die sofort an Nick vorbei aus dem Zimmer stürmte. „Den krieg' ich, aus dem Weg!“

Wie von der Tarantel gestochen flitzte sie die Treppen herunter.

Derweil eilte Nick zum Fenster und sah unten auf der anderen Straßenseite den Vermummten mit der Krone winken.

„Keine Ahnung, wer du bist“, murmelte Nick, „aber wenn das eine Herausforderung ist, nehme ich sie an.“

„Oh fuck!“, kam Anya zur selben Zeit wieder ins Zimmer gestürmt, da sie in ihrem Outfit unmöglich auf die Straße konnte.

Doch da war Nick ebenfalls schon aus dem Fenster gesprungen.

 

Dieser landete federnd auf den Füßen, verlor jedoch das Gleichgewicht und kippte nach vorn. Im Fall sah er auf der anderen Straßenseite, wie sich der Maskierte umdrehte und zu rennen begann. Schnell rappelte Nick sich auf, nahm augenblicklich die Verfolgung in Angriff.

Man mochte es ihm zwar nicht ansehen, aber Nick Harper war ein exzellenter Läufer. Das musste man auch sein, wenn man Anya Bauer seine Freundin nannte – nicht, dass ein Unterschied darin bestand, wenn man stattdessen ihre Feindin war. So oder so, gegen ihre Laune des Verderbens war Flucht nicht selten die sinnvollste Option, besonders wenn man, wie Nick, gerne noch Öl ins Feuer goss.

So war es auch nicht weiter schwer für Nick, mit dem Fremden mitzuhalten. Sie fegten durch die Straßen, langsam, aber bestätigt holte der hoch gewachsene, junge Mann den fast um einen Kopf kleineren Dieb ein.

Es kam ihm wie ein endlos langer Wettstreit vor. Der Maskierte war ziemlich ausdauernd, schaffte es, bis ins Stadtzentrum unter Nicks Verfolgung vorzudringen. Dabei nahm er auch keine Rücksicht auf die Leute, die unterwegs waren, um sich Brötchen oder Ähnliches zu kaufen.

Der schmächtige Ernie Winter, ehemaliger Klassenkamerad Nicks, welcher an einem Eisstand mit zwei prächtigen Waffeln bewaffnet gerade zurück zu seiner Freundin watete, die auf die Fahrräder der beiden aufpasste, wurde gnadenlos von dem Unbekannten umgerannt. Die Eistüten flogen nur so durch die Luft und landeten auf seinem Haupt, während Nick über ihn herüber sprang und dabei eine Entschuldigung nuschelte.

 

Dennoch merkte Nick zunehmend, wie ihn seine Kräfte verließen. Das Seitenstechen konnte er nicht länger ignorieren, auch die Puste ging ihm jetzt endgültig aus. Er wurde langsamer, während der Unbekannte noch scheinbar fit über die Straße rannte und kurz darauf nach rechts in eine Seitengasse einbog.

Nick schleppte sich ebenfalls über die Straße, wurde dabei fast noch von einem Auto angefahren, weil er nicht auf den Verkehr achtete. Unter lautem Hupkonzert eilte er herüber zu dem Ort, wo er den Fremden zuletzt gesehen hatte.

„So ein Mist“, fluchte er leise. Bestimmt hatte der Dieb ihn längst abgehängt.

 

Keuchend bog Nick in die enge Seitenstraße ein. Es war … eine Sackgasse? Perfekt, daraus konnte der Unbekannte nicht flüchten! Dank der hohen Häuserwände war von dem sonnigen Tag hier nicht viel zu sehen, die Gasse stand in tiefen Schatten.

Als Nick jedoch in seiner dunklen Nische bemerkte, dass der Dieb sich ihm zugewandt hatte und seelenruhig stehen blieb, ahnte er bereits, dass jener es gar nicht weiter auf eine Flucht anlegte.

Er war in eine Falle getappt, was ein surrendes Geräusch hinter ihm bestätigte. Nick wirbelte um und bemerkte, dass der Weg zurück zum Bürgersteig durch eine gelbe Barriere blockiert war.

„Gib dir keine Mühe“, drang es hinter ihm dumpf hervor, „man kann uns jetzt weder sehen noch hören.“

 

Der großgewachsene, junge Mann wirbelte wieder herum.

Da stand der Dieb nun, in seinen schwarzen Mantel, die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Das, was vom Gesicht zu sehen war, wurde durch eine weiße, ausdruckslose Maske vollständig bedeckt. Sie sorgte auch dafür, dass Nick nicht einzuordnen wusste, ob ihm hier Männlein oder Weiblein gegenüber stand.

„Gib das zurück“, forderte er dennoch direkt und zeigte auf Anyas Krone, die der Fremde in der rechten Hand hielt.

„Hol sie dir doch“, kam es nur provozierend zurück.

Nick wollte gerade einen Schritt auf sein Gegenüber zugehen, da hob jener den anderen Arm unter dem Mantel hervor – und offenbarte eine rote, längliche Duel Disk, einem V gleich.

„Zusammen mit dem hier“, drang es dazu leise hinter der Maske hervor.

Nick, der seine eigene Duel Disk umgeschnallt hatte, weil er ursprünglich während seines morgendlichen Besuches vorgehabt hatte, Zanthe auf seine Duellkünste zu prüfen, wusste bereits, worauf das hinauslaufen sollte.

„Was willst du überhaupt?“, hakte er im harschen Tonfall nach. „Du stiehlst Anyas Krone? Und sperrst mich hier ein?“

„Rache.“

An Anya, schoss es Nick verwirrt durch den Kopf. Oder etwa gar an ihm!?

„Wofür?“

„Geht dich nichts an. Du solltest eigentlich gar nicht hier sein.“

Also tatsächlich an seiner Freundin! Und wenn das so war …

 

Nick hob den Arm mit der Duel Disk und betätigte einen kleinen Schalter an deren Unterseite, der dafür sorgte, dass die Sicherheitsbarrieren der Hologramme deaktiviert wurden – was eigentlich nur bestimmten Nutzergruppen gestattet war. Zu dumm, dass er sich nach längerer Pause sofort wieder in jene eingeschleust hatte, nachdem er Zanthe für Anya ausfindig gemacht hatte.

Wenn diese Person dort Anya schaden wollte, würde er keine Gnade mit ihr kennen!

 

„Sag mir wenigstens deinen Namen!“, verlangte er aufgebracht.

„Du kannst mich Kali nennen.“ Noch hinzu fügte die Person: „Die Dämonengöttin!“

Also stand er einer Frau gegenüber, schloss Nick erstaunt. Zudem fühlte er sich bei diesem Namen sofort an die Göttin des Todes und der Zerstörung aus dem Hinduismus erinnert. Ein Zufall?

„Bist du wirklich eine Dämonengöttin oder ist das nur ein Titel, den du dir selbst gegeben hast?“, hakte Nick provokativ nach.

Nicht weniger herausfordernd kam es zurück: „Find' es doch heraus!“

 

Wie eine Dämonin drückte sie sich jedenfalls nicht aus, überlegte er dabei. Im Endeffekt war es ihm gleich, wer oder was da vor ihm stand. Da sie offenbar kein Interesse zeigte, ihre Motive zu erklären, würde sie mit den Konsequenzen leben müssen. Und wer weiß, vielleicht würde ein bisschen Schmerz sie zur Vernunft bringen?

 

Beide gingen in stillem Einverständnis in Duellposition. Kali ließ ihre V-Duel Disk ausfahren, dann riefen beide lautstark: „Duell!“

 

[Nick: 4000LP / Kali: 4000LP]

 

„Ich beginne“, entschied Nick, ehe seine Gegnerin ihm zuvor kommen konnte.

Zusätzlich zu seinem Startblatt fügte er noch eine weitere Karte seiner Hand hinzu. Jene neue war es auch, die er nach kurzer Überlegung als Erstes ausspielte. „Ich beschwöre [Wind-Up Rabbit]!“

Vor ihm materialisierte sich ein roter Robohase, dessen Ohren so lang und schwer waren, dass sie ihm über das Gesicht hingen.

 

Wind-Up Rabbit [ATK/1400 DEF/600 (3)]

 

„Zug beendet!“, entschied Nick schließlich.
 

„Halt dich ja nicht zurück!“, verlangte Kali in einem nahezu drohendem Tonfall. Dann griff sie nach ihrem Deck und zog schwungvoll. „Draw!“

Energisch fischte sie eine Zauberkarte aus ihrem Blatt hervor und hielt sie demonstrativ nach vorn, damit Nick sie sehen konnte. „Ich aktiviere [Destructo Gear]! Damit kann ich eine Zauberkarte von meinem Deck verbannen!“

Genau das tat sie auch, als lauter Zahnräder um ihre Duel Disk erschienen, sich mit jener zusammenschlossen und zu drehen begannen, wobei Kali einen Zauber namens [Banished Power Gear] in einen Seitenschlitz des langen Apparats schob.

„Und als Nächstes dieses hier! Ich beschwöre [Celestial Gear – Synthetic Sparrow]!“

Das war der Moment, in dem es bei Nick Klick machte. Über Kali erschienen lauter weiße Lichtkugeln, die eine merkwürdige Formation einnahmen. Sie verbanden sich gegenseitig mit grünen Linien, sodass sie tatsächlich eine riesige Vogelgestalt mit vergleichsweise kleinen Flügeln, dafür mit etwas zu viel Unterleib zeichneten, die über den Dächern flog. Das Besondere an ihr war, dass man hinter einer grünen Lichtschicht in das mechanische Innere der Kreatur hineinsehen und all die Zahnräder und Getriebe erblicken konnte.

 

Celestial Gear – Synthetic Sparrow [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Nick weitete die Augen. Zwar hatte er diesem Deck nie selbst gegenüber gestanden, aber viel von Anya darüber gehört. Es war das Deck, das Isfanel im Turm von Neo Babylon eingesetzt hatte. Das Deck, welches Marc, als er aus Isfanels Griff befreit war, Anya geschenkt hatte. Das Deck … das Anya vor vielen Monaten gestohlen worden war, woraufhin sie alles und jeden wochenlang verdächtigt hatte.

Kali war der Dieb von damals!

„Überrascht?“, fragte sie kalt. „Sieht so aus, als hätte ich mehr als nur die Krone deiner 'Freundin' mitgehen lassen.“

Noch völlig verblüfft von dieser Wendung, fragte Nick: „Wieso hast du-!?“

„Wie ich bereits sagte: Rache. Nun der Effekt meines Monsters! Einmal pro Zug kann ich einen Zauber von meinem Friedhof verbannen.“ Schon schob sie [Destructo Gear] in denselben Schlitz, den sie schon für [Banished Power Gear] verwendet hatte. „Und jetzt sieh her! Ich greife dein albernes Spielzeug mit Sparrow an! Los, Celestial Pride! Und da [Banished Power Gear] verbannt ist, werden Celestial Gears im Kampf vorübergehend um 500 Punkte stärker.“

 

Celestial Gear – Synthetic Sparrow [ATK/1000 → 1500 DEF/1800 (4)]

 

Im Schnabel der Kreatur sammelte sich grünliche Energie, die jene schließlich in einem gewaltigen Energiestrahl auf Nicks Monster abfeuerte. Jener wusste, dass er schnell eine Entscheidung treffen musste. Und die war eindeutig.

„Ehe es dazu kommt, aktiviere ich [Wind-Up Rabbits] Effekt! Es kann sich oder ein anderes Wind-Up-Monster bis zu meiner nächsten Standby Phase verbannen. Damit weicht es dem Angriff aus!“

Der Aufziehschlüssel auf dem Rücken des Hasen begann sich rapide zu drehen, was dafür sorgte, dass jener wie wild geworden durch die Seitengasse hoppelte und sich schließlich hinter einer Mülltonne seitlich von Nick versteckte, womit er dem Einschlag des Angriffs entkam.

„Das macht dich nur zum Ziel für einen direkten Angriff!“, konterte Kali.

Dessen war sich Nick bewusst. Der riesige Vogel lenkte seinen Strahl daraufhin auf den jungen Mann, welcher, von der Attacke getroffen, gegen die gelbe Mauer knallte, die ihn von der Außenwelt abschnitt.

„Argh!“

Sein grünes 'Kermit der Forsch'-T-Shirt war damit wohl im Eimer. Am Bauch, wo er getroffen wurde, war es aufgerissen. Darunter lag seine gerötete, leicht verbrannte Haut.

 

[Nick: 4000LP → 2500LP / Kali: 4000LP]

 

Kali schnaufte und zeigte dann mit erhobener Hand zwei Karten mit deren Rücken zu Nick gerichtet vor. „Das war schwach. Diese beiden setze ich. Zugende!“

Schon materialisierten sich die beiden Fallen zu ihren Füßen.

 

Nick, der derweil die Energiemauer hinab gerutscht und auf dem Hosenboden gelandet war, raffte sich mühselig auf. Schwankend trat er einen Schritt vor.

Dieses Deck durfte er auf keinen Fall unterschätzen! Damit hatte es Isfanel damals fast geschafft Anya zu besiegen, obwohl sogar Valerie und Henry als Verstärkung dabei waren. Gerade deshalb stellte es eine interessante Herausforderung dar. Allerdings war Nick nicht die Sorte Mensch, die daran Gefallen finden konnte, wenn im Hintergrund das Wort Rache in Verbindung mit Anya stand.

Also schob er den reizvollen Gedanken des Kräftemessens beiseite und fokussierte sich darauf, Kali gnadenlos zu überrollen. So schrie er: „Ich ziehe!“

Was er auch tat. Sofort streckte er den Arm aus. „In meiner Standby Phase kehrt [Wind-Up Rabbit] zurück!“

Schon kam der Hase hinter der Mülltonne wieder hervorgesprungen.

 

Wind-Up Rabbit [ATK/1400 DEF/600 (3)]
 

Sein Besitzer derweil legte gleich zwei Karten in dessen Duel Disk ein. „Ich beschwöre [Wind-Up Magician] und aktiviere den Zauber [Wind-Up Factory]!“

Während vor ihm ein kleiner Spielzeugmagier auftauchte, der in seinen Zangenhänden einen Zauberstab hielt, klappte ebenfalls die Zauberkarte auf, deren Animation aufgrund von Platzmangel nicht ausgeführt werden konnte.
 

Wind-Up Magician [ATK/600 DEF/1800 (4)]

 

„Effekt des Rabbits!“, setzte er seinen Zug fort. „Ich verbanne es durch seinen eigenen Effekt bis zu meiner nächsten Standby Phase! Damit aktivieren sich die Effekte von [Wind-Up Magician] und [Wind-Up Factory]!“

Sein Magier schwang den Zauberstab und ließ neben ihm einen kleinen orangefarbenen Krieger mit massiven Zangenhänden erscheinen, welche er schützend vor sich hielt. Gleichzeitig nahm Nick sein Deck in die Hand und begann zu erklären: „Nur einmal, solange der Magier offen liegt, kann ich ein Wind-Up-Monster von meinem Deck beschwören, wenn ein anderes seinen Effekt aktiviert, wie es bei Rabbit der Fall war. Außerdem erhalte ich dank Factory einmal pro Zug ein Wind-Up auf die Hand, wenn selbige Bedingung erfüllt ist.“

Kali verschränkte die Arme abwartend voreinander, als er [Wind-Up Shark] vorzeigte. „Zwei Fliegen mit einer Klappe? Pft.“

„Durch Magicians Effekt habe ich [Wind-Up Warrior] gerufen“, erklärte Nick weiter.

 

Wind-Up Warrior [ATK/1200 DEF/1800 (4)]

 

„Da ein Wind-Up beschworen wurde, kann ich außerdem noch [Wind-Up Shark] von meiner Hand spezialbeschwören!“

Kaum tauchte der blaue Spielzeughai vor ihm auf, begann sich der Schlüssel auf seinem Rücken im Uhrzeigersinn zu bewegen.

 

Wind-Up Shark [ATK/1500 DEF/1300 (4 → 5)]

 

„Wie du siehst, kann er seine Stufe verändern, in dem Fall um eins nach oben“, rief er, doch ließ er das Effektgewitter damit nicht versiegen, fuhr fort: „Ebenso wie mein [Wind-Up Warrior], der einmalig die Stufe eines Wind-Ups um 1 und dessen Angriffskraft um 600 erhöhen kann. Die des Magiers!“

Auf den Rücken beider Monster begannen sich die Aufziehschlüssel langsam, dann immer schneller zu drehen.

 

Wind-Up Magician [ATK/600 → 1200 DEF/1800 (4 → 5)]

 

„Und jetzt sieh her!“, forderte Nick und streckte eine Faust gen Himmel. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen Stufe 5-Monstern wird ein Rang 5-Monster!“

Ein schwarzer Wirbel öffnete sich inmitten des Spielfelds und saugte Hai und Magier als blaue beziehungsweise rote Lichtstrahlen in sich auf.

„Xyz-Summon! Sei meine Klinge, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Aus dem Strom erhob sich ein für Nicks Spielzeuge vergleichsweise großer, roter Roboter mit einem Bohrarm und einer normalen Faust. Um ihn kreisten zwei Lichtsphären.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 2]

 

„In dir steckt ja doch etwas Können“, kommentierte Kali das Ganze abfällig, „scheint, als hättest du deiner geliebten Anya wohl nur etwas vorgemacht. All die Jahre.“

Woher wusste diese Person das, schoss es Nick durch den Kopf. Offensichtlich musste sie ihn und Anya ziemlich gut kennen, aber er hatte keine Ahnung, wer jene Kali sein könnte, die ihm da gegenüberstand. Nichts an ihr war ihm vertraut.

„Das sind alte Kamellen“, winkte er daher ab, nicht den Drang verspürend, sich rechtfertigen zu müssen, „sieh lieber zu, dass du vor lauter Staunen nicht das Duell verpasst! Ich aktiviere Zenmaiohs Effekt!“

Mit dem Bohrer absorbierte der große Roboter eines der Xyz-Materialien, die ihm ihn kreisten.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 2 → 1]
 

„Er kann so zwei gesetzte Karten pro Zug zerstören. Wovon du glücklicherweise ja genug hast!“

Unter einem verächtlichen Stöhnen wich Kali zurück, als Zenmaioh auf sie zugeschossen kam und die beiden gesetzten Karten der Reihe nach mit seinem Bohrer vernichtete. Dadurch blieb ihr nur noch der Mechavogel.

Noch während Nicks Monster zu ihm zurückkehrte, rief der: „Und jetzt Angriff auf [Celestial Gear – Synthetic Sparrow]! Wind-Up Power Punch!“

„Vergiss nicht, dass Celestial Gears im Kampf kurzweilig stärker werden durch den Effekt der verbannten Zauberkarte [Banished Power Gear]!“

 

Celestial Gear – Synthetic Sparrow [ATK/1000 → 1500 DEF/1800 (4)]

 

Trotzdem feuerte Zenmaioh seine Faust auf seinen Feind in Form des Cyberspatzen ab, welcher mitten in die Brust getroffen und dadurch zu Fall gebracht wurde. Die einzelnen Teile gingen auf Kali hinunter wie ein grausamer Regen, denn als eines der Zahnräder sie an der Schulter traf, kippte sie nach vorn und schrie vor Schmerz auf.

 

[Nick: 2500LP / Kali: 4000LP → 2900LP]

 

„Tut weh, was?“, hakte Nick eiskalt nach, noch während der Körper des Vogels auf Kali zu stürzen drohte.

„Nicht annähernd genug um mich zu beeindrucken!“

Gleichzeitig verwandelten sich die verbliebenen Trümmerteile in leuchtende Funken, die sich zusammen in Kalis ausgestreckter Hand zu einer Karte formten. Was sie davor bewahrte, von ihrem eigenen Monster erschlagen zu werden.

„Wenn Celestial Gears zerstört werden, kommen sie auf meine Hand zurück, statt im Friedhof zu landen“, erklärte die Frau und raffte sich auf.

Und obwohl sie so tat, als hätte Nicks Treffer ihr nichts ausgemacht, hielt sie sich die Schulter und stöhnte auf.

 

Was Nick interessiert zur Kenntnis nahm. Eine Dämonengöttin konnte sie wohl kaum sein, wenn schon so ein Treffer sie aus der Bahn brachte. Trotzdem schloss der junge Mann nicht aus, dass sie vielleicht von einem Immateriellen kontrolliert wurde.

Es ergab Sinn. Als Anya und Matt Another töteten, hatten sie auch verhindert, dass das Tor Eden geöffnet wurde. Ergo war es den Immateriellen unmöglich, diese Welt zu verlassen. Vielleicht wollte Kali hierfür Rache nehmen? Oder sie stand, ähnlich wie Urila damals, in direkter Verbindung mit Another und verlangte nun nach dem Blut seiner Mörder?

Aber es waren nur Vermutungen. Sie würde von sich aus reden, wenn er sie erst noch mehr in die Ecke drängte.
 

„Ich setze diese verdeckt“, sprach er gelassen und schob die Falle in den dafür vorgesehenen Schlitz, woraufhin sie auch gleich vor seinen Füßen erschien, „und beende den Zug.“

Mit Zenmaioh als Angreifer und Gefahrentilger, Warrior als Verteidiger und seiner Factory als Nachschublieferantin hatte er ideale Voraussetzungen für das weitere Duell.

 

„Mein Zug, Draw!“, fauchte Kali regelrecht und riss die nächste Karte von ihrem Deck. Mit dem Finger zeigte sie unbarmherzig auf Nick. „Du wirst mich nicht daran hindern, das zu nehmen, was mir zusteht! Du hast keine Ahnung, mit wem du da befreundet bist!“

Nick, der wusste, dass Anya in ihrem Leben schon vielen Menschen geschadet hatte, konnte zwar einerseits den Drang nach Rache nachvollziehen … aber irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass es sich hierbei nicht um die typischen Anya-Vergehen handeln konnte. So voller Hass zu sein, das konnte nur etwas Schwerwiegendes ausgelöst haben.

„Was hat Anya dir getan?“, versuchte er daher, es ruhiger angehen zu lassen.

„Sie hat mein Leben zerstört“, erwiderte Kali grimmig, „und jetzt ist es an mir, ihres zu zerstören! Ich rufe [Celestial Gear – Synthetic Sparrow] als Normal- beziehungsweise Rückbeschwörung!“

Ohne Vorwarnung setzte Kali zu ihrem Zug an. Über ihr tauchten wieder die Lichtkugeln auf, die den grün leuchtenden Mechavogel zeichneten.

 

Celestial Gear – Synthetic Sparrow [ATK/1000 DEF/1800 (4)]
 

„Jetzt beginnt der wahre Effekt Sparrows zu wirken“, erklärte sie völlig mitgerissen vom Geschehen, „nur einmal während des Duells wird jener bei einer Rückbeschwörung ausgelöst, was allerdings die Verbannung in der End Phase nach sich zieht! Sparrow kann mir eine Fusionskarte vom Deck auf die Hand geben und ich wähle [Celestial Gear Polymerization]!“

Kali zeigte die Karte umgehend vor, auf dem je ein in violetter und in blauer Aura gehüllter Mechavogel abgebildet waren, die sich inmitten zweier schwarzer Soge über und unter ihnen befanden.

„Sie aktiviere ich auch gleich, um Sparrow auf dem Feld mit [Celestial Gear – Synthetic Albatross] von meiner Hand zu verschmelzen! Zwei Zahnräder verbinden sich und formen eine neue Kraft!“

„Also eine Fusionsbeschwörung“, rekapitulierte Nick. Von so etwas hatte Anya ihm nicht erzählt!

Ein nach oben verlaufender, schwarzer Sog tauchte über Kali auf. Er riss ihren Mechavogel auf dem Feld und einen weiteren, in roter Aura gehüllten ins Verderben. Ein greller Lichtblitz unterbrach kurzzeitig das Geschehen.

„Erscheine, [Celestial Gear – Synthetic Armored Finch]!“

Als Nick nicht mehr geblendet wurde, erkannte er mit Schrecken den in gelber Aura gehüllten Mechavogel über Kali. Anders als seine Artgenossen, konnte man nur an Beinen und Flügeln in sein Inneres sehen, da die Brust mit einer weißen Panzerung bedeckt war.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Finch [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Die pupillenlosen Augen des Finken leuchteten rot auf, als seine Besitzerin erklärte: „Wird Finch beschworen, erhalte ich eine Gear- oder Synthetic-Zauberkarte.“

Sich die passende aus ihrem Deck aussuchend, zeigte sie jene vor. Und zu Nicks Erstaunen handelte es sich um eine zweite Kopie von [Celestial Gear Polymerization].

„Du willst nochmal fusionieren?“, fragte Nick erstaunt.

Dabei besaß sie nur noch drei Handkarten, es würde all ihre Ressourcen fressen.

„Nein“, erwiderte Kali, schob jedoch geradezu paradoxerweise die Karte trotzdem in ein Fach ihrer V-Duel Disk, „tatsächlich ist [Celestial Gear Polymerization] keine reine Fusionskarte. Sie kann ebenso gut Rituale an Celestial Gears durchführen.“

Verblüfft horchte Nick auf. „Eine Karte … die sowohl Rituale, als auch Fusionen rufen kann?“

„Es kommt noch besser. Für jede meiner verbannten Zauberkarten wird die benötigte Stufenzahl des zu rufenden Ritualmonsters um 2 verringert. Ergo kann ich momentan bis zu Stufe 4-Rituale kostenlos beschwören und genau das tue ich jetzt auch! Aus zwei Zahnrädern wird ein neues geboren! Erscheine, [Celestial Gear – Synthetic Armored Halcyon]!“

Nick schrie erstaunt auf, als aus dem Boden vor Kali ein weiterer Mechavogel brach und abhob. Dieser besaß eine pinkfarbene Aura, war ebenso an der Brust gepanzert und konnte dazu noch einen schlanken Körperbau samt überragend langem Schnabel aufweisen.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Halcyon [ATK/1000 DEF/2200 (4)]

 

Mit ebenjenem pickte er vor Kali in den Asphalt, ehe er sich in die Höhe zu seinem Artgenossen begab. Und aus dem Loch vor ihr entstieg eine gesetzte Karte.

Dazu erklärte sie: „Halcyon setzt einen Zauber oder eine Falle von meinem Deck, wenn er per Ritual gerufen wird! Allerdings kann ich jene Karte erst im nächsten Zug benutzen! Das Beste aber ist, dass du nicht erfahren wirst, worum es sich dabei handelt!“

Das war in der Tat ein Problem, sagte sich Nick. Andererseits besaß er mit Zenmaioh die perfekte Waffe gegen Kalis gesetzte Karte. Darüber hinaus, selbst mit dem Boost von [Banished Power Gear] waren ihre Monster zu schwach, seinen Roboter zu zerstören.

Jedoch streckte die Frau plötzlich ihren Arm in die Höhe. „Wusstest du, dass Halcyon ein Empfänger ist? Wenn nicht, pass' gut auf! Ich stimme ihn auf meinen Stufe 4-Finch ein!“

„Jetzt auch noch eine Synchrobeschwörung!?“, schoss es aus Nick heraus.

Während der Fink in vier grüne Lichtkugeln zersprang, formte sich sein Artgenosse zu ebenso vielen Energieringen, welche von den Sphären passiert wurden.

„Clashing gears form a new entity of overwhelming might! With each turn the iron will grows stronger and stronger! Synchro Summon!“, schrie Kali aufgebraucht. „Rise, [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk]!“

Ein weiterer Lichtblitz blendete Nick und als er vorbei war, sah er sich einem gewaltigen Mechanikfalken gegenüber, dessen braune Aura regelrecht glühte. Auch er war gut gepanzert.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]
 

„... so ein Mist“, fluchte Kali plötzlich laut, „wie konnte ich das vergessen!?“

Überrascht wandte Nick den Blick von dem Monstrum ab und sah zu seiner Gegnerin herüber, die scheinbar alles andere als zufrieden war.

„Was ist los?“

„Das geht dich nichts an! Außerdem spielt es keine Rolle, denn ich werde dich so oder so besiegen! Los, Hawk, greif sein Monster an!“ Kali schwang den Arm aus. „Celestial Overflare!“

Im Schnabel des Falken bündelte sich eine grelle Flamme, die dieser schließlich auf Zenmaioh abfeuerte. Nick wusste, dass es kein wirklicher Gleichstand zwischen den beiden Monstern war, denn Kalis Zauberkarte stärkte ihre Kreatur aus dem Hinterhalt.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 → 3100 DEF/2400 (8)]
 

Allerdings hatte er mit so etwas schon gerechnet.

„Verdeckte Falle!“, rief er daher aus und aktivierte diese mit einem Knopfdruck, wodurch sie vor ihm aufsprang. „[Half Or Nothing]! Sie halbiert die Basiskraft all deiner Monster oder bricht die Battle Phase gleich ab. Deine Entscheidung!“

„Als ob mich so etwas beeindruckt! Mach weiter, Hawk!“

Das traf Nick völlig unvorbereitet. Sie würde ihr Monster dabei verlieren! Oder? Ihn beschlich eine dunkle Vorahnung. Obwohl gleißende Blitze um den Mechavogel schlugen, setzte dieser seinen Flammenangriff auf Zenmaioh ungestört fort.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 → 1300 → 1800 DEF/2400 (8)]

 

Jener holte seinerseits mit der abtrennbaren Faust aus und schoss sie direkt in den Feuerstrahl. Dieser wurde einfach gespalten, was darin endete, dass Hawk einen mächtigen Kinnhaken abbekam und rücklings zu Fall gebracht wurde.

Wieder ging ein Hagelschauer aus Trümmerteilen auf Kali nieder, doch sie ertrug es mit Fassung.

 

[Nick: 2500LP / Kali: 2900LP → 2100LP]

 

Als sie jedoch nach oben blickte, und gerade zum Sprechen ansetzte, traf sie eines der kleineren Trümmerteile des wie in Zeitlupe herabstürzenden Falken im Gesicht und prallte an der Maske ab. Diese bekam daraufhin einen Sprung, der dafür sorgte, dass ein schmaler Teil am rechten Auge der Frau abplatzte, welche ihrerseits zurücktorkelte. Und eine strahlend blaue Iris offenbarte.

„Argh! Nicht schlecht“, lobte sie Nick und richtete den Blick auf ihn. Dabei kniff sie das Auge fest zusammen. „Aber nicht gut genug! Denn Hawk kehrt nur einmal im Duell nach seiner Zerstörung zurück aufs Feld!“

Plötzlich rauschten die in der Luft und am Boden verteilten Trümmer wieder zurück zum Körper des halb zerstörten Falken und setzten ihn neu zusammen, sodass er ohne Vorwarnung wieder funktionsfähig war.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]

 

„Jetzt, von der Wirkung deiner Falle befreit, ist er wieder er selbst, wenn auch nur bis zur End Phase, in der er verbannt wird“, rief Kali, „aber das ist nicht alles! Auf diese Weise beschworen, halbiert er die Lebenspunkte meiner Feinde!“

Sofort begann von der Brustmitte der Panzerung ein gleißendes Strahlen auszugehen, welches Nick erfasste. Dieser machte instinktiv einen Hechtsprung zur Seite und wich damit knapp einem glühend heißen Energiestrahl aus, der ihm sonst zweifelsohne schwere Verbrennungen zugefügt hätte.

 

[Nick: 2500LP → 1250LP / Kali: 2100LP]

 

Noch während er am Boden lag, befahl Kali: „Los, Hawk, zweiter Angriff! Celestial Overflare!“

Der Falke öffnete seinen Schnabel und ließ eine weitere Lichtflamme auf Zenmaioh niedergehen. Und diesmal konnte Nick ihn nicht beschützen.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 → 3100 DEF/2400 (8)]

 

In einer mächtigen Explosion wurde [Wind-Up Arsenal Zenmaioh] regelrecht in seine Einzelteile zerrissen. Für Nick war dies ein herber Schlag, denn er hatte damit sein mächtigstes Monster verloren. Mehr noch, einen ganzen Batzen an Lebenspunkten durch Kalis geschicktes Manöver.

 

[Nick: 1250LP → 750LP / Kali: 2100LP]

 

Zumindest [Wind-Up Warrior] war ihm geblieben, dachte er angespannt.

Indes zeigte Kali ihre letzte Handkarte vor. „Weil ich diese Runde bereits mindestens zwei Zauber benutzt habe, kann ich [Synthetic Transformation] aktivieren. Sie opfert Hawk, den ich sowieso verloren hätte.“

„Und weiter?“, ächzte Nick, während er sich langsam aufrappelte.

„Danach erhalte ich je ein Monster mit höherer und niedrigerer Stufe von meinem Deck. Allerdings kann ich beide nicht sofort im Anschluss beschwören, sondern muss einen Zug warten.“

Nick bekam nur mit, dass sie ein Stufe 4-Celestial Gear und ein sehr hochstufiges Monster, welches er nicht erkennen konnte, ihrer Hand hinzufügte.

„Zug beendet“, bekräftigte sie daraufhin und hinterließ, abseits ihrer durch Halcyon gesetzten Karte, ein leeres Feld.

 

Ihr Gegner atmete schwer. Die Strapazen des Duells machten sich langsam bemerkbar. Die ganze Seitengasse hatte sich in ein Abbild der Zerstörung gewandelt, symbolisch für seine Erschöpfung.

Wer auch immer diese Kali war, sie war keine schlechte Duellantin, vielleicht sogar auf demselben Level wie Valerie oder Abby.

„Also ist es wieder mein Zug? Draw“, verkündete er leise und zog eine interessante Falle nach.

Damit kehrte auch der rote Spielzeughase auf seine Seite zurück.

 

Wind-Up Rabbit [ATK/1400 DEF/600 (3)]

 

Dies war seine Chance, das Spiel zu gewinnen. Allerdings hatte sie mit ihrer Falle vorgesorgt und würde seinen Angriff blocken, um nächste Runde jenes mächtige Monster zu beschwören, welches sie aufs Blatt genommen hatte. Dafür musste Nick auch nicht das Genie sein das er war, um dies zu erkennen.

Aber mit [Wind-Up Rabbit] hatte er den Vorteil auf seiner Seite – sollte sie seine Monster zerstören wollen, konnte er wenigstens eines davon retten! Er musste angreifen!

Ohne Umschweife nahm er ein Monster von seiner Hand und legte es auf die Duel Disk. „Ich beschwöre [Wind-Up Dog]!“

Vor ihm tauchte ein kleiner, blauer Spielzeughund auf, der in einem mechanischen Tonfall zu kläffen begann.

 

Wind-Up Dog [ATK/1200 DEF/900 (3)]

 

[Wind-Up Warrior] würde er vorsichtshalber im Verteidigungsmodus lassen, überlegte Nick, denn seine beiden anderen Monster reichten bereits aus. Zumindest, wenn Kali nur bluffte und nichts zum Blocken besaß – was er aber bezweifelte.

„Okay! Zuerst greift [Wind-Up Rabbit] dich direkt an!“, entschied Nick und streckte den Arm aus.

„Soll er doch“, erwiderte seine Gegnerin grantig.

Energisch hoppelte der Robohase auf die junge Frau zu und machte zum Abschluss einen Satz, um ihr den Schädel in den Magen zu rammen. Prustend wurde Kali zurückgeworfen und knallte gegen den abtrennenden Zaun hinter sich, sackte halb zusammen.

„Urgh!“

 

[Nick: 750LP / Kali: 2100LP → 700LP]

 

Überrascht stellte Nick fest, dass sie den Angriff hatte durchgehen lassen. War ihre gesetzte Karte also wirklich nur eine Finte?

„Noch hast du die Chance zu reden“, bot er ihr an.

„Ich hab dir nichts zu sagen!“

 

Der junge Mann kratzte sich am Kinn. Ein Angriff seines Hundes würde ihr vermutlich keine schlimmen Verletzungen zufügen. Allerdings wäre es gut, wenn er sie irgendwie bewusstlos schlagen würde, um sie gefangen zu nehmen. So jemanden konnte man nicht frei herumlaufen lassen … sollte Anya sie zum Reden bringen. Wenn es eines gab, was seine Freundin gut konnte, dann andere in Panik zu versetzen. Der Blondine würde bestimmt etwas einfallen, schließlich war sie für ihre Kreativität bezüglich schmerzhafter Erfahrungen berühmt-berüchtigt in Livington.

 

„Wenn das so ist, dann habe ich dir auch nichts mehr zu sagen. [Wind-Up Dog], direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte! Beende es!“

Der Spielzeughund vor ihm setzte sich auf sein Hinterteil und stieß ein hohles, künstliches Heulen aus, welches sich in gelben Schallwellen auf Kali zubewegte.

„Nein! Ich werfe [Celestial Gear – Synthetic Stork] ab! Er verringert für diesen Zug jeden Schaden, den ich erleide, um die bereits zugefügte Summe an Schaden! Damit ist dein Angriff aufgehoben!“

Sie schob ihre vorletzte Handkarte in den Friedhofsschacht, was dafür sorgte, dass sich eine Schar schwarzer und weißer metallischer Federn vor ihr wie ein Schild zusammenzog. Dieser wehrte die Schallwellen mühelos ab, ehe er zusammenbrach.

„Verstehe, so wolltest du dich also schützen“, kommentierte Nick das Geschehen gelassen, „dann ist es jetzt an mir, eine defensive Haltung einzunehmen! Ich erschaffe das Overlay Network!“

Vor ihm öffnete sich der schwarze Strudel nun ein zweites Mal und absorbierte Rabbit und Dog als braune Lichtstrahlen.

„Aus meinen beiden Stufe 3-Monstern wird ein Rang 3-Monster! Xyz-Summon! Erscheine, unzerstörbare Kampfmaschine, [Wind-Up Zenmaines]!“

Vor Nick erhob sich eine jetartige, violette Kreatur, von deren Schultern Flugzeugflügel abgingen, an denen sich Propeller drehten. Vor dem Kampfbomber schwebten zusätzlich zwei massive Zangenhände, die bedrohlich ins Nichts schnappten. Zwei Lichtsphären tanzten um ihn wie Glühwürmchen.

 

Wind-Up Zenmaines [ATK/1500 DEF/2100 {3} OLU: 2]

 

Daran würde Kali sich die Zähne ausbeißen und dazu noch eine böse Überraschung erleben, sollte sie versuchen, Zenmaines zu zerstören, dachte Nick zufrieden. Mehr noch, er würde ihr jede Chance auf den Sieg nehmen!

„Ich spiele zwei Karten verdeckt. Zug beendet!“

Die zwei Fallen materialisierten sich vor seinen Füßen. Mit zwei verteidigenden Monstern und den gesetzten Karten war er stark genug, sie endgültig in die Schranken zu weisen!

 

„So ein Pech, du hättest mich diese Runde besiegen sollen!“, tönte Kali und zog nebenbei von ihrem Deck. „Denn das war deine letzte Gelegenheit dazu! Verdeckte Falle aktivieren! [Negative Gate]!“

Nick wiederholte stumm den Namen der Karte, die vor Kali aufsprang.

Gleichzeitig schoss ein etwa drei Meter hohes Monument aus dunklem Kristall vor ihr aus dem Boden.

Kali erklärte: „Wenn diese Karte aktiviert wird, kann ich Monster, die ich normalerweise vom Feld für die Beschwörung eines Monsters verbannen müsste, stattdessen vom Friedhof aller anwesenden Spieler verbannen.“

Nick weitete die Augen, als er sich erinnerte, wie Anya ihm den Zug beschrieben hatte, mit dem Isfanel sie damals fast besiegt hätte.

„Ich verbanne Halycon, das Ritual, Finch, die Fusion, Hawk, das Synchro und deinen Zenmaioh, das Xyz-Monster, von unseren Friedhöfen!“

Mit Schrecken beobachtete ihr Gegner, wie von seinem Friedhof eine schwarze Sphäre in einen kleinen Spalt des Monuments gezogen wurde. Gleichzeitig geschah dasselbe mit einer weißen, blauen und violetten Lichtkugel auf Kalis Spielfeldseite. Das Monument bekam immer tiefere Risse, während unerwartet ein greller Blitz von dessen Mitte in die Höhe schoss.

„Erscheine aus deinem tiefen Schlummer, die, die du im Pakt mit Eden stehst!“, schrie Kali mit ausgestreckten Armen gen Himmel. „Vernichte meine Feinde!“

„Nein!“, brüllte Nick. „Das lasse ich nicht zu! Falle aktivieren, [Solemn Judgment]! Für die Hälfte meiner Lebenspunkte annulliert sie eine Beschwörung!“

„Zu spät!“, hallte es jedoch zu ihm zurück. „Das funktioniert nicht bei dem, was ich beschwören werde! Und nun erwache, [Sophia, Goddess Of Rebirth]!“

Schlaff ließ Nick die Glieder sinken, als er zusah, wie das Monument in sich zusammenbrach. Stattdessen war da jetzt ein mehrere Meter hoher Dimensionsriss, auf dessen Mitte sich plötzlich lange, spitze Finger schoben.

Er sank fassungslos in die Knie.

„Du weißt es, nicht wahr?“, lachte Kali verächtlich. „Was passiert, wenn Sophia beschworen wird? Nichts kann dich vor ihrem Zorn beschützen. Es ist aus!“

 

Sophia, Goddess Of Rebirth [ATK/3600 DEF/3400 (11)]

 

Nick schloss die Augen und schluckte.

 

~-~-~

 

Ein schrecklicher, gequälter Schrei hallte durch die Seitenstraße.

Anya und Zanthe, die zwischenzeitlich nach Nick gesucht, aber seine Spur verloren hatten, hörten ihn nicht allzu weit von sich entfernt. Auch andere Fußgänger drehten sich überrascht um, darunter auch Ernie Winter.

„Oh nein, Nick! Der wird doch nicht-!?“, schoss es aus Anya heraus.

„Scheinbar ist ihm sein Alleingang zum Verhängnis geworden. Mir nach!“

Während Anya schon ziemlich außer Puste war, konnte Zanthe mühelos weiter rennen und übernahm die Führung. Obwohl es nur wenige Meter waren, kam es Anya wie eine Ewigkeit vor, wie sie durch die Stadt rannte und ihren Nicht-mehr-ganz-Freund suchte.

 

Als Zanthe sie letztlich in die Seitenstraße führte, von der er den Schrei vernommen hatte, blieb sie mit aufgerissenen Augen stehen.

Da lag er, verkrümmt und leblos. Die Augen geschlossen, zeugte sein blutverschmierter Körper von dem harten Kampf, den er durchlebt hatte.

Sofort stürmten beide auf ihn zu, Anya glitt auf die Knie und nahm seinen Kopf in die Hände. „Nick! Nick!“

„Er atmet noch“, stellte Zanthe fest, als er sich über ihn beugte.

Noch einen Moment in der Schockstarre verharrend, schwang Anyas Angst schnell in Wut um. Welche sie unglücklicherweise direkt an Nick in Form einer mächtigen Ohrfeige entlud.

„Wach auf!“, brüllte sie.

Stöhnend öffnete er einen Spalt die Augen, drohte aber gleich wieder in die Bewusstlosigkeit abzurutschen.

„Was ist passiert? Wer hat dir das angetan!?“, wollte Anya wissen.

Deutlich orientierungslos, streckte Nick den Arm in eine scheinbar willkürliche Richtung aus, wobei er den Namen murmelte, den Anya hören wollte. „Kali …“

Damit driftete er wieder ab, ließ den Arm sinken.

Anya blickte rat- wie hilflos zu Zanthe auf. „Wer zum Geier ist Kali!?“

„Keine Ahnung“, zuckte der mit den Schultern, „aber scheinbar kann er oder sie dich nicht sonderlich gut leiden.“

Und deutete damit auf die Bruchstücke der Krone, die neben Nick lagen.

 
 

Turn 43 – Reunion

Wenige Tage später – Nick hat sich inzwischen einigermaßen von dem Duell mit Kali erholt – fahren er, Anya und Zanthe zum Flughafen, um Abby abzuholen. Jene ist für die bevorstehende Hochzeit von Valerie und Marc angereist und sorgt im ersten Augenblick für verwunderte Blicke. Allerdings erkennt sie sofort, dass Anya etwas belastet. Doch als die nicht mit der Sprache herausrücken will, entflammt ein Duell zwischen den beiden Freundinnen, das …

Turn 43 - Reunion

Turn 43 – Reunion

 

 

„Hier arbeitest du also?“

„Ja! Und das musst du mir nicht dauernd unter die Nase reiben!“, fauchte Anya Zanthe an. „Warum bist du überhaupt hier? Hast du nichts anderes zu tun, als mir an der Arschbacke zu kleben!?“

„Nicht wirklich“, entgegnete er trocken, „leider, wie ich anmerken möchte.“

„Geh meinetwegen die Stadt erkunden, oder so!“, schlug Anya ihm in der Hoffnung vor, ihn loszuwerden.

Aber Zanthe zuckte nur unbedarft mit den Schultern.

Während sie damit beschäftigt war, die neuesten Boosterpäckchen und Promotion-Artikel in das Regal vor sich einzuräumen, stand der Kopftuchträger mit verschränkten Armen hinter ihr und schaute mäßig interessiert zu. „Hmm … vielleicht später.“

 

Anyas turbulentes Wochenende war inzwischen vorbei, sodass es wieder hieß: malochen, Kunden verschrecken und sich bis zum Erbrechen langweilen. Zumindest ging es Nick einigermaßen gut, er war sogar schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Trotzdem zierten seinen Oberkörper jetzt unschöne Narben, die er selbst allerdings als ziemlich, Zitat, 'abgefahren' empfand. Über das, was er erlebt hatte, verlor er seither kaum ein Wort, aber Anya wusste, dass es mit der Kuttentrulla zusammenhängen musste – Kali. Ihre neueste Feindin, hurra!

Eine Anya Bauer ließ sich von so etwas aber nicht die schlechte Laune verderben, das Thema würde sich sicher früh genug klären. Dann gab's für die kaputte Krone die passende Antwort in Form von Knochenbrüchen, entsprechend der Zahl an Scherben, die jetzt auf ihrem Schreibtisch lagen! Diese Kali sollte es sich nur trauen, sie noch einmal zu beklauen! Und Nick? Der war selber schuld daran, so zugerichtet worden zu sein, immerhin hatte sie ihn nicht um seine Hilfe gebeten! Glücklicher Bastard aber auch, der konnte fein zuhause hocken, sich betüddeln lassen und sie musste schuften!

Undankbar wie Anya war, ahnte sie in ihrem inneren Monolog nicht, wie viele sie eigentlich um ihren Job beneideten. Zu denen gehörte Zanthe allerdings nicht.

 

„Kaum zu glauben, dass du dich für so etwas erniedrigst“, palaverte er daher und betrachtete dabei skeptisch Anyas Hinterteil, als diese sich bückte, „dich hätte ich mir eher vor einem Club vorgestellt. Als Rausschmeißerin. Und übrigens, an deinem Arsch möchte ich nicht kleben, der ist viel zu flach.“

„Das hab ich probiert“, murmelte die beschäftigte Blondine und überhörte gnädigerweise seine Beleidigung. Was sie allerdings sämtliche Überwindungskräfte kostete, die sie aufbringen konnte. Aber auch nur, weil Mr. Palmer sie rausschmeißen würde, wenn sie -nochmal- jemanden in seinem Laden vermöbelte. „Die haben mich sofort abgewiesen, die Schweine!“

„Hatten wohl Angst, dass du gar keinen reinlässt!“, stichelte Zanthe.

Sofort richtete Anya sich auf, wirbelte zu ihm herum und streckte stolz die Brust hervor. „Darauf kannst du Gift nehmen, ich hätte den Laden sauber gehalten!“

 

Die Türglocke klingelte. Beide sahen herüber, wie die gläsernen Türen sich automatisch aufschoben und ein Kunde den Laden betrat.

„Oh mein Gott“, stammelte Zanthe und begann wie ein Mädchen zu kichern, „schau dir den an! Das ist ja ein Zwerg!“

„Nein“, murmelte Anya. In ihren Augen stand mit einem Schlag feuriger Eifer, „das ist mein Trinkgeld!“

So schnell konnte der Werwolf gar nicht gucken, da hatte sich Anya an ihm vorbei gedrängt und steuerte geradewegs den Mann an, welcher nicht eher gehen würde, bis er ein paar tausend Dollar hiergelassen hatte.
 

Nanu? Das letzte Mal, dass ich dich so engagiert gesehen hab, war, als du versucht hast, Valerie Redfield eine Brustverkleinerung ans Herz zu legen. Und das ist Monate her.

 

„Schnauze, Levrier“, bellte sie in ihrem Fast-schon-Sprint, „wenn ich den Kackjob behalten will, muss ich was verkaufen! Mr. Palmer ist nicht gerade gut auf mich zu sprechen …“
 

Warum nur? Nun denn, viel Erfolg. Versuche bitte auf Beleidigungen zu verzichten.

 

„Kann nix versprechen!“

Schließlich hatte sie das Zielobjekt erreicht und versperrte ihm, wie jeder schlechte Verkäufer, dreist den Weg.

„Hallo“, versuchte sie es mit künstlich hoher Stimme und schleimigen, schiefen Lächeln, „kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann, vielleicht Anfang bis Mitte 30, sah sie verständnislos an. Anya musterte ihn. Schwarzes, kurzes Haar, buschige Koteletten bis zum Kinn, generell ein kantiges Gesicht. An irgendjemanden erinnerte er sie, aber sie kam nicht drauf. Aber was hatte der Flohzirkus an seiner Größe auszusetzen? Der war doch genauso groß wie sie!

Leider lebte Anya diesbezüglich in ihrer ganz eigenen, 'kleinen' Welt und blendete daher gerne mal aus, dass sie mit ihren knapp 160 Zentimetern Körpergröße schon als Mädchen am unteren Durchschnitt nagte. Zwar glich sie das locker mit ihrem Ego aus, welches sie zuweilen durch die Decke schießen ließ, aber andere Menschen hatten am Ende doch eine andere Wahrnehmung des Ganzen. Kurzum: er war tatsächlich für einen Mann sehr klein. Kräftig gebaut, aber ein Zwerg.

Anya blickte ihn, unter ihrer fadenscheinigen Version von Toleranz, hoffnungsvoll an. Seine braunen Augen waren kurz auf sie gerichtet … dann ging er stumm an ihr vorbei und sah sich weiter um.

 

Er hat dich stehen lassen, Anya Bauer. Versuch bitte nicht, ihn zu töten. Vielleicht will er erst-

 

Aber Levriers Versuche, das drohende Unheil abzuwenden, waren ultimativ zum Scheitern verurteilt. Wie ein Tornado wirbelte Anya herum. Der Kunde lief einfach weiter, sah sich dabei nach links und rechts um.

„Hey!“, schrie sie ihm hinterher. „Ich hab dir 'ne Frage gestellt, verdammt!“

Keine Reaktion. Die Adern in Anyas Augäpfeln traten rot hervor.

„Wenn du die Kinderabteilung suchst, in deiner Größe verkaufen wir nichts! Probier's mal bei MyBaby im Obergeschoss!“

Er blieb stehen. Drehte sich um. Ruhig, aber unterschwellig provokativ antwortete er: „Du nervst. Siehst du nicht, dass ich mich erst einmal umsehen will?“

„Was war das, Erdwurm!? -Ich- nerve!?“

Anya wollte noch ein paar andere Beleidigungen hinterher schmeißen, da wurde sie von Zanthe zur Seite gestoßen. Der drängelte sich vor und setzte sein schönstes Zahnpastalächeln auf, während es hinter ihm laut rumpelte.

„Bitte verzeihen Sie meiner Kollegin, sie ist noch neu hier“, strahlte er über beide Backen, „ich muss sie erst noch einarbeiten. Sehen Sie sich ruhig um und wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich einfach. Ich helfe Ihnen gerne.“

 

Die Blondine, welche mit dem Hinterteil in den Einkaufskörben lag, weitete die Augen. Was sollte das denn jetzt!?

Allerdings schien der Kunde auch von Zanthe nicht sonderlich angetan zu sein, wie sein abschätziger Blick verriet. „Danke für das Angebot, aber wenn ich's recht bedenke … eher nicht. Gibt sicher noch woanders das, was ich suche.“

Damit zog er ohne weitere Worte an Zanthe vorbei. Doch bevor er das Geschäft verließ, als er Anya passierte, warf er ihr noch einen undeutbaren Blick zu. Dann schloss sich die Tür und beide standen beziehungsweise saßen da in ihrem Leid.

„Er hat mich abgewiesen“, murmelte Zanthe zutiefst in seinem Stolz getroffen. Sich zu Anya umdrehend, funkelte er sie böse an. „Das wäre sicher nicht passiert, wenn du es nicht versaut hättest!“

„Was geht dich das an!? Seit wann bist du hier überhaupt der Verkäufer!?“

„Entschuldige bitte, dass ich das Elend nicht ertragen konnte und dir helfen wollte! Beschwer' dich beim Erdnuckel, wenn du ein Problem hast!“ Zanthe fasste sich nachdenklich ans Kinn. „Aber der kommt bestimmt nicht wieder.“

Anya erhob sich langsam und klopfte sich das Hinterteil ab. „Tch, alles nur wegen dir!“

 

Dass er euch beide jetzt für Spinner hält, war nur zu offensichtlich. Ich würde hier auch nicht einkaufen wollen, wenn zwei Kollegen sich vor meinen Augen mit körperlichem Aufwand um einen Kunden streiten.

 

„Hmpf!“, schnaubte Anya lediglich, die so gar nicht einsehen wollte, was sie denn jetzt wieder falsch gemacht hatte.

Gerade wollte sie sich wieder an die Arbeit machen, da hallte es aus dem Lager hinter dem Tresen: „Bauer! Was hast du jetzt schon wieder angestellt!? Sag bloß, das war ein Testkäufer!?“

Das Mädchen wurde mit einem Schlag leichenblass. „Oh shit …“

Zanthe klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, als sie im Schneckentempo an ihm vorbei schlurfte. „Kopf hoch, beim nächsten Job wird alles besser.“

„Geht doch alle sterben!“

 

~-~-~

 

Wegen all dem Ärger hätte Anya es fast vergessen! Heute war doch -der- Tag! Der beste seit Wochen, nein Monaten! Wie gut, dass Mr. Palmer noch einmal davon abgesehen hatte, sie zu feuern. Allerdings hatte er dafür jetzt ausgerechnet Zanthe spontan als eine Art Aushilfe eingestellt, da ihm seine Attitüde deutlich besser gefiel als Anyas …

Was wohl deutlich zeigte, wie verzweifelt der Mann sein musste. Anya aber war es egal, dann konnte der Flohzirkus wenigstens die ganze Drecksarbeit erledigen, die für sie bestimmt war.

 

Zusammen saß sie mit Zanthe auf dem Rücksitz des Wagens, den Nick sich von seinem Vater geliehen hatte. Geliehen wie in: 'Ich schnappe ihn mir heimlich, obwohl ich mich wegen meinen Verletzungen keinen Stress aussetzen sollte' sowie 'Dad wird schon nicht mitbekommen, dass ich sein Ein und Alles zu einer kleinen Spazierfahrt mitnehme'. Der Harper-Bursche war es auch, der am Steuer saß. Und das Ziel lautete: Livington Airport.

„Und wer ist diese Abby?“, hakte Zanthe nach.

„Meine beste Freundin, mehr nicht. Sie studiert im Moment in England, aber kommt für ein paar Tage zu Besuch.“ Anya tat zwar so, als wäre das alles nicht weiter wichtig, doch sie konnte niemandem etwas vormachen. Sie freute sich riesig darauf, Abby endlich wiederzusehen.

Nick, der gerade in eine Straße einbog, fügte hinzu: „Sie kommt, weil Valerie sie zu ihrer Hochzeit eingeladen hat. Und sie ist eine der Brautjungfern, wie ich gehört habe.“

„Huh? Ich dachte Caroline Mayfield ist die Brautjungfer!?“

„Anya, man kann mehr als eine haben“, belehrte Zanthe sie altklug, „auch wenn du wohl nie in den Genuss kommen wirst. Hat man heute ja gesehen, warum.“

„Pah, das weiß ich selbst!“, schnaubte das Mädchen und verschränkte die Arme. „Ich will sowieso nie heiraten, das ist nur was für Spießer! Abby hat aber abgelehnt, hat sie mir erst neulich am Telefon erzählt.“

Überrascht horchte Nick auf. „Hat sie das? Warum? Das sieht ihr nicht ähnlich. Als Brautjungfer ausgesucht zu werden, dann noch von Valerie, gleicht praktisch einem Ritterschlag.“

Plötzlich verdunkelte sich die Stimme des Fahrers, als ihn eine unschöne Vermutung in den Sinn kam. „Anya, hast du etwa-!?“

„Nein, hab ich nicht! Sie hat von sich aus damit angefangen. Nicht, dass ich was dagegen hätte …“

„Hat sie es begründet?“

„Keine Ahnung, bei dem Thema hab ich immer gleich abgeschaltet.“ Zur Verdeutlichung bohrte sich das Mädchen mit dem kleinen Finger im Ohr. „Kannst sie ja gleich selbst fragen, wenn es so wichtig ist.“

„Hmm …“, gab Nick nachdenklich von sich, „... das sieht ihr wirklich nicht ähnlich.“

 

~-~-~

 

Nick parkte den weißen Chrysler Neon, Baujahr 1995, auf einem weitflächigen Parkplatz etwa einen halben Kilometer vom eigentlichen Flughafen entfernt. Schon aus der Ferne konnten sie das riesige Stahlkonstrukt sehen, dessen Form einem Flugzeug nachempfunden war. Hinter dem Gebäude befanden sich die Landebahnen, Hangar und Lagerhallen, die sie aber von hier aus nicht sehen konnten.

 

Es war ein grauer, trüber Tag. Die dunklen Wolken waren Vorboten eines Regenschauers, der für heute angekündigt war.

Als sie zu dritt von Nicks Wagen los trotteten, ätzte Anya: „Seit wann hast du eigentlich einen Führerschein, Harper?“

„Ich habe keinen“, erwiderte dieser vergnügt, die Gruppe anführend.

„Cool. Dann-“

„Vergiss es, Anya.“

„Aber-!“

„Nein.“

„Wieso!?“

Nick seufzte, spürte nebenbei ein unangenehmes Zwicken in der Magengegend. „Uh! Bei mir merkt es keiner. Bei dir hingegen …“

Das Schnaufen hinter ihm bestätigte ihn in seinem Vorhaben, den Zündschlüssel ab sofort wie seinen Augapfel zu hüten. Ansonsten würde es bald keine GTA-Spiele mehr geben, was sicherlich auch nicht in Anyas Interesse sein konnte, egal wie sehr sie versuchte, das vor der Flimmerkiste Gelernte umzusetzen.

 

Nach einem kurzen Fußmarsch standen sie direkt vor dem Haupteingang des Flughafens. Eine ganze Reihe von Taxen war dort aufgestellt, schon draußen standen reihenweise Menschen unterschiedlichster Herkunft und Absichten.

 

Kaum zu glauben, denn erst seit Kurzem boomte Livington als Urlaubsziel. Genauer gesagt, seit der Turm von Neo Babylon aufgetaucht und wieder verschwunden war. Natürlich waren die Ruinen die größte – und böse Zungen munkelten auch einzige – Sehenswürdigkeit der kleinen Vorstadt.

 

Zusammen traten sie durch eine der vielen mechanischen Schiebetüren. Sofort fiel Nicks Blick auf den riesigen Monitor über den Rolltreppen, die geradewegs vor ihnen nach oben führten.

„Abbys Maschine ist bereits eingetroffen“, entnahm er den weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund. „Terminal 32.“

So bogen sie nach rechts ab, umringt von aberhunderten von Fluggästen. Dazu musste man wissen, dass der Flughafen nicht wirklich 32 Terminals besaß. Eigentlich war Terminal 3 gemeint, die 2 stand für Ankunft, wohingegen die 1 als Referenz für den Abflug verwendete wurde. So waren bei den 2er-Terminals die Gepäckausgabebänder zu finden, welche die Drei schließlich durchquerten. Da allerdings nur einige wenige Leute herum standen, die auf ihre Liebsten warteten, ging Nick davon aus, dass die Passagiere noch nicht ausgestiegen waren.

 

Schließlich gelangten sie in einen großen Saal mit mehreren Sitzbänken. Von einem Panoramafenster konnte man auf die Flugbahnen schauen. Dort sah man auch, dass ein Flugzeug nicht weit entfernt angedockt hatte, die Fluggastbrücke war bereits ausgefahren.

Kurz warteten Anya, Nick und Zanthe, dann kam schon eine Traube von Fluggästen auf sie zu.

„Ich hoffe, Abby hat was Cooles mitgebracht“, murrte Anya.

Zanthe, der die ganze Zeit über verdächtig still gewesen war, meldete sich schließlich auch zu Wort. „Irgendwas riecht hier seltsam. Und damit meine ich nicht dich, Anya. Wirklich, wirklich seltsam. Fast wie … Honig.“

Demonstrativ schnüffelte Anya durch die Gegend, einige Leute sahen sie dabei überrascht bis abgeschreckt an, während sie an ihr vorbei gingen.

Schließlich zuckte das Mädchen mit den Schultern. „Keine Ahnung was du hast, Wurmparadies.“

 

Die Leute kamen und passierten sie, während die Drei warteten und warteten, dabei nicht gerade leise 'diskutierend'. Wie in: Anya hat immer Recht, Zanthe sowieso und Nick ist von beiden einfach nur genervt.

Irgendwann, die illustre Runde – lies: Anya – war schon kurz davor, sich beziehungsweise anderen ernsthaft weh zu tun, da unterbrach ein zuckersüßes „Hey“ die Streitigkeiten.

Die Blondine, die gerade Zanthe am Kragen seines weißen Hemds gepackt hatte, ließ jenen glatt los. Vor ihr stand eine junge Frau, die sie noch nie gesehen hatte.

„Geh weg“, fauchte sie jene an, „ich kaufe nichts von Pennern!“

„Ich bin es doch, Abby! Erkennst du mich nicht?“

 

Man glaubte, Anyas Kinnlade durch den Boden krachen zu hören.

Die leicht gelockten Haare, sie waren jetzt glatt und mit einer Spange nach oben gesteckt. Wo früher eine kreisrunde, dunkelbraun getönte Brille auf der Nase hockte, saß jetzt eine kantige, dezente Designerbrille. Und diese blumigen Kartoffelsäcke, die Abby immer getragen hatte, sie waren durch ein hellblaues Kostüm ersetzt worden. Das sogar etwas Bein zeigte!

Fazit: das da war nicht Abby! Bestenfalls die Stepford-Version!

 

„Oh, ihr hat es wohl die Sprache verschlagen“, wunderte sich 'Abby' und nahm einen Schritt zurück, um ihre Freundin neugierig zu mustern.

„Schön, dich zu sehen, Abby.“

Nick, nicht weiter von deren optischer Wandlung überrascht, drängte sich dazwischen und umarmte die junge Frau herzlich, die ihm ebenso glücklich erwiderte: „Danke, Nick! Ich bin auch froh, euch endlich wieder zu sehen. Oh, es ist so lange her!“

Sie schniefte, eine kleine Kullerträne lag in ihrem rechten Auge. „Sorry!“

Sich mit dem kleinen Finger das verräterische Nass hinter der Brille wegwischend, ging sie auf Zanthe zu. „Oh? Du bist …?“

„Zanthe, deine übernatürliche Vertretung“, scherzte der schwarzhaarige Kopftuchträger und gab Abby die Hand. „Cool, endlich sehe ich mal eine echte Sirene!“

Die kicherte verschmitzt. „Anya hat mir schon am Telefon von dir erzählt. Du solltest sie nicht ständig zur Weißglut treiben!“

„Die Verlockung ist einfach zu groß“, rechtfertigte sich Zanthe, was Abby nur zum Grinsen brachte.

„Ha ha, ja, das Gefühl kenne ich. Trotzdem solltest du netter zu ihr sein.“ Plötzlich drückte sie ihm vergnügt den Zeigefinger auf die Nase. „Sonst muss ich dich bestrafen! Ich habe dich übrigens schon gespürt, da waren wir noch gar nicht gelandet.“

„Und du bist die Einzige hier, die nicht zum Himmel stinkt.“ Zanthe schob ihren Finger mit dem seinen beiseite.

„D-danke?“

 

Anya indes stand immer noch stumm da und sah Abby an, als wäre sie eine Außerirdische. Zugegeben, da Anya eher selten aus ihrer eigenen, kleinen Ecke des Universums herauskam, mochte das aus ihrem Blickwinkel betrachtet tatsächlich so etwas wie der Realität entsprechen. Für Abby hingegen, die in der Hinsicht wesentlich weiter entwickelt war als Anya, war die Irritation ihrer Freundin mit zunehmender Dauer einfach nur noch befremdlich.

„Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Ich glaube, ihr Hirn ist einfach nur abgestürzt. Das dauert etwas, ehe es rebootet“, stichelte Zanthe und rammte Anya den Ellbogen in die Rippe. „Sag Tag zur lieben Tante!“

„A-Abby“, löste sich jetzt endlich Anyas Zunge.

Das brünette Mädchen begann zu strahlen.

„… du siehst furchtbar aus.“

Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Dann brach sie in kindliches Gekicher aus. „Ohhhh, ich wusste es! Du hättest mich nicht erkannt, oder? Aber für einen Moment dachte ich wirklich … bei dir kann man ja nie wissen!“

Alle lachten los. Nur Anya stand da wie ein begossener Pudel. Was zur Hölle war mit ihrer Freundin geschehen, wieso sah die so … so … so Redfield-mäßig aus!? Sie wollte die alte Abby wieder, auf der Stelle!

„Keine Ahnung, wer dir die Gehirnwäsche verpasst hat, aber ich schwöre dir, ich werde ihn finden und umpfmhampfhamph!“

Abby hielt ihrer Freundin den Mund zu, ehe die sich noch weiter ereifern konnte. „Keine Gehirnwäsche. Ich fand, es war Zeit, einen etwas seriöseren Look anzunehmen. Gefällt es dir nicht?“

„Neinmpf verfammfoffal!“, schimpfte Anya durch ihre Finger.

„Tja, daran musst du dich aber gewöhnen“, meinte Abby jetzt mit scheelem Blick und nahm die Finger von Anyas sekundärem Atmungsorgan, ehe diese ihr noch einen abbiss, „mich gibt’s jetzt nur noch so. Außerdem bin ich immer noch dieselbe Abby, innerlich!“

 

Das wusste sie, dachte Anya völlig missverstanden.

Aber diese Outfit, es war so …! Nein, das Problem war nicht, dass Anya es nicht mochte. Das Problem war, -dass- Anya es mochte. So völlig unwillentlich, ohne überhaupt mit ihrem Gehirn vorher abgesprochen zu haben, was sie davon hielt. Und das war für jemanden wie Anya, die aus Prinzip erst einmal gegen alles Ungewohnte war, absolut inakzeptabel.

Man hatte ihr die Entscheidung einfach abgenommen, ohne sie zu fragen! Da war diese neue Abby und sie sah umwerfend aus, ohne, dass Anya ihr OK dazu gegeben hatte. So wie sie ihr OK gegeben hatte, als sie entschied, dass explodierende Briefkästen einen schönen Klang in ihren Ohren hatten. Oder wie sie sich mit sich selbst darauf einigte, dass nichts Verwerfliches dabei war, die anderen Mädchen nach dem Sportunterricht in der Umkleide zu filmen und die Tapes anschließend auf dem Schulhof – und Gott allein wusste wo noch! – zu verkaufen.

Aber das, das da war nicht in Ordnung! Abby hatte Abby zu sein und nicht Abbylicious! Und verdammt war sie Abbylicious!

 

Zum großen Glück der anderen Anwesenden vermochte Anya es jedoch irgendwie, ihren inneren Zwiespalt zu verbergen. Alles, was ihr zu Abbys Predigt in den Sinn kam, war ein müdes: „'kay.“

Tch, jetzt war sogar schon ihr Mund zum Verräterschwein mutiert! Unfassbar!

Abbys Miene hellte sich umgehend auf, was Anya immerhin ein bisschen besänftigte. „Du wirst dich schon dran gewöhnen. Übrigens, ich habe euch etwas mitgebracht, aber es ist noch in meinem Koffer.“

Das erinnerte Anya prompt an etwas. Sie griff in die Innentasche ihrer mühsam zusammengeflickten Lederjacke ihres Vaters – die auch Anyas bescheidenen Näh- und Ausbesserungskünsten entsprechend aussah – und zog eine einzelne Duel Monsters-Karte daraus hervor. Die reichte sie Abby prompt.

„Hab dir auch was mitgebracht. Wette, die passt gut in dein Deck“, brummte sie, als wolle sie das Thema möglichst schnell wieder beenden, bevor es richtig anfing.

Abby nahm die Karte erstaunt entgegen und sah sie an. „Oh? Danke, wie lieb von dir! Aber die wäre in deinem doch viel- Ah!?“

 

Ein scharfer Schmerz durchfuhr Abbys Arm. Nur für einen kurzen Moment, aber er war dagewesen. Und da war noch mehr. Plötzlich sah Abby ihre Freundin mit ganz anderen Augen.

Da stand Anya, etwas beschämt wegen ihrer guten Tat, aber … ihre Ausstrahlung, ihre -innere- Ausstrahlung hatte etwas Gefährliches. Es zog die Sirene in eine schier endlose Leere, die sie mit aller Macht zu verschlingen versuchte. Und es war kalt, eiskalt.

Etwas lauerte dort in Anya oder war es gar sie selbst!?
 

„Alles okay, Abby?“ Nick winkte mit seiner Hand vor ihren Augen.

Die brünette, junge Frau stand regungslos da, wie weggetreten. Erst als Nick damit drohte, ihre Brüste durchzukneten, kam sie zu Sinnen.

„Anya“, stammelte sie, „was ist passiert? Du … du bist …“

„Huh? Jetzt fragst du mich, was los ist? Guck doch in den Spiegel, Aschenputtel! Das ist passiert!“

„N-nein, ich meine … du bist so anders. Irgendetwas stimmt mit dir nicht.“ Abby wich von Anya zurück. „Was hast du angestellt? Ste-steckst du wieder in Schwierigkeiten!? Sag mir die Wahrheit!“

Anya und Nick tauschten vielsagende Blicke aus. Keiner von ihnen schien zu wissen, was plötzlich Abbys Problem war. Doch sie beide stimmten stumm miteinander überein, dass Abby irgendetwas von Anyas Deal mit dem Collector zu ahnen schien.

„Nichts“, antwortete Anya schließlich scharf, „Thema beendet!“

 

Anhand ausreichender Erfahrung in Punkto Anya und Übernatürlichem wusste Abby jedoch, dass sie sich das alles gewiss nicht nur einbildete. Wenn Anya etwas unangenehm war, versuchte sie es mit aller Macht abzuschmettern. Zudem war das, was sie da gespürt hatte, real gewesen. Vielleicht war dies ihren wachsenden Kräften als Sirene zuzuschreiben, schließlich war sie mittlerweile imstande, Übernatürliches viel deutlicher wahrzunehmen als andere Menschen. Und selbst wenn in jenen wenigen Sekunden Abbys Einbildung ihr einen Streich gespielt hatte, Anyas Reaktion dem gegenüber war eindeutig genug.

 

Nur kannte Abby Anya wirklich sehr gut. Letztere würde nicht mit der Sprache herausrücken, egal wie sehr Abby bettelte und flehte. Um Anyas Zunge zu lösen, musste man mitunter die ein oder andere Missetat begehen. Wie etwa ihr Ego herauszufordern.

„Anya, ich weiß, dass etwas ist. Dafür sind wir lange genug Freundinnen“, begann Abby noch einmal mit der einfühlsamen Schiene. Sich völlig im Klaren darin, dass es vergebene Liebesmüh war.

Anya verschränkte genervt die Arme. „Nochmal wiederhole ich mich nicht, Masters! Alles ist a-o-kay!“

„Soll ich dich zwingen, mir die Wahrheit zu sagen?“

 

Es geschah so schnell, dass selbst eine Anya Bauer zurückschreckte. Abbys Iriden hatten sich verfärbt, waren rosa geworden und ähnelten mit schlitzartigen Pupillen plötzlich denen einer Katze. Abby spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Anya zu hypnotisieren, um ihr so deren offensichtliches Geheimnis zu entlocken.

Letztere schnaufte und zeigte mit dem Finger auf Abbys Nase, wobei sie sich vorsichtshalber dennoch von ihr abwandte. „Das wagst du nicht!“

„Also ist da etwas?“, wiederholte Abby streng.

„Nichts, was dich etwas angeht, Masters!“

Da, die Bestätigung! Spätestens jetzt fühlte sich Abby auch in letzter Instanz im Recht. Nun musste man Anya das Ganze nur noch fein säuberlich entlocken. Und bei ihrem Ego gab es da nur eine Möglichkeit, schließlich würde die Sirene ihre Fähigkeiten niemals gegen ihre Freunde einsetzen. Zumindest nicht, solange es auch andere Wege gab …
 

Abby hob den Arm. Dort materialisierte sich wie aus dem Nichts eine bunt leuchtende Duel Disk im Battle City-Baustil, in die sie nur noch das Deck schieben musste, das in seiner Box an ihrem Designergürtel hing. Einige umstehende Leute sahen hin, doch Abby wusste, dass das Ganze wie von 'Zauberhand' an ihnen vorbei ging.

„Alter, wo hast du das gelernt!?“, staunte Anya wie ein Nilpferd.

„Mit ein bisschen Fantasie geht alles. Du weißt, was ich von dir will. Und wenn du nein sagst, wird Valerie die Erste sein, die davon erfährt“, spielte Abby glucksend mit Anyas Stolz.

Wäre dies möglich, wäre die Temperatur im Terminal 32 um mindestens zehn Grad Celsius abgefallen. Anya starrte ihre Freundin mit einem leicht psychopathischen Blick an, der in etwa ausdrücken sollte: 'Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?'

Dann streckte sie den Arm aus. „Mach das auch mit mir!“

Schwupps hatte auch Anya eine der bunten Duel Disks am Arm.

 

„Kann mir jemand erklären, was da gerade abgeht?“, fragte Zanthe an Nick gewandt, während die beiden Mädchen sich zum Duell aufstellten.

„Das Übliche, Anya wird manipuliert, ohne dass sie es mitbekommt.“

„Ahhhh.“

 

„Du willst also ein Duell gewinnen, damit ich zu plaudern anfange wie Willy Clumsky, als ich ihn einmal am Bein festgehalten hab, ja?“

Womit Anya meinte, dass sie die lebende Fischgräte dabei aus dem fünften Stock des mittlerweile zerstören Schulgebäudes hatte baumeln lassen. Ah, die guten alten Schultage …

„Präzise“, nickte Abby selbstbewusst, „anders geht es ohnehin nicht, bei so einem Dickschädel wie dir.“

„Und wenn ich nicht mitmache?“

Abbys Stimme frohlockte förmlich. „Valerie~“

„Du bist so tot, Masters!“

Hoffentlich war das nur ein Scherz, dachte Abby mit Unwohlsein. Das, was sie von Anya ausgehend gespürt hatte, war in diesem Zusammenhang alles andere als witzig.

„Duell!“, schrien die beiden schließlich. Schon jetzt hatte sich eine kleine Traube von Schaulustigen um sie gebildet.

 

[Anya: 4000LP / Abby: 4000LP]

 

„Ich muss zugeben, mich auf ein Duell mit dir gefreut zu haben“, gestand Abby und zog als Erste, nämlich gleich sechs Karten, womit sie auch unweigerlich die Startreihenfolge festlegte, „aber nicht unter diesen Umständen.“

Anya winkte stöhnend ab. „Ach Masters, mit dir kann man sich nicht vernünftig duellieren! Immer wenn wir es tun, dann weil wir uns streiten!“

„Das sollte dir zu denken geben, Anya.“

„Pft!“

„Ich hab mich äußerlich vielleicht verändert, aber ich bin immer noch dieselbe Abby“, sprach jene entschlossen weiter, „mach bloß nicht den Fehler, mich zu unterschätzen! Ich setze ein Monster verdeckt, Zug beendet!“

Vor der bildhübschen, jungen Frau materialisierte sich eine Karte in horizontaler Lage. Eines schwor sich Abby letztlich: wenn dieses Duell zu Ende war, würde Anya reden, unabhängig vom Ausgang! Und wenn Abby eben doch ihren Vorsatz brechen und mit sirenischen Mitteln nachhelfen musste!

In den letzten Monaten waren ihre Kräfte beachtlich gewachsen, was durchaus seine Vorteile hatte, wenn nervige Mitkommilitonen einem das Lernen erschwerten! Es war geradezu ironisch, dass sie erst durch Anyas Beistand gelernt hatte, sich mit ihrer Herkunft und ihren Fähigkeiten anzufreunden.

 

Anya ihrerseits, die rein gar nichts von Abbys heimtückischem Reserveplan ahnte, riss derweil eine Karte von ihrem Deck. „Draw!“

Ihr Blatt war nicht gerade der Knüller, was bei jemandem wie Abby tödlich sein konnte. Trotzdem, hier ging es ums Prinzip, also würde Anya gewinnen! Und wenn sie dabei mit levrierischen Mitteln nachhelfen und damit ihren Vorsatz brechen musste!

„Ich beschwöre [Gem-Knight Amber]! Los, greif ihr Monster an!“, befahl Anya herrisch.

 

Gem-Knight Amber [ATK/1600 DEF/1400 (4)]
 

Vor ihr tauchte ein goldener Ritter auf, der aus seiner linken Handfläche einen Dolch aus purer Energie zog. Mit diesem in der Hand stürmte er auf Abbys verdeckte Karte los, sprang in die Luft und rammte die Waffe in ebenjene. Diese wirbelte herum. Unmittelbar vor dem Krieger erschien eine Felsplatte mit Kulleraugen, welche er mit seiner Attacke glatt zertrümmerte.

 

Naturia Cliff [ATK/1500 DEF/1000 (4)]

 

Unter Amber zerfiel sie zu Staub. Abby rief: „Effekt von [Naturia Cliff] aktivieren! Wenn er zerstört wird, darf ich ein anderes Naturia-Monster an seiner Stelle im Angriffsmodus von meinem Deck beschwören, sofern es maximal vier Stufensterne besitzt.“

Sie suchte sich die Karte und legte sie auf die Licht-Duel Disk. „Ich nehme [Naturia Beans]!“

Aus dem Boden wuchs eine kleine, grüne Ranke, die aufploppte und drei niedliche Bohnen mit Kulleraugen hervorbrachte.

 

Naturia Beans [ATK/100 DEF/1200 (2)]

 

„Na toll“, dachte Anya sich bei deren Anblick, „kann mir doch denken, was du mit denen anstellen willst. Aber fein, versuch es ruhig! Ich setze zwei Karten verdeckt! Zug beendet!“

Die beiden Karten materialisierten sich vor ihren Füßen, als sie sie in ihre bunt leuchtende Battle City-Duel Disk schob.

 

Ihr Ziel wird es sein, [Naturia Beast] zu beschwören und deine Zauberkarten zu versiegeln, damit du deine [Gem-Knight Fusion] nicht mehr aktivieren kannst.

 

„Erzähl mir was Neues, Einstein“, zischte Anya leise, als Levrier neben ihr als durchsichtiger Pearl erschien.

Abby grinste selbstbewusst. „Falsch Levrier. Übrigens kann ich dich jetzt richtig sehen.“
 

Hallo, Abigail Masters. Anscheinend wird meine Bindung zu Anya Bauers Elysion schwächer, wenn mich neuerdings jeder sehen kann. Nichtsdestotrotz ist es schön dich zu sehen, junge Sirene.

 

Zum Gruß hob er die Hand. Anya schnaufte wütend. „Hey! Bist du auf ihrer oder meiner Seite, huh!?“

Ihre Freundin kicherte und winkte zurück.
 

Auf ihrer.

 

„Arschloch! Jetzt weiß ich schon mal, wer -nicht- in diesem Duell eingesetzt wird!“

 

Ich bin untröstlich …

 

Mit diesen sarkastischen Worten verschwand Levrier wieder.

„Die beiden Zicken sind wirklich nervig“, stöhnte indes Zanthe beim Anblick der beiden Duellantinnen.

Nick warf ihm daraufhin einen scharfen Blick von der Seite zu und murmelte mit unterdrückter Wut: „Die beiden sind meine Freunde.“

„Genau deswegen nervt es mich“, erwiderte Zanthe ernst, „besonders Anya. Sie benimmt sich wie ein kleines Kind, das rumbockt, obwohl es gar keinen Grund dafür gibt.“

Die Arme verschränkend, schüttelte sein Gesprächspartner den Kopf. „Da irrst du dich. Anya möchte Abby nicht beunruhigen, das ist alles. Letztes Jahr haben wir alle viel durchmachen müssen und sie-“

„Es ist eine Lüge. Und Lügen sind Gift für Freundschaften“, schnitt Zanthe ihm ins Wort.

„Die Wahrheit kann manchmal umso schädlicher sein. Bestimmte Dinge sollten einfach nicht ausgesprochen werden.“

Zanthe zuckte in einer genervten Geste mit den Schultern. „Man, hörst du dir überhaupt zu? Ich meine, ist das wirklich so eine Situation, wo eine Lüge der Wahrheit vorgezogen werden sollte?“

Er seufzte anschließend. „Andererseits, was geht mich das an? Das ist euer Problem, nicht meins, macht was ihr wollt.“

„Du bist jetzt einer von uns“, relativierte Nick jedoch, „zumindest sieht Anya das so. Also ist es auch dein Problem.“

Überrascht sah Zanthe auf, kratzte sich am Hinterkopf. „Ist das so? Schätze wohl schon, ha ha…“

Dabei war ihm nicht entgangen, dass sein Gegenüber bewusst auf Anya verwiesen hatte. Nick selbst hielt nicht all zu viel von ihm, was er wirklich bei -jeder- Gelegenheit zum Ausdruck brachte. Allerdings täuschte er sich, wenn er dachte, dass ihm dies etwas ausmachte. Im Gegenteil, er konnte es gewissermaßen nachvollziehen, wenngleich es auch keine Rolle für ihn spielte. Nervig war es trotzdem.

„Um auf deine Frage zu antworten: ich habe nie behauptet, dass dies eine Situation ist, die eine Lüge rechtfertigt. Aber ich bin nicht Anya. Es ist ihre Entscheidung, wem sie sich wann und wie anvertraut.“

Auf Nicks Äußerung hin sah Zanthe wieder herüber zum Duell. „So kann man sich auch herausreden.“

„Glaub was du willst.“

 

„Dann zeige ich euch mal, was ich wirklich vorhabe!“, rief Abby und zog. „Draw!“

Die neue Karte, eine Falle, betrachtete sie kurz vergnügt, ehe sie sie in die Duel Disk einlegte. Vor ihren Füßen materialisierte jene sich. Anschließend schnappte sich Abby 'ihren Plan' aus dem Blatt.

„Ich biete [Naturia Beans] als Tribut an und beschwöre [Naturia Bamboo Shoot]!“

Überrascht von diesen Worten sah Anya zu, wie sich die kleinen Böhnchen in Luft auflösten und zwei Bambuszwiebeln Platz machten. Die waren kaum größer als Tannenzapfen, sahen ihnen auch recht ähnlich und hatten zudem, wie alle Naturia-Monster, niedliche Gesichter.

 

Naturia Bamboo Shoot [ATK/2000 DEF/2000 (5)]

 

„Eine Tributbeschwörung“, sprach Anya erstaunt, „fühlt sich wie eine halbe Ewigkeit an, seit ich das das letzte Mal gesehen hab.“

„Glaub mir, Anya, es lohnt sich! Effekt von Bamboo Shoot! Wenn das Tribut ein Naturia-Monster war, kannst du keine Zauber- und Fallenkarten mehr aktivieren, solange mein Monster auf dem Feld verweilt!“

Für einen Moment erweckte Anya wegen ihrer schief gezogenen Mundwinkel den Eindruck, als erleide sie gerade einen Schlaganfall. „Hast du eben Zauber -und- Fallen gesagt!?“

Ihre Freundin nickte zufrieden. „Ganz genau. Ich kann deine Strategien auch ohne meine Synchromonster versiegeln.“

„Dann … dann kann ich ja gar nichts mehr machen!“

Die Blondine verzog das Gesicht, als wäre Valerie Redfield soeben zur Miss Universe gewählt, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und Erbin einer erfolgreichen Hotelkette geworden. Kurzum: Schlaganfall und Herzinfarkt in einem!

„Du hast immer noch Monstereffekte“, kicherte Abby süßlich. Natürlich wusste sie, dass sie damit nur Salz in die Wunde streute.

Denn die regulären Gem-Knights von Anya besaßen keine nennenswerten Effekte, jene waren eher bei den Fusionsmonstern zu finden. Und was brauchte man, um die aufs Feld zu bekommen? Richtig!

„Ich bin am Arsch …!“, kam die Erkenntnis.

„Ein bisschen. Bamboo Shoot, greife [Gem-Knight Amber] an!“, befahl Abby mit ausgestrecktem Arm. „Bamboo Shot!“

Die beiden Zwiebeln sprangen synchron in die Luft, um mit ihrer Landung spitze Bambusrohre heraufzubeschwören, die unter Amber hervor schossen und ihn aufspießten. In tausend Einzelteile zersprang Anyas Ritter, während die wütend aufstöhnte.

 

[Anya: 4000LP → 3600LP / Abby: 4000LP]

 

„Kch!“

„Damit beende ich meinen Zug“, verkündete Abby mit ihren verbliebenen vier Handkarten.

Anya sah auf die beiden gesetzten Karten vor sich. Toll, die waren jetzt völlig nutzlos!

 

„Okay, mir wird schon was einfallen! Draw!“, rief sie und zog schwungvoll.

Mittlerweile hatten sich schon so einige Passagiere um sie geschert, einige feuerten sogar ihren Favoriten an. Unnötig zu erwähnen, dass die Mehrzahl der Leute auf Abbys Seite war.

Aber das könnte Anya nicht gleichgültiger sein. Sie musste sich jetzt erst einmal darum bemühen, die Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Ihre Hand war nutzlos gegen diese Viecher, aber eins konnte sie trotzdem tun!

„Ich setze dieses Monster verdeckt! Zug beendet!“

Wie zuvor bei Abby, materialisierte sich jetzt vor Anya eine horizontal liegende Karte.

 

„Okay, ich bin dran! Draw!“

Schon als Abbys Fingerspitzen die oberste Karte ihres Decks berührten, spürte sie das flaue Gefühl im Magen, das praktisch aus dem Nichts daher kam. Als sie sie zog, wurde es sogar noch stärker, ihre Haut kribbelte mit einem Mal, als wären tausende kleiner Ameisen unter ihr. Sich die Karte ansehend, verschlug es ihr endgültig die Sprache.

Das war … das war die Karte, die Anya ihr vorhin geschenkt hatte. Sofort sah die Sirene auf. Nervös stand Anya da, tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf und ab, aber das war eher ihrer Lage im Duell zuzuschreiben. Abby bezweifelte, dass das im direkten Zusammenhang mit der Karte in ihrer Hand stand. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. … nein, tat sie nicht! Vielleicht wäre es besser, diese Karte nicht auszuspielen, solange Abby nicht wusste, woher Anya jene überhaupt hatte.

Recht deutlich aus der Fassung gebracht, steckte sie sie zu den anderen auf ihrer Hand und schnappte sich im selben Zuge ein anderes Monster. „G-gut, da meine Strategie ja zu funktionieren scheint, werde ich sie noch etwas vertiefen. Ich beschwöre [Naturia Stinkbug]!“

Abby streckte Anya den Unterarm entgegen. Auf diesem saß ein kleiner, grüner Käfer, der freudig herumkrabbelte.
 

Naturia Stinkbug [ATK/200 DEF/500 (3)]

 

„Und jetzt greife ich dein gesetztes Monster an! [Naturia Bamboo Shoot], Bamboo Shot!“

Wie schon eben, sprangen die beiden Zwiebeln gleichzeitig in die Luft und sorgten dafür, dass unter Anyas verdeckter Karte spitze Bambusrohre hervorschossen. Jene wirbelte herum und heraus sprang ein in blauer Rüstung gekleideter Ritter, der mit seiner ganz aus Wasser bestehenden Machete den Bambus kurz und klein schlug, während er gleichzeitig den Attacken auswich.

„Hast du dir so gedacht“, triumphierte Anya stolz, „[Gem-Knight Iolite] hat genug Verteidigungspunkte, um den Angriff abzuwehren.“

„Aber auf den Punkt genau …“, erwiderte Abby.

 

Gem-Knight Iolite [ATK/1300 DEF/2000 (4)]

 

„... oder sollte ich eher sagen, um 1000 Punkte zu wenig? Verdeckte Falle aktivieren, [Miracle Locus]!“

Anya hüpften fast die Augäpfel heraus. „Huh!?“

Die beiden Bambuszwiebeln vor Abby begannen zu wachsen, wurden größer und größer.

„Bamboo Shoot kann mit dieser Karte ein zweites Mal angreifen, fügt dabei aber keinen Kampfschaden zu, was ohnehin irrelevant ist“, erklärte Abby, „dafür bekommt er 1000 Punkte drauf und du ziehst eine Karte. Bamboo Shot!“

 

Naturia Bamboo Shoot [ATK/2000 → 3000 DEF/2000 (5)]

 

Die nun riesigen Zwiebeln führten das Procedere wie von Abby befohlen fort. Und diesmal schossen die Bambusrohre so schnell aus dem Boden, dass Iolite nicht rechtzeitig reagieren konnte und aufgespießt wurde.

Lauthals schmollend zog Anya die versprochene Karte auf. „Verdammter Kackmist, da geht meine Xyz-Beschwörung hin …!“

„Tja, das hast du dir wohl etwas zu einfach vorgestellt, was?“, kicherte Abby, die den Schock von eben insgeheim immer noch nicht verdaut hatte, wie ihre nervösen Blicke auf ihre Hand verrieten. „Direkter Angriff mit Stinkbug!“

Der Käfer auf ihrem Arm schoss ein grünes Sekret ab, welchem Anya einfach auswich, indem sie den Kopf zur Seite neigte. Stattdessen flog das schleimige Etwas durch den Kopf eines Zuschauers, welcher prompt ausgelacht wurde.

 

[Anya: 3600LP → 3400LP / Abby: 4000LP]

 

Abby musste zweimal hinsehen um sich zu vergewissern, dass im Gesicht des Geschäftsmannes nichts kleben blieb. Früher, als sie ihre Kräfte noch nicht so gut unter Kontrolle hatte, hätte es passieren können, dass das Zeug einfach real wurde. Das war eine von Abbys Gaben als Sirene, aus Fantasie für einen begrenzten Zeitraum Wirklichkeit werden zu lassen. Doch heute hatte sie ihre Kräfte fest im Griff. Zumindest dann, wenn gerade keine Anya in der Nähe war und sie völlig aus dem Konzept brachte.

„Wenn das so weiter geht, sind wir bei dem Tempo morgen noch nicht fertig!“, motzte die wütend. „Ich will nachhause!“

„Sprich dich aus, dann kannst du nachhause“, bot Abby ihr an, kannte ihre Freundin aber gut genug, um zu wissen, dass so etwas zwecklos war, „Ich beende meinen Zug.“

Wieder sah sie ungewollt das Monster in ihrer Hand an, das ihr eine Gänsehaut bescherte. Ihre Bambuszwiebeln schrumpften zwischendurch auf die alte Größe zurück.

 

Naturia Bamboo Shoot [ATK/3000 → 2000 DEF/2000 (5)]

 

„Wie oft noch, es ist nichts!?“, fauchte Anya und riss die nächste Karte vom Deck. „Alles ist in Ordnung, mir geht es gut, 'kay!?“

Wütend schaute sie auf ihr Blatt. Jetzt musste sie sich wirklich etwas einfallen lassen, wenn sie nicht verlieren wollte. Es gab kein Monster mehr auf ihrem Blatt, das einem Angriff Bamboo Shoots standhalten konnte. Also wurde nichts aus einer Xyz-Beschwörung des [Kachi Kochi Dragons].

In ihrem Main Deck befand sich ansonsten nur noch [Gem-Knight Crystal], der es Angriffspunkte-technisch mit Abbys Monster aufnehmen konnte, doch um den ohne Tribute zu beschwören bedurfte es [Gem-Knight Alexandrite]. Und wer glänzte ausgerechnet jetzt durch Abwesenheit? Es war zum Kotzen!

„Shit, was mach ich jetzt?“

Blöder [Gem-Knight Alexandrite], warum gerade jetzt!? Wenn sie wenigstens seinen entfernten Verwandten, den [Alexandrite Dragon] auf der Hand hätte! Der könnte mit seinen 2000 Angriffspunkten wenigstens einen Doppelkill hinlegen. Aber Gott und die Welt hatten es sich ja zur Aufgabe gemacht, ihr das Leben nach allen Regeln der Kunst zu versauen!

 

[Alexandrite Dragon]? Klingelt da nicht etwas bei dir, Anya Bauer?

 

„Ja, deine dämliche Stimme in meinem Kopf! Werd' klarer mit deinen Botschaften! Und woher wusstest du, dass ich an den dachte!?“

 

Gar nicht, ich kenne deine Möglichkeiten lediglich genauso gut wie du. Und ich erinnere mich gerade an einen bestimmten Drachen, den du vor nicht allzu langer Zeit gewonnen hast. Wenn ich mich recht entsinne, brauchte sein ehemaliger Besitzer nur ein Monster auf dem Feld, um ihn beschwören zu können.

 

„... und weiter?“

 

Anya Bauer, manchmal möchte ich-!

 

Der ging jedoch endlich ein Licht auf. Zwar nur ein sehr schwaches, Kurzschluss-gefährdetes Licht, aber es erhellte die klaffende Dunkelheit lange genug.

„Ach der! Natürlich, sag ich doch, so machen wir das!“

Dann war es sogar gut, dass der kack [Alexandrite Dragon] noch in ihrem Deck herum gammelte!

„Ich beschwöre [Gem-Knight Emerald]!“, rief Anya aus und knallte diesen auf ihre Duel Disk.

Unter dem überraschten Gemurmel der Zuschauer erschien vor ihr der Ritter im Zeichen des Smaragds, der seinen kleinen, am Arm befestigten Rundschild herausfordernd anhob.

 

Gem-Knight Emerald [ATK/1800 DEF/800 (4)]

 

Anya räusperte sich und streckte den Arm in die Höhe. „Effekt von [Angel Wing Dragon] aktivieren! Ich schicke ein Licht-Monster wie [Alexandrite Dragon] von meinem Deck auf den Friedhof, um mit genau dem einmal während des Duells das Empfängermonster zu simulieren! Ich stimme damit meine beiden Stufe 4-Monster aufeinander ein …“

An Abbys ziemlich verwirrten Blick konnte man deutlich ablesen, dass ihr langsam alles zu hoch wurde. Nur war Anya in dieser Hinsicht sozusagen farbenblind, schob das normale Monster in den Friedhofsschlitz.

„Heavenly … nein, divine … neee, auch nicht …“

Während Anya scheinbar belangloses Zeug vor sich hinnuschelte, erschien über ihr ein massiver, goldener Ring. Von ihm spannten sich langsam vier weiße Schwingen aus. Eine Art flüssige Oberfläche bildete sich in dem aufrecht stehenden Gebilde.

Und Abby fragte perlex: „Anya, was wird das?“

„… sacred? Verdammt!“

Levrier schnalzte in Anyas Gedanken mit der Zunge.
 

Benutze einfach den Spruch, den Zanthe gewählt hat, Anya Bauer. Das erspart uns allen eine Menge Frust.

 

„Das geht nicht, das wäre unkreativ und Plagiaturismus!“
 

Ein Plagiat meinst du.

 

„Sag ich doch!“

 

Das ist mir egal, Anya Bauer. Tu uns beiden den Gefallen und mach dich nicht lächerlicher als ohnehin schon. Alles wäre so viel einfacher, wenn du einmal auf mich hören würdest.

 

„Geez, fein, dann nehm' ich eben den Spruch vom Flohzirkus!“, platzte Anya da der Kragen. Den nach oben gestreckten Arm ließ sie niederfahren. „From the light of a different world, the herald of starlight descends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you! Synchro Summon!“

Ihr [Gem-Knight Emerald] zersprang in vier grüne Sphären, die in die Höhe stiegen und den goldenen Ring passierten. Ein Lichtblitz erleuchtete das Terminal.

„Shine forth, [Angel Wing Dragon]!“, brüllte das Mädchen unter lautem Beifall.

Aus der wässrigen Oberfläche des Rings drang nach vorn ein abgetrennter Drachenkopf hervor, nach hinten der peitschende Schweif, bis beide Enden perfekt verbunden waren. Der weiße, schlangenhafte Drache hob seinen Kopf und sah dabei wie eine Kobra aus, dank des goldenen Gestells um seinen Hals. Mit majestätischem Gebrüll verkündete er seinen Einstand.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Abby stockte der Atem. Für einen Moment, so schien es, setzte ihr Herz aus. Die Luft blieb ihr weg, als würde etwas ihre Kehle zuschnüren. Dieses Gefühl hielt jedoch nur einen Augenblick an.

Trotzdem war sie leichenblass geworden. „Anya … was sind das für Karten, die du da hast? Das ist doch nicht normal!“

„Pff, ich dachte du freust dich, dass ich endlich auch ein Synchromonster besitze. Du musst einem echt alles vermiesen, oder!?“

„N-nein, so war das nicht gemeint!“

„Ja ja, schon klar!“, winkte Anya trotz Abbys Beteuerung getroffen ab. „Mir doch egal! Los, Angel Wing, greife dieses nervige [Naturia Bamboo Shoot]-Ding an, damit ich endlich meine Karten ausspielen kann! Seraphim Judgment!“

Der imposante Drache öffnete sein Maul und schoss daraus eine weiße Flamme ab, um welche eine kleinere, goldene sich wie eine Spirale drehte.

„Oh nein“, stammelte Abby aufgelöst und schwang den Arm aus, auf dem ihr Käfer saß, „Effekt von [Naturia Stinkbug]! Wenn du ein Naturia-Monster angreifst, kann ich ihn auf den Friedhof schicken, um die Battle Phase abzubrechen.“

Sie nahm den kleinen Käfer von ihrem Arm und ließ ihn in die Luft aufsteigen. „Geh fort, mein Kleiner.“

Um Abby und ihre Zwiebeln bildete sich eine grün leuchtende Energiekuppel, an der der Angriff des Drachen abprallte.

„So ein verdammter Kackmist!“, fluchte Anya frustriert. Das hieß, ihre Karten waren immer noch versiegelt. „Zug beendet!“

 

Mit zitternder Hand zog Abby ihre Karte.

Was war nur mit Anya los? Diese ganzen seltsamen Karten, woher stammten sie? Als ob da 'nichts' im Busch war! Erst das Geschenk, jetzt dieser Drache, der … der fast den Eindruck machte, als würde er wirklich leben!

Voller Bitternis sah Abby ihr Blatt an. Scheinbar musste sie es anders probieren, eine neue Strategie benutzen, auch wenn es riskant war. 'Ihn' benutzen. Aber in dem Fall war es wohl okay.

„Ich rufe [Naturia Rosewhip] aufs Feld!“, rief sie entschlossen.

Eine kleine Rose mit Augen auf den Kelchblättern wuchs aus dem Boden.

 

Naturia Rosewhip [ATK/400 DEF/1700 (3)]
 

Abby nahm sie und [Naturia Bamboo Shoot] gleich wieder von der Duel Disk. „Wenn du mit solchen Mitteln kämpfst, dann will ich nachziehen! Ich stimme meinen Stufe 3-Empfänger auf mein Stufe 5-Monster ein!“

Ihre Monster stiegen in die Luft. Während Rosewhip in drei grüne Ringe zersprang, durchquerten die beiden Bambuszwiebeln jene und wurden zu grellem Licht.

„Oh great god of the south, protect the weak under your mighty wings! Synchro Summon!“, rief Abby dabei hoffnungsfroh. „Arise, [Naturia Vermilion]!“

Es blitzte. Und da war er, über ihr, in all seiner gewaltigen Pracht. Der aus roten Laubblättern bestehende Riesenvogel. Sein Wurzelschweif flatterte in dem Wind, den das Schlagen seiner prächtigen Flügel verursachte. Es war der Schandfleck auf Abbys Seele, das Symbol ihrer Schwäche. Ihres Verrats gegenüber Anya.

 

Naturia Vermilion [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Oh …“, entfleuchte es Anya fasziniert.

Zanthe, der seither still geblieben war, sagte an Nick gewandt: „Gleichstark? Das könnte interessant werden.“

„Jetzt prallen ihre Seelen aufeinander“, erwiderte Nick.

„Du erinnerst dich an ihn, nicht wahr?“, fragte Abby bedrückt nach. „Den habe ich damals bei dem Wettbewerb gezeichnet, an dem wir beide teilgenommen haben.“

„Ja, du hast gewonnen“, entsann sich Anya, „das war echt cool! Ich glaube, das ist das erste Mal, dass du ihn gegen mich benutzt. Man, Masters, so verzweifelt, weil ich ein neues Spielzeug habe?“

 

Nein, das war es nicht, seufzte Abby innerlich. Was Anya nicht wusste war, dass Abby, die damals den Auftrag hatte, die Teilnehmerbeiträge der beiden Freundinnen abzugeben, nur ihr eigenes Bild eingeschickt hatte. Aus Neid, weil Anyas Bild so viel besser war als ihr eigenes. Das hatte sie ihrer Freundin nie gebeichtet.

 

„Als wir nebeneinander unsere Artworks gezeichnet haben“, begann Abby traurig, „das hast du die ganze Zeit davon gesprochen, das du gewinnen wolltest.“

„Ja. Was ist daran falsch?“

„Gar nichts. Aber früher warst du nicht so … du hast dein Herz immer auf der Zunge getragen. Klar, ich weiß, dass du nicht gerne über deine Gefühle sprichst. Aber wenn du Probleme hattest, bist du immer zu mir gekommen.“ Eindringlich fügte sie hinzu: „Warum ist es jetzt anders?“

Ihr Gegenüber blinzelte mit den blauen Augen, dann sah sie schuldbewusst zur Seite. „Sorry Masters, diesmal nicht.“

Abby verstand. Niedergeschlagen blickte sie auf ihr Blatt. „Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich diese hier benutze, oder? Weil du weißt, dass sie mich nicht in Gefahr bringen wird.“

Sofort horchte Anya auf und sah ihre Freundin verwirrt an. „Wovon redest du?“

„Da ich jetzt genau fünf Monster vom Erd-Element auf meinem Friedhof liegen habe“, erklärte Abby, während sie [Naturia Cliff], [Naturia Beans], [Naturia Stinkbug], [Naturia Rosewhip] und [Naturia Bamboo Shoot] vorzeigte, „kann ich diese Kreatur erwecken! Spezialbeschwörung! Zeige dich, [Grandsoil The Elemental Lord], Herr der Erde!“

Sofort spürte Abby, wie es in ihr pulsierte. Eine fremdartige Macht, so stark, dass sie dagegen geradezu mickrig wirkte. Ihr ganzer Leib kribbelte wieder. Hinter ihr erhob sich eine kolossale Gestalt. Pechschwarz war sie, in eine unglaublich dichte Rüstung gehüllt. Als sie sich wie aus einem Schlaf erhob, brach der Boden des Terminals auf. Blitze umgaben den finsteren Krieger, der fast an die Decke stieß.

Anya folgte dem Schauspiel mit weit geöffneten Augen.

 

Grandsoil The Elemental Lord [ATK/2800 DEF/2200 (8)]

 

Abby starrte ebenfalls zu ihm hoch, richtete dann ihren Blick auf Anya. „Was immer er ist, ich vertraue dir. Effekt Grandsoils! Wenn er beschworen wird, belebt er ein Monster aus unseren Friedhöfen wieder, auf mein Spielfeld! Komm zurück, [Naturia Bamboo Shoot]!“

Aus einem Loch neben Abby brach ihr Monster hervor, direkt dort, wo Grandsoil seine riesige Handfläche verharren ließ. Dabei spürte sie, wie das Kribbeln unter ihrer Haut zu einem schmerzhaften Kratzen wurde.

 

Naturia Bamboo Shoot [ATK/2000 DEF/2000 (5)]

 

„Aber keine Sorge, da Bamboo Shoot spezialbeschworen wurde, bleibt sein Effekt aus.“

„Ach ja richtig, ich kann wieder meine gesetzten Karten aktivieren!“, fiel es Anya da ein.

„Dann hast du jetzt gleich die Gelegenheit dazu“, rief Abby aus, „ich greife deinen [Angel Wing Dragon] mit Grandsoil an! Cataclysm Chasm!“

Seine gigantische Faust erhebend, schmetterte der Riese sie in den Boden. Damit erzeugte er ein Erdbeben ungeahnten Ausmaßes. Alles um die beiden Duellanten zerbarst regelrecht, Anya stolperte rückwärts, ihr Drache schrie panisch auf – und die Zeit blieb stehen. Abbys Augen leuchteten rosafarbend auf.

 

Hallo, Abby.“

Das Mädchen sah sich um. Vollkommene Finsternis. Das war … eine Vision?

Vor ihr stand ein Mann, recht jung, fein gekleidet. Sein rotes Haar war penibel gekämmt. Einzig die Narbe an seiner Wange trübte das ansonsten makellose Bild ein wenig.

Wer sind Sie?“

Der Sammler. Sicher hat Anya dir von mir erzählt.“

Abby schreckte zurück. „Sie sind das!? Dann ist die Karte von Ihnen!“

„So ist es“, nickte er und streckte den Arm aus, „ich habe eine Bitte an dich.“

„Was … was könnte ein Dämon wie Sie von mir wollen?“, fragte Abby verunsichert.

Sie spürte nichts. Von ihm ging keinerlei Macht aus. Entweder weil er nur ein Trugbild war … oder weil seine Kräfte außerhalb ihres Wahrnehmungsvermögens lagen. Egal was es war, es bereitete ihr furchtbare Angst.

Der Sammler sah ihr mit festem Blick in die Augen. „Deine Freundin schwebt in großer Gefahr. Mit einigen Bedrohungen habe ich gerechnet, mit anderen nicht. Beschütze Anya, sollte sie jemals in Not geraten. Hilf ihr, wenn kein anderer ihr helfen kann. Mehr möchte ich nicht von dir.“

„D-das würde ich immer tun, aber-“

Doch er verschwand schon vor ihren Augen. Die Welt, wie sie sie kannte, kehrte zurück.

 

„Effekt von Angel Wing!“, löste Anyas Ausruf sie aus ihrer Starre. Der weiße Schlangendrache brüllte unheilvoll. „Im Kampf mit ihm erhalte ich keinen Kampfschaden!“

Unzählige Stalagmiten schossen unter ihm hervor und spießten ihn auf, ehe er von innen heraus regelrecht zerfetzt wurde.

 

[Anya: 3400LP / Abby: 4000LP]

 

Die junge Sirene wohnte dem Ganzen wie benebelt bei. Ihr war so, als hätte sie etwas gesehen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Der Blick wanderte automatisch auf ihre Duel Disk, wo [Grandsoil The Elemental Lord] zwischen [Naturia Vermilion] und [Naturia Bamboo Shoot] lag. Von ihm ging keine seltsame Energie mehr aus. Vielleicht hatte sie sich all das doch nur eingebildet? Der Flug war immerhin sehr lang gewesen, sie war müde.

Unsicher, was das alles zu bedeuten hatte, schaute sie auf. Richtig, sie wollte Anya zur Rede stellen.

Die biss sich nervös auf den Daumen, wusste sie, dass Abby sie jetzt mit dem riesigen Laubphönix und den Bambuszwiebeln direkt angreifen konnte. Was jene sogleich befahl: „Los, meine Monster, zeigen wir Anya, was für uns Freundschaft bedeutet! Direkte Attacke!“

„Tch, vergiss es, Masters! Falle aktivieren!“ Unter Anyas erhobener Hand sprang die Karte auf. „[Pyroxene Fusion]! Sie funktioniert wie [Gem-Knight Fusion], aber als Falle. Damit kann ich-!“

„Effekt [Naturia Vermilions]!“, konterte Abby. Einem Raubvogel gleich ging ihr Monster in den Sturzflug über und zerfetzte Anyas Falle dabei mit seinen ausgestreckten Klauen, ehe er sich unvermittelt auflöste. „Indem ich ihn auf den Friedhof schicke, kann ich eine Karte annullieren und zerstören, die ein Monster als Spezialbeschwörung rufen würde!“

„Shit! Aber wenigstens kannst du mich jetzt nicht mehr besiegen!“

Abby grinste. „Trotzdem kann [Naturia Bamboo Shoot] noch angreifen! Bamboo Shot!“

Wie gewohnt sprangen die Pseudokastanien in die Luft und ließen unter Anya spitze Bambusrohre hervorschießen. Die fluchte lauthals.

 

[Anya: 3400LP → 1400LP / Abby: 4000LP]

 

Mit einer Karte zwischen den Fingern rief Abby: „Die hier setze ich! Damit leite ich meine End Phase ein und …“

Die Falle materialisierte sich vor ihren Füßen, als beide Duellantinnen plötzlich synchron anfingen zu rufen:

„... [Naturia Vermilion] kehrt auf das Feld zurück!“

„... [Angel Wing Dragon] macht ein Comeback!“

Während sich Abbys Vogel über ihr materialisierte, tauchte der goldene, geflügelte Ring über Anya auf, aus welchem der schlangenhafte Drache geschossen kam.

 

Naturia Vermilion [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Die Blondine entsorgte aufgrund von Angel Wings Bedingung die Stufe 4-Monster namens [Gem-Knight Iolite] und [Gem-Knight Amber] von ihrem Friedhof, stopfte sie in ihre Hosentasche und musste grinsen. „Cool, gleichzeitig.“

Auch Abby schmunzelte. „Komischer Zufall.“

 

„Na dann, mein Zug! Draw!“ Anya griff nach ihrem Deck. Sie würde diese Sache gewinnen, dann gab Abby hoffentlich Ruhe!

Damit sie ihr alles erzählen konnte. Unter vier Augen. Irgendwann würde es sowieso herauskommen, bei ihrem Glück. Aber dann sollten wenigstens die beiden Deppen da drüben nicht dabei sein, das war eine Sache unter Freundinnen!

„Hey, Abby“, rief Anya ihrer Freundin zu, „wir müssen mal wieder zusammen was zeichnen.“

Es dauerte einen Moment. Aber als Abby überglücklich lächelte, wusste Anya, dass sie den Wink verstanden hatte.

„Also los!“, rief Livingtons Terrormaschine #1 lauthals und rammte eine Zauberkarte in ihre Duel Disk. „Zeit für die Gegenoffensive! Ich rüste Angel Wing mit [Megamorph] aus! Da meine Lebenspunkte unter deinen liegen, verdoppelt sich seine Stärke!“

Eine mit Runen verzierter Teller tauchte vor [Angel Wing Dragons] Brust auf – und wurde zertrümmert, als ein weißer Fangzahn in ihn hinein krachte.

„Konterfalle [Exterio's Fang]! Wenn ich ein Naturia-Monster kontrolliere, kann ich deine Karte annullieren. Dafür muss ich aber selber am Ende eine abwerfen.“ Was Abby auch tat, indem sie [Naturia Stag Beetle] in den Friedhofsschlitz schob.

„... berechenbar.“

Die brünette, junge Frau horchte überrascht auf. „Wie bitte?“

Anya grinste breit. „Du hast schon richtig verstanden, das war total berechenbar! Du hättest deine Falle hierfür aufheben sollen: ich aktiviere [Lightning Vortex]!“

Indem sie die Kosten bezahlte und [Particle Fusion] von ihrer Hand abwarf, konnte Anya eine Gewitterwolke über der erschrocken Abby und ihren Monstern erscheinen lassen. Die …

„... alle deine offenen Monster zerstören wird!“

„Oh nein!“

Nach und nach schossen Blitze aus der Wolke. Erst wurden die Zwiebeln geröstet Schrägstrich zerbombt, dann der riesige Vogel und schließlich Grandsoil. Und als dieser von Innen heraus explodierte und in alle Einzelteile flog, fühlte sich Abby mit einem Mal federleicht. Als wäre das Gewicht der ganzen Welt von ihren Schultern genommen worden.

„Das war also nur ein Bluff, um mich aus der Reserve zu locken“, fasste Abby die Situation zusammen, „gut gemacht, Anya. Du hast dich wirklich verbessert im Vergleich zu damals.“

Stolz zeigte das Mädchen mit dem Daumen auf sich selbst. „Na logo! Für meinen Traum ist das so gesehen überlebenswichtig! … aber das erzähle ich dir alles später.“

„Ich freue mich darauf“, strahle Abby aufrichtig.

„Jetzt freu' dich erstmal auf deine Niederlage!“ Anya ließ den Arm über ihre zweite gesetzte Karte ausschwenken. „Verdeckte Falle aktivieren! [Birthright]! Damit kann ich ein normales Monster von meinem Friedhof im Angriffsmodus reanimieren! Sei wiedergeboren, [Alexandrite Dragon]!“

Vor Anya öffnete sich ein Loch im Boden, aus dem allerlei bunte Lichter drangen. Aus ihm schoss ein prächtiger Drache hervor, dessen Haut mit genauso farbenprächtigen, winzigen Edelsteinen besetzt war. Zwar wirkte er gegen Angel Wing wie ein Zwerg, doch war er letztlich genauso groß wie Anya selbst, als er vor ihr landete.

 

Alexandrite Dragon [ATK/2000 DEF/100 (4)]

 

Abby seufzte. „Das war es dann wohl …“

„Worauf du deinen neu gestylten Hintern verwetten kannst!“, stimmte Anya mit ein. „Direkter Angriff, meine Drachen! Double Seraphim Judgment!“

Die hübsche Sirene schloss ihre Augen, als die Drachen damit begannen, Energie in ihren Mäulern aufzuladen. Irgendwie fühlte sie sich nicht mehr unwohl. Ihr würde nichts geschehen, das wusste sie. Keine Gefahren …

„Los!“

Simultan schossen beide Drachen einen leuchtenden Strahl aus ihrem Maul ab. In der Luft trafen sie aufeinander und verschmolzen zu einem, welcher Abby erfasste. Keine Angst …

 

[Anya: 1400LP / Abby: 4000LP → 0LP]

 

Die Hologramme verschwanden.

Als Abby die Augen öffnete, wurde sie von Passagieren umringt, die ihr allesamt ihre Glückwünsche trotz der Niederlage ausrichten wollten. Einige fragten sogar nach, ob sie sich mit ihnen duellieren würde, doch Abby lehnte dankend ab.

Anya hatte dagegen weitaus weniger 'Fans'. Zwar wurde auch sie zum Sieg beglückwünscht, aber weitaus verhaltener. Und es fragte keiner nach, ob sie Zeit für ein weiteres Duell hatte.

 

„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, huh?“, nahm Zanthe sie in Empfang, während Abby noch in Beschlag genommen wurde.

Anya verzog missmutig den Mund. „Irgendwie war das komisch. Plötzlich hat sie sich keine Mühe mehr gegeben.“

„Findest du?“, hakte der Kopftuchträger nach, musste dann aber dreckig grinsen. „Vermutlich hat sie keine Lust mehr gehabt auf dein Herumgezicke.“

„Hauptsache alles ist wieder in Ordnung.“

Entgegen seiner Aussage wirkte Nick trotzdem besorgt. Sein Blick lag dabei auf der Stelle, an der Anya sich duelliert hatte. Zwar war es kaum zu sehen, doch einige der Fliesen hatten Sprünge … Sprünge, die vorher nicht dagewesen waren.

 

~-~-~

 

Nebeneinander knieten die beiden jungen Frauen nieder. Anya zeichnete [Kachi Kochi Dragon], wohingegen sich Abby an [Naturia Beast] versuchte. Bestimmt schon drei Minuten waren sie still, nur mit ihren Bildern beschäftigt. Von unten aus der Küche drang das belanglose Geplapper von Zanthe in Anyas Zimmer, der sich mit ihrer Mutter über seinen neuen Job als Kartenverkäufer und Anyas Aushilfe unterhielt.

 

Dann brach Abby das Schweigen. „Du hättest mir das viel eher sagen müssen.“

„Wenn ich es dir gesagt hätte, wärst du sofort hierher gekommen“, antwortete Anya tonlos, während sie versuchte, Kachi Kochis Augen blutrünstiger darzustellen.

„Natürlich! Ich würde-!“

„Ich will aber nicht, dass du wegen mir dein Studium in Gefahr bringst“, fiel Anya ihr ins Wort und hörte abrupt mit dem Zeichnen auf, „ist schon schlimm genug, dass Nick alles weiß.“

„Bist du immer noch sauer auf ihn?“ Abby verharrte ebenfalls, blickte ihre Freundin fragend von der Seite an. „Weil er dir so lange etwas vorgemacht hat?“

„Ein bisschen …“

Es betrübte Abby zutiefst, ihre Freundin so … apathisch zu sehen. Ihr konnte sie nichts vormachen, nicht in diesem Augenblick. Die alte Angst war zurück, schlimmer als je zuvor. Das Leben, das sie sich so hart erkämpft hatte, vielleicht schon bald wieder zu verlieren.

„Wir werden dir helfen, diese Gegenstände zu sammeln“, versprach Abby.

Anya schüttelte den Kopf. „Nein. Zanthe und Nick werden mir helfen. Du hältst dich da raus, Masters.“
 

Damit stand die Blondine auf und sah auf ihr Kunstwerk herab. So hatte man ihren Drachen noch nie gesehen. In voller Pracht hatte er den Kopf zur Seite geneigt, während er durch die Lüfte flog. Als wäre hinter ihm jemand, den er unbedingt grüßen musste. Er sah direkt zu Abbys Bild herüber, wo ihr riesiger Tiger stolz durch einen Wald streifte und dabei in den Himmel sah.

„Sieht gut aus“, befand Anya stolz, „darf ich mir die beide ins Zimmer hängen?“

„Ja …“

 

Abby schluckte. „... Anya? Du hast mich doch gefragt, warum ich nicht Valeries Brautjungfer werden wollte.“

„Ja, was ist damit?“

„Ich hab vorhin im Auto geschwindelt, als ich gesagt hab, dass mir das zu peinlich wäre.“ Auch Abby erhob sich jetzt. Sie drehte sich zu Anya um. „Es wäre einfach falsch. Wir kennen uns kaum, haben nie etwas miteinander unternommen. Ich hab Valerie immer bewundert, besonders als wir damals gegen ganz Livington gekämpft haben, du weißt schon, die Urila-Geschichte. Aber das reicht nicht und das habe ich ihr gesagt.“

Verdutzt blinzelte Anya. „Und wie hat sie reagiert?“

„Sie hatte Verständnis und hat sich sogar dafür entschuldigt, mich damals mehr oder weniger ignoriert zu haben.“ Abby lächelte plötzlich. „Ich hab ihr jemanden als Ersatz für mich vorgeschlagen, aber stell dir vor, diejenige wollte Valerie nicht fragen.“

Anya zuckte unbedarft mit den Schultern. „Ahja? Die Glückliche!“

„Ja … ich glaube, es ist so das Beste, auch wenn es mir leid für Valerie und die von mir vorgeschlagene Person tut.“

Was Abby Anya in diesem Moment verschwieg war die Tatsache, dass von Letzterer die Rede war und Valerie nur zu gut wusste, dass Anya das Angebot sofort ausgeschlagen hätte. Was deswegen ein Geheimnis zwischen der Sirene und der Braut bleiben sollte.

„Was ich eigentlich sagen wollte … wenn du nicht möchtest, dass ich mich in die Sache einmische, dann werde ich das auch nicht. Aber ich werde immer an dich denken. Und wenn du doch Hilfe brauchst … frag einfach, okay?“

Ein Lächeln huschte über Anyas Lippen. „Danke.“

 

 

Turn 44 – Oh Brother

Nach einem interessanten Arbeitstag trifft Anya, als sie Zuhause ihren Feierabend mit einem Duell genießen will, auf niemand Geringeren als ihren Bruder Zachariah. Sofort entbrennt zwischen den beiden, die sich jahrelang nicht gesehen haben, ein erbitterter Streit. Und infolge dessen …

Turn 44 - Oh Brother

Turn 44 – Oh Brother

 

 

„Sag mal, Flohzirkus … ich hab dich das noch gar nicht gefragt.“ Anya hatte ihre Arme verschränkt auf den Tresen abgelegt. „Deine Inkarnation. Irgendwie ist sie anders, viel schwächer.“

Zanthe, der neben ihr mit dem Hinterteil an der Kassentheke angelehnt stand, guckte sie ratlos an. „Meine was?“

„Messier 7, du Knalltüte!“

Der Schwarzhaarige, der gerade dabei war, sein Piratenkopftuch zu richten, schien immer noch nicht ganz zu begreifen, was Anya von ihm wollte. „Ah! Was ist damit?“

Jene legte ihren Kopf genervt stöhnend auf ihre Arme ab. „Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen? Eine Inkarnation ist die Weiterentwicklung eines Paktmonsters. Aber deine ist anders, du kannst sie auf all deine Xyz-Constellar anwenden, außerdem besitzt sie nur einen Effekt und kann nicht mal ihr Material recyceln.“

„Warum sollte sie das auch?“ Zanthe rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich habe mein Deck und den Duellhandschuh von … einer mir wichtigen Person geschenkt bekommen. Messier 7 war damals schon dabei. Wieso sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Es ist nur 'ne Karte.“

Anya richtete sich auf und klatschte sich die Hand vor die Stirn. So viel Dämlichkeit musste durch physischen Schmerz verarbeitet werden!

 

Gerade wollte sie ihn anfahren, da hallte es aus dem Lager: „Zanthe, komm mal! Du hast bei der Warenannahme einen Fehler gemacht! Die Stückzahl stimmt nicht!“

Mit den Augen rollend, stieß der junge Mann sich von Tresen ab und seufzte. „Hast du ein Glück, dass du dich nicht mit so etwas abgeben musst, weil du kaum zwei mal zwei rechnen kannst.“

„Verpiss dich bloß!“, raunte Anya ihm beleidigt nach, wie er durch die Hintertür verschwand. „Tch, hoffentlich schmeißt Mr. Palmer ihn bald raus.“
 

Eher schmeißt er dich raus, Anya Bauer. Übrigens, deine Frage war eine sehr interessante. Auf mich wirkte die Inkarnation … halbfertig. Meinst du nicht auch?

 

„Hab schon längst das Interesse daran verloren“, winkte Anya ab, „erzähl mir lieber was von-“

Sie traute ihren Augen kaum. Die automatischen Türen des Geschäfts fuhren zur Seite, das Klingelgeräusch ertönte … und der Zwerg war wieder da.

Die braune Lederjacke lässig über die Schulter geworfen, schritt der schwarzhaarige Mann mit den Mörderkoteletten, wie Anya sie insgeheim bezeichnete, geradewegs auf sie zu.

 

Auf zu Runde 2. Diesmal spare ich mir meine Ratschläge gleich. Viel Spaß.

 

„Sup“, begrüßte er sie ohne Umschweife kurz angebunden an. Mit ziemlich tiefer Stimme.

Anya war einen kurzen Moment sprachlos, war der Kerl gestern noch ganz anders drauf gewesen.

„Suche was“, schien er sich nicht weiter an seiner letzten Begegnung mit Anya zu stören, „eine Karte. Ihr verkauft auch einzeln, oder?“
 

Keine Beleidigungen, keine Beleidigungen, keine Beleidigungen … Du hast ihn nie gesehen, er hat dich nicht gedemütigt, es gibt keinen Grund für eine patzige Antwort. Anya Bauer, wenigstens einmal will ich dich ein Geschäft abschließen sehen. Bitte!

 

Levrier sollte gefälligst aufhören, sich heimlich über sie lustig zu machen, dachte Anya wütend. Das brachte sie total aus dem Konzept!

„Ja, tun wir“, erwiderte sie unwirsch, „aber die Karten sind im Lager. Und das kann ich jetzt auf gar keinen Fall betreten!“

„Warum nicht?“
 

Die Konkurrenz?

 

„... Putz... unfall.“

Er zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Aha.“

„Aber wir schicken auch zu, gegen eine kleine Gebühr. Wonach soll ich suchen?“, fragte Anya in einem Anflug von Torschlusspanik. Levrier würde sie im Anschluss das nicht existierende Maul stopfen!

Zur Verdeutlichung schwenkte sie herüber zu dem PC, der neben der Kasse stand und öffnete das Suchprogramm.

„Kenne nicht den ganzen Namen der Karte. Irgendetwas mit Star Cestus“, folgte er ihr herüber.

Anya tippte den Namen in die Stichwortzeile ein, fand aber kein Ergebnis. Mehrere Versuche mit verschiedenen Schreibweisen später musste sie dem Mann leider mitteilen: „Haben wir nicht drin. Ist das eine neue Karte?“

„Kann sein“, brummte er. Dann sah er sich skeptisch um.
 

Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?

 

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

 

Braves Mädchen.

 

Anya ballte unterhalb der Theke eine Faust. Oh Levrier, beim nächsten Kampf um Leben und Tod bist du fällig, so schwor sie sich.

Der Kunde sah Anya nachforschend an. „Nein, 's war eigentlich alles. Außer …“

„Außer?“ Ihr gefiel der Klang nicht.

„Ich muss trainieren. Kennst du geeignete Simulationsprogramme?“

„'n Noob, huh?“, platzte es da schließlich aus Anya überheblich heraus. „Am besten lernt man durch Praxis!“

 

Sagt diejenige, die lieber mit ihrem Nintendo spielt, statt sich mit Nick oder anderen Spielern zu verabreden.

 

Das Mädchen lief rot an wie eine Tomate. Warum stand dieser Kerl nicht eigentlich in der Bibel als elfte Plage!?

„Und woher kann ich die bekommen? Veranstaltet ihr Treffen oder dergleichen?“

„Als ob das nötig wäre. Hier läuft dauernd irgendwer mit einer Duel Disk 'rum. Sperr die Augen auf und quatsch einfach jemanden an.“ Anya verschränkte besserwisserisch die Arme. „So ist das hier üblich.“

Der Mann nickte verständig. „Werde mich mal umschauen. Danke für die Information. Later.“

Damit drehte er sich um und verließ den Laden, während Anya ihm ratlos hinterher schaute.

 

wieder nichts verkauft. Star Cestus … nie gehört von dieser Karte.

 

Anya schnaubte ärgerlich. „Als ob du viel 'rumkommst.“

 

Mit dir ganz bestimmt nicht, Anya Bauer.

 

Mit einem Mal öffnete sich die Lagertür und Zanthes Kopf schob sich durch den Spalt. „Nanu, hatten wir Kundschaft?“

„Der Gnom von neulich“, berichtete Anya, „hat aber nur nach einer Karte gesucht, die wir nicht in der Datenbank haben. Dann ist er abgezischt. Kennst du eine 'Star Cestus'?“

Der junge Mann verzog überfragt die Lippen. „Ne, nie gehört. Bestimmt ist er nur zu doof und hat sich verlesen oder verhört. Oder du bist zu dumm zum Buchstabieren, such's dir aus.“
 

Was den Rest des Tages anbelangte, konnte man die Streitereien der beiden bis in die Mall hinein hören. Unnötig zu erwähnen, dass sämtliche potentiellen Kunden einen großen Bogen um das Geschäft machten. Dies war auch der Tag, an dem Mr. Palmer die ersten grauen Haare wuchsen – obwohl diese längst weiß waren!

Zumindest hatten er, Anya und Zanthe in dieser Hinsicht gemein, dass sie alle den Feierabend der beiden Unruhestifter gar nicht abwarten konnten.

 

~-~-~

 

Anya latschte mit den Händen in den Hosentaschen den Bürgersteig entlang. Dieser Zanthe! Irgendwann würde sie ihn noch im Schlaf erwürgen! Der Mistkerl hatte sich tatsächlich ihr Fahrrad geschnappt und machte jetzt Livington unsicher, während sie nachhause laufen musste. Sie!

Jeder, der das Pech hatte ihren Weg zu kreuzen, wurde gnadenlos angerempelt. Schnaufend zog Anya an den Schaufenstern neben sich vorbei.
 

Hättest du das neue Handy noch, das Nick Harper dir gegeben hat, könntest du ihn jetzt anrufen und fragen, ob er dich abholt. Aber nein, du musstest es ja in deinem allmorgendlichen Anfall von Arbeit-ist-scheiße-ritis nach Zanthe werfen, obwohl du genau wusstest, dass du ihn nicht treffen würdest.

 

„Levrier … eines Tages! Eines Tages!“

 

Mir schlottern schon die nicht existierenden Knie. Denk dir lieber etwas aus wie die Nick erklärst, dass dir wieder eines seiner Handys abhanden gekommen ist.

 

Wie eine Dampfwalze stampfte Anya die Straße entlang, die Leute wichen ihr in weiten Bahnen aus.

Ja, sie hatte das Handy zertrümmert? Aber was hätte sie auch machen sollen!? Den ganzen Morgen hatte der Flohpelz schon geflötet, wie sehr er sich auf seinen ersten Arbeitstag freut! Immerhin hatte er von Mr. Palmer gleich eine reingewürgt bekommen, weil er bei der Warenannahme vergessen hatte, die Bestellung zu überprüfen. Geschah ihm nur recht!

Trotzdem musste Anya zugeben, dass mit ihm wenigstens ein bisschen was im Laden los war und seien es nur die elenden Diskussionen, die die beiden führten. Dafür, dass er wesentlich älter war als er aussah, machte er zuweilen einen sehr kindischen Eindruck.

Aus der Höhle ab ins Berufsleben … ob sie das Richtige getan hatte, indem sie ihn mitnahm? Anya zweifelte. Für andere erschien er ganz normal, hatte sogar Ausweise und alles … aber was, wenn sein Hunger wieder zurückkam? Was dann? Im Moment war alles in Ordnung, doch das würde nicht ewig so bleiben.

 

So in ihren Gedanken vertieft bemerkte Anya gar nicht, wie ein schwarzes Motorrad auf ihrer Höhe am Straßenrand zum Stehen kam. Der Fahrer war ganz in Schwarz gekleidet.
 

Anya Bauer, da wartet jemand auf dich.

 

Das Mädchen hielt an und sah zum Motorradfahrer herüber. Eine kleine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn. „Hi, Redfield!“

Ihr Gegenüber nahm den Helm ab, doch anstatt ihrer Erzrivalin, blickte ihr der Zwerg entgegen.

„Soll ich dich mitnehmen?“, fragte er offen heraus.

Anya, die gewiss nicht damit gerechnet hatte, dem Kerl schon wieder über den Weg zu laufen, spitzte abfällig die Lippen. Hätte ihr doch sofort auffallen müssen, dass Redfields schlagende Argumente durch Abwesenheit glänzten, obwohl sie doch sonst nicht zu übersehen waren!

„Meine Mutter hat mir verboten, mit fremden Männern mitzugehen. Besonders wenn sie auch ohne meine Hilfe unter den Türschlitz durchpassen.“

„Was willste, 'nen Applaus für den Spruch? Spring auf!“, meinte er und winkte sie mit einer Kopfbewegung herüber.

 

Der arme Trottel. Er hat keine Ahnung, worauf er sich da einlässt.

 

Anya sah ihm kurz in die braunen Augen. Gefährlich sah er nicht aus, wie auch, der reichte ihr doch gerade mal bis zum Kinn! Ach was, bis zum Brustbein, höchstens!

„Na schön, 'nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!“

Betont selbstbewusst schlenderte sie zu dem Motorrad, wo ihr der Fremde bereits einen Helm reichte.

„Brauch ich nicht“, wies sie ihn harsch ab.

„Das ist mir klar, aber ich mache die Sauerei nicht weg, wenn was passiert. Also nimm.“

Widerwillig riss sie ihm den Helm aus den Händen und sah ihn skeptisch an. „Nur damit du's weißt, wenn du mich irgendwo hin bringst, wo ich nicht hin will, mach ich dich noch ein paar Zentimeter kürzer. Keine Ahnung wie das überhaupt möglich sein soll, aber mir fällt schon was ein.“

Er hielt ihrem 'Ich-töte-dich-wenn-du-jetzt-darauf-antwortest'-Blick gekonnt stand und wartete ab, bis sie sich den Helm übergezogen hatte. Dann setzte sie sich hinter ihn und umfasste seine Hüften.

Motorengeheul erklang und ab ging die wilde Fahrt.

 

Anya rief ihm die Adresse zu, doch wusste sie nicht einmal, ob er sie unter dem Lärm überhaupt verstand. Sie war noch nie Motorrad gefahren. Die Einzige in ihrer alten Schulklasse, die sich eines hatte leisten können, war Valerie Redfield gewesen. Und eher sprang Anya vom Eiffelturm in ihren Tod, als die um eine Spritztour zu bitten.

Es war ein unglaubliches Gefühl, wie sie da fuhr. Das Einzige, was störte, war der Kerl vor ihr. Sie kam sich vor wie ein Äffchen, das sich an ihn klammern musste.

Die anderen Verkehrsteilnehmer rauschten nur so an ihr vorbei. Freiheit, das war, was ihr durch den Kopf dabei ging. Irgendwann würde sie auch so ein Teil besitzen!

 

~-~-~

 

Nach einer Weile, für Anyas Empfinden viel zu früh, hielt die Maschine endlich an. Direkt vor der kleinen Rasenfläche, die den Garten der Familie Bauer markierte.

Sie nahm den Helm ab und atmete erst einmal tief durch. „Wow … das war rattenscharf!“

„Fährst wohl nicht so oft Motorrad, was?“, drang es dumpf unter seinem Helm hervor.

„Irgendwann schon. Jetzt aber mal was anderes … wer zum Geier bist du überhaupt? Wenn ich jetzt schon unbedingt 'danke' sagen muss, dann will ich wenigstens wissen, wem diese überaus großzügige Geste meinerseits gebührt!“

Der Mann nahm nun ebenfalls seinen Helm ab, sah über seine Schulter zu ihr herüber. „Kannst mich Logan nennen. Und du bist?“

„Logan, huh?“, wiederholte sie. „Fast nett, dich kennenzulernen. Anya Bauer. Für dich auch Gott.“

„Der ist uralt“, erwiderte er trocken mit seiner rauen Stimme.

Sollte sie ihm zeigen, warum schon so einige sie tatsächlich nur noch mit Gott anredeten? Anya war gewillt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Andererseits war der Typ ganz schön muskulös, also müsste sie erst Barbie holen und dazu war sie zu faul. Nochmal Glück gehabt!

 

„Da du mitgefahren bist, schuldeste mir jetzt einen Gefallen“, begann er unverblümt, „ich suche immer noch nach einem Gegner, an dem ich mich ein bisschen testen kann. Duel Monsters.“

„Oh Gott, du willst, dass ich gegen dich Kacknoob antrete?“, schoss es aus Anya heraus.

Sein Blick verfinsterte sich. Okay, das hätte sie wohl besser nicht sagen sollen. Genervt mit der Zunge schnalzend wollte sie gerade darauf eingehen, da flog die Tür des kleinen, weißen Einfamilienhauses auf.

 

Anya und Logan sahen herüber, wie ein junger Mann eiligen Schrittes auf sie zulief. Dem Mädchen fiel bei seinem Anblick glatt der Helm aus den Händen, der laut polternd auf den Asphalt knallte.

„Du …“, murmelte sie fassungslos. Dann wurde sie lauter. Ziemlich laut. „Wo ist Mum!?“

Sofort schwang sie sich vom Motorrad und stampfte ihm entgegen. „Was willst du hier!?“

Die beiden trafen sich auf halber Höhe vor dem Gartentor. Anya war fast einen ganzen Kopf kleiner als er. Damals war er noch nicht so groß gewesen, dieser blonde, junge Mann mit den saphirblauen Augen … Zachariah. Ihr Bruder.

„Meine Mutter besuchen. Pardon, unsere Mutter“, erwiderte er bissig.

Ein paar Haarsträhnen lagen ihm im Gesicht. Sein knapp eine Handbreit langes Haupthaar war zu einer Spitze nach oben gegelt, was ihm einen punkigen Touch verlieh. Dem gegenüber stand der weiße, feine Markenanzug, der bei Anya Brechreiz verursachte. Oder war es die fette Goldkette, die schön sichtbar über dem offenen Teil seines grauen Hemdes platziert war?

„Tch! Mum ist noch auf Arbeit! Was du gemacht hast ist Einbruch!“

„Oh sieh an, wer interessiert sich neuerdings für Recht und Ordnung? Mum versteckt den Reserveschlüssel immer noch an genau derselben Stelle.“ Ihr Bruder sah an ihr vorbei herüber zu Logan, der immer noch auf seinem Motorrad verharrte. „Ist das dein Freund?“

„N-nein, wie kommst du darauf!?“ Anya spürte, wie ungewollt eine verräterische Röte in ihr aufstieg. „Der doch nicht!“

 

„Wie siehst du überhaupt aus? Neuerdings auf 'nem Bonzen-Trip?“, sagte Anya schließlich gallig, bemüht das Thema zu wechseln.

„Ich habe etwas aus meinem Leben gemacht“, entgegnete Zach herablassend, während er Anya mit einem wenig schmeichelhaften Blick taxierte, „dagegen kann man deine Existenz nicht mal als Leben bezeichnen, 'Schwesterherz'.“

„Werd' nicht frech, du Bastard!“

Anya spürte, wie die Wut in ihr ins schier Unermessliche zu steigen begann. Und sie umarmte sie wie einen liebgewonnenen Freund. So war es geradezu natürlich, dass sie ihre Faust bereits erhob.

Ihr Bruder lachte nur abfällig. „Sonst was? Wir haben uns wie viele Jahre nicht gesehen? Und das Erste, was du machst, ist die Hand gegen mich zu erheben?“

Anya kniff ihre Augen zu kleinen, bösen Perlen zusammen. „Es sind sieben. Du hast dich nicht einmal gemeldet … Und jetzt wagst du es, einfach so in unser Haus zu spazieren und so zu tun, als wäre nichts!? Allein dafür sollte ich dich windelweich prügeln!“

 

Die Faust schnellte nach vorne, jedoch stoppte sie kurz vor seiner selbstgerechten Visage, ganz entgegen Anyas Willen. Weil jemand sie fest im Griff hatte und wegzerrte!

„Komm runter! Familie sollte sich nicht gegenseitig bekämpfen“, sagte Logan und hielt den Arm fest vor Anyas Oberkörper, da diese schon im Begriff war, in ihren berühmt-berüchtigten Berserkermodus zu wechseln.

Dementsprechend undankbar reagierte sie auch auf seinen Versuch, die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Lass los! Das ist meine Angelegenheit! Wenn Mr. High Society-Spacko da meint, mich permanent provozieren zu wollen, soll er ruhig sehen, was er davon hat!“

„Immerhin, alles genauso verkorkst wie immer“, murmelte Zachariah seinerseits mit ungewohnter Neugier und sah sich im krassen Gegensatz dazu provokant gelangweilt um, „da scheint jemand gute Arbeit geleistet zu haben.“

„Willst du etwa Mum die Schuld geben, dass ich so bin wie ich bin oder was soll das heißen!?“, fauchte Anya nun über alle Maße erzürnt. Trotz ihres Gestrampels hielt der Zwerg sie ziemlich gut im Zaun, sein Griff war geradezu eisern. „Mag ja sein, dass ich nicht ganz perfekt bin! Aber ich melde mich bei Mum-“

„Und rennst weg, wenn du gerade Lust drauf hast.“

„Kümmere mich um sie-“

„Und bereitest ihr unentwegt Sorgen.“

„Bin für sie da!“

Zach lache spöttisch auf. „Ohne dich wäre sie besser dran.“

 

Einen Moment herrschte Stille.

„Nimm den Arm weg“, knurrte Anya ihren 'neuen Freund' an, „ansonsten kann ich nicht garantieren, dass er noch lange dran bleibt …“

Logan ließ den Arm tatsächlich sinken, meinte jedoch: „Es ist offensichtlich, worauf er hinaus will.“

Sein Blick lag auf der Duel Disk, die Zachariah bereits die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte und nun geradezu demonstrativ auf die Körpermitte anhob.

„Richtig“, sagte der Blonde, „rohe Gewalt ist nicht meine Art, Probleme aus der Welt zu schaffen.“

„Ach ja!? Kein Duell der Welt würde jemals bewerkstelligen, dass ich dich nicht mehr wie die Pest hasse, du arroganter Dreckssack!“

Zach verzog grinsend den rechten Mundwinkel. „Gleichfalls. Trotzdem möchte ich dich herausfordern. Sagst du zu? Oder fühlst du dich davon überfordert?“

„Als ob! Aber … ich werde niemals etwas tun, worum du mich bittest“, erwiderte Anya und spuckte zur Seite aus.

Außerdem war die Gefahr zu groß, dass sie ihm im Eifer des Gefechts 'versehentlich' den ein oder anderen Knochen brach. Was wiederum die Versuchung, doch zuzustimmen, umso größer werden ließ. Sie hatte immerhin die Mittel dazu, auch wenn es nur ein Duell war!

„Also sind wohl alle Bauer-Frauen Versagerinnen und Feiglinge. Du bist in der Hinsicht wie unsere liebe Mutter, die Hure.“

Anya riss die Augen förmlich auf. Allerdings rührte sie sich nicht vom Fleck, sondern blieb, völlig ungewohnt für ihr sonst so infernalisches Temperament, ziemlich ruhig.
 

Lass dich nicht provozieren, Anya Bauer. Er will dich nur dazu bringen, dem Duell zuzustimmen, um dich dann noch mehr zu demütigen. Ich bin zwar nicht imstande, die Gefühle anderer Menschen zu empfangen, aber in seinem Fall … ist es wie ein Schatten. Ein unglaublicher, unbändiger Hass dir gegenüber. Was ist zwischen euch vorgefallen?

 

„Ich kenn' diese Masche schon von ihm“, murmelte Anya leise. Auf ihren Lippen offenbarte sich der Anflug eines Grinsens. „So war er schon immer. Ansonsten habe ich aber keine Ahnung, was gerade in seinem Krümelhirn abgeht.“

Was die Wahrheit war. Dass er und sie sich noch nie verstanden hatten, war kein Geheimnis. Als älterer Bruder hatte er sie damals immer ausspielen können wie es ihm beliebte, weil er genau wusste, welche Knöpfe er zu drücken hatte. Da waren sie noch Kinder gewesen! Allerdings hatte sich Zach noch nie abfällig über seine Mutter geäußert, um Anya zu provozieren.

„Okay, duellieren wir uns halt“, meinte das Mädchen plötzlich ganz lapidar und zuckte mit den Schultern, „will ja wissen, was du so drauf hast, jetzt wo du dich plötzlich für Duel Monsters interessierst.“

Was noch nie der Fall gewesen war, soweit Anya sich zurückerinnern konnte. Irgendetwas war faul mit ihm. Und sie wollte wissen, was dahinter steckte. Nur deshalb schluckte sie ihren Stolz hinunter und stimmte zu, obwohl sie lieber auf andere Methoden der Konfliktbewältigung zurückgreifen würde.

Logan seinerseits marschierte zu seinem Motorrad und löste einen kleinen Apparat aus einer Versenkung zwischen dem Lenker, warf ihn Anya wortlos zu. Die fing das D-Pad überrascht auf.

„Wenn ihr wollt, werde ich den Schiedsrichter mimen“, sagte er und winkte die beiden direkt auf die Straße. Es war offensichtlich, dass ihn die Zwistigkeiten der beiden Geschwister interessierten, denn sein Gesichtsausdruck hatte etwas Nachdenkliches, Neugieriges.

Zach winkte ab. „Lassen Sie das lieber. Am besten wäre es, wenn Sie nachhause fahren. Das hier könnte länger dauern.“

„Ich hab Zeit“, erwiderte er nicht weniger unterkühlt.

 

„Sorry, unser Übungsduell muss wohl noch warten“, raunte Anya ihm zu, ohne den Blick von ihrem Bruder zu nehmen und aktivierte nebenbei sein schwarzes D-Pad, nachdem beide Position auf der Straße bezogen hatten.

„Nicht der Rede wert“, winkte er ab, „ich werde versuchen, etwas aus eurem Duell mitzunehmen.“

„Oh, das wirst du“, sprachen die Bauer-Geschwister synchron, nur um sich dann voller Abscheu anzustarren.

Auch Zachariah aktivierte seine Battle City-Duel Disk. Anders als Anyas, die oben in ihrem Zimmer lag, war jene in gutem Zustand. Zumindest fand sich an ihr kein abgekratzter Lack oder Ähnliches.

„Duell!“, riefen beide laut aus.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 4000LP]

 

„Ich fange an“, bestimmte Anya und zog mit einem Schlag sechs Karten.

Eigentlich war das gar nicht so übel, sich jetzt mit ihm zu duellieren. Im Grunde war er eine der Hürden auf dem Weg zum Titel der Duel Queen. Sofern er gut war, hieß es. Rein theoretisch war er mehr eine persönliche, denn eine berufliche Hürde. Aber wer weiß, vielleicht ließ sich das Private in dem Fall mit dem Beruflichen verbinden? Inklusive Kuscheleinheiten mit Levrier, [Gem-Knight Master Diamond] oder [Angel Wing Dragon], dachte sie gehässig.

Es stellte sich beim Blick auf ihr Blatt nur schnell heraus, dass von denen so schnell keiner das Feld betreten würde. Ganz zu Anyas Ärgernis.

Schnaubend griff sie nach drei Karten in ihrer Hand, die einzigen, die sie für eine Monsterbeschwörung nutzen konnte. „Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion] und verschmelze damit [Gem-Knight Iolite] und [Gem-Knight Sardonyx] von meiner Hand! Erscheine, [Gem-Knight Amethyst]!“

Anya war innerlich so aufgewühlt und gleichzeitig durcheinander, dass sie glatt ihren geliebten Beschwörungsspruch vergaß von sich zu geben.

So erschien über ihr ein Edelsteinwirbel, in den die beiden Monster von ihrer Hand gezogen wurden. Aus ihm heraus sprang ein Ritter in violetter Rüstung, welcher am rechten Arm einen langen, speerartigen Auswuchs aus dem namensgebenden Amethysten besaß, während er am linken einen Rundschild trug. Lautlos ging er in die Knie und hielt seine Ausrüstung über Kreuz.

 

Gem-Knight Amethyst [ATK/1950 DEF/2450 (7)]

 

Sogleich gesellte sich hinter ihm noch ein vergrößerter Kartenrücken hervor, denn Anya raunte: „Dazu setze ich noch die hier verdeckt! Zug beendet!“

 

„Ich ziehe“, kündigte Zach an und tat dies auch. Anschließend legte er ein Monster auf seine Duel Disk. „Zunächst rufe ich das normale Monster [Noble Knight Artorigus] in den Angriffsmodus aufs Feld.“

Erstaunt beobachtete Anya, wie vor ihrem Bruder ein braunhaariger Ritter in edler, an Hüften und Schultern mit Fell verzierter Rüstung auftauchte, vor dem ein leuchtendes Schwert in Stein versiegelt ruhte.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 DEF/1800 (4)]

 

„Du spielst auch Ritter!?“, schoss es aus einer ungläubigen Anya heraus. „Hast du keine eigenen Ideen oder was!?“

„Interessant. Ein Duell der Ritter. Das wird spannend“, murmelte Logan derweil und rieb sich das stoppelige Kinn.

„Für mich sind sie nur Mittel zum Zweck“, gab sich Zachariah ganz unberührt von Anyas Kritik, „ebenso gut könnten da Teletubbies stehen, würde es mich weiter bringen.“

Schließlich schob er mit dem Daumen eine Zauberkarte aus seinem Blatt hervor. „Was wäre ein Ritter ohne sein Schwert? Ich rüste Artorigus mit [Noble Arms – Caliburn] aus!“

Sein Krieger umfasste mit beiden Händen den Griff des Schwertes vor ihm und zog es gekonnt aus dem Stein.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 → 2300 DEF/1800 (4)]

 

„Effekt von Caliburn aktivieren“, rief er aus, „einmal pro Zug kann ich 500 Lebenspunkte erhalten.“

Als wäre er siegreich aus einer schweren Schlacht hervor gegangen, streckte Artorigus seine Waffe in die Höhe.

Ein Regen aus weißer Energie ging auf Zach nieder.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 4000LP → 4500LP]

 

„Das reicht aber noch nicht. Deswegen rüste ich [Noble Knight Artorigus] noch mit [Noble Arms – Arfeudutyr] aus.“

In der freien, linken Hand seines Kriegers materialisierte sich ein Schwert mit schwarzem Griff und silbern leuchtender Klinge. Nichts veränderte sich jedoch an seinen Werten.

„Indem ich einmal pro Zug die Angriffskraft des ausgerüsteten Monsters um 500 verringere, kann ich eine deiner gesetzten Backrow-Karten vernichten. Tue deinen Job, Artorigus!“

Mit einem Brustschrei steckte der Ritter den Arm mit Arfeudutyr in der Hand aus und feuerte einen unglaublich schnellen Lichtblitz auf Anyas gesetzte Falle ab, die daraufhin in alle Einzelteile zersprang. Es dauerte einen Moment, ehe das Mädchen überhaupt begriff, dass ihre [Negate Attack] jetzt der Vergangenheit angehörte.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/2300 → 1800 DEF/1800 (4)]

 

„Effekt von [Ignoble Knight Of Black Laundsallyn], von meiner Hand“, machte Zach ungerührt weiter, „indem ich ein normales Licht-Monster, wie Artorigus eins ist, opfere, kann ich Lancelot von meiner Hand beschwören.“

Er legte die Karte, die er eben noch vorgezeigt hatte, anstellte von Artorigus auf die Duel Disk. Jener löste sich auf, ließ die Schwerter sinken, welche im Boden stecken blieben. Dann materialisierte sich dort, wo er gestanden hatte, ein pechschwarzer Ritter. Seine lange Mähne flatterte wie von Geisterhand, die Augen leuchteten rot auf. Und er nahm die Waffen an sich, die Artorigus zurückgelassen hatte.

 

Ignoble Knight Of Black Laundsallyn [ATK/2000 → 2500 DEF/800 (5)]

 

„W-was zum-!? Erklär' das, wieso sind diese kack Schwerter noch da!?“

„Einmal pro Zug kann ich sie, wenn sie vom Spielfeld verschwinden, an einen anderen noblen Ritter ausrüsten“, kam Zach dem entgegen, „deshalb kann ich ihre Effekte, da sie kurzzeitig das Feld verlassen haben, nun erneut benutzen.“

Lancelot, so der wesentlich bekanntere Name des Kriegers, hielt Caliburn in die Luft. Wieder regnete auf den blonden Mann ein Lichtermeer herab.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 4500LP → 5000LP]

 

„Lancelot, zerstöre [Gem-Knight Amethyst]!“, befahl Zachariah lauthals und streckte den Arm aus.

Wie ein Schatten huschte sein Krieger gefügig über das ganze Spielfeld, verschwand immer wieder auf der Stelle und tauchte woanders wieder auf. Bis er direkt vor Anyas Ritter erschien und diesen mit einem gezielten Kreuzhieb zu Fall brachte.

„Das ist ja noch einfacher als ich dachte“, kommentierte Zach das Ganze abfällig und schob eine Fallenkarte in seine Battle City-Duel Disk ein, „die hier setze ich. Mach du deinen Zug, 'Schwesterherz'.“

Die Karte materialisierte sich vor seinen Füßen.

 

Sei vorsichtig, Anya Bauer. Scheinbar ist er sehr geschickt, was seine Duellstrategie angeht. Diese Präzision … seid ihr wirklich verwandt?

 

„Ich wünschte, wir wären es nicht!“, schnaubte Anya und legte die Finger auf ihr Deck. „Ich hasse ihn und damit meine ich wirklich richtigen Hass und nicht solche Albernheiten wie mit Redfield!“

 

Bist du dir sicher, dass du das sagen solltest?

 

„Verdammt sicher! Er war immer Dads Liebling … während ich immer nur die zweite Geige gespielt hab. Und als unsere Eltern sich getrennt haben, war natürlich er es, der mit Dad gehen durfte.“ Anya biss sich auf die Lippen, die bebten. „Alles, was ihm einfach in den Schoß gefallen ist, habe ich mir hart erkämpfen müssen …“

 

Du liebst deinen Vater wirklich über alles, oder? Das tut mir leid, Anya Bauer. Aber ich glaube nicht, dass das, was ihr da macht, der richtige Weg ist. Wie dieser Logan sagte, Familie ist zu wichtig, um sich gegenseitig zu bekriegen.

 

„Levrier … ich such mir meine Familie selber aus. Und der ist nicht Teil davon.“

Zachariah verzog keine Miene, obwohl er jedes Wort deutlich hören konnte. Es war Anya egal, ob er oder der andere Typ dachten, sie sei verrückt, weil sie mit sich selbst sprach. Dazu tat es einfach zu gut, all das mal loszuwerden.

 

Dann hoffe ich, Teil dieser Familie sein zu können.

 

„Kch, Idiot! Seit ich dich kenne, bist du mehr für mich dagewesen, als mein Vater in seinem ganzen Leben. Was glaubst du wohl?“

 

Anya Bauer … dann lass mich jetzt auch für dich da sein.

 

Die Blondine sah überrascht hinter sich. Levriers geisterhafte Form von [Gem-Knight Pearl] schwebte hinter ihr, seine Hand lag auf der ihren, welche wiederum die oberste Deckkarte berührte. Sie wusste, was er ihr damit zeigen wollte, doch schüttelte sie dankbar den Kopf.

„Diesmal nicht. Wenn ich ihn nicht aus eigener Kraft besiege …“

Levrier verstand, zeigte dies mit einem Nicken und löste sich wieder auf. Und Anya wusste, dass sie nur nach ihm zu rufen brauchte, wenn sie sich anders entscheiden sollte.

 

Mit festem Blick richtete sie sich an Zach. „Sorry, dass du warten musstest. Mein Zug! Draw!“

Während sie ruckartig die Karte von ihrem Deck riss, schnalzte ihr Bruder nur missbilligend mit seiner Zunge.

„Zauberkarte aktivieren“, rief Anya laut aus und zeigte die gezogene Karte vor, „[Dark Factory Of Mass Production]! Mit ihr kann ich zwei normale Monster von meinem Friedhof bergen, und da sowohl Sardonyx als auch Iolite Zwillings-Monster sind, werden sie auf dem Friedhof als normale Monster behandelt. Also kehrt zurück!“

Zwei Edelsteine stiegen vor ihr auf, ein blauer und ein rotweißer, und kehrten in ihr Blatt als Karten zurück – die sie eilig dort hin stopfte, selbstverständlich. Dann schwang sie den Arm weit aus. „Das war aber noch nicht alles! Ich hole mir [Gem-Knight Fusion] ebenfalls aufs Blatt zurück, indem ich Amethyst verbanne.“

Gesagt getan. Ihr Fusionsmonster landete in der Hosentasche, wohingegen sie ihre Lieblingszauberkarte vom Ablagestapel zurückholte. Und sie zeigte jene auch gleich vor, sodass ein Wirbel aus unzähligen Edelsteinen über ihr entstand. „Fusionsaction! Ich verschmelze [Gem-Knight Sardonyx] und [Gem-Knight Iolite], aber diesmal kommt ein anderes Monster dabei heraus! Zeig dich, [Gem-Knight Citrine]!“

Ihre beiden Monster wurden als durchsichtige Silhouetten in den Strom gezogen. Daraus sprang einen Augenblick später ein stolzer Krieger. In bronzener Rüstung gekleidet, schulterte er ein riesiges Breitschwert. Besonders an ihm war, dass seine Arme rot wie Lava glühten.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 DEF/1950 (7)]

 

Anya sah nachdenklich ihr Blatt an. Es waren zwei Zauberkarten und sie wünschte sich, es wären andere. Aber das Leben war kein Wunschkonzert. Also würde sie sich nicht beschweren und versuchen, das Beste daraus zu machen. Das war …

„... [Megamorph] aktivieren! Dämlich wie du bist, hast du deine Lebenspunkte mit diesem Kackschwert erhöht und genau das wird dir jetzt zum Verhängnis! Dieser Ausrüstungszauber verdoppelt nämlich die Offensive meines Citrines, wenn deine höher sind als meine!“

In dessen Brust verschwand eine Schale, die mit diversen Runen gekennzeichnet war. Sofort schien es so, als würden sich seine Muskeln aufblähen. Eine flammende Aura brannte um den Krieger.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 → 4400 DEF/1950 (7)]

 

„Falle aktivieren“, kündigte Zachariah ungerührt an, „[Soul Resurrection]. Sie ruft ein normales Monster von meinem Friedhof in Verteidigungsposition. Sei wiedergeboren, [Noble Knight Artorigus]!“

Geleitet von dem Geist einer komplett weißen Frau, flog der junge Artus, ebenfalls als Geist, durch den Asphalt aufs Spielfeld und fand dort zu alter Form zurück.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 DEF/1800 (4)]

 

Warum hatte er das getan, wunderte sich Anya. Es gab keinen Grund, diese Karte jetzt schon zu aktivieren! Aber was juckte es sie, denn jetzt war erst einmal Partytime angesagt!

Mit erhobenem Zeigefinger rief sie: „Wenn Citrine angreift, kannst du keine Karteneffekte aktivieren bis der Kampf vorbei ist. Also los!“

Beide Ritter begannen zeitgleich aufeinander zu zu rennen. Stahl traf auf Stahl. Von Citrines Breitschwert löste sich eine Explosion, die Lancelot davon schleuderte und in der Luft zerfetzte.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 5000LP → 3100LP]
 

„Booyah!“, jubelte Anya und formte mit ihren Fingern ein V.

Zach hingegen schien sich nicht weiter daran zu stören, rief er: „Effekte der Noble Arms. Einmal pro Zug rüsten sie sich an einen anderen verfügbaren Noble Knight aus, sollten sie das Feld verlassen.“

Sein Artorigus streckte beide Arme aus, in dessen Händen die beiden Schwerter Caliburn und Arfeudutyr erschienen, während Citrine sich zurückzog.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 → 2300 DEF/1800 (4)]

 

Deshalb hat er seine Falle vorzeitig aktiviert! Um seine Waffen in Sicherheit zu bringen, denn sobald du mit [Gem-Knight Citrine] angegriffen hättest, wäre dies nicht mehr möglich gewesen.

 

„Übrigens halbiert sich der Angriffswert deines Monsters jetzt, da meine Lebenspunkte unter deine gefallen sind.“

„Weiß ich selbst, Einstein!“

Die Muskeln des stolzen Kriegers fielen wie ein verpatztes Soufflee in sich zusammen, er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und sackte auf die Knie.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/4400 → 1100 DEF/1950 (7)]

 

Anya zog eine säuerliche Grimasse. Wenn ihr Krümelhirn von Bruder dachte, jetzt im Vorteil zu sein, nur weil er das stärkere Monster kontrollierte, dann irrte er sich aber! Verlieren war keine Option! Dafür, dass er Mum beleidigt hatte, würde er seine garantiert künstlichen Bleichzähne allesamt vom Boden aufsammeln dürfen!

„Die hier verdeckt!“, rief sie aus und rammte ihre letzte Karte in Logans schwarzes D-Pad. „Fertig!“

Die Karte materialisierte sich vor ihren Füßen. Und Anya grinste heimtückisch.

 

„Draw“, verkündete Zachariah Bauer gelangweilt.

Als er die Karte in seinen Händen sah, weitete er die Augen vor Überraschung. Und kniff sie sogleich voller finsterer Absichten zusammen.

Die ganze Straße der kleinen Vorstadtsiedlung war wie leergefegt, waren die meisten Leute um diese Zeit noch arbeiten. Geradezu eine unheimliche Stille legte sich über den Ort.

„Unglaublich. Obwohl ich noch nicht lange Duellant bin, zeigt sich, dass ich der überlegene von uns beiden bin.“ Zach betonte seine arrogante Art noch, indem er sich über die Stirn und anschließend das blonde Haar fuhr. „Du könntest einem fast leid tun. Aber gut, ich bin nicht hier, um dir das Denken beizubringen. Effekte der beiden Noble Arms! Ich erhalte dank Caliburn 500 Lebenspunkte und kann mit Arfeudutyr für 500 Angriffspunkte deine verdeckte Karte zerstören!“

Artorigus hielt sein eigenes Schwert zuversichtlich in die Luft, der dadurch entstehende Lichterregen ging auf Zachariah nieder.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 3100LP → 3600LP]

 

„Tch! Spiel dich nicht so auf! Du hältst dich für so viel besser, weil du meine gesetzte Karte zerstören kannst? Idiot! Die hab ich mit Absicht gesetzt!“, fauchte Anya aufgebracht zurück. „Schnellzauber, zeig dein Gesicht! [Mystical Space Typhoon]!“

Gerade als Artorigus aus seinem finsteren Schwert einen silbernen Lichtstrahl abfeuern wollte, sprang die Karte zu Anyas Füßen auf. Aus ihr löste sich ein Zyklon, der begann, sich seinen Weg zu Zachariah zu bahnen.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/2300 → 1800 DEF/1800 (4)]
 

Doch der lachte nur auf. „Lernst du es nicht!? Noble Arms können nicht so einfach beseitigt werden, sie kommen einfach wieder!“

„Wie gut, dass die nie mein Ziel waren, Blödian!“

Mit einem Mal machte der Wirbelsturm eine Kurve und brauste direkt zu Anya zurück. Er erfasste [Gem-Knight Citrine], welcher entgegen aller Erwartungen ermutigt aufschrie. Und als sich der Sturm löste, stand der Ritter wieder völlig genesen vor Anya.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/1100 → 2200 DEF/1950 (7)]

 

Sehr gut, Anya Bauer! Zwar hättest du auch [Soul Resurrection] und damit [Noble Knight Artorigus] zerstören können, doch du hast dich dafür entschieden, dich auf dein Monster zu verlassen. Höre nicht auf ihn, du machst große Fortschritte!

 

Auch wenn Anya es ungern zugab, das Lob ging runter wie Öl. Was ihr breites, stolzes Grinsen mehr als deutlich zeigte.

„Oh, zu schade“, lachte sie gehässig, „jetzt hast du deinen Ritterknilch ganz umsonst geschwächt.“

„Wie wahr, dieser kleine Funken Intelligenz deinerseits hat mich wirklich überrascht“, gestand Zach, legte gleichzeitig ein Monster auf seine Duel Disk, „auch wenn ich eh nie geplant habe, Artorigus zu behalten. Normalbeschwörung: [Noble Knight Gwalchavad]!“

Vor ihm positionierte sich ein stolzer, bärtiger Ritter, dessen blondes Haar über seine Schultern ragte. An seinem ausgestreckten Arm manifestierte sich ein durchsichtiger, rot leuchtender Schild.

 

Noble Knight Gwalchavad [ATK/1500 DEF/1800 (4)]

 

Ruckartig schwang Zachariah den Arm zur Seite aus. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Xyz-Summon!“

„Oh crap!“, stammelte Anya.

Die beiden Ritter ihres Bruders verwandelten sich in gelbe Lichtstrahlen, die in die Luft stiegen. Über Zach öffnete sich ein schwarzer Wirbel, der jene in sich einsog. Dabei rief er: „Oh König der Legende! Bringe mir den Sieg! [Artorigus, King Of The Noble Knights]!“

Aus dem Galaxienstrom schwebte langsam eine majestätische Gestalt hinab. Seine Rüstung leuchtete an bestimmten Stellen cyanfarbend auf, der rote Umhang flatterte dabei wild umher. Mit einem Satz landete er vor Zach: Artus, König der Tafelrunde! Zwei gelbe Lichtkugeln umkreisten ihn dabei.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2000 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Zu beiden Seiten streckte der nun erwachsene Artorigus seine Arme aus. Zachariah erklärte: „Als König kann Artorigus bis zu drei Noble Arms von meinem Friedhof an sich ausrüsten, sollte er per Xyz-Beschwörung das Feld betreten.“

Caliburn und Arfeudutyr erschienen in seinen Händen. Jedoch als leuchtende Abbilder ihrer selbst, statt wie bisher als echte Klingen.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2000 → 2500 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

„Ganz klasse!“, ätzte Anya. „Das hätte ich auch gekonnt! Scheiße, selbst der Kacknoob da drüben könnte sowas aus dem Ärmel schütteln!“

Womit sie auf Logan zeigte, der dem Duell die ganze Zeit stillschweigend von der Seite beigewohnt hatte. Er erwiderte: „Dafür geht dir aber ganz schön die Muffe, Girly.“

„Girly!?“

„Hört auf mit dem Schwachsinn!“ Zach streckte den Arm aus. „Effekt Caliburns! Du dürftest ihn dir mittlerweile gemerkt haben!“

Bunte Lichter fielen wieder einmal wie ein Regenschauer auf den Blonden herab.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 3600LP → 4100LP]

 

Zachs Blick verfinsterte sich plötzlich. So sehr, dass es Anya die Sprache verschlug. Er starrte sie derart hasserfüllt an, dass sie davon eine Gänsehaut bekam.

„Was wäre Artus ohne das Schwert, das ihn so berühmt gemacht hat? Oder zumindest einer Nachahmung davon“, fragte Zachariah mit gefährlich ruhiger Stimme. „Meine letzte Handkarte, ich aktiviere sie und rüste sie an ihren einzig wahren Besitzer aus! [Noble Arms – Excaliburn II]!“

Unter einem Aufschrei schmiss Artus seine beiden Lichtschwerter weg und streckte beide Hände vor sich aus. In ihnen materialisierte sich ein gewaltiges Breitschwert. Aus purem Gold war sein Griff, wohingegen in der Klinge selbst zwei blaue Energieströme bis zur Spitze verliefen. Plötzlich explodierte um Artus herum förmlich eine gleichfarbige Aura, als er begann, das schwere Schwert mit nur einer Hand zu führen.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2500 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Anya gab einen überraschten Laut von sich. Kein Punktebonus?

„Dieses Duell ist vorbei“, verkündete Zachariah leise und griff dabei unter seine Duel Disk, „nicht schlecht für eine ewige Amateurin, das muss ich dir lassen. Aber ich werde es sicher nicht vermissen! Artorigus, greife ihren [Gem-Knight Citrine] an! Invin-!?“

 

Zach sah die Faust aus den Augenwinkeln auf sich zufliegen, konnte daher mit einem Rückwärtsschritt ausweichen. Trotzdem packte Logan ihn dabei am Handgelenk, zog ihn zu sich zurück und hielt ihn kurz darauf fest im Griff, da er sich mit dem anderen Arm unter die Achsel von Anyas Bruder hakte.

„Würd' ich an deiner Stelle lassen, Bursche“, flüsterte der fast einen Kopf kleinere Schwarzhaarige Zachariah ins Ohr, wobei er seine 'Schlinge' noch enger zog, mit der Faust am Hals des jungen Mannes stieß, „dieser Knopf ist nicht zum Spielen da.“

Schlagartig stieß er Zach von sich, aber nicht, ohne vorher dessen Handgelenk loszulassen und einen Schalter unter der Duel Disk zu betätigen. Die Hologramme verschwanden auf der Stelle.

 

Anya legte den Kopf schief. Erst, als Zach laut fluchte, begriff sie, was da überhaupt geschehen war. Der Dreckssack hatte einfach das Duell beendet!

„Was mischen Sie sich da ein!?“, schrie Zach und schlug zu. Logan fing die Faust locker mit der Hand ab.

„Leg dich nicht mit mir an“, drohte er leise. „Würde nicht gut für dich ausgehen.“

 

Eine Tür knarrte. Alle drei wirbelten herum zu Anyas Haus. Dort, im Türrahmen, stand eine vermummte Gestalt. In schwarzer Kutte verharrte sie dort, das Gesicht war von einer weißen Maske bedeckt.

Sofort fiel Anya das Gerät auf, was die Person in den Händen hielt. Es war ihre Duel Disk, das Battle City-Modell von ihrem Vater! Wie um alles in der Welt-!?
 

„Lass es gut sein, Zach“, sprach die Person mit von der Maske gedämpfter Stimme, „hier wäre es sowieso nicht richtig. Du weißt warum.“

Ob dort ein Mann oder eine Frau stand, war nicht eindeutig zu identifizieren. Aber anhand Nicks Beschreibung wusste Anya sofort, wer es war. Sie spürte es einfach.

Der Blonde riss sich von Logan los und eilte an ihm vorbei, direkt auf die Person zu. Aber nicht, ohne sich im Lauf umzudrehen und die anderen beiden anzusehen, die alles irritiert mitverfolgten.

„Du hast wirklich Glück“, raunte er an Anya gerichtet, „dein Freund ist wirklich aufmerksam. Das solltest du auch werden, denn das nächste Mal wird nicht so glimpflich für dich ausgehen!“

Anya sah ihm einen Moment lang perplex hinterher, bis sie endlich begriff. Dann setzten sich ihre Beine wie von selbst in Bewegung. Sie rannte über die Straße, den Bürgersteig, durch das kleine Gartentor. Schneller, ehe er-!

Doch Zachariah war bereits bei der vermummten Gestalt angekommen. Die hob die Duel Disk wie eine Trophäe in die Höhe. „Diese hier werde ich behalten. Bei mir wird sie sicher besser behandelt werden.“

„Nein!“, schrie Anya und streckte den Arm aus. Alles, bloß nicht das!

Zach stellte sich neben die deutlich kleinere Kali. „Wenn du sie zurückhaben willst, dann warte, bis wir uns wieder bei dir 'melden'. Bis dahin …“

Ein undeutliches Flimmern umschloss die beiden, als wären sie nur Trugbilder ihrerselbst. Kali schloss das Ganze mit: „Leb wohl, falsche Schlange.“

„Bleibt hier!“, schrie Anya verzweifelt.

Ihre Farben lösten sich auf. Anya hatte sie fast erreicht, streckte die Hand nach Zach aus, aber griff nur noch ins Leere. Sie stürzte und landete direkt auf der Fußmatte mit der „Welcome“-Aufschrift, welche vor der Haustür der Familie Bauer lag.

 

Sie blieb liegen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, unfähig, das Gesehene einzuordnen, geschweige denn zu begreifen. Zachariah … arbeitete mit dieser Kali zusammen? Der Person, die Nick angegriffen, ihre Krone in tausend Einzelteile zerschlagen und Rache an ihr, Anya, geschworen hatte?

War er etwa gekommen, um sie … um sie, seine eigene Schwester … umzubringen?
 

Logan, der ihr hinterher gerannt war, stellte sich neben sie. Hilflos rieb er sich den Hinterkopf, brummte: „Keinen Blassen, was ich da gerade gesehen habe, aber der Bursche läuft nicht ganz richtig. Er wollte-“

„Mich umbringen“, stammelte Anya apathisch.

Hätte der Zwerg nicht eingegriffen, hätte Zach den Sicherheitsmechanismus seiner Duel Disk deaktiviert und sie mit seinen Angriffen verletzen können.

Dazu war es aber nicht gekommen. Dafür war ihr liebstes Andenken an ihren Vater, ihre Battle City-Duel Disk … vielleicht für immer verloren.

In dem Moment richtete Anya sich auf und stieß einen hasserfüllten, gleichwohl verzweifelten Schrei aus.

 

~-~-~

 

Logan saß auf seinem Motorrad, hielt seinen Helm in den Händen und sah sie nachforschend an. Das Mädchen mied seinen Blick, als wäre es ihr peinlich, dass er sie so musterte.

„Kann ich es wirklich behalten?“, fragte sie und deutete auf das D-Pad an ihrem Arm.

„Yup. Hab noch'n zweites. Solange du deine alte Duel Disk nicht zurück hast, geht es in Ordnung“, antwortete er, „und du bist sicher, dass ich sonst nichts für dich tun kann?“

Anyas Blick verfinsterte sich. Für wen hielt der Typ sich, für Jesus!? Er hatte ihr womöglich das Leben gerettet, wie viel wollte er noch tun? Diese Sache hatte doch gar nichts mit ihm zu tun, sie kannten sich nicht einmal wirklich!

„Nein“, drückte sie ihre Gedanken in wesentlich kompakterer Form aus, „aber trotzdem danke. Das ist was zwischen mir und Siegfried und Roy!“

„Wenn du das sagst“, meinte er zweifelnd und setzte seinen Helm auf, „lass uns das Duell ein anderes Mal nachholen, sobald dir danach ist. Ich arbeite in der KFZ-Werkstatt am südlichen Stadtrand, dort triffst du mich so gut wie immer an.“

Damit trat er in die Pedale. Die beiden verabschiedeten sich, und ehe Anya sich versah, brauste er mit seiner schwarzen Maschine davon.

 

Nun war sie hier. Ganz alleine auf dem Bürgersteig vor dem kleinen Rasen ihres Grundstücks, um sie herum viele bunte Häuser, aber niemand, dem sie aus Frust die Faust ins Gesicht drücken konnte. Und das brauchte sie jetzt dringend. Irgendjemanden bis zur Unkenntlichkeit zusammenschlagen, am besten jemand, der ihrem Bruder möglichst ähnlich sah. Anya wusste, dass der Gedanke falsch war, aber das juckte sie nicht.

 

Anya Bauer, ich fürchte, du hast neben deinem ohnehin schon großem Problem noch mit einer anderen Bedrohung zu kämpfen. Wer immer diese Kali ist, dass sie sogar mit deinem Bruder zusammenarbeitet ist äußerst bedenklich.

 

Anya schluckte die Wut herunter, damit sie überhaupt sprechen konnte. „Erzähl mir was Neues, Einstein!“

Sie und Zachariah waren sich immer spinnefeind gewesen. Aber das … das hätte sie ihm nie zugetraut. Hasste er sie so sehr, dass er sie sogar eigenhändig töten würde? Oder konnte es sein, dass er fremdgesteuert wurde? Wie durch einen Pakt? Könnte es dort draußen einen Immateriellen geben, der nach Rache sann wegen der Geschichte mit dem Turm von Neo Babylon? Weil sie den einzigen Ausgang und damit Fluchtweg der Immateriellen raus aus dieser Welt zerstört hatte?

Was immer die Antworten darauf waren … niemand durfte von dem erfahren, was heute vorgefallen war, solange Anya sie nicht kannte. Schon gar nicht ihre Mum, Sheryl. Es würde ihr das Herz brechen.

Dieses Versprechen der Verschwiegenheit hatte sie Logan abringen können. Zugegeben, dafür, dass er etwas Übernatürliches miterlebt hatte, hatte er ganz schön gelassen reagiert. Auch wenn die vielen Fragen lästig gewesen waren, irgendwie hatte sie ihnen ausweichen können.

Vielleicht sollte sie sich wirklich irgendwann mit ihm duellieren. Wenn es ihr besser ging. Er schien kein schlechter Kerl zu sein, wirklich nicht.

„Tch, ich glaub ich spinne“, zischte sie genervt, „sag bloß …?“

Sie sah auf das D-Pad an ihrem Arm. Damit hatte sie zumindest einen Grund, vielleicht mal bei ihm vorbeizuschauen.

 

Er ist ein Lügner, Anya Bauer.

 

„Huh?“

Sie sah auf, aus Gewohnheit, weil sie früher immer Levriers Stimme von oben vermutet hatte. Auch wenn er damals nicht einmal einen durchsichtigen Körper besessen hatte.
 

Für einen Anfänger besitzt er erstaunliches Equipment. Das war kein einfaches Motorrad, sondern ein D-Wheel. Du weißt, wie wahnsinnig teuer diese Prototypen sind. Ich nehme ihm nicht ab, dass er ein, und ich zitiere dich, 'Kacknoob' ist.

 

„Was redest du für'n Quatsch, vielleicht will er Riding Duelist werden? Er scheint sich ja für so'n Kram zu interessieren“, raunte Anya gallig. „Ist doch gerade groß im Kommen.“
 

Glaubst du das wirklich? Dass er genau wusste, dass du das Duell nach Zachariah Bauers Attacke verlieren würdest, widerspricht seinen Aussagen. Du hast nicht bemerkt, dass seine Duel Disk modifiziert war, er schon.

 

„Hörst du jetzt auf damit!?“, pflaumte Anya ihren unsichtbaren Partner an und gestikulierte wie ein aufgestacheltes Huhn. „So'n Knopf da unten kann doch nur eins bedeuten, Hirni!“

Jetzt zuzugeben, dass sie den Effekt von [Noble Arms – Excaliburn II] gar nicht kannte, war Anya zu peinlich.

Was hatte Levrier bloß!? Wieso sollte Logan ihr etwas vormachen? Der war doch voll okay … für 'nen frechen Zwerg jedenfalls!

Sie wirbelte herum, fixierte sich auf das weiße Haus. „Denk dir lieber etwas aus, wie wir es diesen Pissnelken heimzahlen, wenn sie uns das nächste Mal über'n Weg laufen!“

Denn was Rachsucht anging, stellte eine Anya Bauer so'ne x-beliebige Kutten-Trulla locker in den Schatten. Nächstes Mal war Payday angesagt! Wehe, dieses Miststück vergriff sich in der Zwischenzeit an ihrer Duel Disk.

„... dann bist du toter als tot“, flüsterte Anya. Und meinte es bitterernst.

 

 

Turn 45 – Starring: Bonnie & Clyde 2.0

Der große Tag ist endlich gekommen. Valerie Redfield und Marc Butcher heiraten in der Livingtoner Kirche. Kurz vor der Zeremonie schaut Anya bei beiden vorbei und wünscht ihnen auf ihre ganz eigene Art alles Gute. Doch als es schließlich zum Ja-Wort kommen soll, zeigt sich, dass Anyas Wünsche nicht selten ins Gegenteil umschlagen. Denn die Zeremonie wird von niemand Geringerem gestört als …

Turn 45 - Starring: Bonnie & Clyde 2.0

Turn 45 – Starring: Bonnie & Clyde 2.0

 

 

Abigail Masters war vieles. Geduldig, warmherzig, rücksichtsvoll, nachsichtig, stets um das Wohl anderer besorgt. Allerdings sorgte Anyas geradezu frenetisches, hämisches Gelächter in diesem Augenblick dafür, dass Abbys Tugenden drohten, alsbald der Vergangenheit anzugehören.

Denn die hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, kein gutes Haar an Abbys eierschalenfarbenem, knielangen Kleid zu lassen. Die stand ratlos vor dem Innenspiegel ihres Kleiderschranks, in dem noch teilweise Abbys alte 'Kartoffelsäcke' hingen und wusste beim besten Willen nicht, was an ihrer Robe so verkehrt war.

„Es steht mir doch!“, betonte sie ärgerlich und zupfte an den gewellten Ärmeln. „Was hast du denn!?“

Anya, die auf Abbys Bett hockte, sah sich schelmisch in dem kleinen Zimmer um, das mit WWF-Postern regelrecht tapeziert und mit Bücherregalen überfüllt war. „Es sieht scheiße aus, Masters.“

„Tut es nicht!“

Abby wirbelte schnaufend zu ihrer besten Freundin herum, die sie nun eindringlich ansah und wesentlich direkter wurde. „Als hätte man Kotze zusammengekratzt und damit das Kleid eingefärbt!“

„Anya! Das sind keine Flecken, das muss so sein!“, meinte Abby und spielte auf die dunkler hervorstechenden Formen des Kleides an.

„Sagt 'Kroko Schrapnell'. Ich sage, das sieht aus wie hingekotzt!“

Mit geradezu infernaler Wut im Bauch stemmte Abby die Hände in die Hüften. „Und du!? Schwarzes T-Shirt, zusammengeflickte Lederjacke, Jeans … so geht man nicht auf eine Hochzeit!“

„Stimmt, -ich- gehe ja auch auf eine Beerdigung!“, stellte Anya klar und sprang auf. „Und zwar die des guten Geschmacks …“

„Selbst wenn ich mir ein neues Kleid kaufen würde, die Zeit dafür haben wir nicht mehr! Die Zeremonie fängt in zwei Stunden an!“ Abby schwang den Zeigefinger und hielt ihn drohend unter die Nase ihrer Freundin. „Und jetzt kein Wort mehr darüber! Du wirst dich in den nächsten Stunden vorbildlich benehmen, haben wir uns verstanden?“

Anyas zusammengekniffene Augen schrien geradezu das Nein heraus.

Also wurde Abby deutlicher: „Wenn die Trauung vorbei ist, plane ich, wie ein Schlosshund zu heulen, weil alles so schön und romantisch ist! Solltest du es wagen, das zu versauen, werde ich dich für den Rest deines Lebens glauben lassen, du seist ein sprechender Affe!“

 

„Kein Unterschied zu jetzt“, hallte es hinter der geschlossenen Tür, „denk dir was Besseres aus.“

Zanthe, der nicht in Abbys Refugium geduldet wurde, solange diese sich umzog – trotz etlicher Betonungen seiner Homosexualität – fühlte sich wie im falschen Film. Er trug einen geliehenen, schwarzen Anzug. Nur sein blaues Kopftuch hatte er sich nicht nehmen lassen, trotz der Proteste von allen Seiten – Abby-Nord, Abby-Süd, Abby-Ost und Abby-West.

Wenn es nach ihm ging, könnte jeder so zu dieser Hochzeit antanzen wie er es wollte. Ihm bedeuteten irgendwelche Dresscodes ungefähr so viel wie Anya sich für die Evolution der Prärielibellen interessierte. Leider hatte in dieser Hinsicht Abby das Sagen und machte schon den ganzen Tag allen das Leben schwerer, als es ohnehin schon war.

„Mal sehen, wie lange das noch dauert“, murmelte er ärgerlich, „kann sich ja nur um Stunden handeln. Man sollte meinen, -sie- ist das Brautmonster …“
 

„Halt die Fresse, Fellknäuel“, schnauzte derweil Anya und funkelte Abby böse an, „wenn ich Bock hab die Party zu sprengen, werde ich das auch, 'kay!?“

„Sprechender Affe! Keine Diskussion mehr!“

Schwungvoll schwang die Sirene, die ihr Haar offen trug, den Arm aus und zeige auf das große, quadratische Geschenk auf ihrem Schreibtisch. Entgegen allgemeiner Annahmen hatte Valerie darauf verzichtet, vorher eine Hochzeits-Party zu veranstalten, weshalb die Geschenke nun nach der Trauung während der Feier auf dem Redfield-Anwesen abgegeben werden sollten. „Ich hoffe, du hast auch etwas für die beiden!“

Der Versuch, Anya von Thema Hochzeits-Crasher abzubringen, war leider vergebens. Denn die begann plötzlich voller boshafter Vorfreunde zu grinsen.

„Noch nicht. Aber wer weiß, vielleicht backe ich ihr noch schnell einen Kuchen“, überlegte sie.

„Lieber nicht“, erwiderte Abby skeptisch.

„Warum?“

Anyas angespannte Mundwinkeln, die es nicht gewöhnt waren, mal nicht bis zu den Kniekehlen zu hängen, hatten ernsthafte Schwierigkeiten, sich in ihrer ungewohnten Lage zurecht zu finden. Es war doch so simpel. Wenn Redfield auch nur ein Stück ihres Super-Special-Sonder-Kuchens probierte, würde aus ihrer Hochzeit die Neuverfilmung von Schneewittchen werden. Wohlgemerkt ohne Happy End. Das Teil war stark genug, um Chuck Norris ins nächste Leben zu schicken.

„Nein“, flüsterte Abby leise, aber bestimmend, „kein Kuchen. Nicht von dir. Also, hast du ein Geschenk?“

„Ja“, brummte Anya langgezogen und schicksalsergeben. Was hatte sie auch anderes erwartet?

Abby mochte zwar jetzt aussehen wie ein Heidi Klum-Klon, aber an ihrem Spaßbremsen-Charakter hatte sich wenig geändert. „Geb's den beiden nachher irgendwann.“

Die Chefsirene nickte streng. „Gut. Dieser Hochzeit wird nichts im Wege stehen!“

 

~-~-~

 

Knapp eine Stunde später hatten sich bereits allerlei Gäste vor der kleinen Kirche eingefunden, welche am Stadtrand lag und von Bäumen umringt war. Im Kontrast dazu stand das beeindruckte Fahrwerk der Gäste, das am Straßenrand kaum Platz fand.

Zusammen mit Sheryl, Abbys Eltern und einigen Geschwistern schritten Anya, die Chefsirene und Zanthe auf das Bauwerk zu. Damit Anyas Lüge bezüglich ihres 'Haustiers' nicht aufflog, hatte sie extra vorher die Masters eingeweiht und um Kooperation gebeten mit dem hoch und heiligem Versprechen, für eine wohltätige Organisation zu spenden. Später. Irgendwann vielleicht.

Vor dem Eingang hatte sich eine kleine Schlange gebildet, was daran lag, dass die Gäste rigoros von muckibeladenen Männern in Schwarz kontrolliert wurden.

 

Als Anya dann noch sah, wer das Schlusslicht besagter Schlange bildete, verging ihr endgültig die Lust an dieser seltendämlichen Hochzeit.

„Oh, Pennerkind“, raunte sie, als die Gruppe aufgeschlossen hatte, „wie absolut unschön, dich zu sehen. Was machst du hier? Redfield kann dich nicht ausstehen.“

Jener, in feinstem schwarzen Anzug gekleidet, drehte sich zusammen mit seiner Schwester Melinda, die in Weiß daher kam, wenig begeistert um.

„Die ist auch eingeladen?“, flüsterte er seiner Begleiterin missmutig zu.

Die brünette Frau stieß ihm als Antwort strafend den Ellbogen in die Rippen. Als Anya sie das letzte Mal gesehen hatte, waren ihre Haare noch kürzer. Diesmal lagen sie ihr schon lang über den Rücken. Im Gegensatz zu Henrys, welcher sie seit je her relativ kurz trug. Diesmal sogar zu einem Scheitel gegelt. Anya bekam Brechreiz bei seinem Anblick.

„Schön euch zu sehen“, begrüßte Melinda Anya und umarmte Abby, „lange ist es her.“

Als sie Anya ebenfalls umarmen wollte, starrte diese ihr Gegenüber nur einen Moment lang aussagekräftig an, um Melinda zum Umdenken zu 'überreden'. Stattdessen musste ein Händeschütteln reichen.

Auch Zanthe wurde nicht ausgelassen, der sofort fragte: „Ihr kennt euch?“

„Aus dem Turm“, erklärte ihm Anya mürrisch.

Es folgte ein kurzes Gespräch, in dem Zanthe sich vorstellte. Abby indes versuchte erfolglos, Henry anzuflirten, doch der stierte übel gelaunt geradeaus an ihr vorbei und trat schließlich vor, um seine und Melindas Einladung und vorzuzeigen.

„Was ist denn mit ihm los?“, wunderte sich Abby getroffen darüber, ignoriert und keines Blickes gewürdigt zu werden, obwohl sie sich nicht zuletzt extra für ihn so rausgeputzt hatte.

„Probleme mit der Firma“, erklärte Melinda, „die AFC will expandieren und Henry soll dafür nach Europa. Davon hat er erst heute morgen erfahren.“

Henry zischte böse: „Das sind Firmen-Interna, Melinda.“

„N-nach Europa?“, horchte Abby sofort hoffnungsfroh auf. „Etwa nach Großbritannien!?“

„Bulgarien“, ließ sich seine Schwester nicht von Henry zurechtweisen, „mein kleiner Bruder hat Angst davor. Dort soll er nämlich außerdem mit einem Experten an einem Konkurrenzprodukt für Duel Monsters werkeln. Daran soll gemessen werden, ob er fähig ist, die Firma zu übernehmen.“

Der fauchte nun regelrecht. „Melinda, halt dich bitte zurück!“

„Als ob mich das interessieren würde“, brummte Anya mürrisch.

Abby warf ein: „Wir werden mit diesen Informationen natürlich vertraulich umgehen. Stimmt's, Anya?“

„Wie ich sagte … uninteressant.“

Henry schnaufte nur, während Melinda diebisch grinste. Scheinbar war sie ein kleines Plappermaul, wenn sie nicht gerade vor Dämonen flüchtete. Sie ging sogar noch weiter. „Eigentlich wollte Henry lieber die Veröffentlichung der neuen Duel Monsters-Karten übernehmen, aber da wurde ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte sogar eigene Ideen, aber die wurden abgeschmettert.“

„Ahja, davon habe ich gehört. Die werden doch kurz vor dem Start dieses Turniers nächsten Monat vorgestellt, oder? Sind sie denn da schon zugelassen?“, fragte Abby neugierig.

Melinda nickte. „Jup. Wir wollen sehen, wie sie dort ankommen, ob sie schon erfolgreich gespielt werden. Das ist gute Publicity. Hoffe ich zumindest.“

Ihr jüngerer Bruder schüttelte nur noch schicksalsergeben den Kopf. „Hörst du bitte auf, das alles auszutratschen, Melinda?“

„Schon gut.“ Beleidigt drehte sie sich von Abby und Anya weg, nur um doch noch einmal über die Schultern zu sehen und zu zwinkern. „Hätte Paps Henrys Idee genommen, wäre er jetzt nicht so stinkig!“

Anya selbst hatte auch von diesen neuen Karten gehört, konnte sich aber nicht einmal an deren genauen Namen erinnern. Nur irgendwas mit Pendeln. Also völlig uninteressant.

„Geht's dir auch gut, Anya?“, hallte es hinter der Blondine.

Ihre Mutter Sheryl unterhielt sich nebenbei mit Abbys Eltern, die von ihrer Tochter ordentlich eingekleidet worden und nur noch ein Schatten ihrer Hippieselbst waren.

„Ja, Mum …“

Schließlich wurden Henry und Melinda herein gelassen, sodass es nun an Abby war, die Formalitäten zu regeln.

 

Keine fünf Minuten später watete die Gruppe durch die Kirche, was nur möglich war, weil Abby bei Valeries Personal ein gutes, sehr sirenisch angehauchtes Wort einwarf, welches Anya der Hochzeit aufgrund ihrer geschmacklosen Aufmachung frühzeitig verweisen wollte.

Es ging durch einen etwas größeren Vorraum, von dem links und rechts weitere Vorbereitungsräume abgingen. Sogar ein kleiner Stand der Aktion „Bekämpft Brustkrebs!“ war hier aufgebaut, da Valerie die Gelegenheit nutzte, für besagte Sache Spenden zu sammeln. Von da aus ging es dann auch schon direkt in die eigentliche Kirche, die zwar nicht die größte war, aber immerhin noch Platz für die etwa hundert geladenen Gäste bot.

 

Die meisten Sitze waren bereits besetzt und die, die noch frei waren, waren rigoros ausgeschildert. Während vorne die Familienmitglieder und engsten Freunde der Eheleute Platz fanden, waren die hinteren Ränge für ehemalige Klassenkameraden, Lehrer und Arbeitskollegen reserviert. So entdeckte Anya sofort mindestens zehn Leute, die sie an Ort und Stelle ordentlich verdreschen würde. Aber sie hatte Abby auf dem Hinweg geschworen, diesmal wirklich überhaupt nichts anzustellen. Das galt aber nur für die Zeremonie, nicht danach!

„Macht euch schon mal frisch, ihr Kackratten“, raunte sie boshaft im Vorbeigehen an der Reihe mit ihren Ex-Klassenkameraden, von denen einige deutlich sichtbar zusammenzuckten.

„Hier trennen sich unsere Wege. Ihr sitzt ja weiter vorne“, meinte Sheryl derweil, die ein weißes Kostüm trug und leitete die Großfamilie Masters zu den hinteren Sitzen der rechten Reihe.

„Ja ja“, winkte Anya ab.

Zu Dritt ging es noch weiter vorwärts, wobei Anya sich umsah. Alles war ausgeschmückt mit weißen Blumenkränzen und dergleichen, aber trotzdem wirkte es nicht aufdringlich überdekoriert. Halt eine ganz normale Kirche bei einer Hochzeit. Ekelhaft …

„Hier vorne“, meinte Abby und zeigte auf zwei freie Bänke in der ersten beziehungsweise zweiten Reihe rechts, „das ist unsere.“

 

Auf der hinteren saßen bereits Melinda und Henry. Neben ihnen waren noch mindestens drei Plätze frei, einen davon belagerte sogleich Zanthe. Dagegen war die vordere Reihe noch fast leer. Bis auf Nick, der in einem … recht ungewöhnlichen Aufzug daher kam, saß dort keiner.

„Huch! Nick, wie siehst du denn aus!?“, begann Abby sofort zu zetern. „Pink!?“

„Ich kann nichts dafür, Mum hat ihn ausgesucht!“

„Oh, du elendes Muttersöhnchen! Da unterbrechen Valerie und Marc ihr Studium, um ganz romantisch in ihrer alten Heimat zu heiraten und DU …“

Den aufkommenden Streit nahm Anya als Gelegenheit wahr, sich von den anderen abzukapseln. Bis zur Zeremonie war ohnehin noch etwas Zeit. „Ich geh mal schnell wohin.“

Ehe Abby reagieren konnte, eilte Anya davon.

 

Sie schnellte in den Vorraum der Kirche zurück und ignorierte gekonnt Valeries Stand. Ihr Blick wanderte nach rechts, wo sich zwei Türen befanden. Eine davon war der Vorbereitungsraum des Bräutigams, also Marcs. Auf diesen schritt sie zu.

Das Mädchen verharrte vor der Tür und atmete tief durch. Ohne es sich eingestehen zu wollen, kostete es sie durchaus Einiges an Überwindung, Marc gegenüber zu treten.

Er war der Erste gewesen, für den sie Gefühle entwickelt hatten, die über ihr übliches Repertoire von absoluter Abneigung, über Missgunst hin bis maximal Freundschaft hinaus reichten. Dieses eine Gefühl beim Namen zu nennen, das kam für sie nicht mehr infrage.

Heute war sie darüber hinweg, dass er sich für Valerie entschieden hatte. Die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte einfach, ganz anders als zwischen ihr selbst und Marc. Und Anya war ihre damalige, regelrechte Besessenheit gegenüber Marc mittlerweile fast peinlich.

Doch trotzdem … jetzt da rein zu gehen hieß, ihre erste Dingsda endgültig loszulassen.
 

„Ach scheiß darauf, ich geh da jetzt rein und beende den Mist“, knurrte sie, da sie das Limit ihrer Melancholie bereits weit überschritten hatte.

Kurz klopfte sie an, wartete gar nicht erst auf eine Reaktion und öffnete die Tür.

Marc, der den Mund bereits geöffnet hatte, stand direkt vor ihr in dem kargen Zimmer, das nur aus einer Kommode, einem Schrank und einem Vorstellumhangding bestand, wie Anya es eher weniger treffend bezeichnete.

„A-Anya“, stotterte Marc verdutzt.

Er trug einen schwarzen Anzug, passend zu der Farbe seines Haars und darunter ein weißes Hemd samt Krawatte. In der Brusttasche seines garantiert sündhaft teuren Fummels steckte eine einzelne, rote Rose. Anya musste den Würgreflex unterdrücken, auch wenn seine kräftige Figur durchaus ansprechend war.

„Hey, Butcher!“, quasselte sie los und schlug ihm im Vorbeigehen zur Begrüßung fest auf die Schulter. „Wollte nur mal schauen, ob du schon kalte Füße bekommen hast.“

„Valerie hat unter den Gästen Bodyguards versteckt. Wenn du irgendetwas planst, wird sie nicht zögern, dich von der Trauung zu entfernen“, erwiderte Marc irritiert, kratzte sich am Kinnbart.

Anya wirbelte um und verzog ärgerlich das Gesicht. „Was du nicht sagst? Hätte ich mir ja denken können, Redfield denkt wirklich an alles!“

Die beiden sahen sich an. Und lachten … nicht. Marc lachte, Anya schnaubte. „Sehr witzig, Butcher!“

„Einen Versuch war es wert“, meinte er schulterzuckend, „sie hat mich gewarnt, dass du vorbeikommen würdest, daher sollte ich dir das mitteilen.“

Hochnäsig verschränkte Anya die Arme. „Stehst wohl unter ihren Pantoffeln, was?“

Marc rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Total.“

„Mein Beileid.“ Anya griff in die Innentasche ihrer zusammengeflickten Lederjacke und zog eine der drei verbliebenen Karten heraus, die sie vom Sammler erhalten hatte. „Im Ernst. Ich wollte dir eigentlich das hier geben. Ist'n Hochzeitsgeschenk. Sorry, mehr kann ich mir nicht leisten.“

Erstaunt nahm Marc die Karte entgegen. „Danke?“

 

Anya hatte sich dazu entschlossen, die vier Karten an ihre Freunde zu verteilen. Valerie würde auch gleich noch eine bekommen, womit nur noch eine übrig wäre. Zwar hatte sie noch keine Idee, wem sie die letzte schenken würde, aber das konnte ruhig warten.

Zumindest hatte sie damit gleich eine Ausrede parat, kein Geld ausgeben zu müssen. So wurde sie die Teile wenigstens los. Aber nur, weil sie sie selbst ohnehin nicht benutzen konnte!

 

„Die ist ziemlich stark“, stellte Marc beim Lesen des Effekttextes fest, „bist du dir sicher, dass du die so einfach hergeben willst?“

Sein Gegenüber rollte genervt mit den Augen. „Nein, das Ganze ist nur ein Riesengag. Da ist ein Fernzünder drin, mit dem ich euch in die Luft jagen werde, sobald ihr euch das Kotz-Wort gebt! Natürlich ist das mein Ernst!“

„Dann … danke“, wiederholte sich Marc.

„Kein Ding“, wiegelte Anya genervt ab und schritt an ihm vorbei zur Tür, „das war's schon, mehr wollt' ich eh nicht. Jetzt werde ich erstmal Redfield die Laune verderben.“

Die Tür öffnend, hörte sie Marc hinter sich sagen: „Pass lieber auf, dass sie dir nicht die Laune verdirbt.“

Anya wirbelte um, grinste breit. „Mach dir da mal keine Sorgen! Übrigens, wenn sie dich jemals betrügen sollte, bei mir Zuhause ist noch ein Zimmer frei.“

Eins, das Zanthe sofort 'räumen' würde, sollte es jemals dazu kommen, fügte Anya noch in Gedanken hinzu. Auch wenn sie der Gedanke nicht wirklich reizte. Anscheinend war sie wirklich über ihn hinweg.

„Danke, aber nein“, bestätigte er dies ehrlich, „und ich weiß, dass Valerie die Letzte ist, die so etwas tun würde.“

„Dann ist ja alles gut!“, erwiderte Anya zu ihrer eigenen Überraschung erstaunlich vergnügt für den eiskalten Korb, den sie sich eben noch einmal eingefahren hatte. „Viel Spaß beim Heiraten noch!“

Und schwupps war die Tür zu, das Kapitel Marc endgültig im Papierkorb und Anya bereit, ihrer Erzrivalin mächtig in die Suppe zu spucken. Denn kein Mann der Welt würde ihr dies je nehmen können!

 

Stolz wie Oskar stampfte sie durch den Vorraum, ignorierte erneut den aufdringlich direkt in dessen Mitte positionierten Stand und ging einmal quer herüber zur anderen Seite, wo ebenfalls zwei Türen waren. Eine unmissverständlich ausgeschildert mit dem Hinweis: „Ankleide Braut“.
 

„Ring frei“, gurrte Anya voller grimmiger Vorfreude und riss erstmal das Schild ab, welches sie unauffällig hinter einem neben der Tür in der Ecke stehenden Blumentopf verschwinden ließ.

Mit Schwung stieß sie die Tür auf und verschaffte sich ungebeten Einlass in Valeries Ankleide.

Die stand direkt vor ihr, hinter ihr Caroline Mayfield, ein honigblondes, etwas blasses Mädchen, das ein wenig jünger als Valerie war. Gerade war sie dabei gewesen, den Reißverschluss von Valeries Hochzeitskleid hochzuziehen, das erstaunlich schlicht daher kam. Schulterlos, reichte es ihr knapp bis zu den Schuhen.

„Tach, Redfield!“, grüßte Anya ihre ewige Rivalin locker und sah sich um.

Der Raum sah fast genauso aus wie der von Marc, grau, mit einem Tisch in der Ecke, ein paar Stühlen einer Kommode und noch so einem Vorstellumhangding in der anderen.

Knallrot im Gesicht, bedeckte die schwarzhaarige Valerie, die sich gegen einen Brautschleier entschieden hatte – war doch nirgendwo einer zu entdecken – das üppige Dekolletee. „Anya! Was soll das, warum platzt du einfach ohne anzuklopfen hier rein!? Hast du denn gar kein Fünkchen Manieren!? Oh, entschuldige, was frage ich überhaupt!?“

Anya zuckte unbedarft mit den Schultern und schritt auf Valerie zu. „Hab dich nicht so, Redfield. Deine Euter interessieren mich nicht. Eigentlich bin ich nur gekommen, weil ich mich an einen alten Hochzeitsbrauch erinnert habe.“

„Achso?“, horchte Valerie skeptisch auf. „Und der wäre?“

„Na etwas Blaues. Du brauchst dringend noch etwas Blaues“, antwortete Anya mit schelmischer Boshaftigkeit, „mit Marc hast du ja schon was Altes. Was Geliehenes? Naja, das Kleid sieht aus, als hättest du es aus einem Klamottencontainer gestohlen. Was Neues kriegst du gleich noch von mir. Aber erst das Blaue.“

Valerie seufzte, wahrte ihre Beherrschung meisterlich. „Blaue Augen zählen nicht, Anya. Aber danke für die 'gut gemeinte Geste'.“

„Pft, hätte ja klappen können. Es hätte dich nichts gekostet, ehrlich!“

„Ich habe schon etwas Blaues“, erwiderte Valerie und legte die Finger auf den saphirblauen Anhänger, den sie um den Hals trug, „von meiner Oma.“

„Im Ernst?“ Anyas frecher Ton legte sich ein wenig. „Die, die an Krebs gestorben ist?“

„Genau. Aber woher weißt ausgerechnet du das?“

„Abby ist 'ne Quasselstrippe.“

Valerie sah Anya dennoch ziemlich überrascht an. „Das ist so viele Jahre her. Und du merkst dir so etwas?“

Sich mit dem Finger gegen die Stirn tippend, streckte Anya stolz die im direkten Vergleich zu Valerie kerzengerade Brust hervor. „Klar! Ansonsten könnte ich wohl kaum Rache an den ganzen Trotteln nehmen, die mir ans Bein pinkeln.“

„Das ist wohl wahr, nachtragend sein war schon immer deine Spezialität.“

 

„Ja ja, erzählt mir was Neues“, versuchte Anya, das Thema mit einem Male abzuwürgen, „hey, Psychopissnelke, schieb' deinen Arsch mal eben nach draußen, ich hab was mit Madame persönlich zu klären!“

Caroline sah Anya dermaßen verschreckt an, als hätte die soeben ihre lange geplante Weltherrschaft verkündet. Sie wusste genau, worauf die Blondine anspielte. Auf Victim's Sanctuary, der Irrenanstalt, in der sie kurze Zeit eingeliefert und in der seltsame Dinge geschehen waren.

„Schon gut“, streichelte Valerie ihr sanft die Schulter, „wenn sie mir was tun will, werde ich ihr schon Manieren beibringen.“

„Tch, das will ich sehen!“, schnaubte Anya und verschränkte die Arme.

Stumm nickte Caroline, zog Valeries Reißverschluss ganz zu und verließ kommentarlos, sofern das Stampfen nicht zählte, das Zimmer.

 

Kaum waren die beiden alleine, löste Anya ihre überhebliche Haltung, griff in ihre Jackentasche und reichte Valerie die Karte des Sammlers. „Da, für dich. Das Neue, das ich dir versprochen habe.“

Valerie machte keinen Finger krumm. Man sah ihr förmlich an, dass sie das Ganze für einen Scherz hielt und erwartete, in irgendeine Falle zu tappen. Anya Bauers Geschenke waren nichts, was man sich wünschte.

„Was? Nicht gut genug für dich?“, schnappte die beleidigt. „Hab kein Geld für teuren Bling Bling und selbst wenn, würde ich dir nix Dergleichen kaufen!“

„Nein, es ist nur … komisch“, erwiderte Valerie und nahm ihr die Karte zögerlich ab. „Danke. Vor einem Jahr hättest du mir noch die Augen ausgekratzt.“

Anya winkte mit erhobenem Geruchsorgan ab. „Marc interessiert mich nicht mehr. Trotzdem, wenn du ihn schlecht behandelst, werde ich dir weitaus mehr auskratzen als nur die Augen.“

„Das würde ich nie tun“, beteuerte Valerie.

„Tch, natürlich nicht, Mutter Theresa Incarnate!“ Anya kehrte ihr den Rücken zu. „Na denn, ich gehe dann mal zurück zum Publikum. Ich warne dich, Redfield …“

„Wovor?“

„Nick hat ein Handy reingeschmuggelt und er wird es definitiv benutzen, wenn deine Möpse aus diesem engen Teil hüpfen.“ Anya kicherte bösartig. „Also sei vorsichtig, denn wenn ich die Bilder in die Finger bekomme – und das werde ich – wirst du bald eine neue Karriere starten. Als Playgirl. Freu' dich, solange diese Dinger noch von der Schwerkraft unabhängig sind, Redfield. Gott, wie ich den Tag herbeisehne, an dem sie nur noch hängende Schläuche sein werden…“

„Da wirst du lange warten. Und wenn ich mich dafür unters Messer legen muss, nur um dir den Lebenshorizont zu verderben.“ Valerie grinste neckisch.

Zufrieden mit sich, abschließend noch einmal ein paar fiese Sprüche über Valeries Hupen abgelassen zu haben, stolzierte Anya aufrecht aus dem Zimmer und hinterließ eine glucksende Valerie. Die keine Sekunde später, als die Tür ins Schloss fiel, an ihrem Dekolletee zu zupfen begann.

 

Nun hatte sie alles erledigt, was es zu erledigen galt. Damit visierte sie wieder die Richtung des Trausaals an, doch nicht, ohne vorher beim Stand anzuhalten. Die Dame, die dahinter stand, strahlte freundlich.

„Na ausnahmsweise …“, knurrte Anya und steckte einen Dollarschein, den sie aus ihrer Hosentasche gezupft hatte, in die Dose. „Mehr hab ich nicht.“

Wenigstens war jetzt auch gleich das Versprechen an die Masters eingelöst worden.

„Vielen Dank. Damit-“

Aber die Blondine interessierte sich gar nicht weiter für das Gewäsch der Frau und eilte zurück zu ihrem Platz. Dabei huschten einige Gäste an ihr vorbei Richtung der Ankleideräume, von denen Anya Anthony, Marcs Trauzeugen, erkannte und Mr. Redfield, Valeries Vater.

 

Schließlich nahm Anya zwischen Nick und Abby Platz.

„Wo warst du solange!?“, ging das Theater gleich los.

„Hey, die beschissene Hochzeit hat doch noch gar nicht angefangen!“, verteidigte sich Anya auf Abbys vorwurfsvollen Tonfall hin.

„Aber sie wird es jeden Moment!“ Die Sirene gab einen wütenden Schnaufer von sich. „Und ist dir übrigens was aufgefallen?“

Was ihre Freundin mit einem lahmen Kopfschütteln beantwortete. Abby zeigte daraufhin auf die beiden Bänke, wo sie und der Rest saßen. „Ganz schön viel Platz übrig, meinst du nicht?“

Jetzt bemerkte Anya es auch. Da fehlte jemand! „Die Narbenfresse und Summers!“

„Genau. Ich weiß hundertprozentig, dass beide eingeladen worden sind. Valerie hat's mir gestern bei der Generalprobe erzählt. Wie können die es wagen, nicht mal geantwortet haben diese … diese-!“

„Vielleicht irgendwelches dringendes Dämonenjäger-Business?“, warf Nick schulterzuckend ein.

Was Anya daran erinnerte, dass sie schon vor Wochen daran gescheitert war, Kontakt mit den beiden aufzunehmen. Irgendwie gefiel ihr das nicht.

 

Einige Minuten später trat der Pfarrer hinter den massiven Holzaltar. Marc und Anthony stellten sich ebenfalls mit Händen vor dem Bauch gefaltet zu dessen Rechten vor den Altar. Das war der ultimative Startschuss, das Gemurmel verstummte nach und nach. Die Gäste saßen und sahen sich gespannt nach hinten um, als der Hochzeitsmarsch plötzlich einsetzte. Gespielt von einer Live Band in einer der Ecken des Saals.

Die Flügeltüren öffneten sich. Zunächst traten die Familienmitglieder der zukünftigen Eheleute ein und schritten an den Bänken vorbei, sans der Eltern von Valerie. Danach folgte Caroline und verstreute aus einem Korb weiße Rosenblätter. Als sie fertig war, nahm sie an der Seite vor den Bänken Platz, direkt vor Abbys Nase – die schon anfing zu triefen.

„Sie hat alles bis ins letzte Detail geplant“, schluchzte die junge Frau bereits mitgerissen.

Dann kam sie – die Braut. Valerie schritt herein, am Arm ihres Vaters eingehakt. Sie strahlte wie ein Feuerwerk, hielt ihren Brautstrauß fest umschlungen. Langsam, aber zielsicher steuerte sie auf den Altar zu, dabei einzig und allein Marc anlächelnd.

Als die beiden sich gegenüberstanden, begann der Pater zu sprechen: „Wir haben uns heute hier eingefunden …“

Und Anyas Gehirn schaltete automatisch ab.

 

Bla bla … zwei junge Menschen … bla bla, Bund der Ehe … Pflichten der Ehe … Gottes Wille … wie öde. Das Mädchen drohte fast wegzunicken, doch ehe das geschah, rammte eine bereits tränennasse Abby ihr den Ellbogen in die Hüfte. Genau im rechten Moment.

 

Die Anspannung war zum Greifen nahe. So sehr, dass Valerie tatsächlich verkrampfte und derart gerade stand, dass Anya schon hoffte, ihre Erzrivalin würde jeden Moment in der Mitte durchbrechen. Aber auch Marc war nervös, rieb er die ganze Zeit die Stelle an Valeries Ringfinger, welche es zu 'besetzen' galt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich das, worauf jeder der Anwesenden gewartet hatte. Der Pfarrer vor dem Alter fragte: „Wer nun etwas gegen diese Eheschließung einzuwenden hat, möge nun das Wort erheben oder für immer schweigen.“

 

Kein Mucks von dir, Anya Bauer!
 

Was Levrier aussprach, setzte ein gefühltes Heer an Augenpaare in eine derart stechende Sprache um, wodurch Anya fürchtete, einen ganzen Bienenschwarm im Nacken zu haben. Angeführt von Königin Abby, die sie mit ihrem Blick tatsächlich versuchte zu enthaupten, so schien es.

„Ist ja gu-“, zischte Anya, doch wurde sie darin glatt unterbrochen.

Mit einem lauten Knarren schwangen die Türen der Kapelle auf, die geladenen Gäste wirbelten erschrocken um.

„Ich denke, ich erhebe Einspruch“, hallte die Stimme einer jungen Frau über die Schwelle.

Neben ihr stand ein hochgewachsener Mann, bewaffnet mit einer Schrotflinte, die er an die Schulter angelehnt hielt. „Die Party ist vorbei, Freunde.“

Es knallte. Zwar hatte der Rothaarige nur an die Decke geschossen, doch die Wirkung war groß. Sofort sprangen die ersten Gäste schreiend auf.

„Anya, was hast du-!?“, polterte Valerie noch darüber hinweg, um dann vom Knall zu verstummen.

„Ehrlich, damit hab ich nichts am Hu-!“, schwor die ebenso lautstark, ehe das Krachen ihr das Wort abschnitt.

Valerie und Marc standen völlig entgeistert vor den Altar, nicht wissend, was sie tun sollten.

Die dunkelhäutige Frau, die einen ganzen Kopf kleiner war als ihr Begleiter, zückte plötzlich eine weiße Karte aus der Brusttasche ihrer Jeansjacke und flüsterte, als sie jene in ihre seltsam anmutende, inaktive Duel Disk rammte: „Azoth!“

Im nächsten Moment fielen die Gäste reihenweise um beziehungsweise sackten auf ihren Plätzen in sich zusammen. Nur das Brautpaar blieb wundersamerweise unberührt.

„Was geht hier … vor?“, murmelte Valerie tonlos.

„Wir haben gehört, hier wird eine Monsterparty gefeiert. Und da dachten wir es wäre nett, euch Freaks einen kleinen Besuch abzustatten“, erklärte der Rothaarige grinsend und legte seine Waffe an, gezielt auf Marc.

„Harris! Da!“, nickte seine Kumpanin zu der ersten beiden Reihen. Da saßen nämlich doch noch einige Gäste aufrecht.

 

Anya, Zanthe, Abby, Melinda und Henry, um sie beim Namen zu nennen. Nick lag ebenfalls schnarchend auf dem Boden, ganz zum Ärgernis der Allgemeinheit.

„Da haben wir ja unsere Ziele. Ich kümmere mich um sie!“, rief die junge Frau sofort aus und aktivierte die schwarze Duel Disk an ihrem Arm.

„Abby! Das sind Dämonenjäger“, wandte sich Anya geistesgegenwärtig an ihre Freundin. „Die wollen uns fertig machen! Mach sie fertig! Einmal Sirenpower zum Mitnehm-!“

Die Blondine war noch gar nicht fertig mit ihrem Satz, da rammte die Afroamerikanerin schon eine weitere weiße Karte in ihre Duel Disk. „Restrain!“

Aus einer schnabelartigen Öffnung unterhalb des Deckfachs schossen dutzende DNA-ähnliche Stränge, die sich in unglaublicher Geschwindigkeit im ganzen Saal verteilten und durch die Luft glitten. Dann gingen sie wie ein Regen aus Pfeilen auf die Gruppe nieder. Abby wurde sofort wie eine Mumie umwickelt, Anya hingegen wich mit einem Hechtsprung nach vorne aus, wobei sie aber mitten im Fall von weiteren Spiralen erwischt und gefangen genommen wurde. Parallel dazu stützte sich Zanthe an der Sitzbank ab, und machte mit Schwung einen astreinen Sprung nach hinten, wobei er ebenfalls sofort wieder erfasst wurde, aber mit einem Radschlag über die bewusstlosen Gäste unter ihm auch diesem Angriff auswich.
 

Valerie und Marc sahen staunend zu, wie es Zanthe gelang, die lebenden Fesseln abzuhängen.

„Obacht!“, stieß Valerie erschrocken hervor, als auch sie anvisiert wurden – und die Dinger mitten in der Luft an einer unsichtbaren Mauer zerschellten. Unbemerkt vom Beinahe-Ehepaar leuchteten deren Decks rot beziehungsweise blau auf.

„Was zum Teufel!?“, stand der Dämonenjägerin der Mund offen. „Was war das denn!?“

„Edna, der Werwolf ist ein Problem!“, meinte Harris derweil.

Zischend drehte sich seine Partnerin um, riss ihm die Schrotflinte aus der Hand und schoss einfach auf Zanthe. Der konnte zwar mit einem Sprung nach hinten ausweichen, aber sie hatte erreicht was sie wollte. Da er den Schuss nicht hatte kommen sehen, war seine Aufmerksamkeit für einen Moment von den Strängen abgelenkt, die ihn nun erfassten und lahmlegten. Mitten im Gang knallte er wie eine aus dem Sarkophag gefallene Mumie auf den Boden. Aus den Augenwinkeln sah der Umwickelte Melinda und Henry, die noch vor allen anderen lahm gelegt worden waren.

 

„Was um alles in der Welt“, stammelte Valerie und wurde mit einem Schlag sehr, sehr laut und sehr, sehr böse, „wollt ihr von uns!? Wieso-ruiniert-ihr-unsere-Hochzeit!?“

„Nur noch die beiden sind übrig“, meinte Edna zu Harris trocken, ging gar nicht weiter auf das langsam entstehende Brautmonster ein, „mit denen werden wir auch so fertig.“

„Heute kriegen wir 'nen ganzen Bus voll.“ Der Rothaarige, der ziemlich prollig daher kam mit Goldkette, gelbem Muskelschirt und Tattoos an beiden Armen, grinste siegessicher. „Der Informant hat nicht gelogen, so viele hatten wir noch nie auf einmal.“

„Daran siehst du, wie viele von denen unter uns sind“, raunte Edna, „schlimmer noch, schau sie dir an. Von denen sind nur zwei richtige Dämonen.“

Damit spielte sie auf die Farben der Stränge an, die bei Zanthe und Abby rötlich-pink, bei den anderen Gefangenen blau-violett glühten.

„Das sind alles Paktträger. Freiwillige Dämonen …“

„Ghgngagggnn!“, maulte Anya unter ihrem Knebel und versuchte sich wie eine Raupe aufzubäumen. Übersetzt hieß das so viel wie: „Wir waren mal welche, ihr Pissnelken! Und jetzt lasst mich frei, bevor ich eure Köpfe vom Körper schraube und damit Basketball spiele!“

„Wir waren mal welche, aber das ist lange her!“, übernahm Marc das für sie und stellte sich schützend vor Valerie. „Ihr seid also Dämonenjäger? Wusste nicht, dass außer Alastair noch andere so extrem drauf sind.“

Auch sein Ton wurde rauer. „Wenn ihr schon hier einbrecht und mal eben unsere Gäste angreift, seid ihr uns wenigstens eine Erklärung schuldig! Also los!“

 

Der böse Blick Ednas ließ ihn insgeheim erschaudern. Die sah mit ihren vollen, verzogenen Lippen aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Generell erweckte die ganz leger gekleidete junge Frau mit den zusammengebundenen Rastersträhnen nicht den Eindruck, überhaupt zu wissen, wie man lächelte.

„Wir sind euch 'nen Scheißdreck schuldig. Erklärt's euch selbst!“, fauchte Edna zurück. „Euresgleichen dulden wir nicht!“

„Das klingt weniger nach Dämonenjagd, sondern mehr nach Rassismus“, warf Valerie klamm ein, „um was geht es euch hierbei eigentlich? Werdet ihr für unsere Köpfe bezahlt?“

Plötzlich richtete die schwarzhaarige Jägerin ihre Waffe auf Valeries Haupt. „Ganz ruhig, Zuckerprinzessin. Reiz mich nicht, okay? Sonst wird aus der Hochzeit ganz schnell eine Bestattung.“

„Lass das, Edna.“ Mit einem Ruck riss Harris ihr die Waffe aus der Hand. „Hey, 'solche' sind wir nicht, schon vergessen!? Wir ziehen das jetzt so durch wie besprochen!“

Der jungen Frau, welcher trotz ihres selbstbewussten Auftretens der Schweiß auf der Stirn stand, entfleuchte nur ein zustimmendes Grummeln. Plötzlich sah sie herüber zu Anya und ihr eiserner Blick verlor für einen Moment seine Kälte, ehe sie sich kopfschüttelnd von dem motzenden Mädchen abwandte. „Die da ist Anya Bauer.“

„Anya Bauer sagst du …?“, murmelte Harris. „Geht's nur mir so, oder sagt dir der Name etwas?“

„K-keine Ahnung, in der Beschreibung hieß es nur, dass die mit dem größten Mundwerk Anya Bauer ist. Wie auch immer, ist jetzt nicht so wichtig“, wich sie aus.

 

„Anyas Bekannte, was?“, mutmaßte Marc, doch Anyas heftiges Protestieren und Winden überzeugte ihn augenblicklich davon, dass sie wohl diesmal wirklich keine Schuld an den Ereignissen hatte.

„Und wie regeln wir das jetzt?“, fragte er zornig weiter. „Kampflos ergeben wir uns nicht.“

„Wir auch nicht.“ Harris aktivierte die schwarze, rundliche Duel Disk an seinem Arm, die genau wie Ednas mit roten, leuchtenden Runen bestückt war. Einer gebogenen Klinge gleich schoss der Auswuchs für die einzelnen Zonen aus ihr heraus.

„Ich hätt's mir doch denken können.“ Belustigt klatschte Marc einmal in die Hände. „Was auch sonst?“

Valerie, knallrot im Gesicht vor allen nur erdenklichen Gefühlen, nickte. „Sie hätten uns erschießen sollen. Denn das wird jetzt sehr, sehr unschön … ich nehme mir die Schwarze, wenn du nichts dagegen hast.“

Das gesagt, griff sie unter ihren Rock und zog wie aus dem Nichts ein Deck hervor.

„Du hast ein Deck in deinem Strumpfband versteckt?“, flüsterte Marc baff, als Valerie den Saum ihres Kleides wieder fallen ließ.

Die runzelte ärgerlich die Stirn. „Anya ist unter den Gästen. Es ist schließlich nicht so, als ob ich nicht mit so etwas gerechnet hätte. Aber dass tatsächlich … oh Gott, ich brauch 'ne Therapie.“

„Wie schön, dann sind wir schon zwei“, brummte ihr Beinahe-Ehemann zustimmend und zog ebenfalls ein Deck aus der Innentasche seines Anzugs hervor. Als Valerie ihn überrascht ansah, meinte er an die Störenfriede gerichtet: „Ich kann meine Verlobte unmöglich alleine kämpfen lassen. Nimm sie dir, wenn du sie willst. Für dich nur das Beste vom Besten.“

Mal abgesehen davon, dass Valerie wie ein gleich zubeißender Pitbull dastand und kaum wiederzuerkennen war, gaben sie noch ein recht entspanntes Paar ab, dessen Hochzeit gerade gecrasht wurde, so fand Anya anerkennend.

„Hmm? Du gegen mich, Sportsfreund? Na von mir aus“, erwiderte Harris gönnerhaft und zuckte mit den Schultern. „Brautpaar versus Bonnie und Clyde. Klingt sogar ganz lustig.“

Offensichtlich fühlte Edna sich von seinem Kommentar angegriffen, denn sie brummte: „Bonnie und Clyde waren Verbrecher. Stell' mich nicht mit denen auf eine Stufe, klar?“

„Spielverderberin.“

„Wir haben keine Duel Disks“, meinte Marc aber plötzlich.

„Schau hinter dem Altar nach, Schatz. Gleich unter dem Pult“, wies Valerie ihn unterkühlt an.

Sofort zückte Harris die Schrotflinte. „Aber keine Mätzchen. Wenn schon, dann fair!“

„Vorsicht Freundchen, du bist der falsche für solche Sprüche“, erwiderte Marc und schritt langsam unter den Argusaugen des Dämonenjägers am Pater vorbei, der, alle Viere ausgestreckt, am Boden lag und holte schließlich die beiden Duel Disks des Paares hervor. Jene in sich hinein grinsend betrachtend, war Marc nun endgültig davon überzeugt, dass seine Verlobte offenbar gehofft hatte, dass Anya irgendetwas anstellen würde. Umso bitterer musste die Erkenntnis sein, dass jemand anderes ihr die Suppe ebenfalls versalzen wollte – und es bis hierher auch geschafft hatte.

Verdammt, er wollte jetzt wirklich nicht mit dieser Edna tauschen …

 

Schließlich hatten beide Parteien ihre Duel Disks aktiviert und waren auf Abstand gegangen, wobei Edna und Harris nur so umzingelt waren von bewusstlosen Gästen respektive gefesselten Gespielen des Teufels – nach Auffassung der Eindringlinge verstand sich.

„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn wir eine Spezialregel einführen“, richtete Edna sich an Valerie.

Jene verengte die Augen zu Schlitzen. „Die da wäre?“

„Wenn du Schaden nimmst, teilt meine Disk dir auf unmissverständliche Weise mit, dass du vorsichtiger spielen solltest.“

„Denk dir etwas Neues aus, diese Masche kennen wir bereits zur Genüge.“

Edna begann bösartig zu kichern und schob dabei unauffällig eine pechschwarze Karte in einen Schlitz oberhalb ihres Decks. „Nein Schätzchen, -das- kennst du bestimmt noch nicht.“

„Zu schade dann, dass ich gar nicht erst in den Genuss kommen werde, nicht wahr?“, hauchte Valerie kampflustig zurück.

„Schwing' ruhig deine Reden. Du bist nicht die Erste, die damit auf die Nase fällt!“

„Dann waren deine Gegner einfach nur schlecht!“

„Duell!“, riefen Edna und Valerie schließlich energisch.

 

[Valerie: 4000LP / Edna: 4000LP]

 

Es war Letztere, die sofort ihr Startblatt zog und verkündete: „Als Braut, deren Hochzeit gerade ruiniert wurde, ist es nur fair, wenn ich den ersten Zug mache!“

Damit riss die Schwarzhaarige noch eine Karte von ihrem Deck, was ihre Gegnerin nur mit einem grimmigen Blick quittierte. Nicht weniger eisig starrte Valerie zurück.

 

Sie hätte es wissen müssen. Nein, sie -hatte- es gewusst. Dass irgendetwas an diesem einen Tag aus hunderten passieren würde, natürlich nur an diesem einen. Zugegeben, eher hätte sie damit gerechnet, Opfer eines von Anyas verrückten Plänen zu werden. Die war für ihre Verhältnisse aber sogar erträglich, also was hatte sie, Valerie, getan, um Gottes Unmut auf sich zu ziehen?

Oder die bessere Frage: wer von ihren -Gästen- hatte sich die Aufmerksamkeit dieser beiden Irren auf den Hals gezogen?

 

Sie warf einen skeptischen Blick zu den Bänken, wo ihre Freunde von den Energieseilen gefesselt saßen beziehungsweise lagen. Wem hatte sie das zu verdanken? Irgendwie landete ihr Blick doch immer wieder bei Anya, die vor Wut ganz rot im Gesicht ob ihres Knebels war.

„Starrst du immer Löcher in die Luft?“, riss ihre Gegnerin sie herrisch aus ihren Gedanken.

Valerie blickte sie demonstrativ unbeeindruckt aus den Augenwinkeln an. „Höflichkeit und Dämonen jagen schließt sich kategorisch aus, nicht wahr? Wenigstens bringe ich Blumen mit, wenn ich mich schon selbst auf eine Party einlade.“

„Ach bitte“, schnalzte Edna mit der Zunge, „wir wollen das beide schnell hinter uns bringen. Also Quatsch keine Opern, sondern mach deinen Zug.“

„Mit Wünschen sollte man vorsichtig sein, weil sie manchmal in Erfüllung gehen“, erwiderte Valerie spitzzüngig. Die Spannung zwischen ihr und dieser Zicke, sie spürte sie förmlich.

Schließlich 'erbarmte' sich Valerie und legte ein Monster auf ihre Duel Disk. „[Gishki Avance], als Normalbeschwörung! Er wird mir die Zukunft voraussagen, indem er ein Gishki-Monster von irgendwo in meinem Deck ganz nach oben auf jenes legt.“

Ein blau leuchtender Runenzirkel öffnete sich vor Valerie. Aus diesem hervor trat ein fein gekleideter Jüngling, dessen weißes Haar nach oben gesteckt war. Selbstbewusst warf er seinen Umhang fort und murmelte eine unverständliche Formel.

 

Gishki Avance [ATK/1500 DEF/800 (4)]

 

Derweil hatte Valerie sich für ein Monster entschieden, zeigte Edna [Evigishki Soul Ogre] und platzierte diesen ganz oben auf ihrem Kartenstapel. Anschließend schob sie zwei Karten von ihrem Blatt in die jeweiligen Zonen. „Ich setze zwei Karten, damit dir auch nicht langweilig wird. Zug beendet.“

Zischend tauchten beide Karten mit dem Rücken nach oben vor ihr auf.

 

„Langweilig? Du hältst dich wohl für eine ganz Schlaue“, hielt ihre dunkelhäutige Gegnerin dagegen und zog. „Wenn du möchtest, zeige ich dir, wem hier bestimmt nicht langweilig wird.“

„Nur zu“, forderte Valerie eisig.

Das war scheinbar Ednas Signal. Sie zog eine Karte aus ihrem Blatt hervor und präsentierte sie mit hochmütigem Blick. „Ich werfe vier Wasser-Monster von meiner Hand ab, um diese Karte zu beschwören. [Mermail Abyssbalaen], ich rufe dich!“

„Vier!?“, wiederholte die Braut in Weiß ungläubig.

Während sich eine Art blauer Walkrieger vor Edna manifestierte, bewaffnet mit einem massiven Eisenhammer, schob diese fast ihr gesamtes Blatt in den Friedhofsschlitz. Dort landeten [Mermail Abysslung], [Mermail Abyssmander], [Mermail Abyssgunde] und [Mermail Abyssmegalo], welche als Abbilder über ihrer Besitzerin erschienen.

 

Mermail Abyssbalaen [ATK/2500 DEF/2000 (7)]

 

Valerie war sprachlos. Wieso hatte Edna für so ein vergleichsweise durchschnittliches Monster so viel aufgegeben?

Diese schien die Verwirrung ihrer Gegnerin zu genießen, nickte sie mit dem Kopf arrogant zur Seite. „Renn', solange du noch kannst. Das, was jetzt auf dich zukommt, wirst du nicht aufhalten können.“

„So jemand bin ich nicht.“

„Den Spruch kannst du dir meinetwegen auf deinen Grabstein eingravieren lassen, aber komm mir nicht damit.“ Wie bei einem erbarmungslosen Stoß in die Tiefe schnellte Ednas Hand nach vorn. „Effekt des Abyssbalaen! Nach seiner Beschwörung erhält er 500 Angriffspunkte und zerstört für jedes Mermail-Monster auf meinem Friedhof eine deiner Karten.“

 

Mermail Abyssbalaen [ATK/2500 → 3000 DEF/2000 (7)]

 

Valerie weitete die Augen, als sie mit ansah, wie Ednas Monster in blauer Aura aufleuchtete. Dieser hob seinen Hammer mit beiden Händen über den Kopf, ehe er ihn auf den Boden niedersausen ließ. Der Marmor unter ihm zersprang donnernd, es entstand eine gewaltige Flutwelle, die Valerie erfasste und alle ihre Karten mitriss.

„Oh nein! Ah!“

„Doch, Schätzchen“, sagte Edna und beobachtete Valerie dabei, wie sie mit der Flut zu kämpfen hatte, welche fast bis an die Decke reichte.

Schließlich löste jene sich auf. Und als Valerie wieder mehr als nur Wasser sehen konnte, war Ednas Monster nicht mehr alleine auf dem Feld. In der Luft schwebte er, der rote Fischkrieger in silberner Rüstung, bewaffnet mit einem Korallen-Schwert, dessen unzählige spitze Auswüchse wie Reizzähne anmuteten.

 

Mermail Abyssmegalo [ATK/2400 DEF/1900 (7)]

 

„W-wo kommt der her!?“, stammelte Valerie, die dagegen ein leeres Feld vorzuweisen hatte.

Edna schnappte genervt: „Vom Friedhof? Eines der abgeworfenen Monster war [Mermail Abyssgunde], welche in so einem Fall ein anderes Mermail-Monster reanimieren kann. Daher kommt er.“

„Unglaublich …“

In einer Mischung aus Faszination und Horror starrte Valerie die beiden Monster Ednas an.

„Was, dass du schon nach einem Zug verloren hast? Eher traurig würde ich sagen, nachdem du eben noch so angegeben hast!“ Die dunkelhäutige Dämonenjägerin streckte den Arm aus. „Los, greift ihre Lebenspunkte direkt an!“

„Du irrst!“

Während die beiden Meereskrieger schon die Waffen erhoben, sah Edna verblüfft auf. Blitze schlugen um ihren Walmann.

 

Mermail Abyssbalaen [ATK/3000 → 1500 DEF/2000 (7)]

 

„Wie das!?“

„Eine meiner gesetzten Karten war [Half Shut] gewesen, die ich angekettet habe, bevor dein Monster seine Lawine an Effekten losgetreten hat“, erwiderte Valerie unterkühlt. „Die halbiert für diesen Zug die Punkte Abyssbalaens. So'n Pech, da hast du dich wohl verkalkuliert!“

„Wenn du meinst.“ Gleichgültig schnippte Edna mit dem Finger. „Angriff fortsetzen!“

Nebeneinander stürmten die beiden Meereskrieger auf Valerie zu. Von rechts kam der Hammer, von links die Korallenklinge. Durch die Wucht beider Treffer wurde Valerie von den Füßen gerissen und auf den Rücken geschleudert, wo sie weiter bis auf Höhe des Altars schlitterte. Dabei schrie sie schmerzerfüllt auf.

 

[Valerie: 4000LP → 100LP / Edna: 4000LP]

 

Valerie blieb liegen und regte sich nicht mehr. Jedenfalls nicht im ersten Moment. Dann aber schlugen parallel blaue Ladungen um Ednas Duel Disk sowie um Valerie selbst, die gequält aufschrie und damit ins Bewusstsein zurückgerufen wurde.

Edna schnalzte mit der Zunge. „Armselig … aber von denen musst du jetzt noch, warte, 38 weitere ertragen. Pro 100 Lebenspunkte einen. Danach sehen wir, ob du noch weiter große Töne spucken kannst.“

Derweil schrie Valerie schier wahnsinnig auf, schlug mit den Gliedmaßen ungewollt um sich, wie sie von den Ladungen gepeinigt wurde. Auf Höhe ihrer Lenden verfärbte sich ihr Kleid gelblich.

 

~-~-~

 

Gleichzeitig zu Valeries und Ednas Duell starteten auch Marc und der Dämonenjäger Harris das ihre. Dabei sah der Bräutigam aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

„Dafür, dass ihr meiner Frau das Herz gebrochen habt, werde ich euch das Genick brechen“, drohte er voller unterdrückter Wut, die jetzt langsam aufkeimte, nun da Valerie abgelenkt war. „Diese Hochzeit war ihr das Wichtigste …“

Harris aber schien das nicht weiter zu beeindrucken. Er hob beide Hände grinsend. „Whoa whoa whoa, immer ruhig mit den jungen Pferden. Sieht doch fit aus, die Kleine. Noch.“

Marc schnaufte zornig. Dass Valerie sich nichts anmerken ließ war ihm auch klar! Innerlich sah es gewiss anders aus. Ihre Traumhochzeit war zerstört.

Er erhob den Arm mit seiner Duel Disk. „Bringen wir das hinter uns! Duell!“

Harris tat es ihm gleich. „Ehe Edna mich noch anschreit, weil wir nicht anfangen, gerne! Duell!“

 

[Marc: 4000LP / Harris: 4000LP]

 

Genau wie Edna, schob auch Harris eine schwarze Karte in einen besonderen Schlitz oberhalb der kugelförmigen Oberfläche seiner Duel Disk. Sofort begannen rote Leuchten an ihr zu strahlen.

„Das wird wehtun“, versprach er dabei, „ich beginne! Draw!“

Nachdem beide ihr Startblatt auf der Hand hielten, zog der Rotschopf auf und zeigte sogleich eine dauerhafte Zauberkarte vor. „Ich aktiviere [Hazy Pillar]!“

Marc weitete die Augen vor Schreck, als hinter seinem Gegner eine flammende Säule emporschoss. Dunkle Schatten bewegten sich in ihrem Inneren. Der Marmorboden um sie herum zerfloss regelrecht … was realen Schaden bedeutete, und zwar nicht durch das Solid Vision-System. Aber Marc hatte nichts anderes von einem Dämonenjäger erwartet.

„Solange diese Karte im Spiel ist“, erklärte Harris und schnappte sich nebenbei ein Monster von seinem Blatt, „kann ich Hazy Flame-Kreaturen mit einem Tribut weniger als nötig aufs Spielfeld rufen. So wie diesen Badboy hier! [Hazy Flame Cerberus]!“

Aus der Feuersäule hinter dem großgewachsenen Mann sprang eine lodernde, mannshohe Kreatur heraus. Sein Fell bestand unter anderem aus winzigen, roten Drachen. Und war der Körper schon der eines Flammenhundes, so machten die drei bestialischen Köpfe des Ungeheuers seinem Namen auch in letzter Instanz alle Ehre.
 

Hazy Flame Cerberus [ATK/2000 DEF/200 (6)]

 

Still schob Harris eine Falle in seine Duel Disk, die sich vor seinen Füßen sogleich vergrößert materialisierte. Abschließend sagte er: „Viel Spaß in deiner persönlichen Hölle, ehemaliger Paktträger. Ich hoffe, du hast noch etwas Feuer im Arsch! Zug beendet!“

 

„Man sollte vorsichtig mit seinen Wünschen sein“, erwiderte Marc leise, aber drohend, „sie könnten nämlich in Erfüllung gehen. Draw!“

Schwungvoll zog der fein in Schwarz gekleidete Bräutigam seine Karte. Der Kerl duellierte sich also ebenfalls mit Feuer-Monstern? Interessant, dachte sich Marc und sah sein Blatt an. Wie hieß es auch so schön? Man sollte Feuer mit Feuer bekämpfen. Das konnte er haben!

„Ich beschwöre [Laval Magma Cannoneer] und benutze sogleich seinen Effekt“, entschied er sich und knallte das Monster auf die Duel Disk, „bis zu zwei Feuer-Monster kann ich pro Zug abwerfen, um dir für jedes 500 Lebenspunkte zu nehmen!“

Vor ihm formte sich aus winzigem Staub eine kräftig gebaute, humanoide Kreatur mit zwei glühenden Kanonenrohren auf dem Rücken. Ganz aus blauem und grauem Gestein gemacht, absorbierte sie zwei lodernde Kugeln, die von Marcs Friedhof aufstiegen, als jener zwei Monster dorthin schob.

 

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 DEF/200 (4)]

 

Kurz darauf wurde Harris von zwei gewaltigen Flammenkugeln getroffen, die der Krieger auf ihn abfeuerte. Zwar hielt sich der Dämonenjäger den rechten Arm vors Gesicht, doch als die Explosionen ihn erfassten, lachte er auf.

 

[Marc: 4000LP / Harris: 4000LP → 3000LP]

 

„Sag nicht, das ist alles, was du drauf hast?“, sprach Harris und gluckste. „Kannst du mir keinen echten Schaden zufügen?“

Tatsächlich, als der Rauch sich verzog, stand der junge Mann völlig unbeschadet da. Marc hingegen kräuselte ärgerlich die Stirn. Natürlich konnte er das nicht, Isfanel, sein ehemaliger Paktpartner, existierte nicht mehr!

„Ich muss mich nicht auf euer Niveau herabsetzen und Leute verletzen“, verteidige er sich, obwohl er tatsächlich liebend gerne auf übernatürliche Fähigkeiten zurückgreifen würde, „ich habe meine eigenen Methoden.“

„Bullshit. Du hast nichts drauf, das ist alles.“

„Glaub was du willst! Effekt von [Laval Phlogis]!“, rief Marc wütend und streckte den Arm aus. „Den habe ich abgeworfen für Magma Cannoneers Effekt. Sobald Phlogis den Friedhof kennenlernt, verstärkt er alle zurzeit auf dem Spielfeld platzierten Laval-Monster um 300 Angriffspunkte!“

Um seine Kreatur herum entflammte eine rote Aura, die geradezu flimmerte.

 

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 → 2000 DEF/200 (4)]
 

Harris verschränkte skeptisch die Arme. „Gleichstand, was?“

„Von wegen! Ich aktiviere den Effekt des zweiten Monsters, das ich auf den Friedhof geschickt habe!“ Marc zog jenes hervor und drehte es zwischen seinen Fingern um, damit sein Gegner es sehen konnte. „Dieses nennt sich [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] und kann verbannt werden, um die Stärke alle anwesenden Laval-Monster um weitere 400 zu steigern!“

Die eben noch rote Aura um sein Monster verfärbte sich blau und explodierte regelrecht. Dies entlockte Harris immerhin ein anerkennendes Pfeifen.

 

Laval Magma Cannoneer [ATK/2000 → 2400 DEF/200 (4)]

 

„Nun habe ich das stärkere Monster von uns beiden! Also greif an, [Laval Magma Cannoneer]!“, befahl Marc mit ausgestrecktem Arm.

Seine aus Stein bestehende Kreatur schoss aus seinen beiden Kanonen zwei massive Flammensäulen, denen der feurige Zerberus trotz seiner Beständigkeit gegen große Hitze nicht gewachsen war. Nach dem Angriff war nur noch ein Häufchen Asche von ihm übrig.

 

[Marc: 4000LP / Harris: 3000LP → 2600LP]

 

„Damit hast du den Effekt von [Hazy Flame Cerberus] aktiviert“, sprach Harris. Die Asche vor ihm stieg auf und begann bunt zu leuchten. „Wird er zerstört und auf den Friedhof geschickt, erhalte ich eine Hazy-Karte von meinem Deck.“

Die mageren Überreste des dreiköpfigen Hundedämons formten sich zu einer Monsterkarte namens [Hazy Flame Peryton], die sogleich in Harris' Blatt wanderte.

„Damit gebe ich ab“, sagte Marc. Es war ihm anzusehen, dass er mit seiner Leistung nicht zufrieden war, standen sich Zornesfalten und Schweiß auf seiner Stirn gegenüber.

 

Harris zog ausholend und grinste dabei bereits verschmitzt.

„Dann bin ich mal so frei und beschwöre das Monster, das ich mir durch Cerberus gesucht habe“, verkündete er gut gelaunt und legte jene Karte auf seine Duel Disk, „erscheine, [Hazy Flame Peryton]! Da ich [Hazy Pillar] im Spiel habe, brauche ich kein Tribut anbieten.“

„Schon wieder kein Tribut …“, murmelte Marc vor sich hin.

Hinter seinem Gegner kam aus der Feuersäule eine grazile Figur gesprungen. Auch es war ein Vierbeiner, genauer gesagt eine Mischung aus einem jungen Hirsch und einem Vogel. Die flammenden Schwingen waren sein Markenzeichen. Auch er besaß eine gelb-orange, schuppige Haut mit roten Akzenten.

 

Hazy Flame Peryton [ATK/1600 DEF/1700 (6)]

 

Sein Besitzer schob derweil ein Monster namens [Hazy Flame Mantikor] in seinen Friedhofsschlitz. „Natürlich hat Peryton auch einen Effekt. Zwar funktioniert der nur einmal pro Zug, aber es lohnt sich, kann ich dir sagen! So muss ich nur ein Feuer-Monster abwerfen, um Peryton in zwei neue Monster aufzuteilen, direkt von meinem Deck!“

Einen grellen Laut von sich gebend, stellte sich der Flammenhirsch auf die Hinterläufe und verwandelte sich in eine Flamme, die sich zerteilte. Die neuen Flammen nahmen Abstand voneinander und Harris erklärte: „Natürlich kann er nur Hazy Flame-Kreaturen beschwören. Meine Wahl fällt hierbei auf zwei Exemplare von [Hazy Flame Hyppogrif]!“

Die beiden Flammen nahmen nun die Gestalt zweier Flammengreife an, die auf allen Vieren verharrten und majestätisch die Köpfe nach oben reckten.
 

Hazy Flame Hyppogrif x2 [ATK/2100 DEF/200 (6)]

 

Marc stockte der Atem. Er ahnte, was jetzt passieren würde.

Und tatsächlich, Harris enttäuschte ihn in der Hinsicht nicht. „Tja, wenn ich schon zwei Monster desselben Levels auf dem Feld habe, kann ich sie auch ruhig nutzen!“

Der Rotschopf streckte den Arm aus. Seine Greife verwandelten sich in feuerrote Lichtstrahlen, während zeitgleich ein schwarzer Wirbel vor ihm erschien und die beiden schließlich absorbierte. „Aus meinen beiden Stufe 6-Feuer-Monstern wird ein Rang 6-Monster! Xyz-Summon! Zeige dich in all deiner Pracht, [Hazy Flame Basiltrice]!“

Unter wildem Gekreische schwang sich eine geflügelte Gestalt aus dem Wirbel. Marc schaute alarmiert nach oben. Flammende Flügel, dazu ein schuppiger, ziemlich schmaler Körper und ein Vogelkopf, sechs Hühnerbeine – das Ding war eine Mischung aus dem Basilisk und Cockatrice! Als jener Hybrid landete, schmolz um ihn herum selbst der Marmor. Zwei Lichtsphären umkreisten den Monstervogel.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 DEF/1800 {6} OLU: 2]

 

„Beeindruckend, was?“, brüstete sich Harris mit dem Ungetüm, welches er etwa um eine Kopflänge überragte. „Wusstest du, dass dieses Monster jeden Feind zu Stein erstarren lassen kann? Hier, ich geb' dir 'ne Kostprobe! Basiltrice, Perseus Eyes!“

Marc stieß einen nervösen Laut aus, als der Feuervogel sich eines seiner Xyz-Materialien schnappte und verschlang. Dann wackelte er einen Moment mit dem Kopf, ehe er Marcs [Laval Magma Cannoneer] anzustarren begann. Die kugelrunden, komplett weißen Augen Basiltrices leuchteten grau auf – und schon verwandelte sich der ohnehin schon aus Gestein bestehende Krieger von unten nach oben in weißen Stein, der, nachdem die Transformation abgeschlossen war, in tausend Stücke zerbarst.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 DEF/1800 {6} OLU: 2 → 1]
 

„Dein Monster wird augenblicklich verbannt!“, betonte Harris nochmal das Geschehene und rieb sich unter der Nase. „Hehe, sich so schutzlos zu präsentieren war ein Fehler. Jetzt kann ich dich direkt angreifen! Los, Basiltrice, Meteor Outburst!“

Erschrocken wich Marc zurück. Der Basilisk begann wild um sich zu trampeln, dabei mit den Flügeln umher schlagend, ehe sich von denen eine ganze Salve an Feuerbällen löste. Diese schlugen überall um Marc herum ein. Jener spürte nur noch die unerträgliche Hitze und die Tatsache, dass er von den Beinen gerissen wurde. Er schrie auf, wurde durch die Luft geschleudert und landete hart auf dem Rücken, direkt in den Altar krachend. Dabei keuchte er auf, spuckte Blut.

 

[Marc: 4000LP → 1500LP / Harris: 2600LP]

 

„Das war's erstmal. Machst du schon schlapp?“, hakte Harris nach und bohrte dabei lustlos in seinem Ohr. „Wolltest du mir nicht das Genick brechen? Sieht er so aus, als wäre ich derjenige, der hier den Leuten die Knochen bricht.“

 

Marc lag regungslos in den Trümmern des Altars und rührte sich nicht.

Der Typ hatte recht. Was tat er da überhaupt? Gegen einen Dämonenjäger zu kämpfen war doch lächerlich, wenn man es recht bedachte. Schon damals hatte ein anderer, Alastair, ihn gnadenlos besiegt. Er war ein Verlierer. Schwach. Nutzlos. Schon immer gewesen, selbst, als Isfanel sich seiner bemächtigt hatte. Anya, Matt, Abby … sogar in ihrem Schatten zu stehen wäre noch ein Kompliment für das, was er wirklich war.
 

Ein Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Nicht weit von ihm entfernt schlitterte Valerie über den Marmorboden. Plötzlich wurde ihr Körper von einer heftigen Entladung heimgesucht. Immer wieder und wieder!

„Valerie …!“, keuchte er leise. Sein ganzer Körper schmerzte, er musste sich ein paar Rippen bei dem Fall gebrochen haben, denn besonders die rechte Seite war betroffen.

Auch seine Verlobte schien nichts gegen die Dämonenjäger ausrichten zu können, hatte sie einen schweren Treffer einstecken müssen. Als sie sich trotz der Stromstöße langsam vom Boden abstützte, mit schier unermesslichen Kampfgeist in den Augen, da fühlte auch Marc, dass er nicht aufgeben durfte. Sie war doch genauso wie er, nur ein Mensch. Trotzdem kämpfte sie, für ihn. Und er für sie.

„Es ist ...“, sprach er schwach und erhob sich langsam aus den Trümmern, „... noch nicht vorbei. Noch stehe ich!“

„Aber nicht mehr lange“, versprach ihm Harris düster.

 

~-~-~

 

„Armselig.“

Bereits nach der Hälfte der Entladungen hatte Valerie aufgehört zu schreien.

„Halt die Klappe“, maulte sie stattdessen mit dem Haar im Gesicht, während sie sich mühevoll aufzurichten versuchte, „so schlimm war das gar nicht.“

Edna standen vor Schreck die Augen weit offen, damit hatte sie nicht gerechnet. Dann aber fand sie zu ihrer alten Bissigkeit zurück. „Dann hast du sicher nichts gegen eine weitere Runde, huh? Armselig bleibt armselig, immer.“

 

Valerie stemmte sich mit aller Kraft vom Boden ab, kam torkelnd auf die Beine. Dabei funkelte sie Edna böse an, wischte sich das Blut von der Stirn, das aus einer kleinen Platzwunde austrat.

Zeitgleich war auch Marc zu Boden gegangen, aber sie hoffte, nein sie wusste, dass er sich nicht so leicht unterkriegen lassen würde. Er war stark! Bärenstark, wenn er nur wollte!

„So etwas sagen nur diejenigen, die selbst noch armseliger sind“, konterte die Braut selbstbewusst Ednas herablassenden Spruch, „weil sie es nötig haben, andere schlecht zu reden, um ihr eigenes Ego aufzupolieren. Keine Sorge, mir geht’s prächtig! Und wie war das? Noch 'ne Runde? Ich denke, wir fangen jetzt erstmal bei dir an!“

Ihre dunkelhäutige Gegnerin schürzte überrascht die Lippen, ehe sie tief durchatmete. Es dauerte allerdings noch einen Moment, ehe sie antwortete. „Schätzchen, ich bin noch armseliger als du denkst.“

Valerie horchte überrascht auf. „Wie bitte?“

„Ich bin eine Mörderin. Eine Dämonenjägerin obendrauf. Wie tief kann man da noch sinken?“, fragte Edna ernst. „Also erspare uns beiden deine Moralpredigten, okay?“

„Dann ändere dich!“

„Und bei euch fange ich an, was?“, kam es zynisch zurück. „Als ob! Ich habe die Wahl gehabt und mich hierfür freiwillig entschieden, wie es jeder Dämonenjäger tut.“

Natürlich hatte Valerie mit einer solchen Reaktion gerechnet. Trotzdem war es offensichtlich für sie, dass in dieser Edna noch Menschlichkeit steckte. Ansonsten würde sie sich kaum Gedanken darüber machen, ob sie armselig war und sich dazu noch dafür rechtfertigen. Zumindest hoffte Valerie, dass dem so war.

„Ich kenne zwei Dämonenjäger, die wie du waren“, erklärte Valerie mit der Hoffnung, dass ihr Appell etwas bewirken würde, „sie haben das Andersartige auch verteufelt. Bis sie gelernt haben, dass auch Dämonen Gutes vollbringen können. Wie Levrier, der Anya beschützt! Nichts ist nur Schwarz und Weiß!“

„Na und?“

Die flapsige Antwort Ednas ließ Valerie verstummen.

„Denkst du, das weiß ich nicht? Das hier ist kein Rette-die-Welt-vor-dem-Bösen-Quatsch!“ Die Afroamerikanerin kniff die Augenlider soweit zusammen, dass ihre Augen nur noch durch enge Schlitze Valerie anstarrten. „Das hier ist ein Geschäft, nichts weiter. Manche verkaufen Autos, wir handeln mit Dämonen. So einfach ist das.“

 

Ruckartig streckte die junge Frau ihren Arm aus. „Und wir sind hier noch nicht fertig! Main Phase 2!“

Über dem dunkelhäutigen Mädchen öffnete sich ein schwarzes Loch, welches ihre beiden Monster als blaue Energieessenzen in sich aufsog.

„Xyz-Beschwörung“, murmelte Valerie zerknirscht, „natürlich …“

„Aus meinen beiden Stufe 7-Monstern wird ein neues Monster vom Rang 7! Xyz-Summon! Erscheine, König von Lemuria! [Mermail Abyssgaios]!“

In dem Moment schossen in alle Richtungen Fontänen aus dem Overlay Network. Die letzte barg einen imposanten Meermann, welcher durch die Luft schwamm und sich hinter seiner Besitzerin positionierte. Sein grauer Bart war nicht weniger lang als das Haar, das ihm über den Schultern lag. In den Händen hielt er dabei einen goldenen Dreizack, um den zwei Lichtsphären kreisten.
 

Mermail Abyssgaios [ATK/2800 DEF/1600 {7} OLU: 2]

 

„Bevor ich meinen Zug beende, rüste ich Abyssgaios noch mit der [Abyss-scale Of The Cetus] aus! Dadurch wird er um 800 Punkte stärker!“

Erstaunt beobachtete Valerie, wie um den Körper des Meereskönigs eine silber-violette Brustpanzerung erschien und ihn umschloss, wobei sie fortan ein seltsames Glühen von sich gab.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/2800 → 3600 DEF/1600 {7} OLU: 2]

 

„Das wurde aber auch Zeit!“, beklagte sich Valerie, die sogleich eine vierte Karte von ihrem Deck riss. Es war natürlich der [Evigishki Soul Ogre], den sie selbst dort platziert hatte.

„Zauberkarte!“, rief Valerie. „[Gishki Aquamirror]! Ich biete Monster für die Ritualbeschwörung eines Wasser-Monsters an. Dabei übernimmt der [Gishki Shadow] von meiner Hand sämtliche Kosten!“

Auf dem Boden vor Valerie erschien ein Spiegel, eingerahmt von purem Gold. In ihn zeigte sich die amphibische Kreatur [Gishki Shadow], ehe diese eine Transformation unternahm.

„Erscheine aus endlosen Kristallfontänen! [Evigishki Soul Ogre]!“ Valerie riss den Arm in die Höhe.

Und als wäre sie die Herrin über das Wasser, schossen überall um sie herum Wassersäulen aus dem Boden. In der direkt vor ihr verbarg sich eine Silhouette, die sich erst als halb amphibische, halb dinosaurierartige, zweibeinige Kreatur entpuppte, als das Nass versiegte.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 DEF/2800 (8)]

 

Der hellviolette Kamm der dunkelblauen Kreatur zitterte unruhig, genau wie der Schweif, der in einer Fischflosse endete.

„Bevor es weitergeht, muss mir jetzt erstmal das Glück hold sein“, meinte Valerie plötzlich und grinste angriffslustig, „ich dachte mir, es ist mal an der Zeit, etwas Neues für mein Deck zu probieren. Wieso es also nicht wie Anya machen und sich auf sein Glück verlassen?“

Jene, die sich wütend in ihren Fesseln hin und her rollte, brabbelte etwas Unverständliches durch den Knebel, was sicher einige Beleidigungen enthielt mit der Beteuerung, dass sich eine Anya Bauer nie auf das Glück verließ.

Valerie war es egal, sie zückte ihre letzte Karte. „Ich aktiviere den Zauber [Cup Of Ace].“

In ihrer Hand erschien ein goldener Kelch, den sie lasziv an die Lippen setzte. „Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder das Leben schmeckt einem, oder nicht. Wenn ja, ziehe ich zwei Karten. Wenn nicht, nun ja, hast du in dem Fall das Glück.“

Edna verschränkte nur die Arme und sah kopfschüttelnd zu Boden. „Na reizend, jetzt auch noch so etwas? Du lieber Himmel, dich habe ich echt überschätzt wie's aussieht …“

„Wir werden sehen“, meinte Valerie und nahm einen Schluck. Ihre Augen weiteten sich. Dann zwinkerte sie vergnügt. „Hmmm, der gute Wein!“

Der Kelch verschwand und das Mädchen, welches den eigentlichen Münzwurf der Karte mit Kopf gewonnen hatte, zog auf.

 

Hätte sie hier versagt, wäre das Duell gelaufen gewesen, was aber offenbar keiner so recht bemerkt zu haben schien, dachte sich Valerie beim Anblick der neuen Karten und ihrer gefesselten Freunde, die nicht übertrieben besorgt um sie schienen. So kannten sie sie auch gar nicht.

Aber die baldige Mrs. Butcher hatte sich verändert. War wagemutiger geworden, etwas, nach dem sie sich schon seit einer ganzen Weile gesehnt hatte. Was Anya damals im Elysion gesagt hatte von wegen Nervenkitzel, es wollte Valerie seither nicht mehr aus dem Kopf gehen. Nur wusste sie nicht, ob dieses Gefühl sie selbst zufrieden stellte. Darüber zu urteilen war noch zu früh, aber eben dieses Glücksspiel … hatte sie gar nicht berührt.

Die junge Frau schüttelte den Kopf. Nein, darüber sollte sie nachdenken, wenn sie Zeit dazu hatte.

 

„Ich aktiviere [Evigishki Soul Ogres] Effekt und werfe [Gishki Natalia] ab!“, verkündete Valerie und streckte den Arm aus. „D-“

„Dann aktiviere ich den Effekt meines eigenen Monsters.“ Ihre Gegnerin zog ein Xyz-Material unter der Karte ihres Abyssgaios' hervor. „Royal Domination!“

Ihr König absorbierte mit seinem Dreizack eine der Lichtsphären.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/3600 DEF/1600 {7} OLU: 2 → 1]

 

Gleichzeitig sammelte Soul Ogre in seinem Maul Wasser an, welches er in einem mächtigen Strahl auf seinen Gegner schoss. Dieser antwortete mit einem Blitz aus seinem Dreizack, welcher das Wasser auflöste und Valeries Monster einen heftigen Stromschlag verpasste.

„Pech für dich. Abyssgaios kann die Effekte aller gegnerischen Monster auf dem Feld mit weniger Angriffskraft als er selbst annullieren.“

Valerie hob erstaunt eine Augenbraue an. „Nicht schlecht. Wenn wir gleichstark gewesen wären …“

„Waren wir aber nicht“, rief Edna dazwischen. „Und werden wir auch nie sein!“

„Stimmt!“ Valerie presste wütend die Lippen zusammen ob ihrer überheblichen Gegnerin. „Denn ich bin hier die bessere Wasser-Duellantin und dementsprechend eine Liga über dir! Ich aktiviere [Aqua Jet] und verstärke das Wasser-Monster Soul Ogre um 1000 Punkte!“

Dieser streckte beide Arme weit aus, auf seinem Rücken entstand ein Gestell mit Düsentriebwerken, das anfing zu rumoren.

 

Evigishki Soul Ogre [ATK/2800 → 3800 DEF/2800 (8)]

 

„Greife [Mermail Abyssgaios] an und beweise deine Stellung, [Evigishki Soul Ogre]!“, donnerte Valerie und schwang den Arm aus. „Los!“

Die Amphibie lud noch einen Wasserstrahl in seinem Maul auf und feuerte ihn ohne Umschweife ab.

„Du kapierst es einfach nicht, Lady! Hier ist Endstation! Abyssgaios, wehre den Angriff ab! Torrential Current!“

Mit dem Dreizack in der Hand wirbelnd, erschuf der Meermann umgehend zwei durch die Luft fließenden Strömungen, die sich in gegensätzlichen Richtungen umeinander schlangen und somit eine mächtige Barriere, an der Soul Ogres Angriff abprallte. Valerie stand da wie versteinert.

„Armselig, sag ich ja“, hörte sie Ednas Stimmte hinter der Wassermauer, „Monster ab Stufe 5 können nicht angreifen, solange Abyssgaios Xyz-Material besitzt. Als 'bessere' Wasser-Duellantin solltest du das eigentlich wissen.“

Sofort bereute Valerie ihre großspurigen Worte. Wie hatte sie sich zu solcher Arroganz hinreißen und dabei glatt übersehen können, in welcher Situation sie sich eigentlich befand!?

„Z-Zug beendet“, stammelte sie beschämt aufgrund mangelnder Optionen, sprich Handkarten. Abyssgaios derweil ließ seine Barriere verschwinden.

 

„Wurde auch Zeit“, murrte Edna und zog ruckartig auf, „ich hätte mich gar nicht auf so etwas einlassen sollen.“

„Aber dein Freund wollte es. Und es scheint ihm … fast Spaß zu machen.“ Valerie nickte herüber zu Harris, der tatsächlich mit seinem vergnügt grinsenden Antlitz den Eindruck erweckte, als ginge es ihm eher um die Herausforderung als um das Jagen von Dämonen.

Edna schnalzte mit der Zunge und fasste sich an die Stirn. „Weil er nicht erkennt worum es wirklich geht.“

„Und das wäre?“, wollte Valerie wissen.

Ihre Gegnerin funkelte sie zwischen den Spalten ihrer Finger aus dem verdeckten Auge an. „Verlust.“

„Wie-“

„Wo Dämonen sind, verlieren Menschen ihr Leben. Unabhängig davon, ob das gewollt ist oder nicht. Meistens ist es aber gewollt.“ Edna nahm die Hand von der Stirn. „Und wenn keiner etwas tut, wird es jeden Tag kleine Kinder geben, die sich die Augen aus dem Kopf weinen, weil Daddy nicht nachhause kommt. Weil ein Werwolf ihn in Fetzen gerissen hat.“

Valerie streckte die Arme weit aus. „Aber dann bist du hier falsch! Hier gibt es solche Leute nicht!“

„Dann sag mir“, fauchte Edna und zeigte auf den gefesselten Zanthe, „kannst du dem da trauen? Der Sirene? Oder den Paktträgern? Weißt du, was sie tun, wenn du nicht hinschaust!?“

„I-ich-!“

„Vielleicht schaust du ja absichtlich weg!“

„Das würde ich niemals tun!“, verteidigte sich Valerie getroffen.

„Ich“, hauchte Edna kalt, „auch nicht. Deswegen bin ich hier.“

 

Ohne sich weiter an Valeries Protesten aufzuhalten, wirbelte Edna die nachgezogene Karte zwischen ihren Fingern und zeigte sie vor. „[Monster Reborn]! Damit reanimiere ich [Mermail Abysslung] vom Friedhof!“

Neben dem Meereskönig tauchte einer seiner Soldaten auf. Von der Hüfte abwärts war der rothaarige Krieger ein Fisch, bewaffnet mit zwei massiven Panzerhandschuhen, die genauso gut als Schilde durchgehen konnten.

 

Mermail Abysslung [ATK/1200 DEF/1800 (4)]

 

„Eines der abgeworfenen Monster …?“ Valerie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.

„Exakt. Abysslung hat auch einen Effekt, der besagt, dass er all meinen Wasser-Monstern zusätzliche 300 Angriffspunkte gewährt.“

Erschrocken beobachtete die Braut, wie um die Monster ihrer Gegnerin lauter Wasserblasen auftauchten, die bläulich schimmerten.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/3600 → 3900 DEF/1600 {7}]

Mermail Abysslung [ATK/1200 → 1500 DEF/1800 (4)]

 

„Hast du es jetzt kapiert? Der Grund, warum ich dich erbärmlich nenne“, tönte Edna und rümpfte die Nase regelrecht gen Himmel, „ist nicht wegen deines Spiels oder der Tatsache, dass du dich nicht zu wehren weißt. Erbärmlich bist du, weil du nicht mal den 'Schatten' bemerkst, der dich und deinen Ehemann umgibt. Derselbe Schatten, der dich vor 'Restrain' geschützt hat.“

„Wovon redest d-“ Doch Valerie bekam einen Geistesblitz. „Etwa … der Handel mit … aber das-!“

Edna war jedoch in ihrer Ausführung fertig und schwang den Arm aus. „Das war's. Los, Abyssgaios! Greife [Evigishki Soul Ogre] an! Sea Emperor's Bolt!“

Der König der Mermails tat wie ihm geheißen und richtete seine Waffe auf die amphibische Gestalt vor Valerie. Die sah erschrocken auf und konnte nicht mehr reagieren. Der Blitz schoss erst durch die Brust ihres Monsters, dann durch sie selbst.

Valerie wurde zurückgeschleudert. Als alles dunkel wurde, hörte sie nur noch Marc ihren Namen rufen.

 

[Valerie: 100LP → 0LP / Edna: 4000LP]

 

 

Turn 46 – And The Anwser Is … ?

Valeries Niederlage entfacht in Marc eine derartige Wut, dass der alles versucht, um Harris fertig zu machen. Doch dieser scheint ihm immer einen Schritt voraus. Bevor Edna sich an Valerie vergehen kann, befreit sich Zanthe aus seiner Gefangenschaft und stellt sich ihr entgegen. Und während er sich mit ihr duelliert, gelangt er zu einer erstaunlichen Erkenntnis …

Turn 46 - And The Answer Is ... ?

Turn 46 – And The Answer Is … ?

 

 

Marc atmete schwer. Gerade seine rechte Körperhälfte hatte schwere Verletzungen erlitten, bestimmt waren dort einige Rippen hinüber. Trotzdem stand er noch, mit dem Entschluss, nicht aufzugeben. Selbst wenn er nur ein Mensch war, der sich gegen einen Dämonenjäger zu behaupten versuchte.

Aber die Zweifel suchten ihn dennoch heim. Man musste sich nur die Kirche ansehen, die bereits durch die Spuren des Kampfes gezeichnet war. Vor Harris war praktisch alles zu einer Pfütze zerschmolzen. Hinter ihm lagen knapp einhundert Gäste bewusstlos auf oder unter den Bänken und seine Freunde waren von DNA-artigen Fesseln umschlungen und konnten sich ebenfalls nicht bewegen. Alles das Werk der Dämonenjäger. Und doch …

„Mein Zug“, keuchte er und zog, wobei er zusammenzuckte und fast in sich zusammenbrach.

„Willst du dich nicht lieber ergeben?“, fragte sein rothaariger Gegner versöhnlich. „Wenn du das jetzt durchziehst, wirst du wohl daran krepieren.“

„Lieber das, als hilflos zuzusehen, wie du uns tötest oder was auch immer.“

Harris nickte. „Was auch immer, heh …“
 

Es sah schlecht für Marc aus. Die wenigsten seiner vier Handkarten nützten ihm etwas, besonders weil sein Feld leer war. Dagegen kontrollierte Harris die flammende Bestie namens [Hazy Flame Basiltrice], eine Mischung aus Reptil und Hahn mit lodernden Schwingen, welche vor ihrem Besitzer eine lauernde Haltung einnahm. Eine Lichtkugel tanzte um ihn herum.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 DEF/1800 {6} OLU: 1]

 

Dazu besaß Harris noch die dauerhafte Zauberkarte [Hazy Pillar] und eine gesetzte Karte.

 

[Marc: 1500LP / Harris: 2600LP]

 

Schwitzend stand Marc also in seinem schwarzen Anzug da und wusste nicht, wie er seinem Gegner überhaupt ein Haar krümmen sollte. Etwas, das er um alles in der Welt wollte. Rache dafür, dass sie Valeries Traum zerstört hatten. Aber er war machtlos. Konnte nicht einmal einen ordentlichen Zug hinlegen …

„Diese beiden hier verdeckt!“, rief Marc und setzte zwei Karten von seiner Hand in die Backrow. Beide tauchten vor seinen Füßen auf.

„Und den da setze ich auch“, kündigte er weiter an und legte ein Monster in horizontaler Lage auf seine Duel Disk. Einen Moment später materialisierte sich die Karte mit dem Bild nach unten gerichtet vor seinen anderen beiden, wie eine Wegblockade. Auch wenn sie das weiß Gott nicht sein würde, nicht für diese Kreatur dort drüben. Aber immerhin war sie verdeckt sicher vor dem Effekt des Basilisken-Cockatrices oder was auch immer es darstellen sollte.

Marc betrachtete seine letzte Handkarte, einen Zauber. „Mach deinen Zug!“

 

Behände zog der tätowierte junge Mann im gelben Muskelshirt und schmunzelte vergnügst. „So, sind dir schon die Ideen ausgegangen?“

„Wer weiß“, erwiderte Marc gereizt, „vielleicht ist genau das Gegenteil der Fall.“

„Dann bin ich gespannt was du hierzu sagen wirst! Effekt von [Hazy Flame Basiltrice] aktivieren!“, rief Harris und riss das verbliebene Xyz-Material unter dessen Karte hervor.

Marcs Augen weiteten sich. „Aber mein Monster ist verdeckt!“

„Na und? Bloß weil die bekanntesten Karten nur offene Monster anzielen, trifft das nicht automatisch auf alle zu“, erwiderte Harris altklug, „Basiltrice kann auch Feinde versteinern, die sich verstecken! Los, Perseus Eyes!“

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 DEF/1800 {6} OLU: 1 → 0]
 

Gierig schnappte der schuppige Feuervogel nach der Lichtkugel und schlang sie herunter, ehe er penetrant damit begann, Marcs gesetztes Monster anzustarren. Dabei wurden seine kugelrunden Augäpfel zunehmend grau – genau wie besagte Karte. Jene zerbröselte innerhalb von Sekunden zu Staub.

Und Marc fluchte in sich hinein. [Laval Miller] hätte durch einen Kampf zerstört werden müssen, damit er zwei Laval-Monster auf den Friedhof schicken konnte! Damit hatte Harris seine beste Strategie zunichte gemacht!

„Tjaja“, meinte der und zuckte mit den Schultern, „was immer es war, jetzt ist es verbannt. Die gute Nachricht ist, dass Basiltrice jetzt kein Xyz-Material mehr hat und du dir keine Sorgen mehr um deine Monster machen musst. Die schlechte ist: du wirst gar nicht mehr dazu kommen.“

Damit streckte er den Zeigefinger aus, welcher politisch völlig unkorrekt auf Marc zeigte. „Denn jetzt bekommst du den Gnadenstoß! Basiltrice, direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! Meteor Outburst!“

Seine krallenbesetzten Hühnerbeine auf den Boden stampfend, begann sich der Cockatrice-Basilisk-Hybrid wie von der Tarantel gestochen zu bewegen. Aus seinen flammenden Schwingen lösten sich dutzende Feuerbälle, die allesamt auf Marc zu schnellten. Der konnte nur noch die Augen weiten, da schlugen die Mini-Kometen schon rings um ihn ein und lösten ein Inferno aus, welches ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils verschlang.

„Schade schade Schokolade, da hat's einer nicht geschafft“, flötete Harris im Auftrieb seines vermeintlichen Sieges.

Nur um schnell auf den Boden der Realität zurückgeholt zu werden, als sich das Feuer um Marc herum auflöste und er noch stand. Vor ihm erlosch eine ganz eigene, kleine Flamme.

„Oh.“ Der Rotschopf im gelben Muskelshirt kratzte sich an der Stirn. „Zu früh gefreut.“

„Tja, ich hatte wohl doch noch ein Monster“, keuchte der schweißnasse, im teils versengten Anzug stehende Schwarzhaarige, „generiert durch den Schnellzauber [Searing Fire Wall]. Indem ich ein Laval-Monster vom Friedhof verbanne, erschaffe ich eine Spielmarke, die deinen Angriff abgewehrt hat.“

Leider hatte er durch das Entfernen von [Laval Phlogis] nur eine einzige erzeugen können, da jener das letzte verbliebene Laval-Monster auf seinem Friedhof gewesen war. Aber sie hatte ihm das Leben gerettet – vorerst. Marcs Blick lag skeptisch auf seiner anderen verdeckten Karte.

„Na ja, umso spannender wird es noch“, zeigte sich Harris optimistisch und nahm eine Falle aus seinem Blatt, „ich setze diese hier mal verdeckt. Du bist dran, Kumpel.“

Zischend materialisierte sie sich vor seinen Füßen, direkt hinter Basiltrice.
 

„Ich bin nicht dein Kumpel!“, erwiderte Marc zornig. „Draw!“

Mit Schwung zog er seine neue Karte und sah sie augenblicklich gebannt an. Das war genau, was er in diesem Moment am besten gebrauchen konnte! Gott schien ihn doch nicht verlassen zu haben!

Zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt, präsentierte Marc jene Karte umgehend. „Sieh her, wie heiß Feuer wirklich sein kann! [Molten Conduction Field]! Ich schicke sofort zwei Laval-Monster von meinem Deck auf den Friedhof!“

Jenes nahm er aus der Halterung und entschied sich nach kurzer Denkpause. Die beiden Karten zeigte er im Anschluss ebenfalls vor. „Meine Wahl trifft auf [Laval Volcano Handmaiden] und [Laval Lancelord]!“

Im selben Moment tauchte ein braun gebranntes Mädchen hinter Marc aus, dass durch ihr knappes Kleid und vor allem ihr glühendes Lavahaar bestach. So erklärte der junge Bräutigam deren Auftauchen wie folgt: „[Laval Volcano Handmaidens] Effekt aktiviert sich, sobald sie auf den Friedhof geschickt wird, wenn sich dort schon ein Laval-Monster wie Lancelord befindet. Sie schickt dann gleich nochmal ein Laval-Monster von meinem Deck auf den Friedhof.“

Plötzlich tauchte noch eines dieser Mädchen neben dem anderen auf. Und dann noch ein drittes. Schließlich zeigte Marc ein Monster vor, welches er sich aus seinem Deck geschnappt hat. „Wie du sehen kannst, ist das eine ganze Kette. Die letzte Handmaiden wird dafür sorgen, dass ich mich meines [Laval Magma Cannoneers] entledige.“

So hatte er statt zwei Monstern tatsächlich ganze fünf ablegen können. Und nun war sein Friedhof derart gut gefüllt mit Kreaturen, dass er keine Scheu hatte, seine letzte Handkarte zu aktivieren.

„Das Schönste an der ganzen Sache ist, dass ich sie jetzt alle wiederbeleben werde! [Rekindling]!“, rief er und streckte die Hand mit den Zauber zwischen den Fingern in die Höhe. „Dadurch werden so viele Feuer-Monster wie nur möglich auf meinem Friedhof mit maximal 200 Verteidigungspunkten reanimiert!“

Die drei Schönheiten mit der hitzigen Haarpracht verschwanden hinter Marc und tauchten im Anschluss vor ihm wieder auf. Neben ihnen materialisierten sich dann noch ein Soldat aus blauem Gestein, auf dessen Schultern zwei riesige Kanonenrohre lagen und ein aus braunem Gestein bestehender Krieger, der eine glühend rote Lanze schwang.

 

Laval Volcano Handmaiden x3 [ATK/100 DEF/200 (1)]

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 DEF/200 (4)]

Laval Lancelord [ATK/2100 DEF/200 (6)]

 

Beschwichtigend hob Harris seine Hände, obschon seiner verspielten Mimik eine gewisse Gedankenlosigkeit entnommen werden konnte. „Hey Alter, übertreib's doch nicht gleich!“

„Übertreiben? Ich habe noch nicht mal angefangen!“, knurrte Marc und streckte den Arm in die Höhe. „Ich stimme meine Stufe 1-Handmaiden auf meinen Stufe 4-Magma Cannoneer und noch eine Stufe 1-Handmaiden auf den Stufe 6-Lancelord ein! Doppelte Synchrobeschwörung, Stufe 5 und 7!“

Zwei der Ladys verformten sich zu grünen, holografischen Ringen, die in die Höhe stiegen. Gleichzeitig zersprangen die beiden kriegerischen Monster in vier beziehungsweise sechs grüne Lichtkugeln, die ebenfalls aufstiegen und dabei durch die Ringe schossen. Zwei grelle Lichtblitze erhellten die Kirche.

„[Lavalval Dragon], [Laval Stennon]!“

Zwei flammende Gestalten schossen vor Marc auf den Boden und schlossen zwischen sich die verbliebene Handmaiden ein. So fand links von ihr ein Drache aus braunem Magmagestein zu pompöser Form, während rechts neben ihr ein massiver Hüne von blauer Farbe auftauchte. Dieser besaß neben einem Kanonenarm auch einen merkwürdigen, dreieckigen Auswuchs in seiner Brust. Da Marc keine Handkarten mehr besaß, musste er auch keine davon abwerfen, was Stennons Beschwörung normalerweise verlangte.

 

Lavalval Dragon [ATK/2000 DEF/1100 (5)]

Laval Stennon [ATK/2700 DEF/1800 (7)]

 

Harris klatschte laut in die Hände. „Junge, gleich zwei so harte Brocken. Mir wird ganz Angst und Bange.“

Auf Marcs Stirn zeichneten sich tiefe Zornesfalten ab. Diese respektlose Art trieb ihn an seine Grenzen. Es war natürlich sehr leicht auf ihn herabzusehen wenn man wusste, dass er ohne seinen Paktpartner sowieso nichts ausrichten konnte. Das Einzige, was Marc tun konnte, war mit seinen Fähigkeiten zu trumpfen und derweil zu hoffen, dass ein Wunder geschah.

Er streckte daher konsequent den Arm aus, um zumindest seine professionelle Fassade aufrecht zu erhalten. „Mach dich nicht lächerlich! Warte erst mal ab, was passiert! Ich aktiviere [Lavalval Dragons] Effekt. Ich kann zwei Lavals von meinem Friedhof zurück ins Deck mischen, um eine beliebige auf dem Spielfeld befindliche Karte auf die Hand ihres Besitzers zurückzugeben.“

„Und du dachtest da an [Hazy Flame Basiltrice], richtig?“, hakte Harris nach.

„Genau! Los-!“

Ein schrecklicher Schrei unterbrach Marcs Befehl. Jener wirbelte herum und sah, wie Valerie über das Feld flog und hart auf dem Boden aufkam. Blitze schlugen dabei um sie, ihre Lebenspunkte fielen auf Null.

Valerie hatte verloren … sie, eine der fähigsten Duellantinnen, die Marc kannte. Er weitete fassungslos die Augen und schrie ihren Namen.

 

~-~-~

 

„Valerie!“, hallte Marcs erschütterter Schrei durch die Kirche.

Ednas Schuhe klackerten leise auf dem Marmor, als sie sich zielstrebig auf die bewusstlose Valerie zu bewegte. Ihr Augenmerk war nur auf ihre niedergegangene Gegnerin gerichtet, weshalb sie nicht bemerkte, wie sich bei den Bänken im hinteren Teil der Kapelle etwas bewegte.
 

Zanthe lag gefesselt von den DNA-artigen Strängen auf dem Boden, neben ihm Melinda und Henry. In seiner liegenden Position konnte er herüber zur anderen Hälfte der Kirche sehen, wo die Familienmitglieder Valeries, Marcs und der anderen schlafend teilweise übereinander gestapelt lagen oder von den Bänken herabhingen.

Er spannte seinen ganzen Körper an. Es musste doch einen Ausweg aus dieser Fessel geben, irgendeinen. Aber sie absorbierte seine Werwolfkräfte, sobald er nur daran dachte, sich zu verwandeln. Sein Ankämpfen gegen die rot leuchtenden Lichtstränge ohne jene war vergebens.

Bis ihm etwas auffiel. Sie strafften sich nicht von alleine. Denn die um seine Schultern hatten sich nach seinen Bemühungen tatsächlich ein wenig gelockert.

Sofort versuchte Zanthe seine These zu überprüfen, indem er probierte, seine Beine auseinander zu spreizen. Erst wollte es gar nicht funktionieren. Doch Millimeter um Millimeter erkämpfte er sich die Freiheit, wobei er alles mobilisierte, was ihm zur Verfügung stand. Auch wenn sein Werwolf-Ich unterdrückt wurde, für kurze Momente konnte er es aufflackern lassen, was sich immer wieder an einem Wechsel zwischen den golden-wölfischen und menschlichen Pupillen zeigte. Und nur dank dieser Mini-Verwandlungen gelang es ihm überhaupt, seine Fesseln zu lockern. Parallel dazu arbeitet er auch an seinen Armen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte er es, hinter der Bank versteckt aus seinen Fesseln zu schlüpfen und um jene in geduckter Haltung zu schleichen. Dabei löste er die letzten Bänder um Schultern und Hüfte per Hand. Die Dämonenjäger waren so konzentriert auf ihre Gegner, dass sie gar nichts davon bemerkten.
 

Letztlich hatte Zanthe es geschafft und sich befreit. Doch anstatt Anya zu helfen, die ihn sehr wohl bemerkt und sich zu ihm herüber gerollt hatte, stieg er, sich um die Bank drehend, einfach über sie hinweg.

Stattdessen nahm er plötzlich Anlauf und sprang kurzerhand meterhoch über Edna hinweg. Noch während des Weges nach unten versuchte er, ihr mithilfe eines Saltos einen Tritt in die Brust zu verpassen, den sie aber mit gekreuzten Armen unter schockierten Aufkeuchen blockierte. Elegant landete Zanthe in der Hocke auf halben Wege zwischen Edna und Valerie, richtete sich augenblicklich auf.

Die dunkelhäutige Dämonenjägerin, die knapp einen halben Meter zurückgeworfen worden war, rieb sich den rechten Oberarm, der den größten Teil von Zanthes Angriff abbekommen hatte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, Verbildlichung des Entsetzens auf ihrem Gesicht.

„Nanu? Du hast wohl nicht damit gerechnet, dass ich noch mal aufstehe“, höhnte Zanthe breit grinsend.

„Unmöglich! 'Restrain' ist perfekt!“, widersprach Edna trotz besseren Wissens. „Es umschließt jeden Dämonen und wehrt seine Kräfte ab!“

„Hast du den erfunden?“, wollte Zanthe wissen. „Wenn ja, schlechte Arbeit.“

Seine Gegenüber antwortete mit einem brüskierten Blick, welcher mehr als genug aussagte.

„Ist ja schön, dass dein Zauber jeden Dämonen fängt und seine Kräfte in ihn zurück zwängt beziehungsweise abfängt.“ Er zuckte besserwisserisch mit den Schultern. „Aber genau dadurch, dass er sie nicht behält, sondern zurückschickt, schafft er einen Freiraum zwischen sich und dem Opfer, welcher nicht wieder geschlossen wird. So leiert er schnell aus, wenn man nur genügend Kraft einsetzt. Das ist der Fehler.“

Edna knirschte mit den Zähnen. „Anscheinend … aber wenn dem so ist, bist du der Einzige, der sich befreien kann. Den anderen fehlt die körperliche Kraft dafür.“

„Das weiß ich.“

„Kommst du klar?“, rief Harris ihr plötzlich herüber, als er Zanthe bemerkte.

Seine Partnerin nickte. „Keine Sorge, mit dem werde ich fertig.“

„Glaubst du? So'n Pech für dich, das sehe ich nämlich anders. Leider werde ich nicht zulassen, dass du den Star dieser Vorführung einfach entführst“, gurrte er. „Im Gegenteil, das Mädel bleibt schön hier. Und übrigens …“

Der Duell-Handschuh, den er immer im Form eines Armreifs mit sich trug, selbst jetzt, schloss sich um Zanthes Arm, als dieser sich schützend vor der bewusstlosen Valerie stellte. Dabei schnüffelte er provokant in der Luft. „Riecht das nach … was ist das? Rache?“

„Du hättest einfach liegen bleiben sollen“, knurrte Edna und reaktivierte ihre Duel Disk sogleich wieder.

„Nichts da. Ist an der Zeit, dass dir mal jemand 'ne Lektion erteilt.“

Auch Marc mischte sich ein. „Bitte pass' auf sie auf! Ich helfe dir, sobald ich fertig mit diesem Typen bin!“

„Keine Sorge, bei mir ist sie in guten Händen.“

„Danke!“

„Na da bin ich ja gespannt“, raunte die dunkelhäutige Dämonenjägerin überheblich.

Plötzlich begannen Zanthes Augen wieder zu glimmen. Seine Tonspur wurde kaum merklich tiefer. „Ich auch. Also los, Duell!“

Er nahm Valeries vorherige Position ein, während Edna stumm da stand, wo sie sich mit der Braut eben erst duelliert hatte.

 

[Zanthe: 4000LP / Edna: 4000LP]

 

„Du kannst gerne den ersten Zug haben“, bot Zanthe an und ließ seine spitzen Reißer aufblitzen. Seine Züge hatten etwas Böswilliges gewonnen, an einigen Stellen wiesen sie dunkle Verfärbungen auf.

„Von mir aus. Draw!“, raunte Edna und zog mit einem Satz sechs Karten. Eine davon landete sofort in ihrem Friedhofsschlitz. „Ich werfe ein Wasser-Monster ab, um [Mermail Abyssteus] von meiner Hand zu beschwören.“

Vor ihr materialisierte sich ein grüner, halb amphibisch, halb echsenartiger Meermann in silberner Panzerung, der seinen Korallenspeer schützend vor sich hielt.

 

Mermail Abyssteus [ATK/1700 DEF/2400 (7)]

 

Neben ihm tauchte zudem noch der Geist einer Meerjungfrau auf, die ab der Hüfte eine weiße Aalflosse ihr Eigen nannte. Ihr blonder Zopf peitschte wild umher, als sie eine Beschwörungsformel sprach.

„Ich habe [Mermail Abysshilde] abgeworfen, was bedeutet, dass ich ein Mermail-Monster von meiner Hand spezialbeschwören darf. Also erscheine, [Mermail Abyssleed]!“

Dort wo die Meerjungfrau Abysshilde eben noch war, erschien nun ein prähistorischer Fischkrieger in roter Rüstung.

 

Mermail Abyssleed [ATK/2700 DEF/1000 (7)]

 

„Und ein weiterer Effekt aktiviert sich noch. Da Abyssteus durch seinen eigenen Effekt aufs Feld gekommen ist“, erklärte Edna, „erhalte ich ein Mermail-Monster der Stufe 4 oder niedriger von meinem Deck.“

Sie nahm jenes aus der Halterung und durchsuchte es nach der passenden Karte, die sich als [Mermail Abysslung] entpuppte. Den Kartenstapel wieder ins Fach zurück schiebend, rief sie bereits: „Und jetzt Xyz-Beschwörung! Aus meinen beiden Stufe 7-Monstern wird ein neues Monster vom Rang 7.“

Über ihr öffnete sich das Überlagerungsnetzwerk und zog die beiden riesigen Meermänner in besagtes Schwarzes Loch, aus dem eine Fontänenexplosion folgte.

„Erscheine, Herrscher über Lemuria! [Mermail Abyssgaios]!“

Aus den Fluten entstieg der bärtige Meereskönig mit dem goldenen Dreizack, welcher sich vor Edna platzierte. Um seine Waffe kreisten zwei Lichtsphären.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/2800 DEF/1600 {7} OLU: 2]

 

Doch die Dämonenjägerin war noch längst nicht fertig. „Ich aktiviere zwei Ausrüstungszauberkarten! [Abyss-scale Of The Cetus] und [Abyss-scale Of The Mizuchi]! Beide erhöhen die Stärke von Abyssgaios um je 800 Punkte!“

Zwei Sätze von Brustpanzerung erschienen um den Oberkörper des Königs und umschlossen jenen, wobei sie ein grünviolettes Glühen von sich gaben.

„Und ich beschwöre [Mermail Abysslung] als Normalbeschwörung, wodurch all meine Wasser-Monster noch einmal 300 Punkte bekommen. Außerdem kannst du jetzt nur noch Abysslung angreifen!“, rief Edna und knallte ihre vorletzte Handkarte auf die Duel Disk.

Neben Abyssgaios erschien der verhältnismäßig kleine Meermann mit Panzerhandschuhen, die so groß wie Schilde waren.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/2800 → 4700 DEF/1600 {7} OLU: 2]

Mermail Abysslung [ATK/1200 → 1500 DEF/1800 (4)]

 

„Diese hier verdeckt. Zug beendet“, erklärte Edna und ließ die gesetzte Karte vor ihren Füßen erscheinen. Damit war sie jetzt komplett blank auf der Hand.

Zanthe lachte ironisch. „Du machst wohl keine Kompromisse, was?“

„Was denkst du wohl? Kann man sich das als Dämonenjäger leisten?“

Der Werwolf kratzte sich nachdenklich an der Schläfe. „Ich weiß nicht. Vielleicht?“

„Dann überleg' mal, warum Menschen Dämonenjäger werden.“

„Muss ich das?“, erwiderte der Schwarzhaarige im geliehenen schwarzen Anzug, mit dem Kopftuch auf dem Haupt lapidar. „Ist nicht so, als ob ich jetzt scharf drauf bin, mir deine Lebensgeschichte anzuhören.“

„Pfff. Dann sag ich es dir eben selbst.“ Ednas formvollendete Lippen verzogen sich, als hätte sie etwas furchtbar Bitteres gegessen. „Die Meisten werden Dämonenjäger, weil sie etwas durch Dämonen verloren haben.“

Unter einem Nicken gab Zanthe zu verstehen, dass er diese Antwort nachvollziehen konnte. Jedoch blieb er ihr gegenüber zynisch. „Wer war es? Daddy? Mommy?“

„In unserem Falle? Niemand … aber wie du selber sagtest, du willst meine Story nicht hören. Und ich habe auch keine Lust, sie dir zu erzählen.“ Edna schnaufte. „Ich dachte nur für einen Moment, du wärst genauso blauäugig und willst an mein Gewissen appellieren, wie das Mädchen, das du beschützt. Aber je weniger wir reden, desto besser!“

Zanthe griff nach seinem Deck. „Sehe ich genauso …“

 

~-~-~

 

Obwohl Zanthe ihm zugesichert hatte, sich gut um Valerie zu kümmern, zitterte Marc am ganzen Leibe. Wie stark musste diese Edna sein, wenn sie seine Verlobte so mühelos hatte besiegen können?

Er drehte sich zu Harris um. Traf dasselbe dann auch auf den da zu? Er machte keinen überdurchschnittlich begabten Eindruck, eher im Gegenteil, am ehesten erschien er wie ein machohafter Angeber. Doch Marc wusste, dass solche Impressionen nur allzu leicht über die wahren Fähigkeiten eines Menschen hinweg täuschen konnten und sollten.

Umso wichtiger war es daher, seine Provokationen zu ignorieren, egal wie schwer es auch fiel.

„Autsch“, raunte Harris und verzog schmerzhaft das Gesicht, „ich glaub, deine Freundin hat sich grad' ganz schön weh getan.“

„Sie ist zäh“, erwiderte Marc und ballte insgeheim eine Faust, „genau wie ich. Wenn du denkst, mich würde ihre Niederlage aus dem Konzept bringen, irrst du dich gewaltig.“

„Wäre langweilig, wenn's so wäre. Aber mach dir nichts vor, die hat dich doch voll im Griff, man! Also steh zu deinem Ärger und setz' ihn im Duell um.“ Harris verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Mach mir'n bisschen Freude, ja?“

„Die wirst du bekommen!“, versprach Marc und verzog eine hasserfüllte Grimasse. „Soweit ich weiß, wollte ich gerade den Effekt meines [Lavalval Dragons] erklären!“

Er nahm die beiden [Laval Volcano Handmaiden]-Karten, die er für die Synchrobeschwörungen benutzt hatte, von seinem Friedhof und schob sie in sein Deck zurück, welches sich automatisch durchmischte. „Nur zwei Laval-Monster kostet es mich, dass ich eine deiner Karten vom Feld auf die Hand zurückschicken kann.“

Harris zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Ich glaube, soweit waren wir schon. Is' mir zu langweilig. Falle aktivieren, [Breaktrough Skill]!“

Er brauchte nur den Knopf an seiner schwarzen Duel Disk betätigen, schon sprang die linke gesetzte Karte vor ihm auf. Noch während Marcs Magmagestein-Drache in seinem Maul eine rot glühende Masse ansammelte, schlugen plötzlich blaue Blitze um ihn und ließen ihn innehalten.

„Kurz gesagt: diese Falle negiert den Effekt deines Monsters.“

Marc aber blieb erstaunlich gelassen. „Ist dem so? Dann habe ich keine Verwendung mehr für [Lavalval Dragon]!“

Schon streckte er den Arm in die Höhe. „Ich stimme meine letzte Stufe 1-Handmaiden auf den Stufe 5-Drachen ein! As flames of eternal wrath engulf the earth, all boundaries start to fall apart! Break free from limitations! Synchro Summon!“

Die flammende Schönheit verwandelte sich in einen grünen Hologrammring, durch welchen der Drache flog. Während dieses Vorgangs verformte sich sein Körper, seine Schwingen wurden breiter und schmolzen dahin, bis sie ganz aus Lava bestanden.

„Soar, [Lavalval Dragun]!“

Ein Lichtblitz blendete die Anwesenden in der Kirche. Und als dieser sich legte, verharrte über Marc eher ein Flugsaurier mit flammenden Schwingen und Haupt, denn ein Drache.

 

Lavalval Dragun [ATK/2500 DEF/1200 (6)]

 

„Der Effekt des [Lavalval Draguns] besagt, dass ich mir ein Laval-Monster vom Deck auf die Hand nehmen darf“, verlautete Marc und zeigte ein Stufe 3-Monster namens [Laval Lakeside Lady] vor, „um danach ein solches wieder abzuwerfen. Und da ich keine anderen Karten auf der Hand habe, muss dieses eben erst gesuchte Monster wieder gehen.“

Statt sie aber abzuwerfen, nahm er sie und [Lavalval Dragon] und zeigte beide vor. „Du solltest allerdings wissen, dass die Lakeside Lady sich auf dem Friedhof am wohlsten fühlt. Sind dort noch mindestens zwei andere Laval-Monster, kann ich sie und eines davon verbannen, um eine deiner gesetzten Karten zu vernichten.“

Der schwarzhaarige junge Bräutigam nickte herüber zu Harris' verdeckter Karte. „Damit kannst du dich von der da verabschieden.“

„Das gilt aber nur, wenn besagte Karte verdeckt liegt“, konterte Harris und grinste, „ist sie offen, hast du Pech. Ich aktiviere die permanente Falle [Hazy Glory]!“

Gerade als Lava unter der Karte aufstieg, deckte jene sich selbst auf und entkam der Vernichtung. Plötzlich begannen um ihren Besitzer die buntesten Flammen zu flackern, verschwanden dann und tauchten an anderer Stelle erneut auf. „Wie [Hazy Pillar] muss ich ein Tribut weniger für Hazy-Monster anbieten, solange ich sie kontrolliere.“

Harris verwies mit einem Fingerzeig auf seine bereits seit seinem ersten Zug offen liegende Zauberkarte.

„Du bist mir immer einen Schritt voraus, oder?“, fragte Marc tonlos.

Der Rotschopf ihm gegenüber verzog schmunzelnd den Mund. „Cool, was?“

„Dann weißt du sicher auch, dass ich deinen [Hazy Flame Basiltrice] jetzt mit [Laval Stennon] angreifen werde.“ Marc schwang den Arm aus. „Mach dich bereit! Core Beam Cannon!“

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 DEF/1800 {6} OLU: 0]

Laval Stennon [ATK/2700 DEF/1800 (7)]

 

Der breite Hüne aus blauem Gestein hob seinen Kanonenarm an und entlud einen mächtigen, gebündelten Flammenstrahl auf seinen Feind. Jener, halb Echse, halb Hahn, klackerte aufgeregt mit dem Schnabel, nur um jenen dann zu öffnen und eine eigene Flamme zu speien. Beide Angriffe trafen aufeinander und versuchten sich gegenseitig zu bezwingen. Doch Marcs Offensive erwies sich letztlich als die stärkere, was nicht zuletzt daran lag, dass Harris' dem tatenlos zusah. So wurde Basiltrices Angriff auf ihn mit doppelter Wucht zurückgeworfen. Das Fleisch schmolz ihm von den Knochen und so löste sich die Kreatur binnen Sekundenbruchteilen auf. Die nachfolgende Explosion wirkte sich allerdings nicht im Geringsten auf Harris aus.

 

[Marc: 1500LP / Harris: 2600LP → 2400LP]

 

Marc spreizte die Finger seiner ausgestreckten Hand. „Bereit für Nachschlag? [Lavalval Dragun], direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! Primordial Flare!“

Auch wenn er wusste, dass er Harris kein physisches Leid zufügen konnte, so würde der Sieg ihm zumindest ein kleines Gefühl von Überlegenheit vermitteln. Alles, was danach kam, würde er mit den Fäusten regeln. Eine andere Wahl blieb ihm nicht. Er musste nur schnell genug sein, um zu verhindern, dass Harris nach der Schrotflinte greifen konnte, die hinter ihm an einer Bank lehnte.

So öffnete sein Flugsaurier-Drache sein Maul und feuerte eine schmale, aber unglaublich heiße Flamme auf Harris ab. Der aber tippte nur gelassen mit der Fußspitze auf den Marmor. „Soll das alles sein? Keine Chance, Kumpel! Von meiner Hand der Schnellzauber [Barrier Flame]!“

Marc klappte die Kinnlade herunter, als sein Gegner jene Karte in seine Duel Disk schob und sich kurzerhand eine Mauer aus blauem Feuer um ihn zog, welche den Angriff seines Drachens regelrecht in sich aufnahm.

Wütend protestierte der junge Mann: „Kennst du überhaupt die Regeln des Spiels!? Schnellzauberkarten dürfen höchstens in der eigenen Battle Phase aus der Hand gespielt werden, nicht in der des Gegners!“

„Glaubst du! [Barrier Flame] lässt sich aktivieren, wenn ein Feuer-Monster hops geht und annulliert dann für den Rest des Zuges jeden Schaden, den ich abbekommen würde“, erklärte Harris, „sollte es dabei aber ein Xyz-Monster sein, geht das sogar wie jetzt im Zug des Gegners. Was glaubst du, warum ich sie nicht gesetzt habe? Um sie vor Zerstörung zu wahren und dein dummes Gesicht zu sehen!“

Auf die Provokation hin blähte Marc seine Nasenlöcher auf wie die Nüstern eines Pferdes, doch sah er davon ab, einen verbalen Ausfall á la Anya zu erleiden. Dafür war er sich zu schade und Valerie würde es ebenfalls so handhaben. „Dann beende ich meinen Zug. Da keines der von [Rekindling] beschworenen Monster noch auf dem Feld ist, können sie folglich auch nicht verbannt werden.“

Die Feuerbarriere rund um Harris verflüchtigte sich zischend, was ihn mit seinen beiden offenen Hazy-Karten zurückließ.

 

Als der Rotschopf schließlich zog, huschte beim Anblick der neuen Karte ein süffisantes Grinsen über seine Lippen. Er griff nach seinem Friedhof und zog die Falle hervor, die er erst in Marcs Zug aktiviert hatte. „Wusstest du, dass [Breaktrough Skill] zweimal aktiviert werden kann? Einmal normal vom Feld und zusätzlich durch das Verbannen vom Friedhof?“

„Sollte mich das scheren?“

„Klaro, ich werde nämlich den Effekt deines [Laval Stennons] für diesen Zug blockieren!“

Wie zuvor um Marcs Magmadrachen, schlugen mit einem Mal blaue Entladungen um Stennon. Wenn auch nur für einige Sekunden, denn als Marc [Laval Volcano Handmaiden] von seinem Friedhof nahm, hörten jene schlagartig auf, sein Monster zu peinigen. „Keine schlechte Idee, aber ironischerweise ist Stennon immun gegen zielende Effekte, wenn ich für jeden Versuch ein Laval von meinem Friedhof verbanne.“

„Also nützen solche Effekte nichts?“ Sein Gegner kratzte sich am Kinn. „Gut zu wissen …“

Dann streckte er den Arm aus. „Wie auch immer, dann geht’s jetzt weiter mit [Hazy Glorys] Zweiteffekt. Indem ich sie auf den Friedhof schicke, erhalte ich eine Hazy-Karte auf die Hand zurück.“

Seine offen stehende Falle löste sich auf, wobei gleichzeitig aus den bunten Lichtern um Harris nun regelrechte Feuertornados wurden, die in den Farben des Regenbogens um ihn kreisten. Der Dämonenjäger zeigte [Hazy Flame Basiltrice] vor, welcher aufgrund seiner Herkunft nicht etwa auf die Hand, sondern in sein Extradeck gelegt wurde.

Ein nervöser Seufzer entfuhr Marcs Kehle daraufhin. Sein Gegner würde dieses Biest wieder beschwören wollen. Nur gut, dass sich Stennon dank seines schützenden Effekts nicht versteinern ließ und obendrein stärker war!

Harris indes knallte regelrecht das Monster auf seinem Blatt auf die Duel Disk. „Und heute auf der Liste: Ratespaß mit [Hazy Flame Sphynx]! Und dank [Hazy Pillar] auch ganz ohne Tributkosten!“

Vor ihm machte sich augenblicklich eine gar merkwürdige Kreatur breit. So mochte der Körper zwar der eines Löwen mit flammend roter Mähne sein, gehörte zu ihm doch das Antlitz einer schönen Frau. Die Sphinx machte es sich bequem und legte sich hin, ohne dabei Marc aus den Augen zu lassen.

 

Hazy Flame Sphynx [ATK/1900 DEF/1900 (6)]

 

„Ihr Effekt ist mit ein wenig Glück verbunden“, erklärte Harris und legte seine Finger an die oberste Karte seines Decks, „beantworte ich ihre Frage richtig indem ich vorhersage, was für ein Grundtyp von Karte sich hier verbirgt, darf ich ein Feuer-Monster reanimieren oder von meiner Hand beschwören.“

Ganz wie er es sich gedacht hatte, merkte Marc still an. Also wollte er erneut eine Xyz-Beschwörung durchführen!

„Bist du gar nicht neugierig, wofür ich mich entscheide?“, hakte sein Gegner nach. „Nein? Na ja, ich bin ein eher wagemutiger Geselle und entscheide mich für den Typ Zauber, auch wenn ich wesentlich mehr Monster im Deck habe!“

Harris zog und zeigte [Pot Of Dichotomy] vor, welchen er unter einem anerkennenden Pfeifen auf den Friedhof schickte. „Ich glaube, ich habe das Rätsel der Sphinx gelöst! Lass deine Flamme neu brennen, [Hazy Flame Mantikor]!“

Harris nahm die Karte aus seinem Friedhof und legte sie prompt auf die Duel Disk. Er hatte sie abgeworfen, als er vor zwei Runden den Effekt von [Hazy Flame Peryton] aktivierte. Vor ihm entstieg aus dem Erdboden eine blutrote Gestalt mit ledrigen Flammenschwingen und dem Kopf eines dämonischen Löwen.

 

Hazy Flame Mantikor [ATK/2200 DEF/300 (6)]

 

Marc verschränkte die Arme. „Und jetzt? Diesmal bin ich auf deine Strategie vorbereitet!“

Es war jedoch an Harris, selbstbewusst zu lächeln. „Glaub ich kaum. Kennst du den Spruch jemanden mit seinen eigenen Waffen zu schlagen? Diese Zauberkarte setzt ihn in die Tat um: [Double Spell]!“

Sofort entledigte er sich seiner in diesem Zug gezogenen Karte und erklärte weiter: „Indem ich einen Zauber abwerfe, kann ich einen aus deinem Friedhof kopieren. Und mir fällt da nur ein passender Kandidat ein!“

Es dauerte einen Moment, bis Marc begriff und darauf folgend entgeistert dreinschaute.

„Bingo, [Rekindling]! Sie belebt alle Feuer-Monster mit höchstens 200 Verteidigungspunkten von meinem Friedhof! Da liegen gerade genau drei!“

Drei Stichflammen schossen vor Harris aus dem Boden. Die beiden Äußeren verwandelten sich in flammende, vogelähnliche Kreaturen mit schlanken Beinen und einem langen Schweif. In der Mitte wurde die dreiköpfige Hundekreatur namens Zerberus wiedergeboren, ebenso lodernd wie seine Mitstreiter.

 

Hazy Flame Hyppogrif x2 [ATK/2100 DEF/200 (6)]

Hazy Flame Cerberus [ATK/2000 DEF/200 (6)]

 

„Du kennst also meine Strategie? Komisch, mir war gar nicht klar, dass ich überhaupt eine habe!“, scherzte Harris selbstironisch und streckte den Arm aus. „Ich verlasse mich eigentlich nur auf mein Bauchgefühl und das sagt, dass du jetzt einer Xyz-Beschwörung beiwohnen wirst! Aus meinen Stufe 6-Monstern wird ein Rang 6-Monster!“

Die beiden Hyppogrif verwandelten sich in rote Lichtstrahlen. Über Harris öffnete sich ein schwarzer Galaxienwirbel und absorbierte die beiden. Doch dann geschah das Unglaubliche: auch seine anderen drei Monster wurden plötzlich vom Overlay Network absorbiert. Jenes explodierte regelrecht.

„Xyz Summon! Zeig deine volle Stärke, [Hazy Flame Basiltrice]!“

Kreischend flog die Kreatur, halb Echse, halb Hahn, aus dem Wirbel und landete mit einem Satz vor ihrem Besitzer. Sie war viel größer als beim letzten Mal, überragte Harris nun um mehrere Köpfe, ganz anders als zuvor. Ganze fünf Lichtsphären kreisten dabei um sie. Marc konnte seinen Augen nicht trauen.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/2500 → 3500 DEF/1800 {6} OLU: 5]

 

Er stolperte beim Anblick des lauernden Ungeheuers zurück. „F-fünf? Wie ist das möglich? Vorhin hast du es doch mit nur zwei-!?“

„Ganz einfach!“ Harris klopfte sich stolz auf die Brust. „Basiltrice ist nicht an eine bestimmte Anzahl an Xyz-Materialien gebunden, um ihn zu beschwören. Ich kann beliebig nach oben gehen. Und das Beste: je mehr ich benutze, desto besser wird der kleine Racker!“

Marc spürte den Angstschweiß auf der Stirn. Damit hatte er nicht gerechnet. „Erklärt das auch, warum er so viel stärker geworden ist?“

„Bingo! Ab drei Xyz-Materialien bekommt er 200 Angriffspunkte für jedes, das er gerade besitzt.“ Harris streckte den Arm weit aus. „Wenn das nicht reicht, um deinen [Laval Stennon] zu besiegen, weiß ich auch nicht! Meteor Outburst!“

Der Basilisken-Cockatrice spreizte weit seine lodernden Flügel aus und stampfte mit seinen schuppigen Vorderbeinen auf den Boden. Aus seinem 'Federkleid' lösten sich sogleich dutzende Mini-Meteoriten, die allesamt in Marcs Richtung flogen. Sein ganzes Feld wurde von winzigen Explosionen heimgesucht, als sie dort ankamen. Der junge Mann flog über den Boden, während seine muskulöse Kreatur namens Stennon in tausende Einzelteile zersprang.

„Ahhhhhhh!“

 

[Marc: 1500LP → 700LP / Harris: 2400LP]

 

Marc schlug mit dem Rücken auf dem Marmor auf und schlitterte über den Boden, wobei der ohnehin schon schreckliche Schmerz in seinem Brustkorb noch schlimmer wurde. Dabei hörte er Harris rufen: „Nichts für ungut! Main Phase 2! Ich aktiviere [Hazy Flame Basiltrices] Effekt und opfere ein Xyz-Material, um deinen [Lavalval Dragun] zu versteinern und dementsprechend zu verbannen! Perseus Eyes!“

Noch ganz benommen von dem Angriff, richtete Marc sich auf und sah erschrocken mit an, wie die kugelrunden Augen Basiltrices ganz grau wurden, nachdem er eines seiner Xyz-Materialien gefressen hatte. Gleichzeitig verwandelte sich sein prähistorischer Drache von oben nach unten zu weißem Stein, fiel hinab und zerschellte beim Aufprall auf dem Boden zu Staub.

Plötzlich blieb Marc nichts mehr außer seiner vor einigen Zügen gesetzten Falle.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/3500 → 3300 DEF/1800 {6} OLU: 5 → 4]

 

„Tja, sieht so aus, als wäre mein Monster schwächer geworden aufgrund akutem Xyz-Material-Mangels“, gluckste Harris und zog aus seinem Friedhof zwei Zauberkarten, „ich denke, dagegen sollte ich was tun! Ich verbanne die beiden [Barrier Flame]-Karten auf meinem Friedhof und füge meiner Hand so ein Feuer-Monster von genau dort hinzu!“

Harris präsentierte stolz [Hazy Flame Sphynx]. Derweil richtete Marc sich erschrocken auf. „Aber du hattest nur eine-!?“

„Bist du wirklich so unkonzentriert?“ Harris seufzte. „Alter, ich habe die zweite Kopie eben abgeworfen, als ich [Double Spell] aktiviert habe. Logisch, oder?“

Marc verstummte und schnaubte, während er sich auf bemühte.

„Na also! Und jetzt benutze ich [Hazy Pillars] zweiten Effekt! Ich nehme ein Feuer-Monster von meiner Hand und hänge es an ein Xyz-Monster an!“

Die offene Zauberkarte hatte Marc völlig vergessen. Also konnte sie mehr, als nur Monster mit weniger Tribut beschwören!? Harris schob seine Sphinx unter Basiltrices Karte, woraufhin um den ein neues, fünftes Lichtkügelchen zu kreisen begann.

 

Hazy Flame Basiltrice [ATK/3300 → 3500 DEF/1800 {6} OLU: 4 → 5]

 

„Ganz schön warm hier drin, was?“ Harris ließ sein ohnehin weites, gelbes Muskelshirt mit der Hand etwas flattern. „Liegt sicher an meiner Perle da drüben. Na ja, wie auch immer, Zug beendet.“

Damit hatte er jetzt, genau wie Marc, null Handkarten. Aber dafür ein beängstigend starkes Monster.

 

Marc wollte nach seinem Deck greifen, da fiel ihm auf, wie sehr seine Hand doch zitterte. Er schüttelte sie, als würde seine Angst dadurch verschwinden und legte dann die Finger an seinen Kartenstapel. Noch hatte er nicht verloren!

Er holte tief Luft und rief anschließend: „Draw!“

Mit einer ausholenden Bewegung riss er die Karte von seinem Deck, nur um sie mit Schwung in seine Duel Disk zu rammen. „Das ist genau was ich gebraucht habe! [Hammer Shot]!“

Vor ihm erschien die Zauberkarte, auf der eine Gruppe grüner Goblins gezeigt wurde, welche von einem massiven Hammer zerstampft wurde. Und genau jenes Schlagwerkzeug tauchte auch über [Hazy Flame Basiltrice] auf.

„Diese Karte funktioniert sehr simpel!“, erklärte Marc zuversichtlich. „Sie zerstört sofort das stärkste Monster in Angriffsposition auf dem Spielfeld. Da es nur deinen- Ah!?“

Harris' Kreatur reckte seinen Hahnenkopf nach oben, starrte gebannt den Hammer an, ehe der Basilisk-Cockatrice-Hybrid seinen Schnabel öffnete und eine derart heiße Flamme ausstieß, die den Hammer komplett in Rauch und Asche verwandelte.

„Aber-!?“

„Du hättest besser aufpassen sollen“, meinte der Rotschopf und zuckte arglos mit den Schultern, „Basiltrice wird komplett vor Kartenzerstörungseffekten immun, sollte er fünf Xyz-Materialien besitzen! Was glaubst du wohl, warum ich so penibel darauf geachtet habe?“

Gebannt starrte Marc das riesige Monster vor seinem Gegner an. Wie sollte er es dann loswerden!?

Statt aber klein beizugeben, wandelte sich seine anfängliche Erschrockenheit in engstirnigen Kampfeswillen. „Gut, dann anders! Verdeckte Falle aktivieren, [Return From The Different Dimension]! Für einen Zug beschwört sie möglichst viele meiner verbannten Monster, sofern ich bereit bin, die Hälfte meiner Lebenspunkte zu zahlen! Du hättest vorsichtiger sein sollen mit dem, was du versteinerst!“

 

[Marc: 700LP → 350LP / Harris: 2400LP]

 

Fünf kleine Spalten im Raum-Zeit-Gefüge öffneten sich vor dem lädierten Bräutigam. Heraus traten eine flammenhaarige Schönheit mit blasser Haut in einem blauen Kleid, [Laval Lakeside Lady], neben ihr die braungebrannte [Laval Volcano Handmaiden], in der Mitte der im dritten Zug von Basiltrice versteinerte Felssoldat mit den zwei Kanonenrohren auf dem Rücken, [Laval Magma Cannoneer] und zu guter Letzt die beiden Signatur-Drachen Marcs. Wie eine Armee bauten sie sich vor ihrem Herrn auf.

 

Laval Lakeside Lady [ATK/200 DEF/200 (3)]

Laval Volcano Handmaiden [ATK/100 DEF/200 (1)]

Laval Magma Cannoneer [ATK/1700 DEF/200 (4)]

Lavalval Dragon [ATK/2000 DEF/1100 (5)]

Lavalval Dragun [ATK/2500 DEF/1200 (6)]

 

Marc streckte den Arm weit aus: „Es gibt mehr Wege, als ein Monster einfach nur zu zerstören! Ich aktiviere [Lavalval Dragons] Effekt und schicke [Laval Stennon] und den [Laval Magma Cannoneer] auf meinem Friedhof ins Deck zurück!“

Er schob Ersteren aufgrund der Regeln für Extradeck-Monster selbstverständlich in ebenjenes zurück, ehe er dann verkündete: „Dadurch kann ich eine Karte auf dem Spielfeld auf die Hand ihres Besitzers zurückgeben! Damit umgehe ich den Schutzeffekt von Basiltrice! Los!“

Sein aus braunem Gestein mit Magmaadern bestehender Drache lud in seinem Maul eine glühend heiße Flammenkugel auf, die er augenblicklich auf den viel größeren Feind abfeuerte. Doch zu Marcs Entsetzen öffnete Basiltrice einfach den Schnabel und schluckte die Attacke.

„Du hättest wirklich den Effekt meiner Karte lesen sollen“, belehrte Harris seinen Gegner altklug, „da steht doch, dass mein Dicker, wenn er mindestens vier Xyz-Materialien hat, nicht als Ziel von Karteneffekten gewählt werden kann. Bist du wirklich so dämlich, oder tust du nur so?“

Plötzlich huschte über Marcs Lippen ein geheimnisvolles Grinsen. „Ich bin es. Aber vielleicht auch nicht … denn das heißt auch, dass ich jetzt ein anderes Ziel für den Effekt wählen muss.“

Sein Arm schwang zur Seite aus, zeigte auf die Handmaiden. „Sie!“

Harris kratzte sich verwirrt an der Stirn und sah zu, wie sein Basiltrice die Feuerkugel wieder auswürgte und auf die braungebrannte junge Dame schleuderte. Jene löste sich leise kichernd auf, als Marc sie in sein leeres Blatt aufnahm.

Sie zwischen den Fingern haltend, streckte er die Hand aus. „Effekt von [Lavalval Dragun]! Ich kann meiner Hand ein Laval hinzufügen, muss aber im Gegenzug eins abwerfen! Ich entscheide mich für [Laval Forest Sprite]!“

Die Karte wurde automatisch aus seinem Deck geschoben, sodass Marc sie nur aufzunehmen brauchte. Anschließend schickte er seine Handmaiden als Ausgleich für den Effekt auf den Friedhof. „Sicher kannst du dich noch daran erinnern was passiert, wenn [Laval Volcano Handmaiden] auf den Friedhof geschickt wird? Da ich noch [Laval Lancelord] dort liegen habe, kann ich jetzt noch ein Laval auf den Friedhof schicken.“

So begann die Kette erneut: Marc schickte erst eine Handmaiden, dann noch eine und schließlich [Laval Judgment Lord] auf seinen Friedhof.

„Und was hast du davon?“, wollte Harris irritiert wissen.

Marc aber legte mit einem zufriedenen, gar böswilligen Grinsen seine neue Karte auf die Duel Disk. „Beschwörung, [Laval Forest Sprite]!“

Vor Marc tauchte eine junge Frau in einem dunkelblauen Einteiler auf, um deren Haupt ein zerfetzter Schal gewickelt war und das flammende Haar teilweise bedeckte.

 

Laval Forest Sprite [ATK/300 DEF/200 (2)]

 

„Ich kann dein Monster nicht besiegen?“, schrie Marc regelrecht und schwang seinen Arm weit aus. „Du wirst dich noch umsehen! Ich stimme meinen Stufe 2-Empfänger [Laval Forest Sprite] auf meinen Stufe 4-[Laval Magma Cannoneer] ein!“

Parallel dazu flogen seine Monster in die Luft, wobei sich das Mädchen in zwei grüne Ringe aufspaltete. „A spark lights the otherworldly flame of destruction! An inferno of tragedy unfolds! Synchro Summon! Ignite, [Laval The Greater]!“

Nachdem Marcs Kanonier die Synchronringe passiert hatte, erleuchtete ein greller Blitz für einen Sekundenbruchteil die Kapelle. Rote und blaue Flammen kreisten um Marc, zischten dann nach vorn und verschmolzen zu einer Flamme, aus der eine humanoide Gestalt entstand. Deren Körper bestand aus verwaschenem, blauem Gestein, das von jeweils rotem und blauem Feuer von den Armen ausgehend umhüllt wurde.

 

Laval The Greater [ATK/2400 DEF/800 (6)]

 

Mit einem siegessicheren Grinsen auf den Lippen ballte Marc seinen ausgestreckten Arm zu einer Faust. „Jetzt, da er auf den Friedhof geschickt wurde, aktiviert sich der Effekt von Forest Sprite! Für jedes Laval-Monster auf dem Friedhof erhalten meine Monster 200 Angriffspunkte!“

Nun war es an Harris, ein verblüfftes Gesicht zu machen. Welches umso mehr eine panische Form annahm, als er sah, was das wirklich bedeutete. Denn um Marcs Monster begannen tosende Flammen zu schlagen.

 

Laval Lakeside Lady [ATK/200 → 1600 DEF/200 (3)]

Lavalval Dragon [ATK/2000 → 3400 DEF/1100 (5)]

Lavalval Dragun [ATK/2500 → 3900 DEF/1200 (6)]

Laval The Greater [ATK/2400 → 3800 DEF/800 (6)]

 

Das war's, dachte Marc und schnaubte. Diesmal würde er sich nicht aufhalten lassen! Valerie lag dort drüben, nur weil diese verdammten Dämonenjäger keine Rücksicht geschweige denn Gnade kannten. Er würde Harris Respekt lehren! Egal wie!

Marc spürte, wie sein schmerzender Brustkorb sich zusammenzog, als er schrie: „Los, [Laval The Greater], greife [Hazy Flame Basiltrice] an! Otherworld Flame!“

Der Krieger aus blassblauem Gestein legte seine Handflächen aufeinander, um sie kurz darauf wieder auseinander zu bewegen. Dabei erzeugte er eine Feuerkugel, in der sich blaue und rote Flammen einen regelrechten Kampf um die Vorherrschaft lieferten. Er streckte die Arme mit der Sphäre voran aus, nur um sie schließlich wie eine Kanonenkugel auf Harris' Monster abzufeuern.

Dem Basilisk entfuhr ein schriller Schrei, als er getroffen und in Fetzen gerissen wurde. Sein Besitzer wich keuchend ob der Schockwelle zurück.

 

[Marc: 350LP / Harris: 2400LP → 2100LP]

 

Marc riss die Augen weit auf. „Jetzt kriech endlich in das Loch zurück, aus dem du gekommen bist! Los meine Monster, dreifacher direkter Angriff!“

Seine Wut brodelte so sehr in ihm, dass sie ganz von Marc unbemerkt die Form einer roten Aura annahm. Und hinter ihm manifestierte sich eine riesige, auf zwei Beinen stehende Silhouette, die ebenfalls wie Feuer loderte. Auch pulsierte Marcs Deck, wobei der Rand einer einzelnen Karte darin rot hervorstach.

Harris sah statt Marc die Gestalt an, die jenen überragte und murmelte nur: „Scheiße …“

 

~-~-~

 

„Draw!“, polterte Zanthe und riss die Karte von seinem Deck.

Im Antlitz der beiden Meermänner auf Ednas Spielfeldseite erschien der Werwolf geradezu winzig, doch das machte er durch seinen Ehrgeiz wieder wett. Denn er hatte bereits genau vor Augen, wie er diese übergeschnappte Dämonenjägerin besiegen würde. Da konnten ihre Monster noch so stark sein.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/4700 DEF/1600 {7} OLU: 2]

Mermail Abysslung [ATK/1500 DEF/1800 (4)]

 

Er wirbelte eine Zauberkarte zwischen Mittel- und Zeigefinger. Wie gut, dass er die Gelegenheit gehabt hatte, sich ein Bild vom Stil seiner Gegnerin zu machen. Dadurch war es nun ein Leichtes, den Spieß umzudrehen.

„Ich aktiviere eine Zauberkarte namens [Constellar Belt].“ Zanthe schob die Karte in einen der Schlitze an seinem Duellhandschuh. „Sie verhindert, dass die Effekte von Licht-Monstern annulliert werden können!“

Langsam bildete sich rund um Zanthes Spielfeld ein weißer Schimmer, der bei genauerem Hinsehen durch eine Art Sternenstaub erzeugt wurde, welcher sich in der Luft ausbreitete.

„Ist das so, ja?“ Edna rümpfte die Nase. „Zu dumm! Der Effekt von [Abyss-scale Of The Mizuchi] greift ein! Zwar löst sich mein Ausrüstungszauber auf, dafür tut es ebenso deine Zauberkarte. Pech gehabt.“

Zanthe sah sich verblüfft um, als der Sternenstaub um ihn herum verpuffte und seine Karte in tausend Stücke zersprang.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/4700 → 3900 DEF/1600 {7} OLU: 2]

 

„So läuft der Hase also? Gar nicht so übel“, murmelte er und nahm ein Monster aus seinem Blatt. „Dann mal sehen, was du hierzu zu sagen hast!“

Er legte das Monster in seinen Handschuh ein und streckte dann die Hand nach vorne aus. Zwischen seinen Fingern erschien ein kleiner, kupferner Schlüssel. „Open a door to the goat! Erscheine, [Constellar Algiedi]!“

Damit schwang er den Arm seitwärts aus und ließ ein Portal umrandet von astrologischen Symbolen erscheinen, welches wie ein Spiegel zerbrach, als eine von Kopf bis Fuß in weißer Kleidung verhüllte Hexe daraus hervor sprang. Sie schwang ihren futuristisch angehauchten Zauberstab, dessen Kopf entfernt an die Hörner eines Steinbocks erinnerte.
 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

 

„Bei einer Normalbeschwörung aktiviert sich der Effekt Algiedis!“, erklärte Zanthe. „Damit darf ich ein Stufe 4-Constellar von meiner Hand aufs Feld rufen!“

Doch Edna unterbrach ihn harsch. „Eher nicht, ich gehe mit Abyssgaios' Effekt dazwischen! Indem er ein Xyz-Material absorbiert, schwächt er alle Monster meines Gegners, die weniger Angriffskraft als er besitzen und macht damit ihre Effekte unbrauchbar! Royal Domination!“

Mit seinem Dreizack absorbierte der König von Lemuria eines seiner Xyz-Materialien und lud seine Waffe damit elektrisch auf, ehe er den Blitz auf Algiedi abfeuerte. Die zitterte am ganzen Leib, als sie getroffen wurde.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/3900 DEF/1600 {7} OLU: 2 → 1]

 

Wie er es erwartet hatte, dachte Zanthe und grinste heimtückisch. Dann nahm er zwei Karten aus seinem Blatt hervor. „Zuerst setze ich eine Karte verdeckt.“

Jene materialisierte sich vor seinen Füßen. „Anschließend das hier! Wenn es auf normalem Wege nicht mit einer Xyz-Beschwörung klappen will, dann eben hiermit! Ich aktiviere [Spellbooks Of Tetrabiblos]!“

 

Gleichzeitig wurde die gefesselte Anya hellhörig und sah herüber zu dem Werwolf, um dessen weiße Hexe vier rosa leuchtende Bücher erschienen, die auf Brusthöhe um sie zu kreisen begannen.

Solche Karten hatte doch der Diener vom Collector benutzt. Wieso zum Geier besaß der Flohzirkus so eins?

Sofort schrillten Anyas innere Alarmglocken. Zugegeben, die waren eigentlich im Dauereinsatz, aber hier war doch etwas oberfaul!

 

„Diese Zauberkarte wird eingesetzt, um zusammen mit einem Hexer-Monster eine Xyz-Beschwörung durchzuführen“, erklärte Zanthe, „und ich kann nur Xyz-Monster beschwören, die dasselbe Attribut wie mein Ziel besitzen oder selber Hexer sind! Aber in dem Fall klappt alles!“

Der junge Mann streckte die rechte Hand nach vorne aus, in welcher ein riesiger Schlüssel aus purem Gold erschien. Diesen lehnte er an seine Stirn an und murmelte. „Open a door to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network! Xyz-Summon!“

Anschließend rammte er den Schlüssel in den Boden, auf dem ein mit Sternenzeichensymbolen verzierter Runenzirkel erschien. „Zeige dich uns, [Constellar Omega]!“

Die vier Bücher und Algiedi verwandelten sich in zwei gelbe Lichtstrahlen, die in dem Kreis verschwanden. Aus diesem brach gleich im Anschluss ein weißer Zentaur hervor. War sein Körper der eines Schimmels, begann ab der Hüfte der gepanzerte Krieger, aus dessen Rücken darüber hinaus ein Gestell aus schwarzen Metallplatten wuchs, welche an Flügel erinnerten.

Stolz positionierte sich das Wesen vor Zanthe, wobei zwei Lichtsphären es umkreisten.
 

Constellar Omega [ATK/2400 DEF/500 {4} OLU: 2]

 

Dieser warf einen erneuten Blick auf sein Blatt. Eigentlich war er in einer guten Ausgangslage. Aber wenn er jetzt gewinnen wollte, durfte er nicht Omegas Effekt benutzen, um jenen für diesen Zug vor Zauber- und Fallenkarten zu schützen. Denn er brauchte unbedingt seine beiden Xyz-Materialien.

„Ich aktiviere meine Falle [Dimension Slice]!“

„Verarsch' mich nicht! Die hast du eben erst gesetzt!“, protestierte Edna.

Die Karte klappte entgegen aller Logik trotzdem auf. So erklärte Zanthe mit gehässigem Grinsen: „Oh, wie konnte die kluge Dämonenjägerin das nur übersehen? Eine Spezialbeschwörung auf meiner Spielfeldseite reicht, um dieses Schätzen hochgehen zu lassen. Allerdings stimmt es, normalerweise müsste ich einen Zug warten, wie bei jeder Falle. Aber! Da es eine Xyz-Beschwörung war, geht es sogar ohne die lästige Wartezeit.“

„Und was bewirkt die Falle nun?“

„Dass du bye bye zu deinem Big Daddy sagst! Der geht jetzt in die Verbannung!“

Aus Zanthes Falle schossen dutzende violetter Lichtklingen, die es auf [Mermail Abyssgaios] abgesehen hatten. Doch dessen Brustpanzerung sendete auf einmal pulsierende Schwingungen aus, die mit dem Angriff resonierten und ihn schließlich im Nichts verlaufen ließen. Dann zerplatzte die Rüstung.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/3900 → 3100 DEF/1600 {7} OLU: 1]

 

„Wie unglaublich vorhersehbar. Deine [Abyss-scale Of The Cetus] negiert Falleneffekte, richtig?“, hakte der Werwolf nach.

Edna nickte knapp.

Grinsend strich sich Zanthe übers Kinn. Hatte er es sich doch gedacht. Es bereitete ihm insgeheim ein diebisches Vergnügen, die Angriffspunkte Abyssgaios' fallen zu sehen. Ob die Zicke gegenüber schon etwas ahnte?

Nun, dachte er und beäugte sein Blatt. Jetzt hatte er die Wahl. Alles auf einen Angriff setzen, oder lieber auf Nummer Sicher gehen? Er sah zu ihrem Feld herüber, wo zwischen den beiden Meermännern eine verdeckte Karte vor Ednas Füßen lag. Die könnte ihm die Tour vermasseln. Zwar konnte er [Constellar Omega] durch dessen eigenen Effekt immun vor gegnerischen Karteneffekten machen, aber dann fehlte jenem die nötige Stärke, um es in einem Schlag zu beenden. Andererseits, musste er sich wirklich fürchten? Seine Gegnerin war eine sehr offensive Zeitgenossin. Vermutlich besaß sie kaum Karten, die sie zu schützen vermochten, dazu war sie viel zu sehr darauf fixiert, möglichst schnell, möglichst unbarmherzig zu gewinnen – genau wie er in diesem Fall. Also war die Entscheidung eigentlich längst klar …

„Ich aktiviere die Zauberkarte [Stoic Challenge]!“ Zanthe schob die Ausrüstung in seinen Duellhandschuh und grinste beim Anblick der Lichtsphären um Omega, die intensiv zu glühen begannen. „Zwar kann das Xyz-Monster, dass mit dieser Karte ausgerüstet wird, seinen Effekt nicht mehr aktivieren und stirbt während deiner End Phase, dafür erhält es für jedes seiner Xyz-Materialien 600 Angriffspunkte.“

Edna runzelte die Stirn, blieb aber still, als sich eine gleißende, goldene Aura um den Zentaur auszubreiten begann.

 

Constellar Omega [ATK/2400 → 3600 DEF/500 {4} OLU: 2]

 

„Tja, jetzt ist mein Monster sogar stärker als dein König Triton da“, feixte Zanthe und schwang den Arm aus. Dabei funkelten seine Augen regelrecht vor Ehrgeiz. „Ich würde sagen, es ist Zeit zum Zuschlagen! Angriff, [Constellar Omega]! Eye of the arrow!“

Der geflügelte Zentaur stieg in die Luft auf. Dabei streckte er seine Brust vor, auf dem das Wappen der Constellar prangerte – ein achtzackiger Stern, ähnlich der Windrose eines Kompass, in einem achtzackigen Stern. Und aus jeder der Spitzen drang ein golden leuchtender Pfeil hervor, den Omega unter einem Brunstschrei regelrecht von sich ausstieß, direkt auf Edna zu. Ihm folgten dutzende weitere.

Die breitete die Arme weit aus. „Hast du dir so gedacht! Du kannst [Mermail Abyssgaios] nicht als Ziel eines Angriffs wählen, solange [Mermail Abysslung] im Spiel ist.“

Zanthe legte das Kinn auf die Brust und sah die dunkelhäutige Dämonenjägerin herausfordernd an. „Und wann habe ich jemals behauptet, das tun zu wollen?“

Als Antwort erhielt er ein perplexes Blinzeln.

„Schätzchen, Abysslung war von Anfang an mein Ziel. Wieso sollte ich auch das stärkere Monster bekämpfen wollen, wenn [Stoic Challenge] den ausgeteilten Kampfschaden verdoppelt?“

 

Mermail Abysslung [ATK/1500 DEF/1800 (4)]

 

Mit Genuss beobachtete er, wie seiner Gegnerin ein Licht aufging. Nur zu spät, denn die goldenen Pfeile flogen bereits steil nach unten Richtung des jungen Meermannes, der sich hinter seinen Armschilden zu verstecken versuchte.

„Vergiss es!“, fauchte Edna. „Mich mit so etwas Billigem besiegen wollen? Eher sterbe ich! Falle! [Abyss-scorn]! Sie erhöht die Angriffskraft eines Mermails um 1000!“

Die Pupillen von Abysslung verloren ihre Farbe und verschwanden, als er seine Verteidigung schlagartig vernachlässigte und plötzlich zum Gegenschlag ausholte.

 

Mermail Abysslung [ATK/1500 → 2500 DEF/1800 (4)]

 

Doch die Idee war schlecht. Die goldenen Pfeile zerfetzten ihn regelrecht, lösten eine Explosion aus, deren Schockwelle Edna zurückschleuderte. Doch sie hielt sich im Rückwärtstaumeln tapfer auf den Beinen.

Indes klatschte Zanthe anerkennend. „Oh? Die Berserkerfrau nutzt ihre Offensive, um sich zu schützen? Wie gut für dich, dass die Rechnung diesmal aufgegangen ist. Gerade so.“

 

[Zanthe: 4000LP / Edna: 4000LP → 1800LP]

 

Hätte sie die Falle nicht eingesetzt, hätte sie über 4000 Punkte Schaden kassiert. So waren es gerade einmal 2200. Ganz so blöde war sie dann wohl doch nicht, gestand ihr Zanthe insgeheim zu.

„Aber jetzt steht dein Abyssgaios ganz ohne verstärkende Effekte da“, wies er auf das Offensichtliche hin, nun da Abysslungs Boost auch verloren war.

 

Mermail Abyssgaios [ATK/3100 → 2800 DEF/1600 {7} OLU: 1]

 

„Hmpf! Und du verlierst dein Monster trotzdem, ohne dass ich etwas machen muss!“, konterte Edna. „Nicht gerade clever.“

Zanthe aber lachte süffisant. „Wer im Glashaus sitzt … du weißt. Komm, ich zeig dir was!“

Das gesagt, streckte er den Arm in die Höhe. In seiner Hand materialisierte sich ein riesiger Platinschlüssel, wobei sich über dessen Spitze gleichzeitig ein schwarzes Loch öffnete.

„Ich rekonstruiere das Overlay Network!“, rief Zanthe. „Aus meinem Rang 4-Monster wird ein Rang 6-Monster!“

Als goldener Lichtstrahl wurde [Constellar Omega] in den Wirbel gezogen, aus dem eine Explosion aus schwarzen, gelben und roten Blitzen hervor drang. Zanthe legte den Schlüssel derweil gegen seine Stirn und murmelte: „Open a gate to the Sacred Star Knights!“ Danach begann er regelrecht zu schreien. „Incarnation Summon! Lass alles um dich herum verblassen, [Constellar Ptolemy M7]!“

Unter infernalem Geschrei schoss ein gold-weißer Mecha-Drache aus dem Schwarzen Loch heraus, der sich vor Zanthe in voller Pracht aufbaute – um dann die schwarzen Flügel schützend vor sich zu halten. Dabei umkreisten ihn drei goldene Lichtsphären wie winzige Monde.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 DEF/2000 {6} OLU: 3]

 

Zanthe sah erst seine letzte Handkarte, [Constellar Sombre] und dann das Xyz-Monster auf seinem Duellhandschuh an. Er schmunzelte zufrieden. Sollte die Zicke so dumm sein und angreifen, würde sie ihr blaues Wunder erleben. Sein Blick lag dabei auf dem grünen Kartenrand, der unter Messier 7s Karte hervorlugte. Und selbst wenn es ihr gelang, irgendwie wieder an Boden zu gewinnen, würde er im nächsten Zug erst richtig loslegen.

Der Schwarzhaarige sah auf. „War doch gar nicht so schlecht für den Anfang. Kannst weitermachen.“

 

Edna griff nach ihrem Deck und riss schnaubend die oberste Karte von diesem mit Schwung weg. Jene zwischen den Fingern wirbelnd, war die Dämonenjägerin im Begriff, sie auszuspielen. „Deine Arroganz werd' ich dir in den Hals stopfen! Ich-“

Es war nur eine Sekunde, mehr nicht. Zanthes Herz hörte auf zu schlagen, oder zumindest fühlte es sich so an. Und es war das Einzige, was er fühlte. Hörte, sah, roch. Nur eine Sekunde, in der es nichts anderes gab als ihn und 'es'. Das, was verborgen vor den Augen aller lauerte, tief in Edna selbst verborgen. Eine Macht, die er so nur vor einer anderen Person kannte …
 

Ein Schrei durchbrach Zanthes Trance. Beide Duellanten schreckten auf und sahen herüber zu Marcs Duell, welches gerade sein spektakuläres Ende gefunden hatte. Harris wurde durch die ganze Kirche geschleudert, flog über die Bänke hinweg und wurde durch die Wand geschmettert, landete im Vorraum der Kirche.

In Ednas Gesicht stand das blanke Entsetzen geschrieben.
 

Dann rannte sie los.

„Dafür habe ich keine Zeit mehr!“, fauchte sie und deaktivierte ihre Duel Disk, was zur Folge hatte, dass die Hologramme verschwanden.

Geistesgegenwärtig lief Zanthe seiner Gegnerin hinterher, konnte sie auf halbem Wege im Gang zwischen den Bänken einhole und streckte die Hand aus, um nach ihrem Arm zu greifen. „Du entkommst mir nicht.“

Dann setzte sein Herz wieder aus, er brach die Bewegung ab und blieb wie erstarrt stehen, während Edna sich immer weiter von ihm entfernte.

„Hey!“, hallte Marcs aufgeregte Stimme durch die Kirche, welcher vor Erschöpfung in die Knie gesackt war und die Verfolgung nicht aufnehmen konnte. „Bleib gefälligst hier! Feigling!“

Die junge Frau blieb vor der Flügeltür stehen und drehte sich noch einmal zum Bräutigam um, der zu seiner bewusstlosen Verlobten kroch.

„Wir sehen uns wieder!“, schwor sie hasserfüllt, ehe sie davon stürmte.

Es dauerte einige Sekunden, dann brach Zanthe in sich zusammen und hustete wie verrückt. In dem Moment gab es einen dumpfen Knall und ein violettes Licht, das aus dem von Harris geschaffenen Loch blitzte. Ohne Zweifel waren die beiden über alle Berge.

 

„A-alles in Ordnung?“, hörte er Marc rufen.

„G-geht schon“, keuchte der Werwolf, als er sich vom Boden abstützte und dabei die Kehle hielt.

Ein leises Zischen kündete von dem Verschwinden der DNA-Stränge, die ihre übernatürlich angehauchten Geiseln fest in ihrem Griff gehalten hatten. Doch entgegen aller Annahmen war es Nick, der als Erster auf die Beine kam, war er aus seinem Schläfchen zwischenzeitig erwacht. Neben ihm stöhnte Abby, nicht weit von der brubbelte bereits eine bis aufs Äußerste erzürnte Anya vor sich hin.

Nick half der Sirene auf, die kreidebleich war, gar nicht lange zögerte und sofort zu Valerie stürmte.

„Oh Gott“, stammelte sie mit Tränen in den Augen, als sie die bewusstlose Braut erblickte, „was haben sie dir angetan, Valerie?“

Nick eilte neben sie. Sein betroffener Blick sprach Bände. Auch Anya hatte sich derweil aufgerappelt und stieß zu den beiden. „Mistkerle! Einfach abzuhauen, wenn's plötzlich nicht mehr so läuft. Heute Nacht träum' ich von Tod und Verderben, so viel ist mal sicher!“

„Anya!“, mahnte Nick seine Freundin. „Nicht jetzt.“

Die blickte herüber zu ihrer Erzfeindin. Kurz angebunden wie immer kommentierte sie den Anblick nur lasch: „Scheiße, Redfield …“

 

Derweil kniete der Bräutigam neben ihr und keuchte, teils vor Erschöpfung, teils vor Wut.

Sie waren weg, entkommen! Marc drehte sich langsam um, sah die Kapelle. Trümmer lagen herum. Einschlaglöcher von den verschiedenen Angriffen zierten die Gemäuer. Sie war fast ausgestorben und doch gefüllt von schlafenden Gästen … und Valerie lag da, umringt von Abby, Anya und Nick. Hoffentlich ging es ihr gut!

„Valerie!“, rief er panisch und packte sie an den Schultern.

Doch noch ehe er weitere Worte sprechen konnte, richtete seine Verlobte sich stöhnend auf.

„Das tut mir so furchtbar leid“, murmelte Abby und kniete sich behutsam im Angesicht des engen Kleides zu ihr. Ihre Augenränder waren gerötet, noch immer den Tränen nahe. Valerie nickte benommen.

„Ist“, begann sie mit heiserer Stimme zu fragen, „ist jemand-“

„Keiner. Uns geht’s gut, den ganzen Schnarchnasen hier auch“, antwortete Anya für Abby.

„Verstehe …“ Dann nahm Valerie die von Abby angebotenen Hände und ließ sich aufhelfen, wobei sie allein nicht imstande war zu stehen.

 

Das musste sie auch nicht, Marc fing sie auf. Und Valerie umarmte ihn so fest sie konnte. Abby wich aus Respekt sofort zurück.

„Ich konnte sie nicht aufhalten“, murmelte er und küsste sie sanft auf die Stirn.

„Du hast sie vertrieben“, flüsterte Valerie leise, „das ist mehr, als ich geschafft habe …“

Ihr Verlobter schwieg, wusste er doch nicht, wie er das überhaupt vollbracht hatte. Die Enttäuschung, die sie durchmachte, konnte er am eigenen Leib spüren. Das Zittern, er fühlte es.

„Aber es ist okay“, fügte sie hinzu, „niemand wurde ernsthaft verletzt, nicht wahr? Dafür bin ich dankbar und … deswegen werde ich nicht weinen. Wir werden eine zweite Chance erhalten.“

Plötzlich lachte sie bitter auf. „Auch wenn du mein Kleid jetzt gesehen hast. Ob das … Unglück bringt?“

„Vielleicht nicht, wenn du es bis zum nächsten Versuch an behältst“, scherzte er schwach.

 

Jemand klatschte in die Hände.

Die beide sahen auf und drehten sich herüber, wo Anya stand, flankiert von Nick und Abby. Das blonde Mädchen sah das Brautpaar in einer Mischung aus boshafter Genugtuung, gleichzeitig aber auch mitleidig an.

„Das wird teuer“, sagte Anya und spielte auf die finanziellen Schäden an, die der Auftritt der beiden Dämonenjäger mit sich gebracht hatte, „ich hoffe, du bist schlecht versichert, Redfield.“

„Ich glaube, das ist unsere geringste Sorge“, erwiderte die eisig.

Sofort hob Anya die Hände hoch. „Hey, denkst du etwa, das hier ist meine Schuld!? Ich schwöre, alle meine Pläne, deine Party zu crashen hat Abby schon vorher im Keim ersticken lassen!“

„Das kann ich so bestätigen“, nickte jene.

„Selbst wenn, offenbar waren sie hinter dir her. Hinter uns allen“, murmelte Valerie. Sie ließ den Kopf hängen. „Sieht so aus, als könnten wir … kein friedliches Leben mehr führen.“

 

Mit vorgehaltener Hand wandte sich Anya an Abby und Nick. „Okay, jetzt ist sie richtig schön down! Harper, du spendierst den Beat, Abby, du übertönst ihn. Los!“

Wie auf Kommando begann Nick mit etwas, das man ihm nie zugetraut hätte: Beatboxen. Es klang etwas holprig, aber als Abby einsetzte und mit ihrem Sirenengesang den Hochzeitsmarsch anstimmte, sahen Marc und Valerie verblüfft auf.

„Was soll das?“, fragte Letztere irritiert.

Anya schlenderte auf die beiden zu. Dabei streckte sie die Arme schulterzuckend aus, als wüsste sie das selbst nicht so genau. „Nun, da ja nun doch jemand den Party Pooper gespielt hat, dacht' ich mir, setzen wir noch eins drauf.“

„Anya, das ist nicht witzig! Nicht jetzt, nicht heute!“, fauchte Valerie getroffen.

„Oh Redfield, du kriegst deine Hochzeit“, versprach Anya, die vor ihr angekommen war.

Plötzlich schnappte sie sich von beiden die jeweils rechte Hand und zog sie zu sich, beide Handflächen nach oben gerichtet und nebeneinander. Im Hintergrund immer noch die improvisierte Hochzeitsmusik.

„Da der dämliche Pater gerade alle Viere von sich streckt, bin ich jetzt eure Trauzeugin“, sprach Anya feierlich und grinste ihre verblüfften Freunde an, „aber nur, weil Marcs Vorschlag bescheuert ist. Irgendwann stinkst du darin wie Nick, wenn du das dämliche Kleid nicht ausziehst!“

Valerie stand eine Träne im Auge. „A-Anya …“

„Okay, jetzt die große Quizfrage, Redfield. Willst du Marc solange auf die Nerven gehen, bis er freiwillig in die Kiste steigt? Ja oder nein?“

Anya richtete den Blick anschließend auf Marc. „Und du, Butcher … hast du nichts Besseres zu tun, als diese Schnarchnase von Redfield zu heiraten? Die falsche Antwort wird dich die Million kosten!“

Es dauerte einen Moment, ehe Marc und Valerie realisiert hatten, wer da gerade allen Ernstes ihren Bund fürs Leben besiegeln wollte. Obwohl jeder der beiden in diesem Moment genug Gründe hatte, Anya postwendend aus der Kapelle zu werfen, rührte die Geste sie so sehr, dass es nur eine mögliche Antwort auf die Frage gab.

„Ja, ich will“, hallte es synchron.

„Super!“, grinste Anya schadenfroh. „Zeit für den Blutspakt!“

„Blutspakt!?“, stammelte Valerie sofort und riss sich von der Blondine los. „Meinst du Blutsbrüderschaft? Was hat das mit einer Hochzeit zu tun!?“

Marc grinste. „Ich glaub, sie hat das alles nur gemacht, um dich legal bluten zu lassen.“

Woraufhin Anya boshaft erwiderte: „Bingo!“

 

Derweil gesellte sich Zanthe zu den beiden Musikern im Hintergrund, die mittlerweile verstummt waren.

„Wow“, staunte er, „hätte nicht gedacht, dass in ihr tatsächlich so etwas wie ein Fünkchen guter Wille steckt.“

„Du würdest dich wundern“, erwiderte Nick sofort verkrampft.

Abby seufzte verträumt. „Ich glaub, das kann ich mir auch zu meiner Hochzeit vorstellen … immerhin ist es doch noch irgendwie romantisch geworden.“

Der Zwei-Meter-Mann neben ihr verschränkte die Arme. Dabei grinste er nichtsdestotrotz, als er sagte: „Lieber nicht, Abby.“

Auch Henry und Melinda stießen nun zu den beiden, nachdem sie es geschafft hatten, wieder auf die Beine zu kommen. Henry schüttelte nur schicksalsergeben den Kopf. „Hätte ich geahnt, was hier abgeht, wäre ich nicht gekommen.“

„Du bist doch nur sauer, weil du nichts tun konntest“, stichelte Melinda, streichelte dann aber freundschaftlich den Arm ihres Bruders, „ist aber nicht schlimm, das ging uns allen so.“

Henry aber blieb unterkühlt. „Wenn du meinst.“

„Zumindest ist es nicht so langweilig geworden wie ich befürchtet hatte“, relativierte Zanthe derweil an Nick gewandt und sah den drei Hochzeits-Spezialisten vor ihm zu, wie sie sich gegenseitig aufzogen, „auch wenn ich überrascht bin, dass sich meine Theorie bestätigt hat.“

Nick warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Welche Theorie?“

„Die eine“, antwortete Zanthe und senkte seine Stimme, „war wie ich. Eine Hüterin. Und ich habe keine Ahnung, warum sie ausgerechnet fast der Person ins Netz gegangen ist, die sie jagt.“

 

~-~-~

 

„… und so habe ich den Tag gerettet!“

„Indem du nichts getan hast? So möcht' ich auch meine Tage retten.“

Logan rollte auf einer kleinen Unterlage unter dem Chevrolet hervor, an dem er gerade werkelte. Sein weißes Feinrip-Hemd war von Ölflecken gezeichnet, auch im Gesicht und an den Muskeln hatte er sich, gelinde gesagt, ganz schön eingesaut.

 

Seine Werkstatt war nicht gerade groß. Zwei Wagen hatten in der offen stehenden Garage nebeneinander Platz, dazu gab es noch eine Abstellmöglichkeit für ein Motorrad. Seine schwarze F 800 S stand momentan dort.

Er ging direkt auf Anya zu, die an einer Werkbank gleich neben dem Garagentor lehnte und die Arme verschränkt hielt. Sich direkt vor sie stellend, griff er nach einem Schraubschlüssel.

„Muss ja trotzdem nett gewesen sein, wenn du so gut gelaunt bist“, stellte er dabei fest.

Anya konnte ihn riechen. Den Geruch von Öl, der sich mit Schweiß vermischte. Eklig. Sie wich ihm sofort aus, zuckte dabei mit den Schultern.

„War immerhin besser als so'ne Spießerveranstaltung“, meinte sie unbekümmert.

 

Natürlich hatte sie ihm nicht alle Details verraten, nur die, die auch für die Öffentlichkeit bestimmt waren. So sehr traute sie ihm dann doch nicht. Zumal er sie ohnehin nur für verrückt erklären würde, wenn sie ihm sagte, dass die beiden Dämonenjäger waren. Vermutlich hatte er immer noch nicht gerallt, was neulich mit ihrem Bruder Zach und Kali überhaupt abgegangen war – was nur umso besser für ihn war. Und für Anya.

 

Der Zwerg trottete wieder zum Wagen. Dabei warf er jedoch Anya über die Schulter einen skeptischen Blick zu. „Scheinst den Ärger ja magisch anzuziehen.“

„Bist wohl neu in der Stadt“, erwiderte sie mit einem kecken Grinsen, „ich -bin- der Ärger.“

„Ich halte mich da raus“, meinte er, legte sich zurück auf das fahrbare Holzbrett und rollte unter den Chevrolet zurück, „aber wenn du'n Tipp willst: gib nicht so damit an.“

Anya schnaubte beleidigt. Was wollte er ihr denn damit bitteschön mitteilen!? Pah! Warum war sie überhaupt hierher gekommen und hatte ihm von der Hochzeit erzählt!?

„Hmpf, was auch immer. Ich muss los, hab keine Zeit für'n Duell oder so. Dein D-Pad bekommst du so schnell nicht wieder“, pflaumte sie ihn an und stampfte aus der Werkstatt.

„Mach's ja nicht kaputt“, rief er ihr noch hinterher. Sonderlich besorgt klang er dabei allerdings nicht. Was Anya nur umso mehr aufregte, der Typ war viel zu locker!

 

Na ja … sie würde ihn eine Zeitlang nicht sehen, also ließ sie es ihm diesmal durchgehen. Denn was Nick ihr nach der Hochzeit eröffnet hatte, war alles andere als aufbauend gewesen. Nicht nur, dass diese beiden Dämonenjäger etwas hatten, was sie wollte und entkommen waren …

Nein. Die andere Zielperson, die Nick seit Tagen versucht hat ausfindig zu machen, sie war einfach nicht zu schnappen. Und es gab nur noch einen Weg, den Kerl in die Fittiche zu bekommen. Dafür würde Anya allerdings ein paar alte Bekannte besuchen müssen …

 

 

Turn 47 – Trial And Error

Anya und Zanthe reisen schnellstmöglich nach San Augustino, einer kleinen Stadt im Herzen Amerikas, nachdem Nick ihnen nun sein Wissen über die zweite Zielperson eröffnet hat. Dort werden sie von niemand Geringerem als Matt Summers in Empfang genommen, seines Zeichens ein alter Mitstreiter Anyas und womöglich ihre letzte Hoffnung. Jedoch fällt das Wiedersehen anders als erwartet aus …

Turn 47 - Trial And Error

Turn 47 – Trial And Error

 

 

Anya lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Der Anblick der Landschaft, die sich ihr bot, war größtenteils ländlicher Natur, nur etwas Wald in der Ferne lockerte den ansonsten tristen Anblick etwas auf.

„Wie lange noch?“, murrte sie ärgerlich.

„Wir sind erst vor einer halben Stunde losgefahren. Sechs, sieben Stunden wird es bestimmt noch dauern, das Umsteigen mit eingerechnet“, erwiderte Zanthe beiläufig und blätterte weiter in seiner Oldtimer-Zeitschrift herum.

Er saß neben Anya in dem ansonsten leeren Abteil. Die beiden hatten seither nicht viel geredet, was vor allem daran lag, dass Zanthe seiner Begleiterin möglichst wenig Beachtung zu schenken versuchte. Einzig um zu sehen, was sie sich einfallen ließ, wenn ihr langweilig war. Und ihr war -verdammt- langweilig.

„Tch“, zischte sie ärgerlich und zog ein Taschenmesser aus ihrer Hosentasche hervor. Sie schob es unter die Abdichtung des Fensters und versuchte jene aufzuschlitzen, was sich als erstaunlich anstrengend erwies.

Dabei dachte sie an vorgestern, kurz nach der gescheiterten Hochzeit von Valerie.

 

Du wolltest uns sprechen?“, fragte Abby irritiert.

Die ganze Gruppe hatte sich, nachdem die Polizei sie zu dem 'Überfall' in der Kapelle befragt hatte, am Waldrand zusammengefunden. Sie alle, die einen wie Valerie und Marc mehr, die anderen wie Henry oder Melinda weniger, waren gezeichnet von den Geschehnissen. Gerade das Brautpaar sah in seinem zerfetzten, durchtränkten Hochzeitskleid beziehungsweise dreckigen Anzug furchtbar aus.

Nick, der angesprochen worden war, befand sich in der Mitte des kleinen Kreises. Er richtete sich an Anya, die bereits wusste, was sie erwartete und dementsprechend grimmig zur Seite starrte.

Anya hat euch etwas zu sagen“, verkündete er ernst.

„Hab ich das, Harper?“

Anya“, begann Abby gewohnt streng, wenn es um 'so etwas' ging, „hast du. Wenn du es nicht tust, werden wir es tun. Richtig, Nick?“

Der zeigte zwar keine Regung, aber sein steifer Gesichtsausdruck war Antwort genug.

Anya trat trotzig aufstampfend vor. „Das ist nicht fair! … aber ich schätze, 'ne andere Wahl hab ich nicht, oder?“

Die Sirene strich ihr über den Rücken. „Wir sind deine Freunde. Wenn du uns nicht vertrauen kannst, wem dann?“

Valerie, die von Marc gestützt wurde, hob interessiert die Augenbrauen. Dabei murmelte sie unter dem Schatten einer dunklen Ahnung: „Also hast du doch etwas mit dem zu tun, was passiert ist.“

Zanthe, der Anyas Linke flankierte, schüttelte den Kopf. „Das ist noch nicht raus. Lass sie erstmal erzählen.“

Die Blondine atmete tief durch, versuchte besonders die ebenso neugierigen Blicke von Melinda und Henry zu ignorieren, die hinter Valerie und Marc aufgestellt waren.

„Leute … ich stecke ganz tief in der Scheiße.“

Wann tatest du das jemals nicht?“, fragte der Erbe des Ford-Imperiums sofort spitz und bekam unmittelbar den Ellbogen seiner Schwester in die Rippen gerammt. „Ist doch wahr!“

 

So begann Anya nur unter gutem Zureden Abbys langsam zu erzählen, wie der Sammler sie bereits vor Monaten in eine Falle gelockt und nun fest im Griff hatte. Was sie für ihn tun musste, wie weit sie damit bereits gekommen war und was ihr noch bevorstand.
 

Als sie geendet hatte, fühlte sich Anya keineswegs erleichtert. Im Gegenteil, es fühlte sich an, als hätten sich ihre Probleme gerade vervielfacht.

„Anya“, sagte Valerie zögerlich, „… du kannst nichts dafür.“

„Du hättest vorsichtiger sein müssen“, kam es ausgerechnet aus Henrys Mund geduldig, „dieser Dämon ist der gefährlichste von allen. Ihm zu trauen ist Selbstmord.“

Anya schnaufte. „Das weiß ich mittlerweile auch. Verdammte scheiße!“

Er hat mich zurückgebracht. Er wird dich retten können“, meldete sich Marc zu Wort, „fragt sich nur, welchen Preis du dafür zahlen musst.“

„Oder wir alle“, merkte Melinda an, „wer weiß, was der vorhat mit diesen Karten, Artefakten, Waffen oder was auch immer sie sind. Sicher ist es nichts Gutes.“

Die ramponierte Braut schüttelte den Kopf. „Gut und Böse sind Konzepte, die wir auf den Sammler nicht anwenden sollten. Ohne seine Hilfe wären wir im Turm gestorben.“

„Du hast doch gehört, es war alles nur ein Test“, relativierte Henry. „Und jetzt weiß ich auch, warum er mir damals seine Hilfe zu, wie sagte er, günstigen Konditionen angeboten hat …“

Abby horchte auf. „Bist du etwa auch in seine Falle getappt!?“

„Nein. Beziehungsweise, sicher bin ich mir da jetzt nicht mehr. Erinnerst du dich noch an die hier?“

Henry griff in seine Hosentasche und zog drei Karten von dort hervor. Es waren jene drei, die damals im Turm von Neo Babylon dafür gesorgt hatten, dass sie trotz Edens paralysierendem Bann kämpfen konnten. Er reichte sie Anya.

„Nimm sie. Und gib sie ihm zurück, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Wer weiß, was passiert, wenn ich sie behalte.“

Die Blondine nahm sie erstaunt entgegen. Dann runzelte sie die Stirn. „Jetzt krieg' ich wieder den Schwarzen Peter, huh? Wie immer!“

Ich glaube, die sind harmlos. Er hat doch längst alles, was er für sein Spiel braucht“, zuckte Melinda mit den Schultern.

Dabei sah sie herüber zur Kirche, die nur so von Reportern umlagert war, die sich einen eher weniger stillen Kampf mit der Polizei lieferten.

 

Nick, der die ganze Zeit über still geblieben war, meldete sich zu Wort. Er drehte sich zu Anya um. „Da gibt es noch etwas, das du wissen solltest. Zanthe …“

Dieser trat in den Kreis neben Nick und sah Anya ebenfalls an. „Sicher hast du es auch bemerkt. Die Schwarze war eine Hüterin. Sprich, eine deiner Zielpersonen.“

Anya klappte die Kinnlade hinunter. Das hatte sie -nicht- bemerkt. Umso lauter wurde sie, als die Erkenntnis folgte, dass Edna ihr durch die Lappen gegangen war. „Und du hast sie entkommen lassen, du Blödian!?“

Ihre Karte muss sie beschützt haben“, rechtfertigte sich Zanthe unbeeindruckt, rückte dabei sein blaues Kopftuch zurecht, das nicht recht zu seinem schwarzen Anzug passen wollte, „ich konnte nichts machen.“

Und jetzt!?“, fauchte Anya. „Die dumme Ziege könnte sonstwo sein!“

In dem Fall“, schritt Nick dazwischen und legte seine Hände beruhigend auf Anyas Schultern, „sollten wir sie einfach machen lassen und warten, bis sie ihr Versprechen einlöst.“

Die einen Kopf kleinere Anya erinnerte sich. Bevor die Dämonenjägerin abgehauen war, hatte sie mehr oder weniger Rache geschworen. „Soll die Bimbo-Buffy ruhig kommen!“

„Anya!“, fauchte Abby sofort brüskiert. „Höre ich noch einmal so einen rassistischen Kommentar von dir, dann ist der Sammler deine geringste Sorge!“

Der unerwartete Ausbruch ließ selbst eine Anya Bauer vor Schreck zurückweichen, auch wenn sie allein aus Trotz so tat, als wäre ihr das völlig gleich, indem sie lautstark die Nase rümpfte.
 

„Diese Edna scheint keine Ahnung zu haben, dass du eigentlich sie jagst und nicht umgekehrt“, setzte Nick nach einer unangenehmen Pause seine Erklärung fort, „dass sie heute hier aufgetaucht ist, ist entweder ein Zufall oder durch irgendjemanden arrangiert worden.“

Henry schnalzte mit der Zunge. „Es gibt keine Zufälle. Nicht für solche wie uns.“

„Richtig. Sie wussten viel zu gut Bescheid über uns, um einfach nur auf Dämonenjagd zu sein“, erwiderte Nick mit dem Blick auf Anya gerichtet, „aber unsere Stunde wird kommen, Anya. Doch solange wir auf ein Lebenszeichen von Edna warten, werden wir uns einem anderen Ziel widmen.“

Melinda fragte: „Und was ist mit ihrem Partner, diesem Harris?“

„Der scheint eher ein Mitläufer zu sein.“ Marc kratzte sich an seinem Kinnbart. „Für einen Dämonenjäger wirkte er ziemlich unreif und mir ist nichts an ihm aufgefallen, was Zanthe bei Edna bemerkt hat.“

Anya sah Nick tief in die Augen. „Und wer steht nun als Nächstes auf meiner Schwarzen Liste?“

Dieser schloss ebenjene plötzlich. „Jemand, den ich nicht ausfindig machen kann. Jemand, dem ich bereits einmal begegnet bin. Der Einzige, der dir vielleicht helfen kann, den Typen zu finden, ist …“

 

„Summers“, brummte Anya nachdenklich und wandte den Blick von der Landschaft ab.

Unglaublich, dass Nick mit seinen Wundern der Technik nicht in der Lage war, ihr nächstes Bauernopfer zu finden. Stattdessen hatte er ihr gestern zwei Zugtickets in die Hand gedrückt und angewiesen, nach San Augustino zu fahren. Wo Matt sie erwartete.

Anya war noch immer baff, dass es Nick immerhin gelungen war, mit dem Dämonenjäger Kontakt aufzunehmen. Etwas, das ihr nicht vergönnt gewesen war. Matt und sein Partner Alastair waren bis vor Kurzem noch wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Aber Nick hatte sie ausfindig gemacht.

Warum er selber nicht mitkam, das verstand Anya beim besten Willen nicht. Fast hatte sie den Eindruck, Nick wollte nicht auf den Mann auf ihrer Liste treffen. Immerhin schienen die beiden sich zu kennen, auch wenn ihr Freund diesbezüglich erstaunlich sparsam mit Erklärungen umging.

Stattdessen wollte er in Livington bleiben und versuchen, Ednas Spur zu finden. Seine bevorzugte Ausrede bezog sich entweder darauf oder auch wahlweise auf seinen Gesundheitszustand, der nach Kalis Angriff immer noch nicht zufriedenstellend war. Laut eigener Aussage verstand sich.

Zudem hatte ausgerechnet Henry den rettenden Vorschlag gemacht. Wenn man jemanden nicht finden konnte, musste man ihn eben heraufbeschwören. Matt konnte das. Henry hatte seine Hilfe diesbezüglich selbst schon in Anspruch genommen und auch noch ausgerechnet um den Sammler zu beschwören, der ihm damals helfen sollte, seine Schwester Melinda zu finden.
 

„Wie ist dieser Matt so?“, fragte Zanthe neugierig und ließ von seiner Zeitschrift ab.

Anya raunte: „Keine Ahnung. Hab ihn ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen. Einfach so unterzutauchen, ohne jemandem was zu sagen. Also ein Idiot, wenn du's wissen willst!“

Ihr Begleiter schüttelte schicksalsergeben den Kopf. „Deswegen heißt es doch untertauchen. Weil man nichts sagt.“

Na und, dachte sich Anya? Sie hatte trotzdem jedes Recht, beleidigt von diesem miesen Zug zu sein. Nach allem, was sie und Matt zusammen durchgestanden hatten! Aber wenn sie ihn erst in die Finger bekam, dann-! Sie würde-!

„Ach, leckt mich doch alle am Arsch!“

„Bedaure, nicht mein Fetisch“, erwiderte Zanthe lakonisch und widmete sich wieder seiner Zeitschrift.

 

Da Anya aber so derart langweilig war, dass ihr selbst die Lust am Beschädigen von fremdem Eigentum vergangen war, tat sie daraufhin etwas, das man ihr nie zugetraut hätte. Sie zeigte Interesse an ihren Mitmenschen. Und da es derer nur einen in ihrem direkten Umfeld gab …

„Wie bist du eigentlich in der stinkenden Höhle gelandet?“

„Kein Geld für 'ne Wohnung.“

„Und was hast du gemacht, als du noch Geld hattest?“

„Bin herumgereist auf der Suche nach einem Heilmittel für meine Lykantropie.“ Zanthe sah von seiner Zeitschrift auf. „Und davor bin ich mit meinem Rudel unterwegs gewesen. Aber das liegt so lange zurück, dass ich mich kaum noch an etwas aus dieser Zeit erinnern kann.“

Anya gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen „Aha“ und „Wie langweilig“ anzusiedeln war. „Und wie war dein Rudel so?“

Zanthe sah zu ihr herüber und zuckte mit den Schultern. „Irgendwie scheiße. Aber irgendwie auch nicht. Ich mein, sie hätten mich damals auch sterben lassen können. Stattdessen haben sie mich in ihren Kreis aufgenommen, nachdem … nicht so wichtig. So sieht's jedenfalls aus.“

„Ist doch … gut?“

„Da fingen die Probleme für mich erst richtig an. Was meinst du, welchen Stand ein vegetarischer, insgeheim homosexueller Werwolf in einem Rudel hat, das nur so vor Testosteron stank?“

Anya kratzte sich am Kopf. „Du warst das Schlusslicht der Nahrungskette, oder?“

„Sozusagen.“ Zanthe sah aus dem Fenster neben Anya. „Als sie erfuhren, dass ich Schwänze lutsche, haben sie mich verstoßen. Die Zeiten waren damals noch anders. Obwohl, wenn man ganz genau hinschaut, sind sie es eigentlich nicht wirklich. Nur die Masken sind andere.“

Anya, die den Kommentar nicht verstand, blinzelte verdutzt.

Der Werwolf winkte ab. „Vergiss es. Das interessiert dich eh nicht wirklich, oder?“

Anya machte ein nachdenkliches Gesicht, ohne aber tatsächlich zu überlegen. „... nö.“

„Na also“, lächelte Zanthe zufrieden, „und jetzt halt bitte die Klappe, du störst mich beim Lesen.“

 

~-~-~

 

Am frühen Abend schließlich und nach mehrmaligem Umsteigen kamen Anya und Zanthe schließlich dort an, wo Matt und Alastair sich laut Nick aufhalten sollten: einem Dorf namens San Augustino.

Die beiden stiegen aus dem Zug. Anya hatte nur einen Koffer dabei, von dem Zanthe jede Wette einging, dass er nur mit schwarzen Klamotten gefüllt war. Ganz anders als er, der gleich zwei Koffer mit sich trug. Er kam farbenfroh in einem grünen Shirt und weiß-blau-karierten Drei-Viertel-Shorts daher, wohin Anya wie immer auf Totenköpfe, diesmal mit Blut verschmiert, und das gewohnte Schwarz setzte.

Die sah sich sofort um. „Wehe, wenn der nicht kommt!“

„Ich würde es ihm nicht verdenken. Wer will dich schon als Besuch?“

„Schnauze!“

 

Aber da, unvermittelt erblickte sie ihn! Er lehnte an der Wand des kleinen Gebäudes, welches sich gegenüber der Gleise befand. An jenem angebaut war ein zweistöckiger Turm samt Uhr, die allerdings eine ganz falsche Zeit wiedergab, nämlich Punkt Mitternacht.

Anya beschleunigte ihren Schritt und warf nebenbei ihren Koffer nach hinten, den Zanthe ungewollt und prustend mehr mit seiner Brust denn seinen Händen auffing und dabei noch seine eigenen Koffer fallen ließ. Als Matt die beiden bemerkte, stieß er sich von der Wand ab und kam Anya entgegen. Die machte, als er in ihrem unmittelbaren Umfeld angekommen war, einen hastigen Schritt nach vorn und umschlang den Schwarzhaarigen mit beiden Armen.

„Summers, altes Haus! Lange nicht mehr gesehen!“, rief sie gelassen.

Sie merkte genau, wie er zusammenzuckte, als sie ihre Umarmung intensivierte. Ein schadenfrohes Grinsen zierte daraufhin ihre Lippen und sie drückte noch fester zu. Um genau zu sein so fest, dass die nächste Stufe ihm definitiv etwas brechen würde.

„Ich freue mich auch dich zu sehen“, gab der junge Mann schicksalsergeben von sich, „kannst du mich jetzt loslassen?“

„Nein“, kam es kühl zurück, „sei froh, dass meine Anya Bauer-Wurstpresse dich noch nicht umgebracht hat. Warum zur Hölle hast du dich nie bei mir gemeldet, huh!?“

 

Jetzt erst löste sie sich von Matt und stieß ihn weg, bemaß ihn dabei mit einem genauen Blick. Sein dunkles Haar war wie immer nach hinten gekämmt und zu spitzen Strähnen gegelt, dazu hatte er ein weißes Hemd unter einer legeren Lederjacke an. So kannte sie ihn gar nicht, sonst rannte er immer in einem schwarzen Mantel herum.

 

Matt rieb sich mit finsterem Blick über den Arm. „Andere Dinge hatten Priorität.“

„Ach ja? Ich dachte wir wären jetzt Freunde!“ Anya stemmte betonend die Hände in die Hüften.

„Sind wir auch. Allerdings bedeutet das nicht automatisch, dass ich dir permanent Gefallen schuldig bin.“

Nebenbei gesellte sich Zanthe zu den beiden. „Wow, du kennst sie also gut genug um zu wissen, dass sie sich nur meldet, wenn sie etwas von einem will.“

Ertappt fauchte Anya ihren Begleiter an: „Halt deine Klappe, du Wannabe-Ginger!“

„Ich was?“, wiederholte Zanthe irritiert, die Anspielung auf Anyas Lieblings-Werwolf-Film nicht verstehend.

„Wer ist das überhaupt?“

Auf Matts Frage hin antwortete Anya: „So eine Art Anhängsel, das eventuell mal nützlich wird.“

Zanthe musste trocken auflachen. „Eventuell sagt sie …“

'Sie' hatte sich längst wieder Matt vorgenommen. „Also, was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen, Summers!?“

Mit den Schultern zuckend, erwiderte Matt desinteressiert: „Nichts. Du wirst es vielleicht verstehen, wenn du -es- siehst. Komm erstmal zum Wagen mit und erklär' mir, wie Nick uns gefunden hat und was so wichtig ist, dass ihr extra dafür hierher nach San Augustino reist.“

 

Das gesagt, drehte er sich um und schritt vorwärts vorbei an den Bänken und der Laterne, die bereits ihr Licht auf den Steig scheinen ließ. Anya rannte ihm hinterher, gefolgt von Zanthe, der mürrisch das ganze Gepäck schleppen musste.

Als Anya Matt eingeholt hatte, sagte sie: „Nick hat eure Duel Disks ausfindig gemacht. Neulich hat sich die Narbenfresse mit irgendwem duelliert, daher wusste Nick, dass es euch in dieses Kaff verschlagen hat.“

„So ist das also. Ich hatte mir immer gedacht, dass der Typ irgendwas verheimlicht. Und er heißt Alastair, klar?“

„Tch, seit wann so empfindlich!?“
 

Dann begann Anya zu erzählen. Sie erreichten den VW-Bus des Dämonenjägers, da war Anya noch nicht einmal zu dem Punkt gekommen, wo sie sich dem Sammler im Duell stellte.

Gelangweilt von ihrem untypischen Redefluss voller vulgärer Wörter betrachtete Zanthe den blauen Himmel, der bereits erste rote Spuren in sich trug. Die sich ganz schön ausgeweitet hatten, als Anya zum Ende kam. Matt hatte die ganze Zeit vor ihr an der Fahrertür gelehnt gestanden und keinen Mucks von sich gegeben.

„Und deswegen müsst ihr diesen Typen für uns beschwören!“

„Woher wisst ihr, dass wir das können?“, lautete seine erste Frage. Er machte sich offensichtlich gar nicht erst die Mühe, sich lang und breit über Anyas Verfehlungen hinsichtlich des Sammlers auszulassen.

„Das Pennerkind hat da sowas erwähnt.“

„Du meinst Henry?“ Matts Ausdruck wurde plötzlich düster. „Hat er euch auch gesagt, wen wir für ihn beschworen haben?“

Anya nickte mit grimmiger Mimik. „Was denkst du denn, von wem er damals diese hier hatte?“

Sie zeigte Matt die drei Karten vor, die damals im Turm von Neo Babylon dafür gesorgt hatten, dass die Gruppe Edens paralysierendem Bann entkommen war und sich gegen Another und Isfanel auflehnen konnte.

„Damals wollte er, dass wir darüber kein Wort verlieren. Aber die Dinge ändern sich anscheinend. Also gut, wir werden versuchen dir zu helfen, diesen Drazen zu finden“, lenkte Matt schließlich ein, „aber dann lässt du uns in Ruhe, okay?“

Damit ließ er eine verdutzte Anya zurück und stieg in den VW-Bus ein. Ehe er die Tür zuknallte, rief er auffordernd: „Los, steigt ein.“

Seine beiden Gäste umrundeten den Wagen halb, da blieb Anya vor den Türen des Laderaums stehen und blockierte Zanthe den Weg: „Vorne ist nur für mich Platz. Du gehst da rein.“

Demonstrativ öffnete sie ihm, beziehungsweise eher noch dem Gepäck, die Tür und präsentierte eine vollkommen leere Ladefläche. Zanthe sagte gar nichts und stieg einfach ein, sodass Anya die Türen hinter ihm zuknallte und sich zum Beifahrersitz bewegte.

 

Nachdem sie sich angeschnallt hatte, begann die Fahrt. Anya fiel auf, dass die ganzen Anhänger und Kruzifixe fehlten, die an dem, dank der fensterlosen Türen, nutzlosen Rückspiegel einst gehangen hatten.

Das veranlasste sie, sich umzudrehen und noch einmal in die Ladefläche zu schauen, wo Zanthe sich im Schneidersitz hingesetzt hatte und sie fragend anstarrte. Die Waffenkiste fehlte.

„Sag mal, hab ich was nicht mitbekommen, oder habt ihr mit eurem ganzen Kram einen Flohmarkt veranstaltet?“

„Wir haben aufgehört.“

Sofort wirbelte Anya verblüfft herum und sah Matt an. „Im Ernst?“

„Ja. Wir haben nach Urilas Angriff auf Livington noch eine Weile weitergemacht“, erwiderte der tonlos, „aber es war nicht mehr dasselbe. Für keinen von uns.“

Er lachte bitter auf. „Um ganz ehrlich zu sein haben wir erkannt, dass wir einfach nicht gut in dem sind was wir tun. Das waren wir noch nie. Uns unterlaufen permanent Fehler, die andere Menschen in Gefahr bringen. Gerade die Sache mit Eden und alles danach. Das hat sich unter den anderen Dämonenjägern herumgesprochen. Wie unprofessionell wir sind.“

Zanthe beugte sich von hinten über die beiden Sitze. „Ach lasst die doch quatschen. So schlecht könnt ihr nicht sein, wenn ihr immer noch lebt.“

„Gerade Alastair hat das zunehmend zu schaffen gemacht. Er hat angefangen, seine Methoden infrage zu stellen.“

Die Blonde auf dem Beifahrersitz rümpfte die Nase. „Zurecht. Dämonen jagen schön und gut, aber die Narbenfre- Big Al ist doch etwas zu krass drauf gewesen.“

„Das hat er mittlerweile auch eingesehen. Deswegen hat er sich entschieden, seine Kräfte auf andere Sachen zu konzentrieren.“ Matt seufzte tief. „Und ich bin mitgezogen, hatte auch Gründe um aufzuhören. Komisch, normalerweise enden Dämonenjägerkarrieren tödlich. Bis auf Alectors halt. Den werdet ihr vielleicht auch kennenlernen, wohnt nämlich auch hier.“

Anya spitzte neugierig die Ohren. „Was waren deine Gründe?“

„Nicht so wichtig“, wiegelte er ab. Doch sie bemerkte sofort diese unterschwellige Kälte, die zwischen den Zeilen stand. Da Anya das Gefühl kannte, über bestimmte Dinge nicht reden zu wollen, beließ sie es dabei.
 

Stattdessen wechselte sie das Thema. „Und wie ist dieser Alector so?“

„Wie man sich einen pensionierten Dämonenjäger so vorstellen würde“, erwiderte Matt wieder besser gelaunt, mit hellerer Stimme, „misstrauisch, mürrisch, menschenscheu – meistens, aber nicht immer. Bei ihm glaub ich allerdings, dass er schon immer so war.“

Zanthe blinzelte. „Ich glaube der Name sagt mir was. Das war doch der, der ein ganzes Rudel meinesgleichen alleine ausgelöscht hat.“

Dass Zanthe gelegentlich Pelz trug, hatte Anya Matt während ihrer Geschichte ebenfalls erzählt.

„Jap. Das war aber, bevor er angefangen hat uns auszubilden. Beziehungsweise Alastair, er und ich haben uns nur hin und wieder mal gesehen.“

Der Werwolf gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Hmm. Ich hoffe, er wird mir nicht gleich an die Gurgel gehen.“

„Du bist 'Vegetarier', also stehen die Chancen nur zu 95%, dass er dich umbringen wird.“

„Oh, na dann …“

Matt lachte auf. „Keine Sorge. Als Freund von uns genießt du Immunität. Ich weiß nur noch nicht, wie ich ihm das verklickern soll.“

„Dir fällt sicher etwas ein“, sagte Zanthe darauf optimistisch. „Wäre übrigens nett, wenn ihr dafür sorgen könntet … ihr wisst schon. Ist'n bisschen eilig, hehe.“

Sofort verstand Matt. „Ist die Zeit ran?“

„Ja. Die ersten Symptome zeigen sich schon. Kopfschmerzen, Gereiztheit … aber ich versuch mein Bestes, mir nichts anmerken zu lassen.“

Anya hingegen verstand jedoch nicht, worum es ging. „Huh?“

„Er braucht Fleisch. Viel Fleisch“, erklärte Matt, „und Blut. Weißt du, Werwölfe sind rein körperlich nicht unbedingt von der Jagd abhängig. Sie können ohne das alles existieren. Es geht mehr um den psychologischen Effekt. Wenn sie lange Zeit nichts reißen, beginnt ihr Verstand zunehmend zu verwildern. Je größer und schwerer die Beute zu erlegen ist, desto länger bleiben sie anschließend 'clean'.“

„Menschen sind die besten Opfer, weil sie einen besonderen Effekt erzielen. Bevor man Werwolf war, waren sie tabu, verstehst du? Deswegen werden Werwölfe von Dämonenjägern gejagt.“ Zanthe sah Anya ernst in die Augen, als die sich zu ihm umdrehte. „Weil die meisten die Kontrolle über sich verlieren und dem Drang erliegen, das zu reißen, was sie vorher nie durften. Dann gewöhnen sie sich dran und verfallen sozusagen in Muster. Wer als Werwolf einmal Menschenblut leckt, ist nahezu unmöglich wieder davon wegzubekommen.“

Anya nickte verständig. „Und du brauchst jetzt was zu fressen, Flohzirkus?“

„Bingo. Tote Beute ist leider nicht sehr befriedigend, es muss schon was sein, was wegrennen kann.“

„Ich werde mir was überlegen“, versprach Matt, der bisher noch keine Erfahrungen mit 'vegetarischen' Werwölfen gemacht hatte.

 

Dann begann das große Schweigen. Anya wunderte sich über das seltsam distanzierte Verhalten Matts. Hatte es damit zu tun, was damals vorgefallen war? Ihr Verrat? Vielleicht hatte er ihn schwerer verdaut als sie angenommen hatte. Aber sie hatte sich doch damals entschuldigt, als Urila in Livington eingefallen war und die Anwohner einer Monstertransformation unterzog.

 

Grübelnd beobachtete sie die Gegend.

Es hatte sich herausgestellt, dass der Bahnhof etwas abgelegen vom eigentlichen Ort lag. Sie fuhren auf einer ländlichen Straße Richtung San Augustino. Die saftige Grün der Wiesen um sie herum gab Anya erst recht das Gefühl, in einem Kaff gelandet zu sein. Auf dem Weg fuhren sie an einer weiß gestrichenen, kleinen Kapelle vorbei, wodurch Anya sich an etwas erinnerte.
 

„Hey, Summers, wieso seid ihr nicht mal zu Redfields Hochzeit gekommen?“

„Wir hatten keine Lust auf Geiselnahmen“, erwiderte Matt mürrisch.

Anya schnaubte, da sie vergessen hatte, ihm auch von der missglückten Trauung zu berichten. „Das konnte vorher keiner wissen! Und scheiß auf das, was die Zeitungen schreiben, wie immer ist das eine von Redfields Geschichten. In Wirklichkeit waren das Dämonenjäger, die genauso krass drauf waren wie Big Al, als er noch ein Psycho war.“

„Aha.“ Matt schien kurz zu überlegen, ob er noch etwas hinzufügen sollte, entschied sich schließlich dafür. „Verstehst du nun, warum wir das nicht mehr mitmachen wollen? Irgendwann verliert man seine Menschlichkeit.“

„Die waren noch blutjung, jünger als du“, warf Zanthe nachdenklich ein. „Du hättest sie sehen müssen, gerade das Mädchen …“

Der Schwarzhaarige reagierte geradezu gehässig: „Das geht mich nichts mehr an.“

„Scheiße, Summers. Irgendwie bist du heut' nicht gut drauf“, zischte Anya und legte beleidigt ihren Kopf auf die Handfläche, während sie demonstrativ wegschaute.

Sie rechnete mit einem fetten Seitenhieb, doch der blieb überraschenderweise aus. Obwohl Matts Wortlosigkeit gewiss nicht besser war.

 

San Augustino war ein verschlafenes Nest, wie Anya feststellte, als sie den Ort durchquerten. Kaum Leute auf den Straßen, aber woher auch, sonderlich viele Häuser gab es sowieso nicht. Die standen alle so weit auseinander, dass man glauben wollte, die Einwohner würden sich bewusst meiden. Mehr als einen Supermarkt, eine Arztpraxis und ein kleines Rathaus gab es gar nicht. Und kaum hatten sie das Dorf kennengelernt, da verließen sie es auch schon wieder Richtung eines Waldes.
 

Gut drei Minuten später hielt der VW-Bus und dessen Insassen stiegen aus.

Zanthe sprang von der Ladefläche und ließ das Gepäck zurück, da er es nur als angebracht empfand, dass Anya jetzt mal mit Schleppen dran war. Kräftig genug war sie allemal.

Überrascht betrachtete er das dreistöckige, weiße Gebäude vor sich. Weiter entfernt zur Linken stand ein kleiner Schuppen, in dem sich scheinbar zwei Personen unterhielten.

„Was ist das hier?“, fragte Zanthe, als Matt ausstieg. „Ein Hotel? Hmm, also einladend sieht anders aus. Da geht ja schon teilweise die Farbe vom Holz ab.“

„Das ist ein Waisenhaus. Hier leben ich, Alastair und Alector zusammen mit zwei Erzieherinnen und genug Kindern, um drei Schulkassen zu füllen.“

Anya und Zanthe traten neben Matt. Erstere traute ihren Ohren kaum. „Ein was? Was zum Geier wollt ihr denn hier?“

„Wir sind so etwas wie … Mitarbeiter.“

Anya klappte die Kinnlade herunter. „Nicht dein Ernst! Oh-mein-Gott!“

 

Irritiert wandten die anderen beiden sich zum Schuppen um, wo ein Mann so groß wie ein Baum zusammen mit einem Kind heraustrat. Das Junge hielt ein Kaninchen auf dem Arm und streichelte es liebevoll. Wie ein stolzer Vater sah Alastair ihn an.

Der Hüne hatte langes, schwarzes Haar, das er nicht wie gewohnt zu einem Zopf gebunden hatte, sondern offen trug. Mehr als ein durchgeschwitztes weißes Feinrip-Hemd und eine ebenso schmutzige Hose sowie quietschgelbe Gummistiefel hatte er nicht an. Auffällig waren die vielen Narben, die seinen ganzen Körper zierten.

„Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist“, stotterte Anya bei dessen Anblick.

Matt warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wie du weißt, ist Alastair selbst mal ein Waisenkind gewesen. Als wir uns entschieden hatten aufzuhören, hatte Alector vorgeschlagen, uns hier nützlich zu machen. Wie dir sicher auffällt, geht es dem Haus nicht besonders gut.“

„Das ist oft so, weil es einfach zu viele Waisen und zu wenig Unterstützung vom Staat gibt“, murmelte Zanthe, „tut mir leid, hätte ich das gewusst, hätte ich nicht so abfällig gesprochen.“

Der Ex-Dämonenjäger winkte ab. „Schon gut. Al arbeitet hart. Er pflanzt Gemüse an, repariert vieles und kümmert sich auch um die Kinder.“

Anya wagte es kaum, etwas Negatives zu sagen. Wahrscheinlich würde Matt sie postwendend zurück nach Livington schicken, was sie sich nicht leisten konnte. Also wählte sie ihre Worte mit Bedacht. „Aber ist das nicht total öde?“

 

„Nein.“

Alastair war auf die Drei zugekommen und sah Anya zunächst missbilligend an, ehe er sich dem Haus zuwandte, geradewegs weg von Zanthe, der gerade mit großen Augen die Hand ausstreckte. „Ein Leben ohne Eltern ist schwer. Vielleicht weißt du, dass ich meine durch Anothers Intrigen verloren habe. Hier kann ich wenigstens anderen Kindern, die ohne Eltern aufwachsen, eine möglichst schöne Kindheit schenken. Es gibt keinen besseren Ort für mich.“

„Alector leitet dieses Waisenhaus, er hat es mit seinen Ersparnissen zu dem gemacht, was es heute ist“, erklärte Matt und Anya wagte es nicht, 'eine Bruchbude?' zu fragen. „Wir sollten ihn treffen.“

„Er ist in seinem Büro“, meinte Alastair und ignorierte die Hand, die Zanthe ihm schon die ganze Zeit zur Begrüßung hinhielt.

Die beiden Möchtegern-Normalos, wie Anya sie jetzt heimlich titulierte, gingen zum Eingang des Hauses, während die Blonde auf der Stelle vor dem VW-Bus verharrte und die Stirn runzelte.

„Scheiße, die sind eiskalt Spießer geworden.“

„So spießig können sie nicht sein, der hat mir nicht mal Tag gesagt“, zeigte sich Zanthe beleidigt.

Anya sah ihn verwirrt an. „Hä? Matt hast du gar nicht die Hand gegeben.“

„Der sieht aber auch nicht zum Anbeißen aus“, rümpfte Zanthe die Nase und folgte den beiden 'Erziehern' ins Innere des Waisenhauses, „aber so leicht geb' ich nicht klein bei. Auf zu Runde 2!“

Anya sah ihm fassungslos hinterher. „Mal ehrlich, sieh ihn dir an! In den haben schon viel zu viele hineingebissen!“

Sag bloß, der Flohzirkus stand auf die Narbenfresse? Ihr wurde regelrecht übel bei der Vorstellung, wie diese beiden sich näher kamen. Levrier erschien in seiner allseits von Anya ungeliebten [Gem-Knight Pearl]-Form und klatschte in die Hände.
 

Immer wenn ich denke, mich kann nichts mehr überraschen, kommen du oder deine Freunde und bringen Schwung in mein tristes Kartenleben.

 

„Für einen Tag sind das echt ziemlich viele Sachen, die ich verdauen muss …“

Levrier hörte auf zu klatschen und schlug einen ernsteren Ton an.

 

Ich fürchte, auf dich kommt noch mehr zu, Anya Bauer.

 

„Du meinst Matt? Er ist komisch drauf …“
 

Ihn auch. Etwas steht zwischen euch beiden, das dürftest du sicher bemerkt haben. Aber mehr Sorgen mache ich mir um diesen Alector. Ich hoffe, er wird sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen.

 

Anya pfiff verächtlich und machte sich nun auch auf, diese Bruchbude von Innen kennenzulernen. „Wenn er das tut, lernt er mich kennen.“

 

Sofern er nicht schon mehr über dich weiß, als dir lieb ist …

 

Levrier verschwand. Als Anya im Flur ankam, wurde sie von einem kleinen Jungen angerempelt, der jauchzend von einem etwas älteren Mädchen verfolgt wurde.

„Hey, ihr kleinen Kröten, macht das nochmal und hier werden ganz schnell zwei Betten frei!“, fluchte Anya ihnen wütend hinterher.

Dass sie dadurch Matts und Alastairs böse Blicke erntete war ihr dabei ziemlich egal. Die beiden führten sie und Zanthe eine Treppe hinauf ins zweite Stockwerk, wo es einmal um die Ecke ging, ehe sie vor Alectors Büro standen.

Matt klopfte zweimal an, ehe er sich unaufgefordert Einlass schenkte.

„Ich bin wieder da“, sagte er im Hineingehen, gefolgt von den anderen.

 

Das Büro von Alastairs ehemaligem Lehrmeister war klein. Neben einem Schreibtisch, einem Schrank mit Aktenordnern und einer großen Stehlampe gab es hier nur ein altes, schimmelgrünes Sofa.

Alector sah gerade auf den uralten, riesigen Bildschirm seines PCs und tippte etwas auf der Tastatur herum. Er würdigte seine Gäste keines Blickes.

Und Anya musste zugeben, ihn sich anders vorgestellt zu haben. Wenn man sich Alastair so ansah, vermutete man, dass alte Dämonenjäger kaum noch als Menschen zu erkennen waren, doch Alector besaß bis auf eine Narbe, die quer über seiner rechten Augenbraue verlief, keinerlei sichtbare Kampfspuren. Sein Haar war bereits zu einem ärmlichen, grauen Kranz verkommen, was er durch einen gut gepflegten, kurz geschnittenen Vollbart kompensierte.

„Ihr seid also die beiden, die meine Jungs in Gefahr bringen wollen“, sagte er dann endlich und sah Anya ruckartig scharf in die Augen.

Die stierte unverfroren zurück. „Bingo, Opa!“

„Sie sind alt genug um selbst zu entscheiden und wenn sie dir helfen wollen, wird das seine Gründe haben“, reagierte er kratzbürstig, „aber gutheißen tue ich das nicht. Beeilt euch mit dem, was auch immer ihr vorhabt und verschwindet dann. Und wenn es zu einem Kampf kommt, dann gefälligst weit weg von hier.“

Damit richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit.

„Ich muss noch etwas mit dir besprechen“, sagte Matt und warf Zanthe aus den Augenwinkeln einen undeutbaren Blick zu, „ihr könnt schon mal in die Küche gehen, es gibt gleich Abendbrot. Al wird euch alles zeigen.“

 

~-~-~

 

Wenig später hockten Anya und Zanthe an einem kleinen Tisch in der zu einem großen Saal ausgebauten Küche des Waisenhauses. Die Blonde und der Werwolf saßen Alastair und Matt gegenüber, an den beiden Spitzen die Erzieherinnen, eine im mittleren und eine im gehobenen Alter. Sie machten einen freundlichen Eindruck und fragten die Neuankömmlinge über alles Mögliche aus, insbesondere ihre Verbindung zu Matt.

 

Anya warf einen Blick herüber zu den anderen Tischen, wo die lärmenden, für sie furchtbar nervigen Gören saßen. Drei jener langen Tafeln gab es für die Brut und wenn Anya bedachte, dass dieser Speisesaal nur halb so groß wie die Kantine der ehemaligen Livington High war, dafür aber randvoll, mussten hier doch bestimmt 60 bis 70 Kinder leben.

„Ich habe dein Problem mit Alector besprochen“, sagte Matt an Zanthe gerichtet.

Der saß vor seiner dünnen Gemüse-Suppe und bemühte sich, ein wenig davon hinunter zu würgen. Anya verstand, warum ihm das so schwer fiel, der Fraß war scheußlich. Zanthe legte den Löffel in den Teller und fasste sich an die Stirn, rieb sie sich, als habe er Kopfschmerzen. „Was sagt Daddy?“

„Du lebst noch“, merkte Matt spitz an, „heute Nacht wird er dich in den Wald begleiten. Hier gibt es viel Wild.“

Zanthe nickte verständig, wissend, dass Matt nicht zu viel wegen der beiden Damen am Tisch sagen durfte. Auch Anya kapierte es. Alector würde sozusagen mit dem Flohpelz Gassi gehen.

„Benimm' dich“, riet der jüngere Ex-Dämonenjäger seinem Gegenüber. Dann wandte er sich an Anya. „Du solltest morgen nicht mit ihm rechnen, wenn es los geht. Ich werde heute noch ein paar Sachen vorbereiten. Das Ganze wird am Nachmittag stattfinden, in einer verfallenen Holzfällerhütte in der Nähe.“

„Was denn?“, fragte die ältere Erzieherin sofort neugierig, woraufhin Anya genervt aufstöhnte und sich unter dem lauten Gequassel der Kinder wieder ihrer Suppe widmete.
 

Wenig später hatte Alastair den beiden ihr Schlafquartier gezeigt, welches sich als der Dachboden des Hauses entpuppte. Dieser war entsprechend eng und statt Betten, mussten die beiden mit Schlafsäcken auskommen, da schon die Kinder zu zweit oder gar zu dritt in Ersteren nächtigen mussten, weil es nicht genug für alle gab.

Anya hatte sich bereits umgezogen und lag in ihrem Schlafsack, hielt die Hand vor die Augen, da sie direkt in die über ihr hängende Glühbirne starrte, die sie strahlend 'anlächelte'.

„Wir sind echt nicht willkommen, huh?“

„Was erwartest du?“, fragte Zanthe, der sich wegen der bevorstehenden Jagd nicht umzog. Er hockte auf einer der herumstehenden Kisten, in denen er kaputtes Spielzeug entdeckt hatte. „Ich bin ein Werwolf und die drei sind Aussteiger. Den roten Teppich rollen sie für diejenigen aus, die Kinder adoptieren.“

Was wohl nicht sehr oft vorkam, wie Anya aus den Gesprächen während des Abendbrots entnommen hatte.

„Nein, von der ersten Minute an“, meinte sie ärgerlich, „Summers hat sich verändert. Als ich ihn kennenlernte, war er naiv und gutmütig.“

„Vielleicht hast du ihn einfach zu oft ausgenutzt?“, stichelte Zanthe.

Die Blonde drehte sich zur Seite, weg vom Nervtöter. Sie legte die Hände unter ihren Kopf und rümpfte die Nase. „Hmpf, dann soll er mir das ins Gesicht sagen. Und jetzt will ich schlafen, Nacht!“

Der junge Mann mit dem Kopftuch auf seinem Haupt seufzte theatralisch. „Wenigstens ist deiner nicht total blind.“

„Meiner!?“ Anya wirbelte alarmiert wieder herum und sah herüber zu Zanthe. „Wer?“

„Na Matt. Ach gib doch zu, dass du auf ihn stehst. Wie du ihn die ganze Zeit ansiehst und tatsächlich verletzt von seinem Verhalten bist, wo gibt es das bei dir schon? Der muss was Besonderes für dich sein.“

Was der junge Mann in diesem Augenblick beobachten konnte, war ein Schauspiel, für das jeder andere mit dem Leben bezahlt hätte. Anya lief knallrot an und brachte vor Schreck kein Schimpfwort heraus.

„Bei dir hackt's wohl!“, stotterte sie und zeigte unverhohlen mit dem Zeigefinger auf ihn. „Schieß' nicht von mir auf andere! Du bist scharf auf die Narbenfresse, nicht ich auf Matt!“

Zanthe korrigierte sie spitzzüngig: „Es heißt 'schließ nicht von dir auf andere', werte Anya. Und ja, bin ich. Aber bis der bemerkt, dass ich mich mit ihm unterhalten will, sind die Kinder hier Rentner. Ich sag dir, der ist garantiert noch Jungfrau!“

Anya wirbelte sofort wieder herum und zog die Decke über den Kopf. Denn jetzt war der Punkt erreicht, wo jedes weitere Wort die Sache nur noch schlimmer machen könnte. Allein der Gedanke, dass Big Al … brrr!

„Bist du noch Jungfrau?“

Shit!

 

~-~-~

 

Anya stöhnte und streckte sich erstmal ausgiebig in ihrem Schlafsack, ehe sie ihren Oberkörper aufraffte. Irgendwas hatte sie geweckt, wahrscheinlich dieses ätzende Kindergelächter draußen. Es war schon hell, wie ein Blick aus dem Fenster des Dachbodens verriet.

Sie erinnerte sich. Zanthe war kurz nach dem peinlichen Gespräch von Alector abgeholt worden. Neugierig drehte sie sich um, doch er lag nicht in seinem Schlafsack. Ob er schon zurück war?

 

Nachdem sie sich umgezogen und im von Kindern überfüllten Bad frisch gemacht hatte, schlenderte sie die Treppe hinunter in das große Wohnzimmer, wo sich die Waisen am Tage über hauptsächlich aufhielten. Matt spielte mit dreien ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Match, ließ dann aber einen anderen Knirps für sich einspringen, als er Anya bemerkte.

„Komm mal mit“, meinte er und manövrierte sie etwas abseits der allgegenwärtigen Ohren des Hauses in eine Ecke hinter einem Schrank voller Bücher.

„Hör mal“, fing er an und packte sie dabei am Oberarm, was Anya als äußerst unangenehm empfand. „Wir werden diesen Drazen nur für dich beschwören, wenn du versprichst, dass er nicht stirbt, nachdem wir ihm die Karte abnehmen.”

Anya schlug überrumpelt von der Forderung seinen Arm weg. „Hey, mach mal halblang! Der Flohzirkus lebt doch auch noch, oder nicht?“

Matt nickte, hatte ihre Aussage ihm den Wind aus den Segeln genommen. „Schätze schon.“

„Hier.“ Anya holte aus der Innentasche ihrer schwarzen Weste – eine noch recht neue Errungenschaft, die sie heute zum ersten Mal trug – eines der Ersatzpaare dieser Handschuhe, die der Sammler ihr gegeben hatte. „Die wirste brauchen.“

„Was ist das?“, fragte Matt und nahm das Paar entgegen.

„Mit denen kannst du die Karte für mich krallen. Irgendwie sind die mit den Originalen verbunden, also denen, die ich benutze. Für den Fall, dass ich nicht dazu komme mich mit diesem Spinner anzulegen, kannst du damit einspringen.“

„Also bleibt es an mir kleben?“ Matt runzelte die Stirn.

„Nur, wenn du ihn vor mir in die Finger kriegst! Aber Nick meinte, du wärst besser dafür geeignet als ich“, erwiderte Anya grimmig. „Frag mich nicht, was im Kopf dieses Spinners manchmal vor sich geht.“

Nachdenklich betrachtete er die weißen, fingerlosen Handschuhe mit den goldenen Nähten. „Wenn du meinst. Irgendwann nach dem Mittagessen geht es los. Wir fahren beide zur Hütte. Al ist bereits dort und bereitet schon mal alles vor, damit wir nachher nur noch die Verse sprechen müssen.“

„Zwei Fragen. Erstens: sind Alector und der Trottel schon zurück? Und Nummer zwei: Mittagessen? Was ist mit Frühstück!?“

Ein schelmisches Grinsen zierte Matts Lippen, als er sich ihrer Ahnungslosigkeit bewusst wurde. „Sorry Anya, aber das Frühstück gab's schon vor zwei Stunden. Wenn du nicht aus den Federn kommst, hast du Pech gehabt.“

Sich still und heimlich an ihrer entgeisterten Miene ergötzend, fügte er noch hinzu: „Alector ist schon zurück. Dein Freund schläft im Schuppen und kuriert sich aus.“

Die Blondine sah ihn schräg an. „Kuriert was aus?“

„Wenn Werwölfe jagen und sich verwandeln, haben sie hinterher etwas, das einem Kater gleicht. Ihnen ist übel und dergleichen.“ Matt seufzte. „In dem Zustand sollte man sie in Ruhe lassen, da es passieren kann, dass sie die Kontrolle verlieren, wenn sie bestimmten Reizen ausgesetzt werden.“

„Wird der Flohzirkus denn fit sein, wenn wir los wollen?“

„Vielleicht. Das sehen wir später.“

 

~-~-~

 

Nach dem Mittagessen, das für Anya vor allem darin bestand, fliegenden Kartoffeln auszuweichen, fuhren sie, Matt und Zanthe los. Letzter hatte sich in letzter Minute zurückgemeldet, erschien aber immer noch blass um die Nase und dazu chronisch abwesend.

 

Matt fuhr sie über eine schmale Straße ein ganzes Stück weit in den Wald, ehe er schließlich vor der verlassenen Holzfällerhütte Halt machte. Die Drei stiegen aus dem VW-Bus und wurden bereits von Alastair empfangen, der sich extra zur Feier des Tages in seinen roten Mantel geworfen hatte, genau wie es Matt mit seinem schwarzen tat.

„Ich hoffe du weißt, was du da tust“, knurrte er, wobei die unterschwellige Drohung durchaus von Anya nicht unbemerkt blieb. Nur zeigte sie sich davon herzlich wenig beeindruckt. Äußerlich.

Sie betrachtete stattdessen lieber die Stämme, aus denen die Hütte gemacht war, als ihm ins Gesicht zu sehen. Wie konnte sie ihm auch ihre Zweifel äußern ohne zu riskieren, dass er und Matt einen Rückzieher machten? Natürlich war sie unsicher. Wer half schon gerne dem Sammler und dann auch noch in einer so umfangreichen Art und Weise?

„Na sicher tu ich das“, erwiderte Anya schließlich gespielt selbstbewusst.

„Mir ist übel“, jammerte Zanthe derweil und stützte sich mit einer Hand am Wagen ab.

„Du hättest nicht mitkommen brauchen“, rügte Matt ihn, „bleib lieber zurück, die Schwingungen der Beschwörung könnten es noch schlimmer machen.“

Der junge Mann mit dem blauen Kopftuch winkte ab. „Ne, schon gut. Ich bin hart im Nehmen.“

„Dann jammere gefälligst nicht 'rum“, motzte Anya und betrat als Erste die Holzfällerhütte.

 

Das Innere war komplett leergeräumt. Das war auch gut so, in Anbetracht der Tatsache, dass Alastairs mit weißer Kreide auf die Dielen gezeichneter Bannkreis den Großteil des verfügbaren Platzes beanspruchte. Um den Kreis herum hatte er fünf noch nicht angezündete Kerzen aufgestellt, von denen ausgehend er mit roter Kreide ein Pentagramm gezeichnet hatte, dessen Inneres den weißen Kreis beherbergte. In jedem der Zacken hatte er mehrere Runen eingefasst.

„Was ist das?“, fragte Zanthe.

„Nun, das wirst du vielleicht noch sehen.“ Matt wandte sich an Alastair. „Wie lief der Test?“

Alastair verzog seinen Mund zu einem, dank der Narben, schiefen Grinsen. „Funktioniert selbst jetzt noch.“

„Sehr gut“, nickte sein Partner. „Denselben Fehler wie beim Sammler damals machen wir nicht nochmal.“

Anya trat neben ihn. „Welchen?“

„Ihn zu unterschätzen …“

 

Damit schritt Matt in die andere Ecke des Raumes, wo ein dicker Wälzer lag. Anya erinnerte sich, das war vermutlich das Grimoire, welches Urila einst für ihre Zwecke gestohlen und missbraucht hatte. Im Grunde genommen konnte man es als eine Art Wikipedia für Dämoneninfos und Zaubersprüche bezeichnen. Selbst über den Turm von Neo Babylon standen ein paar Sachen drin, wenn auch viel zu wenig, um aufschlussreiche Einblicke zu liefern. Aber wer weiß, vielleicht hatte einer der beiden dazu etwas nachgetragen?

Matt bückte sich nach dem aufgeschlagen Grimoire und drehte sich zu den anderen um.

„Ich werde jetzt den Beschwörungstext rezitieren. Danach sollte Drazen auftauchen. Nick hat mir mitgeteilt, dass dieser Mann wohl in der Lage ist, sich nach Belieben überall hin zu teleportieren.“

„Und wie kriegen wir ihn dann?“, fragte Anya skeptisch. „Ich mein, der haut doch sofort ab.“

Der junge Dämonenjäger lachte leise auf. „Wer weiß, vielleicht gar nicht? Das kommt auf einen Versuch an.“

„Dazu muss er aber erstmal den 'Anruf' annehmen, richtig?“, fragte Zanthe an Alastair gerichtet, doch zu seiner Enttäuschung nickte der bloß unter einem zustimmenden Brummen, während er die Kerzen mit einem Feuerzeug anzündete, statt lobende Worte zu spendieren.

„Das ist die größte Hürde“, sagte Matt, „also dann, nehmen wir sie.“
 

Er drehte sich zu dem Bannkreis um und begann einen Text zu rezitieren, von dem Anya vermutete, dass er auf Latein verfasst sein musste. Ein Fach, das sie in der High School wohlweislich gemieden hatte und wenn sie ihn so anhörte, wusste sie auch wieso.

Abwartend starrte sie mal in den Bannkreis, mal aus dem eingeschlagenen Fenster zu ihrer Rechten hinaus in den dichten Wald. Gott, wenn das nicht funktionierte, war sie sowas von am Arsch. Sollte der Typ nicht kommen, war er sicher vorgewarnt und ihn dann zu finden … Anya konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte.
 

„Okay“, sagte Matt und schlug den Wälzer zu, „jetzt müssen wir warten.“

„Tch, und wie lange?“

„Das letzte Mal hat es einen Moment gedauert“, erwiderte er auf Anyas hibbelige Frage.

Alastair, im Gegensatz zur Beschwörung des Sammlers dieses Mal unbewaffnet, lehnte sich an die Wand und schnaubte verächtlich. „Ich kann nicht glauben, dass ich dir helfe, Mädchen.“

„Immerhin bin ich nicht mehr die Schlangenzunge, huh?“, erwiderte die giftig.

„Nein.“ Der Hüne sah sie aus den Augenwinkeln aufmerksam an. „Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen.“

Das machte die Blonde hellhörig. Sie kratzte sich am Hinterkopf und fragte: „Wofür?“

„Dafür, dich ins Unheil gestürzt zu haben. Matt hat mir erzählt, was der Collector dir angetan hat. Wäre ich nicht gewesen und hätte damals versucht, dich umzubringen, hättest du nie einen Pakt mit Levrier geschlossen und wärst nun der Spielball dieses Teufels.“

Anya sah plötzlich betreten zur Seite. „Entschuldigung angenommen. Stimmt, du bist schuld, aber ich hab dich damals im Turm verarscht und wollte dich opfern. Dann sind wir quitt, okay?“

Ein Nicken der anderen Seite zusammen mit einem zustimmenden Raunen bezeugte den nun endgültig beigelegten Krieg der beiden, was Matt mit einem zufriedenen Lächeln hinnahm. Was Anya nicht unentdeckt blieb, woraufhin sie die Vermutung anstellte, dass der Schwarzhaarige seinem Kumpel wohl gestern ordentlich ins Gewissen geredet haben musste.

Und ganz ungewollt verließ ein Gedanke ihre Lippen. „Aber eigentlich ist es okay. Wenn es nicht mich getroffen hätte, dann bestimmt jemand anderes. Levrier hätte sich einen anderen gesucht. Bei mir weiß man wenigstens, dass ich am Ende heil rauskomme. Hat einmal geklappt, wird wieder klappen.“

„Das wirst du“, sagte Matt, „dafür sorgen wi-“

 

Grelles Licht begann von dem Bannkreis auszugehen und unterbrach ihn. Stattdessen rief er nun aufgeregt: „Er hat geantwortet!“

„Kommt er!?“, wollte Anya wissen und hielt sich wie die anderen einen Arm vors Gesicht.

„Na wonach sieht's denn aus?“, fragte Zanthe bissig. Dann begann er unvermittelt zu würgen und tat etwas, bei dem die anderen sich bewusst abwandten.

„Nicht nach dem, was ich erwartet hatte …“

Die Vier senkten die Arme, als das Licht verblasste. Im Bannkreis stand er, ein in die Jahre gekommener, hoch gewachsener Mann, der diese Worte gesprochen hatte. Weißes, langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, trug er einen orange-roten Poncho und sah seine Gegenüber neugierig aus seinen Brillengläsern an.

„Eine merkwürdige Gruppe“, schien er ganz in einem Selbstgespräch versunken, „zwei Grünschnäbel, ein Werwolf und … oh, du gefällst mir.“

Anya klappte die Kinnlade hinunter, als er sie direkt ansprach. Dann knirschte sie entnervt mit den Zähnen. „Oh na großartig, ein notgeiler Opa! Dir werd' ich den Arsch bis zum Nacken aufreißen, du-!“

„Sind Sie Drazen?“, übertönte Matt Anya, obwohl er die Antwort kannte.

Mit der brüstete der Alte sich auch. „Der einzig wahre.“

„Wir wollen-!“

 

Puff. Er war verschwunden, ehe Matt auch nur seinen Satz hatte zu Ende bringen können. Einfach weg, als wäre er nie da gewesen.

„Scheinbar interessiert ihn nicht, was wir wollen“, erhob sich Zanthe aus seiner gebückten Haltung und wischte sich über den Mund.

„Das wird es“, knurrte der Schwarzhaarige nun gereizt und zog aus der Brusttasche seines Mantels eine weiße Karte hervor – und war einen Moment später ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt.

Und Anya stand da und glotzte wie eine Kuh wenn's donnert. „Was zum Geier geht denn hier ab!?“

Das Lachen des Hünen reizte sie dabei nur noch mehr. Er sagte: „Matts Plan …“

 

~-~-~

 

Eine Lichtung, sie war nur wenige Schritte von ihm entfernt. Wie weit die Holzfällerhütte jetzt weg war, wusste Matt nicht. Was er aber wusste war, dass der Mann, welcher mit dem Rücken zu ihm gewandt seelenruhig auf der Stelle verharrte, diesen Wald nicht so schnell verlassen würde wie ihm lieb war.

„Oh, ich hätte schwören können, dass ich nach Madrid wollte“, wunderte sich Drazen lauthals.

„Hier ist Endstation“, erklärte Matt, „als Sie der Beschwörung geantwortet haben und erschienen sind, haben Sie automatisch einen Zauber aktiviert, der Sie in einem Umkreis von zwei Kilometern festhält.“

„Und du hast mich sofort gefunden?“

Matt trat aus dem Schatten eines Baums hervor. „Natürlich wurde dabei gleichzeitig ein Markierungszauber freigesetzt. Selbst wenn Sie sich jetzt hin und her teleportieren würden, ich könnte Ihnen problemlos überall hin folgen.“

Es hatte ihn die ganze Nacht gekostet, die dafür nötigen Zauber herzustellen, aber scheinbar hatte es sich bezahlt gemacht. Alastair hatte gute Arbeit geleistet, die Siegelkarten innerhalb des ganzen Waldes an den Knotenpunkten anzubringen, was ein notwendiges Übel war, da diese Art von Zauber nur großflächig funktionierte und eigentlich für ganz andere Zwecke gebraucht wurde.

Matt hoffte nun, dass keine bösen Überraschungen auf ihn warteten.

 

Der weißhaarige Mann im Poncho drehte sich langsam um. Als er Matt aus der Ferne der Lichtung gegenüber stand, wirkte er keinesfalls beunruhigt oder angespannt, im Gegenteil, er lächelte vergnügt.

„Für dein Alter bist du ziemlich gewitzt“, lobte er den Ex-Dämonenjäger, „das alles auf die Beine zu stellen. Du weißt scheinbar ziemlich gut über mich und meine Fähigkeiten Bescheid.“

Matt verharrte verkrampft auf der Stelle. „Wir hatten einen guten Informanten.“

„Ich möchte wetten, das war der junge Mann von damals. Rick? Nein, nein, Nick!“

 

Matt zog erstaunt die Augenbrauen an. Nick und dieser Drazen kannten sich? Das hatte Anya ihm nicht erzählt. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte, natürlich! Diese ganzen Daten, die hatte Nick ihnen bereit gestellt.

Langsam ergaben die Puzzlestücke ein großes Ganzes. Nick musste ihn von früher kennen und daher um seine Kräfte wissen. Deshalb schien Anya auch keine andere Wahl gehabt zu haben, als sich an ihn und Alastair zu wenden, denn jemanden wie Drazen konnte niemand so einfach aufspüren, auch Nick nicht.

Bloß woher kannten sich die beiden? Wollte Nick womöglich nicht, dass ihre Verbindung entlarvt wurde und war deshalb zuhause geblieben?

Die Stirn runzelnd, atmete Matt tief durch. Dieser Kerl war ihm wirklich ein Rätsel. So zu tun, als wäre er minderbemittelt und insgeheim mit Leuten von Drazens Schlag verkehren? Andererseits, stille Wasser waren tief und schmutzig …
 

Aber erst einmal hatten andere Dinge Priorität. Nebenbei streifte er sich die Handschuhe über, die er von Anya erhalten hatte. Dabei begriff er auch, dass Nick diesen Ausgang offenbar vorgesehen oder gar beabsichtigt hatte. Es war einerseits nur nachvollziehbar, denn Anya war nicht dazu imstande, Drazen überhaupt zu folgen. Und dennoch vermutete Matt noch einen anderen Hintergedanken dabei, ohne jedoch die genaue Richtung benennen zu können, in die jener gehen könnte.

 

„Also“, begann Matt und hob den Arm, an dem sein D-Pad befestigt war, ließ das Gerät leise zischend ausfahren, „Sie wissen bestimmt, was ich von Ihnen will.“

„Natürlich“, erwiderte Drazen freundlich und hob den rechten Arm unter dem Poncho hervor, an dem eine Duel Disk im Stil der Duellakademien befestigt war, „jetzt, wo ich nicht mehr wegrennen kann, habe ich wohl keine Wahl, als mich hierauf einzulassen. Ihr Kids werdet immer verrückter, was eure Sucht nach Duellen angeht.“

Matt verengte die Augen zu Schlitzen. „Tun Sie nicht so.“

„Was meinst du?“, kam es unbeschwert als Antwort.

„Beschwörungszauber funktionieren bloß, wenn das Ziel einwilligt.“

„Ist das so? Das wusste ich gar nicht. Ha ha, selbst im Alter lernt man noch dazu.“ Der Alte rieb sich den Kopf verlegen. „Wie peinlich. Hätte ich das gewusst …“

Derweil seufzte Matt leise. Von wegen! Jemand von seinem Kaliber wusste ganz genau von solchen wichtigen Details, dessen war er sich sicher. Er hatte bewusst auf den Ruf geantwortet. Natürlich konnte er vorher nicht wissen, wer ihn gerufen hatte. Aber als jemand, der nie lange an einem Ort verweilt und Kontakte mit anderen meidet, auf so etwas zu antworten? Das musste einen Grund haben. Matt gefiel das alles nicht.

 

Im Wald war es unter dem Mantel des unsichtbaren Bannkreises mucksmäuschenstill. Diese Stille wurde gestört, als Drazen seine Duel Disk ausfahren ließ. „Nun denn, es ist nicht mehr zu ändern. Duellieren wir uns, in Ordnung? Wenn du gewinnst, erhältst du, was du so sehr begehrst.“

„Ich tue das nicht für mich“, stellte Matt klar, „sondern weil ich es jemandem versprochen habe.“

„Meinst du damit das freche Huhn? Oder etwa … du weißt schon, das Geheimnis, das du vor allen zu verbergen versuchst.“

Matt zeigte keine Regung.

„Keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt. Aber du weißt, dass dir -das- nichts Gutes bringen wird, oder? Dass das ein sehr gefährlicher Pfad ist.“

Der junge Mann hielt dem Blick seines Gegners fest stand. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

Obschon sie einander nicht kannten, spürte Matt die Besorgnis förmlich, die ihm entgegen gebracht wurde, ging dennoch nicht weiter auf Drazens Worte ein.

„Beginnen wir doch einfach“, schlug dieser letztlich vor, „vielleicht ergibt sich noch die Chance, uns gegenseitig auszutauschen.“

Matt löste seine Fixierung auf sein Gegenüber und so riefen beide im Chor: „Duell!“

 

[Matt: 4000LP / Drazen: 4000LP]

 

Beide zogen fünf Karten von ihren Decks.

„Möchten Sie den ersten Zug machen?“, bot Matt an.

Die Geste erstaunte seinen Gegner. „Oh? Das ist sehr zuvorkommend von dir. Da nehme ich doch gerne an.“

Sogleich zog Drazen auf. Es erstaunte Matt, dass jener gar nicht erst irgendwelche Hintergedanken vermutete. Welche es im Übrigen tatsächlich nicht gab. Der junge Mann wusste selbst nicht genau, warum er diese Offerte gemacht hatte. Etwa um Drazens Worte zu entkräften?

„Dann setze ich dieses Monster und dazu eine Karte verdeckt“, meinte dieser und legte beide auf beziehungsweise in seine Duel Disk ein. Surrend materialisierte sich vor seinen Füßen in vergrößerter Form eine vertikal nach unten gerichtete Karte und direkt vor jener noch eine horizontal liegende, ebenfalls mit dem Bild nach unten zeigend.

 

Matt griff nach seinem Deck und zog. Ein kalter Schauder überkam ihn, als er die Karten in seiner Hand ansah.

„Stimmt“, murmelte er.

Seit damals auf dem Hinterhof jenes Bestattungsunternehmens hatte er sich nicht mehr duelliert. Sein altes Deck war fast vollständig fort, jetzt besaß er nur noch diese Karten – die Evilswarm. Es bereitete ihm großes Unbehagen, sich jetzt wieder mit diesen bösartigen Karten duellieren zu müssen. Trotzdem, er hatte es versprochen. Also würde er das hier durchziehen. Zumal er sich ohnehin immer bewusst gewesen war, dass er früher oder später zu diesen Karten greifen würde müssen. Nun war der Tag gekommen.

„Ich beschwöre [Evilswarm Heliotrope]!“, rief er laut aus und knallte jenen auf das D-Pad.

Vor ihm tauchte ein finsterer Krieger in dunkelgrüner Rüstung auf, mit einem Schwert bewaffnet. In seiner Brust war ein unreiner Smaragd eingelassen – er war die vom Verz-Virus infizierte Version von Anyas [Gem-Knight Emerald]. Alle Monster in seinem Deck waren korrumpierte Kreaturen aus anderen Themendecks …

 

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]

 

Da Heliotrope ein normales Monster war, blieb Matt nur eins zu tun. „Greif sein verdecktes Monster an!“

Sofort stürmte der Krieger los. Doch mitten auf seinem Weg schnellte etwas unter dem Boden hervor, mit dem der düstere Ritter zusammenstieß. Torkelnd wich er zurück, wobei Matt leise erschrak.

„[Scrap-Iron Scarecrow]!“, benannte Drazen die Falle, die sich vor ihm erhoben hatte.

Tatsächlich, das Ding, in das Heliotrope gerannt war, glich einer Vogelscheuche aus Müll. Zusammengesetzt aus einem Rohrgestell, einem Pilotenhelm und anderen Teilen.

„Sie annulliert einen Angriff. Danach wird sie aber nicht auf den Friedhof geschickt, sondern setzt sich zurück auf mein Feld, wodurch ich sie in deinem nächsten Zug erneut aktivieren kann“, erklärte Drazen mit erhobenem Zeigefinger und grinste verschmitzt, „so hält man sich Feinde vom Leib.“

Die Falle glitt zurück in ihre verdeckte Position.

„Oh“, murmelte Matt verblüfft. Das versprach schwierig zu werden, wenn er dieses Teil immer wieder aktivieren konnte. „Ich gebe ab.“

 

Drazen zog auf und runzelte argwöhnisch die Stirn. „Ich mag ja alt sein, aber nicht senil. Wieso hältst du dich zurück, Junge?“

„Ich halte mich nicht zurück, ich warte nur ab“, erwiderte Matt.

Der skeptische Blick seines Gegners sprach Bände. „Wenn du meinst. Es wäre wirklich schön, wenn dies ein spannendes Duell wird. Aber vielleicht müssen wir dich erst auftauen. Probieren wir es hiermit!“

Er nahm sein gesetztes Monster von der Duel Disk und ersetzte es durch ein anderes, das er diesmal offen spielte. „Ich führe eine Tributbeschwörung durch und rufe [Scrap Golem] aufs Feld.“

Überrascht verfolgte Matt mit, wie diverse, in ihrer Größe stark abweichende Schrottteile durch die Luft flogen und einen zwei Meter großen Golem bildeten. Dessen Körper bestand aus einem alten Kühlschrank, die Arme wiederum aus Schläuchen mit darin mündenden Ventilatoren. Der Kopf schließlich war nichts weiter als eine alte Mikrowelle.
 

Scrap Golem [ATK/2300 DEF/1400 (5)]

 

„[Scrap Golem] besitzt einen interessanten Effekt, den ich dir nicht vorenthalten möchte“, verkündete Drazen fröhlich, „einmal pro Zug kann er ein kleinstufiges Scrap-Monster reparieren. Dabei kann ich wählen, auf welche Spielfeldseite es beschworen wird.“

Er griff nach seinem Friedhofsschlitz und zog das geopferte Monster von dort hervor, [Scrap Searcher]. Und ehe Matt sich versah, wurde es in seine Richtung geworfen, sodass der junge Mann es zwischen Mittel- und Zeigefinger auffing. In der Zwischenzeit begann es im Inneren des Golemkühlschranks mächtig zu rumoren.

„Ich bekomme es?“

„Ja“, nickte Drazen und grinste schelmisch, „im Angriffsmodus.“

Mit Unbehagen legte der Ex-Dämonenjäger die Karte auf sein D-Pad. In dem Moment klappte die Tür des Golems auf und ein aus Schrott bestehender Vogel mit mehreren Scheinwerfern am ganzen Leib flog auf Matt zu, wobei er mit ihnen die Gegend absuchte – und [Evilswarm Heliotrope] entdeckte.

 

Scrap Searcher [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

„Oh, eins solltest du wissen. [Scrap Searcher] zerstört, wenn er spezialbeschworen wird, alle Monster seines Besitzers, die nicht wie er aus Abfällen bestehen.“

Matt erschrak, als der Vogel seine Flügel spreizte und von dort in alle Richtungen scharfe Metallstücke abfeuerte, die nicht nur [Evilswarm Heliotrope] zerfetzten, sondern auch in den umstehenden Bäumen und im Moos stecken blieben.

„Verdammt!“

„Das ist doch gut geworden“, meinte Drazen im Kontrast dazu zufrieden, „dann kann ich ja jetzt unbekümmert angreifen. [Scrap Golem], vernichte deinen Kumpel!“

Stampfend kam das Müllmonster auf Matt und dessen unfreiwilligen neuen Freund zu. Ein Schlag mit der Ventilatorenfaust reichte aus, damit der Vogel in alle Einzelteile zersprang. Einige davon zischten an Matt vorbei, der überall am Körper getroffen wurde.

„Argh!“, schrie er und wurde zurückgeworfen, landete auf dem Rücken.

 

[Matt: 4000LP → 1800LP / Drazen: 4000LP]

 

Seine ganze Kleidung war zerfetzt, durchtränkt von dem Blut der Schnittwunden, die sich auch in seinem Gesicht wiederfanden.

Drazen seufzte. „Tut mir ja leid für dich, aber du hättest wissen müssen, dass ich mich wehren werde.“

Sein Gegner raffte sich auf und wischte sich etwas Blut direkt unter seinem linken Auge mit dem Handrücken ab. „Kein Problem. Um ehrlich zu sein werde ich das Gefühl nicht los, dass wir die Bösen sind.“

„Das … liegt wohl, wie so vieles, im Auge des Betrachters.“ Der weißhaarige Mann schloss die seinen. „Zu wissen, was irgendwann geschehen muss, reicht leider nicht. Ich wüsste gern, was -er- vorhat. Du bist am Zug, Junge.“

 

Matt riss förmlich die nächste Karte von seinem Deck und hielt inne. Dieser Kerl, der da so mitten auf der Lichtung stand, fast schon schicksalsergeben … hatte er gewusst, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem man ihn wegen seinem Artefakt stellen würde?

„Haben Sie absichtlich auf den Ruf reagiert, weil Sie wussten, wohinter wir her sind?“

Drazen öffnete die Augen und lächelte mild. „Vielleicht?“

„Warum?“

„Warum nicht?“ Der alte Mann gluckste. „Hätte ja sein können, dass eine hübsche Dame die Jägerin ist.“

Matt schüttelte den Kopf. Er sah schon, das führte wohl zu nichts. Offenbar hatte Drazen zwar seine Gründe, war aber nicht bereit sie zu teilen. Noch nicht.
 

„Dann werde ich mal meinen Zug durchführen“, kündigte Matt an und betrachtete die Falle, die er nachgezogen hatte.

Er wusste, dass er in der Klemme steckte. Drazens Golem würde nächste Runde wieder diese Kombo benutzen und ihm [Scrap Searcher] unterjubeln. Noch so einen Angriff würde er nicht überstehen. Also musste er das Monster loswerden. Dummerweise war da noch Drazens Vogelscheuche, mit der er seine Angriffe verpuffen lassen konnte.

„Sie duellieren sich ziemlich gut“, musste Matt anerkennen, „vorausschauend und wenige Ressourcen verbrauchend. Das sieht man selten.“

„Ich tue, was ich kann, immerhin willst du mir ans Leder“, lachte Drazen bärbeißig und schlug sich dazu auf die leicht hervorstehende Wampe.

Der Jüngere grinste schlagartig. „Aber ich bin auch nicht ohne! Sehen Sie her! Ich beschwöre von meiner Hand [Evilswarm Mandragora] als Spezialbeschwörung, da Sie mehr Monster kontrollieren als ich. Und hinterher kommt [Evilswarm Thunderbird] als Normalbeschwörung!“

Zunächst wuchs vor ihm eine kleine, braune Gestalt mit weißem Haar und Blattarmen aus dem Boden, anschließend gesellte sich neben dieser ein majestätischer, schwarzer Vogel, von dessen Schopf lange, tentakelartige Auswüchse abgingen.
 

Evilswarm Mandragora [ATK/1550 DEF/1450 (4)]

Evilswarm Thunderbird [ATK/1650 DEF/1050 (4)]

 

Doch Matts Grinsen verging recht schnell. Stattdessen stand plötzlich Anspannung in seinem Gesicht geschrieben. Seine restlichen vier Handkarten ansehend, überlegte er, ob es noch einen anderen Weg gab. Aber dem war nicht so. Er musste es tun.

„Ich erschaffe das Overlay Network!“ Damit streckte er den Arm in die Höhe. Ein schwarzer Wirbel tauchte inmitten des Feldes am Rand der Lichtung auf und sog seine beiden Monster als violette Energiestrahlen ein. „Aus meinen beiden Stufe 4-Schwärmern wird ein Rang 4-Monster! Erhebe dich, mächtiger Drache! [Evilswarm Ophion]!“

Lautes Gebrüll trat aus dem Loch, aus dem ein pechschwarzer Drache geflogen kam. Einzig die Zwischenhäute seiner Flügel waren von eisigem Blau, was allerdings am Ansatz der Schwingen in blutiges Rot überging. Der lange Schweif des Ungetüms peitschte wild, als es vor Matt landete und gierig nach den beiden Lichtsphären schaute, die es umkreisten.

„Oh, das ist ja …“, staunte Drazen.
 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 DEF/1650 {4} OLU: 2]

 

„... stärker als Ihr Monster“, beendete Matt den Satz, obwohl er genau wusste, dass dies nicht war, was sein Gegner gemeint hatte.

Der spürte es auch. Die lauernde Finsternis, die in jener Kreatur verborgen lag. Aber Matt wusste, dass sie harmlos war. Kontrollierbar. Alles war gut, solange er -es- nicht beschwor.

„Effekt von Ophion“, rief der junge Mann und streckte den Arm passend dazu aus, „ich kann ein Xyz-Material abhängen und mir dafür eine Infestation-Karte vom Deck auf die Hand suchen. Expand Infection!“

Eine der Sphären hinunterschluckend, spreizte der ehemals als Gungnir bekannte Drache seine Schwingen und ließ sie schwarze Wellen ausstrahlen. Matt zog eine aus seinem D-Pad hervorstehende Karte und zeigte sie sogleich vor.

„Die gewählte Karte nennt sich [Infestation Pandemic] und ist ein Schnellzauber, der meine Schwärmer für diesen Zug immun vor Zauber- und Falleneinwirkungen macht!“

Schwarze Partikel bildeten sich um seinen Drachen und schlossen ihn ein, als Matt die Karte aktivierte, sodass Ophion aussah, als wäre er ein riesiges Gebilde aus Asche.

Drazen klatschte in die Hände. „Gute Arbeit!“

„Danke!“, erwiderte Matt und schwang den Arm aus. „Jetzt kann Ihre [Scrap-Iron Scarecrow] den Angriff Ophions nicht blocken! Los, Absolute Infestation!“

Der vollkommen verhüllte Drache öffnete sein Maul und schoss einen schwarzen, partikelartigen Strahl auf den Schrottgolem. In Wirklichkeit war dies aber kein Feuer, sondern Milliarden winziger Insekten, die nun die Oberfläche von Drazens Monster überzogen und es in Windeseile zerfraßen, bis die letzten Teile in sich zusammenfielen. Auch der alte Mann bekam einen Teil des Strahls ab und stöhnte, als er zur Seite auswich.

 

[Matt: 1800LP / Drazen: 4000LP → 3750LP]

 

„Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“, sprach Matt zufrieden mit seinem Manöver und setzte die in diesem Zug nachgezogene Falle, „die hier verdeckt.“

Nachdem sie sich vor seinen Füßen materialisiert hatte, merkte er noch an: „Sie sollten übrigens nicht versuchen, Ihren Golem zu reanimieren oder ähnliches. Denn solange Ophion Xyz-Material besitzt, können keine Monster der Stufe 5 oder höher spezialbeschworen werden. Das sollte Ihre Synchromonster vollkommen blockieren. Damit bin ich erstmal fertig.“

Seine drei verbliebenen Karten festhaltend, atmete Matt tief durch. Gleichzeitig fielen die schwarzen Partikel von Ophion ab, der somit wieder normal war.

„Das ist sehr ehrenhaft von dir, mich vorzuwarnen.“ Drazen schaute hinter seinen kugelrunden Brillengläsern freundlich hervor, doch es lag auch etwas Scharfes in seinem Blick. „Von dir könnte man sich glatt eine Scheibe abschneiden. Jemand, der seine Tugenden so offen trägt, als hätte er geradezu Angst, sie sonst zu verlieren …“

Matt zuckte ob der spitzen Worte zusammen, sagte aber nichts dazu. Dachte sein Gegner etwa, das alles wäre nur Show, um vorbildlich zu wirken? Der junge Mann schnaubte. Er musste sich nicht rechtfertigen, für gar nichts!

 

Drazen zog und betrachtete die neue Karte. Dann schmunzelte er und legte sie in seine Duel Disk ein, sodass sie verdeckt vor seinen Füßen neben der gesetzten [Scrap-Iron Scarecrow] erschien, womit er nun zwei verdeckte Karten besaß.

„Dann rufen wir mal diesen Racker in den Ring. [Scrap Goblin]!“

Aus umherfliegenden Schrottteilen bildete sich ein kleiner, maulwurfähnlicher Gefährte, welcher aus einer Kamera als Körper, einer Gabel als Arm, einem Wasserhahn als Kopf und vielen weiteren Gegenständen gemacht war.
 

Scrap Goblin [ATK/0 DEF/500 (3)]

 

„Nach dir“, sagte Drazen und fügte verschmitzt hinzu: „Oh, keine Sorge, ich will dich nicht zwangsläufig in eine Falle locken. Wenn du angreifst, wird deinem Monster nichts passieren, selbst wenn du meine Vogelscheuche umgehen kannst wie eben.“

„Was soll das denn?“

„Ich wollte mich nur für deine Ehrlichkeit revanchieren.“

Matt wusste nicht, ob er dafür dankbar sein sollte oder nicht. Zwar glaubte er nicht, dass Drazen log, aber trotzdem fühlte er sich wie ein kleines Kind behandelt. Wenn dieser Kerl angeblich so gut Bescheid wusste, warum verhielt er sich nicht so? Es machte ihn wütend.

 

„Draw“, nuschelte der Schwarzhaarige entsprechend gelaunt und ließ sogleich den Arm ausschwingen. „Falle aktivieren, [Infestation Infection]. Damit mische ich einen Schwärmer von meiner Hand oder Spielfeldseite in mein Deck und erhalte dafür einen anderen von dort.“

Matt nahm eine seiner vier Handkarten, die auf den Namen [Evilswarm Obliviwisp] hörte und schob sie in sein Deck zurück, welches er anschließend aus der Halterung heraus zog und nach einer ganz bestimmten Karte absuchte. Diese zeigte er schlussendlich vor, nachdem alles erledigt war.

„[Evilswarm Ketos], mach deine Arbeit …“

Aus einer schwarzen Lache, die sich vor Matt ausbreitete, entstieg ein amphibisches Wesen auf zwei Beinen. Gekleidet in einer Mischung aus schwarzer Robe und Rüstung, schwang die Kreatur ihren Zauberstab.
 

Evilswarm Ketos [ATK/1750 DEF/1050 (4)]

 

„Bevor dieses Monster der Infektion anheim gefallen ist, hieß es [Gishki Shadow]“, erklärte Matt völlig zusammenhangslos, „wenn Sie also jemals einer jungen Frau namens Valerie Redfield begegnen, grüßen Sie sie von mir.“

Drazen strahlte vergnügt. „Das war doch die Gastgeberin von diesem Abschlussball. Die war eine wahre Schönheit, mein Junge!“

„Und sie würde Sie eiskalt abblitzen lassen“, erwiderte Matt gallig. „Genau wie [Evilswarm Ketos]. Den kann ich opfern, um eine Zauber- oder Fallenkarte auf dem Feld zu vernichten. Sorry, aber die Erntezeit ist vorbei, weg mit der Vogelscheuche …“

Ketos versank wieder in seiner dunklen Teerlache. Diese huschte wie ein Schatten über den Boden, hin zu Drazens [Scrap-Iron Scarecrow]. Direkt unter ihr schnellten aus der Lache die Hände Ketos' hervor, von denen die Falle ins Schwarze gezogen wurde, welches sich damit auflöste.

„Oh“, jammerte Drazen und fasste sich an die Stirn, „zu dumm aber auch.“

Matt schwieg und funkelte seinen Gegner böse an.

„Nicht sehr glaubwürdig, oder?“, ließ der die Scharade daraufhin sein. Durch seine Finger sah er den jungen Mann neckisch an. „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob du eine Herausforderung bist oder nicht. Irgendwie hat mir dieser Nick besser gefallen. Der war … härter und mehr bei der Sache.“

„Seit wann ist das was Gutes?“, erwiderte Matt spöttisch. „Außerdem bin ich sehr wohl bei der Sache.“

„Natürlich. Du legst gute Züge hin. Aber du tust es mit der Motivation eines altersschwachen Faultiers. Da fehlt eine gehörige Portion Pepp!“ Drazen ließ den Arm sinken. „Ist es die Angst?“

„Nein. Es ist, weil ich keine Angst habe. Nicht vor Ihnen.“

So sehr Matt hoffte, sich damit herausgewunden zu haben, so dumm kam er sich vor. Weil es stimmte. Ihm fehlte der Eifer, den er sonst immer an den Tag legte. Was nicht hieß, dass er das Duell nicht ernst nahm, aber …

Er schüttelte den Kopf. Das konnte er noch später auswerten! So griff er nach seinem D-Pad und riss unter [Evilswarm Ophion] das letzte Xyz-Material hervor. „Effekt Ophions! Expand Infection!“

Sein Drache schnappte nach der verbliebenen Lichtsphäre und schlang sie herunter. Was darin resultierte, dass er erneut dunkle Schwingungen aussende. Er würde den alten Mann beim Wort nehmen, dachte Matt und zeigte die vom Deck gesuchte Infestation-Karte vor. „[Mutual Infestation]! Sie verdoppelt die Angriffskraft eines Schwärmers bis zur End Phase!“

Daraufhin begann der schwarze Drache violett aufzuleuchten. Seine neue Aura pulsierte regelrecht, als er sich vom Boden in die Lüfte abstieß.

 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 → 5100 DEF/1650 {4} OLU: 1 → 0]

 

Matt schwang den Arm aus. „Dann los! Greife [Scrap Goblin] an und bringe mir den Sieg! Absolute Infestation!“

Ophion lud in seinem Maul schwarze Energie auf, die er in gebündelter Form auf seinen winzigen Widersacher abfeuerte. Doch noch ehe der überhaupt getroffen wurde, zersprang er plötzlich in tausend Einzelteile – Drazen hatte seine gesetzte Karte, einen Schnellzauber namens [Scrapstorm] aktiviert.

„Die hier ist sehr praktisch. Erst schickt sie ein Scrap-Monster vom meinem Deck auf den Friedhof“, sagte er und zeigte demonstrativ [Scrap Chimera] vor, die er entsorgte, „dann ziehe ich eine Karte und wenn alles getan ist, zerstört sie eines meiner Scrap-Monster.“

Drazen hatte längst besagte Karte aufgezogen und der Strahl, der nun auf ihn gerichtet war, hatte ihn beinahe erreicht. „Oh ja und wenn Letzteres geschieht, wird [Scrap Searcher] auf mein Feld gerufen, denn er kommt immer wieder, wenn ein Scrap-Monster durch einen Karteneffekt zerstört wird. Sofern ich das will, versteht sich.“

 

Scrap Searcher [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

Gerade noch rechtzeitig tauchte der Vogel vor ihm auf, um die Wucht des Angriffs abzufangen und gleich wieder das Zeitliche zu segnen.

Er hatte nicht gelogen, dachte Matt, der nie wirklich damit gerechnet hatte, schon jetzt siegreich aus dem Duell zu gehen.

Drazen zeigte plötzlich die [Scrap Chimera] vor, die er aus seinem Friedhof geholt hatte. „Darüber hinaus sollten wir auch nicht vergessen, dass [Scrap Goblin] mir einen seiner Brüder zurückgibt, sollte er durch einen Scrap-Karteneffekt zerstört werden.“

Plötzlich stand der alte Mann also nicht mehr mit drei, sondern fünf Karten in der Hand da.

„Jetzt kommen wohl die besseren Kombos, was?“, mutmaßte Matt.

„Das Beste bekanntlich ja immer zum Schluss. Das ist die alte Schule.“

„Wie wahr.“ Der Schwarzhaarige zog eine Falle aus seinen drei Handkarten hervor. Jetzt wurde es höchste Zeit, dass er sie setzte. „Die verdeckt. Damit bin ich durch, was bedeutet, dass alle Schwärmer durch den Nebeneffekt von [Mutual Infestation] in die Verteidigung gewechselt werden.“

Was nicht unbedingt schlecht sein musste, wie sich Matt sagte, als sein Drache vor ihm landete und schützend seine Schwingen über Körper und Kopf legte.

 

Evilswarm Ophion [ATK/5100 → 2550 DEF/1650 {4} OLU: 0]

 

Unmittelbar zog Drazen auf und musterte den jungen Mann. „Nun, da dir offensichtlich immer noch die richtige Portion Ehrgeiz fehlt, werde ich das Tempo wohl etwas anziehen müssen.“

Er legte seine [Scrap Chimera] auf die Duel Disk. Jene setzte sich aus Schrottteilen vor ihm zusammen und präsentierte sich als schwarzer, mechanischer Löwe mit Flügeln.

 

Scrap Chimera [ATK/1700 DEF/500 (4)]

 

„Sobald [Scrap Chimera] als Normalbeschwörung gerufen wird, repariert sie einen Scrap-Empfänger und beschwört ihn auf meine Spielfeldseite.“ Drazen zeigte jenes Monster mit dem Anflug eines Grinsens vor. „Komm, [Scrap Goblin].“

Der zuvor durch Drazens Suizidkommando zerfallene Goblin setzte sich aus den Einzelteilen zusammen, die überall auf der Spielfeldseite seines Besitzers verstreut waren.

 

Scrap Goblin [ATK/0 DEF/500 (3)]

 

„Da dein Ophion kein Xyz-Material mehr besitzt, kann ich [Scrap Breaker] von meiner Hand spezialbeschwören, denn du kontrollierst ja ein Monster“, setzte der Weißhaarige seinen Zug gut gelaunt fort, „aber das heißt auch, dass eines meiner Scrap-Monster im Anschluss zerstört wird.“

Kaum war der Oberkörper eines verfallenen Riesenroboters vor Drazen erschienen, zerplatzte seine Schimäre in alle Einzelteile, ganz wie angekündigt.

 

Scrap Breaker [ATK/2100 DEF/700 (6)]

 

Matt runzelte die Stirn. Was sollte das alles? Sein Gegner hätte längst eine Synchrobeschwörung durchführen können, worauf wartete Drazen also? Vielleicht auf den mit Scheinwerfern bestückten Schrottvogel, der sich über Drazen materialisierte, nun da ein Scrap-Monster zerstört worden war?

 

Scrap Searcher [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

Trotzdem leuchtete ihm nicht ein, warum Drazen ein Monster zerstört hatte, bei dessen Ableben er nichts gewann? Immerhin hätte er [Scrap Goblin] loswerden können, um ein Monster auf die Hand zu bekommen.

„Ich fürchte, ich werde noch eines meiner Monster vernichten müssen“, erklärte Drazen derweil und zeigte ein weiteres Monster von seiner Hand vor, „denn ich spezialbeschwöre jetzt [Scrap Orthros], was dann möglich ist, wenn ich ein Monster aus Schrott kontrolliere. Allerdings muss ich im Anschluss ein solches auch zerstören.“

Zwischen seinem Goblin und dem beinlosen, halb zerstörten Roboter erschien ein zweiköpfiger Hund, natürlich ebenfalls ganz aus metallischen Abfällen bestehend. Dieser fiel im Anschluss über den kleineren Goblin her, den er in Stücke riss.

 

Scrap Orthros [ATK/1700 DEF/900 (4)]

 

Matt konnte darüber nur den Kopf schütteln. Drazen beschwor ein Monster nach dem anderen, nur um anschließend welche zu zerstören? Worin lag da der Sinn?

Aber er erkannte es, noch bevor Drazen zu erklären begann. [Scrap Goblin] recycelte seine Artgenossen, aber er hatte gewartet. Gewartet, bis ein attraktives Ziel vorhanden war … und welches Monster würde Drazen lieber wollen als-!?

„Nun, da mein Kleiner durch einen Scrap-Effekt zerstört wurde, darf ich mir die [Scrap Chimera] von meinem Friedhof auf die Hand nehmen.“

Der junge Mann runzelte die Stirn. Natürlich. Solange er die Schimäre besaß, konnte er spielend leicht neue Monster beschwören und weiß Gott was damit anrichten.

Drazen schmunzelte zufrieden, offensichtlich froh, dass Matt von selbst dahinter gestiegen war und steckte seine Schimäre zu den anderen drei Handkarten.

„Dein unzufriedener Blick verrät mir, dass ich dir meine Strategie nicht weiter erklären muss“, sagte er und klang dabei mit einem Schlag gar nicht mehr vergnügt, sondern bitterernst, „leider siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht, Junge. Ich zerstöre nicht nur, ich erschaffe auch.“

Mit einem Ruck streckte er seinen Arm in die Höhe. „Ich stimme den Stufe 4-[Scrap Orthros] auf den Stufe 6-[Scrap Breaker] ein! A heart of iron rests within the void of time and space! One beat, powerful enough to reverse the laws of nature! Synchro Summon! Break loose, [Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T]!“

Der zweiköpfige Schrotthund nahm Anlauf und sprang in die Luft, dicht gefolgt vom schwebenden Stück Altmetall namens [Scrap Breaker]. Orthros zersprang in vier grüne Ringe, die jedoch mitten in der Luft eine Kehrtwende machten und statt die Synchrobeschwörung vor Drazen durchzuführen, über ihn hinweg flogen. Weit hinter dem alten Mann schaffte der [Scrap Breaker] es schließlich, die Lichtringe zu durchqueren und die Lichtung in ein gleißendes Feuerwerk an Effekten zu tränken.

Als Matt beobachtete, was für eine Kreatur da im Begriff war zu entstehen, wurden seine Beine zunehmend weicher. In dem Moment begriff er, dass er das Duell tatsächlich ernster nehmen musste – denn über Drazen erhob sich ein Wesen epischen Ausmaßes. Bestimmt über fünfzehn Meter groß, strahlte das cyanfarbene Metall des Titans in der Abendsonne. Auf der Brust prangerte ein in Silber gehaltenes T, der Helm war mit vier Hörnern versehen, die so ineinander gewunden waren, dass man ihrem Lauf zunächst nicht folgen konnte, doch sie zeigten alle nach vorn. Doch die Fäuste übertrafen alles, denn sie waren mit elektrischen Entladungen an den Armen gekoppelt – und besaßen die Größe eines Lastwagens.

„Da staunst du, was?“, gluckste Drazen, der allein die Füße seines Mechas um gerade einmal einen Kopf überragte. „Und du musst wissen, Heavy T erhält bis zur End Phase einen Angriffsbonus von 500 für jedes benutzte Synchromaterial.“

Matt torkelte panisch zurück, als der gesamte Boden innerhalb der Lichtung an manchen Stellen aufbrach. Der Titan streckte seine Arme aus und ließ ganze Erdklumpen in die Höhe steigen, selbst einige Bäume im näheren Umfeld wurden entwurzelt. Vor dem Auge des Dämonenjägers schwebte der gefühlte halbe Wald.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 → 4000 DEF/0 (10)]

 

Das musste sie sein, erkannte Matt. Die Karte, die Anya brauchte! Ein Relikt von solch großer Macht, dass es ganz von alleine die Realität beeinflussen konnte – etwas, das Matt am ganzen Leibe spürte, eine Energie, die weit über das hinausging, was Drazen bisher an den Tag gelegt hatte. Aber er konnte sie nicht erfassen, begreifen, denn dafür waren Menschen nicht geschaffen.

Welche Macht war imstande, etwas Derartiges zu kreieren? Matt wollte es sich nicht ausmalen.

„Also bezieht Drazen seine Kraft von diesem Ding …“

„Hast du gerade etwas gesagt?“, fragte jener in einem viel zu wissenden Tonfall, um tatsächlich unsicher bezüglich Matts Worte zu sein.

Und doch schüttelte der den Kopf. „Nein.“

Der weißhaarige Mann rückte seine runde Brille zurecht. „Wie du meinst. Du liegst natürlich vollkommen richtig, denn wie du bin ich nur ein Mensch und verfüge über keine eigenen Kräfte. Stattdessen lasse ich Heavy T die ganze spirituelle Arbeit machen. Oh, und wenn wir schon dabei sind, ich muss ja noch angreifen!“

 

[Matt: 1800LP / Drazen: 3750LP]

 

Als Reaktion darauf verkrampfte Matt und nahm einen Schritt zurück. „Da kommt er!“

„Zeig dem Kleinen was du kannst, Heavy T! Effekt: Gravity Reverse! Zwinge seinen [Evilswarm Ophion] in den Angriffsmodus und zerstöre ihn!“

Matt öffnete vor Schreck den Mund, als er das vernahm. Im selben Zuge streckte Heavy T eine seiner Handflächen aus, in der eine blaue Energiesphäre eingelassen war. Diese änderte ihre Farbe auf rot und ehe der ehemalige Dämonenjäger sich versah, wurde sein Drache regelrecht vor ihm weggerissen, direkt in Richtung des Titans.

 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 DEF/1650 {4} OLU: 0]

 

Wie ein Pfeil flog Ophion durch die Luft, als der Stahlkoloss seinen anderen Arm erhob und dem schwarzen Drachen mit geballter Faust entgegen kam.

„Verdammt“, stammelte Matt, „das könnte weh tun.“

„Ich fürchte, das wird es“, versprach Drazen.

Dann erfolgte die unvermeidbare Explosion, als Ophion von der Faust getroffen und vernichtet wurde. Letztere machte aber nicht Halt, sondern steuerte geradewegs, hängend an den Energiesträngen, auf Matt zu. Das Schauspiel spiegelte sich in dessen weit aufgerissenen Augen wieder …

 

 

Turn 48 – Little Lies

Drazens mächtigem Monster gegenüberstehend, muss Matt all sein Können aufbringen, um sich gegen die gnadenlosen Angriffe zu wehren. Obwohl all seine Versuche, [Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T] aus dem Weg zu räumen scheitern, findet er eine Schwachstelle in Drazens Strategie und …

Turn 48 - Little Lies

Turn 48 – Little Lies

 

 

In Matts Augen spiegelte sich die gigantische Faust wieder, die seinen [Evilswarm Ophion] zerschmettert hatte und nun geradewegs auf ihn zu schoss. Dessen Besitzer Heavy T, ein gigantischer Stahltitan, feuerte sie von seinem Arm an elektrischen Strängen ab.

Er würde diesen Angriff von den Lebenspunkten her überstehen, da er nur 1450 Punkte Schaden nehmen würde, schoss es Matt durch den Kopf …

 

[Matt: 1800LP / Drazen: 3750LP]

 

… aber da in diesem Ding unglaubliche Macht steckte, würde er zerquetscht werden wie eine Fliege – das durfte nicht geschehen!

Geistesgegenwärtig schwang er den Arm aus. „Falle hoch! [Defense Draw], welche den Schaden annulliert und mich einmal ziehen lässt!“

Gerade noch rechtzeitig klappte seine Falle auf und positionierte sich genau zwischen Matt und der nahenden Faust, welche als Folge an der scheinbar stahlharten Karte nicht vorbei kam, als sie auf sie prallte.

„Na sieh an“, staunte Drazen und klatschte in die Hände, „jetzt wird das langsam was.“

Matt zog dank des Effekts von [Defense Draw] auf und atmete tief durch. „Wer will schon gerne von einer riesigen Faust erdrückt werden?“

„Oh, ich kenne da einige“, scherzte sein Gegner. Im gleichen Zug streckte er den Arm aus. „Da Heavy T angegriffen hat, wechselt er leider in die Verteidigungsposition.“

Kaum zu glauben aber der hellblaue, vierhörnige Metallriese zog seine Faust zurück und kreuzte beide Arme über seine mit einem silbernen T verzierte Brust. Und mit einem Schlag fielen all die ausgerissenen Bäume, Moosfetzen, Steine und dergleichen, die zuvor über der Lichtung geschwebt hatten, einfach in die Tiefe – ziemlich lautstark wohlgemerkt.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/4000 DEF/0 (10)]

 

Matt zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Er ist vollkommen ungeschützt in diesem Zustand.“

„Das weiß ich, weswegen ich diese Karte verdeckt ausspiele“, sagte Drazen und ließ jene vor seinen Füßen erscheinen, „und da ich jetzt meinen Zug beende, verliert Heavy T außerdem die 1000 Angriffspunkte, die er bei seiner Synchrobeschwörung erhalten hat.“

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/4000 → 3000 DEF/0 (10)]

 

Sofort zog Matt auf vier Handkarten auf und hatte damit eine mehr als sein Gegner. Er war derart beschäftigt mit dem Riesen, wodurch er ganz vergessen hatte, dass Drazen ja noch ein zweites Monster besaß – den Schrottvogel [Scrap Searcher], an dessen ganzem Körper Scheinwerfer angebracht waren.

 

Scrap Searcher [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

Neben seiner neuen verdeckten Karte war das alles, was Drazen derzeit auf dem Feld liegen hatte.

„Ich werde nicht den Fehler machen und blindlings angreifen“, sagte der ehemalige Dämonenjäger und schwang den Arm aus, wodurch seine einzige Karte auf dem Feld, die offen liegende Falle [Infestation Infection], aufzuleuchten begann, „einmal pro Zug kann ich einen Schwärmer von meiner Hand oder dem Spielfeld mit einem aus meinem Deck austauschen.“

Er schob zunächst seinen [Evilswarm Golem] zurück in sein Deck, ehe er dieses aus der Halterung seines D-Pads nahm und die gewünschte Karte heraussuchte, bis er schließlich seinen Kartenstapel wieder an seinen angestammten Platz brachte.

„Diese hier nennt sich [Evilswarm Kerykeion] und ich werde sie auch beschwören!“

Eine schwarze, humanoide Gestalt tauchte vor Matt auf. Ihre Schwingen waren aus Kristall gemacht und die Kreatur schwang gleich zwei Zauberstäbe, nämlich einen, der das Wappen der Gishkis trug und einen, der eigentlich aus zwei wie Schlangen in umeinander gewundenen Hölzern bestand, von schwarzer beziehungsweise goldener Farbe.
 

Evilswarm Kerykeion [ATK/1600 DEF/1550 (4)]

 

„Ich benutze Kerykeions Effekt, der besagt, dass ich einen Schwärmer von meinem Friedhof verbannen kann, um einen von dort auf meine Hand zu bekommen“, rief Matt und streckte den Arm aus, „ferner kann ich noch einen Schwärmer in diesem Zug als Normalbeschwörung rufen.“

So verbannte er [Evilswarm Thunderbird], um sich [Evilswarm Mandragora] aufs Blatt zu nehmen, doch statt ebenjener beschwor er eine andere Kreatur. „Und diese nennt sich [Evilswarm Salamandra]!“

Kerykeion stieg hoch in die Luft auf und ließ dabei mit nach unten gestreckten Zauberstäben einen Runenzirkel vor Matt erscheinen, aus dem besagtes Monster entstieg – ein pastellgrüner Dinosaurier in blau-schwarzer Panzerung, von welchem eine dunkle, bösartige Aura ausging.

 

Evilswarm Salamandra [ATK/1850 DEF/950 (4)]

 

Der junge Mann spürte wie sein Herz schneller schlug, als er auf sein Blatt starrte. Es bestand jetzt aus [Evilswarm Mandragora], [Creeping Darkness] und [Xyz Regret]. Demnach wäre es ein Leichtes, -es- zu beschwören. Genau davor fürchtete Matt sich aber – genau das Monster zu beschwören, das für alles verantwortlich war. Das alles war, was-

„Ist es nicht ein schöner Anblick?“

Matt ließ die Hand mit den Karten sinken und sah den in einen orangen Poncho gehüllten Drazen fragend an.

„Das Abendrot. Immer wenn ich es sehe, werde ich daran erinnert, dass es wenige so perfekte Kreisläufe gibt wie Tag und Nacht.“ Drazen grinste verträumt. „Sie lassen sich durch nichts unterbrechen. Man weiß immer, dass auf die Sonne der Mond folgen wird. Das Leben ist da deutlich wählerischer mit seinen Aufs und Abs.“

Was Matt mit einem Stirnrunzeln quittierte. „Ich will nicht unhöflich sein, aber was hat das mit unserem Duell zu tun?“

„Eine Menge. Mehr als du denkst“, zwinkerte ihm Drazen zu.

Im Endeffekt konnte Matt aber nicht entschlüsseln, was sein Gegner ihm sagen wollte. Und irgendwie wollte er das auch nicht, denn dieser Mann wusste mehr als gut für sie beide war.

Er sollte das hier hinter sich bringen, sagte sich der Schwarzhaarige und streckte die Hand nach oben. „Ich erschaffe das Overlay Network! Meine beiden Stufe 4-Schwärmer werden zu einem Rang 4-Monster!“

Inmitten des Feldes öffnete sich ein schwarzer Wirbel. Gleichzeitig verwandelten sich Kerykeion und Salamandra in violette Lichtstrahlen, die von besagtem Strom absorbiert wurden.

„Erscheine, [Evilswarm Bahamut]!“, brüllte Matt über die Lichtung hinweg.

Sofort wand sich der schwarze, schlangenhafte Drache aus dem Überlagerungsnetzwerk und zog eine Bahn um Matt. Der zur Hälfte aus Eiskristallen bestehende, ansonsten schwarze Körper der Bestie wirkte unnatürlich. Er machte vor Matt Halt und bäumte sich auf, spreizte seine Schwingen, deren Innenhäute ebenfalls aus purem Eis waren. Zwei Lichtsphären umkreisten ihn dabei.

 

Evilswarm Bahamut [ATK/2350 DEF/1350 {4} OLU: 2]

 

„Wie schon gesagt, werde ich nicht den Fehler machen und blindlings angreifen. Zumindest nicht mit meinem Monster!“, verkündete Matt und zeigte [Evilswarm Mandragora] von seiner Hand vor.

Sein Gegner lächelte hocherfreut. „So gefällst du mir, Bursche!“

„Effekt von [Evilswarm Bahamut]!“ Matt zog unter dessen Karte [Evilswarm Kerykeion] hervor und rammte diesen zusammen mit Mandragora in den Friedhofsschlitz seines schwarzen D-Pads. „Einmal pro Zug kann ich einen Schwärmer abwerfen und ein Xyz-Material abhängen, um die Kontrolle über eines ihrer Monster zu gewinnen!“ Matt zeigte auf den Titanen hinter Drazen. „Spread Infection!“

Der ehemals als [Brionac, Dragon Of The Ice Barrier] bekannte Bahamut öffnete sein Maul und lud darin einen schwarzen Strahl auf. Doch tatsächlich waren es Millionen winziger Insekten, die er schließlich in Heavy Ts Richtung ausstieß.

Matt verschränkte dabei die Arme. „Sie wollten, dass ich alles gebe! Dann sehen Sie mit an, wie ich Sie mit Ihrem eigenen Monster besiege!“

Aber Drazen grinste nur verschmitzt, wie er da regungslos inmitten der Lichtung stand und darauf wartete, dass sein Monster getroffen wurde.

 

~-~-~

 

Während Matt sich vermutlich wunderbar mit diesem Drazen amüsierte, stand Anya wie bestellt und nicht abgeholt vor der Holzfällerhütte und sah über das Dickicht, welches sich in einigen Metern Entfernung in all seiner Pracht präsentierte.

„Sag mir jetzt nicht, dass wir da durch müssen!“, raunte sie herüber zu Alastair, der gerade aus dem Laderaum des VW-Busses in gebückter Haltung sprang. In seiner Hand hielt er ein Schrotgewehr, denn anscheinend hatte sich die Waffenkiste auf mirakulöse Weise wieder angefunden.

„Ich fürchte, genau das müssen wir.“

Anya drehte sich herüber zu Zanthe, der am Türrahmen lehnte. „Kannst du nicht irgendwas tun? Bisschen mit deiner Wolfsnase schnüffeln?“

Der Kopftuchträger verdrehte genervt die Augen. „Bind mir doch gleich'n Halsband um.“

„Gute Idee! Aber das ist nicht, wonach ich gefragt habe!“

Mit der Zunge schnalzend stieß Zanthe sich ab. „Dann probier' es doch mal mit einem Nein! Schon mal versucht-“

Anya verzog ihre Augen zu kleinen Schlitzen. „Nein. Komm zum Punkt.“

„Wenn er sich wie ein Normalsterblicher verhalten und Drazen hinterher gerannt wäre, würde ich ihn sofort finden. Aber da er sich teleportiert hat und das scheinbar auch noch ziemlich weit weg, überdecken die Gerüche des Waldes den seinen.“ Zanthe latschte träge zu Anya und schlug ihr fest auf die Schulter. „Wenn du möchtest, kannst du ja mal deine Nase benutzen.“

„Ich rieche hier nur Tod, wenn du mich noch einmal anfässt!“, fauchte sie und trat ihm gegen das Schienbein, oder zumindest versuchte sie das, doch Zanthe wich ihr mit einer Drehung um das Mädchen herum aus und legte den Arm um ihre Schulter, nahm sie kumpelhaft in den Würgegriff.

„Bist wohl angespannt, weil dein kleiner Prinz weg ist.“

Was ihm prompt einen Ellbogenstoß in seinen 'kleinen Prinzen' einbrachte.
 

Und während Zanthe sich keuchend den Schritt hielt und rückwärts torkelte, beobachtete Alastair das Schauspiel gewohnt humorlos. „Unterlasst das gefälligst! Matt muss sich in der Nähe befinden.“

Anya zuckte mit den Schultern. „Oh, was du nicht sagst? Erst justiert er den Bannkreis total falsch und statt ihn auf die Hütte zu beschränken, können wir jetzt den halben beschissenen Wald absuchen. Dann vergisst er natürlich, uns den Zauber mitzugeben, mit dem wir ihm folgen können, falls Drazen den Zauber doch durchbricht. Und jetzt duelliert er sich vermutlich mit dem Kerl, der selbst Brainiac-Nick geschlagen hat? Hab ich irgendwas ausgelassen?“

Die Blondine stieß einen tiefen Seufzer aus. „Man, dafür, dass ihr nicht mehr als Deppenduo auftretet, seid ihr immer noch Experten, wenn es darum geht, Missionen zu verkacken!“

Wie ein Gewittersturm sauste Alastair an ihr vorbei. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Matt versehentlich den Bannkreis falsch justiert hat …“

Anya glotze ihm verwirrt hinterher, wie der Hüne auf die Bäume zusteuerte, dabei die Schrotflinte geschultert. „Was?“

„Er sagt, es war Absicht. Und seiner Laune nach zu urteilen weiß er nicht warum“, half Zanthe ihr auf die Sprünge, als er ebenfalls an ihr vorbeiwanderte. „Komm jetzt, oder muss ich dir noch erklären wie man läuft?“

Unter einem wütenden Zischen folgte Anya den beiden schließlich.

 

~-~-~

 

Unaufhaltsam bahnte sich der schwarze Partikelstrahl von [Evilswarm Bahamut] seinen Weg zum Titanen Heavy T, der seine Arme über Kreuz hielt und einen Schritt zurück nahm. Doch mit erhobener Hand gebot Drazen seinem Monster Einhalt, ganz als würde dieses die Geste verstehen.

„Weißt du, was das Problem am Altern ist, Bursche?“, wollte der Weißhaarige von seinem Gegner wissen. „Man vergisst so vieles. Schlimmer ist es noch, wenn das schon in jungen Jahren anfängt.“

In diesem Moment sprang Drazens verdeckte Karte auf, eine Falle namens [Memory Loss]. „Nehmen wir doch deinen [Evilswarm Bahamut]. Eben will er noch seinen Effekt aktivieren und die Kontrolle über Heavy T gewinnen, dann vergisst er mittendrin was er tat und wechselt plötzlich in die offene Verteidigungsposition.“

Matt biss sich auf die Lippen, als der Strahl sich auflöste und sein schwarzer Eisdrache seine Schwingen schützend über sich hielt, während er vor Matt hernieder sank.

 

Evilswarm Bahamut [ATK/2350 DEF/1350 {4} OLU: 1]

 

Damit hatte er nicht gerechnet. Ganz offensichtlich war Drazen ein außerordentlicher Stratege, welcher genau wusste, dass Matt Heavy T über einen Monsterkarteneffekt aus dem Weg zu räumen versuchen würde.

„Wirklich gut … für jemanden, der so alt ist wie Sie“, gab Matt offen zu.

„Vielen Dank. Du musst wissen“, sagte Drazen und seufzte plötzlich leise, „wenn man in einer Stadt gelebt hat, in der niemand altert, vergisst man auch nicht.“

Matt wurde hellhörig. „Sie reden von Eden?“

„Scheinbar hat der gute Nick kein Detail ausgelassen, als er über mich ausgepackt hat“, gluckste der alte Mann, „natürlich hast du Recht, ich spreche von Eden. Aber ich möchte dich nicht mit den Erinnerungen eines alten Bocks quälen. Sie würden dir nicht weiterhelfen bei dem, was du für deine Freundin erreichen willst. Außerdem ist das alles Vergangenheit.“

„Und jetzt sind Sie hier in der Gegenwart. Trotzdem scheinen Sie nicht zu altern.“

Bärbeißig lachte Drazen los. „Wie kommst du denn darauf?“

„Der heimatlose Wanderer … Geschichten unter Dämonenjägern beschreiben, wie er bereits seit mehreren Jahrzehnten hier und da auftaucht und ihnen manchmal bei der Arbeit hilft, meist durch sein Wissen.“ Der junge Mann sah Drazen fest an. „Und jetzt, wo ich länger darüber nachdenke, passen Sie perfekt auf deren Beschreibungen.“

Sein Gegenüber schloss mit angezogenen Mundwinkeln die Augen. „Du musst dich irren, ich helfe nur gegen Bezahlung und wie jeder weiß, seid ihr Dämonenjäger chronisch pleite.“

 

Als die kleine Konversation verebbte, stand Matt wieder am Anfang. Sein Versuch, Heavy T aus dem Weg zu räumen, war gescheitert. Selbstverständlich könnte er es mit einem Angriff versuchen, die Mittel dazu hatte er – aber Drazen würde nicht zulassen, dass sein Riesenspielzeug so einfach kaputt ging. Oder genau das war sein Ziel, weshalb Matt erst recht davor zurückschreckte, es zu probieren. Die einzige Alternative die ihm jedoch blieb war das Unaussprechliche. -Es- zu beschwören.

„… ich weiß“, murmelte er vor sich hin.

Keine andere Wahl. Es war nicht so, dass er etwas -davon- zu befürchten hatte. Mehr ging es Matt darum, unliebsame Erinnerungen nicht wieder wachrütteln zu wollen.

„Selbstbetrug?“

Irgendwo stimmte es. Manchmal ertappte Matt sich dabei, wie er an den Tag zurückdachte, als Livington von der Immateriellen Urila angegriffen wurde. Der Tag, an dem seine geliebte Tara zu ihrem Opfer wurde und die einzige Möglichkeit, sie zu retten, gewesen war, ihr für immer Lebwohl zu sagen – auf Geheiß des Collectors. Das war der Tag gewesen, als sich für Matt alles verändert hatte.

„Also schön“, zischte er, „was bleibt mir anderes übrig, wenn ich es so machen will? Ich aktiviere eine Zauberkarte, [Xyz Regret]. Sie splittet ein Xyz-Monster auf meiner Spielfeldseite in zu ihm passende Materialien von meinem Friedhof auf, aber dafür kann ich das Xyz-Monster für den Rest des Duells nicht mehr beschwören!“

Bahamut löste sich in schwarzen Partikeln auf, als Matt es von seinem D-Pad nahm und ins Extradeck zurückschob. Stattdessen materialisierten sich vor ihm [Evilswarm Kerykeion] und das weißhaarige Riesengewächs [Evilswarm Mandragora], dessen erdig-brauner Körper in stummeligen Armen und Beinen endete, an deren Spitzen Blätter wuchsen auf denen winzige schwarze Insekten krabbelten.

 

Evilswarm Kerykeion [ATK/1600 DEF/1550 (4)]

Evilswarm Mandragora [ATK/1550 DEF/1450 (4)]

 

Im Anschluss zeigte Matt noch eine Zauberkarte vor. „Danach aktiviere ich [Creeping Darkness], mit der ich zwei Finsternis-Monster von meinem Friedhof entferne und dafür eines der Stufe 4 von meinem Deck erhalte.

Matt entledigte sich [Evilswarm Salamandra] und [Evilswarm Heliotrope], nahm sich dann die gewünschte Karte aus seinem Deck hervor und knallte sie umgehend auf sein D-Pad. „Ich wähle [Evilswarm Dullahan], den ich sofort spezialbeschwören kann, da ich einen Schwärmer mit mindestens 1500 Angriffspunkten besitze!“

Zwischen seinen anderen Monstern entstieg aus einem finsteren Nebel eine kopf- und beinlose Gestalt, eine Maschine, die mit massiven, goldenen Armen ausgestattet war.

 

Evilswarm Dullahan [ATK/1150 DEF/1550 (4)]

 

Übelkeit stieg in Matt auf, er atmete stoßweise. Dann verkündete er atemlos, kurz angebunden: „Ich erschaffe das Overlay Network.“

Jenes öffnete sich erneut vor ihm und absorbierte gleich alle drei Monster des jungen Mannes als violette Energiestrahlen. Wie ein Blitz durchzog es Matt, der sich krümmte.

Erst ragte ein Drachenkopf aus dem Galaxienwirbel hervor. Bestückt mit einer halb weißen, halb schwarzen Maske, wurden seiner erst zwei und anschließend drei. Mit einem Ruck erhob sich der finstere Drache aus dem Overlay Network und hielt sich über Matt, peitschte mit einem langen Schweif, an dem eine Art Schild mit roter Insignie in dessen Mitte befestigt war, aus dem drei kurze Klingen ragten.

„[Evilswarm Ouroboros]“, keuchte Matt und hielt sich die Brust, senkte den Kopf, „Mächtigster von allen.“

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4} OLU: 3]

 

Drazen sah Matt irritiert an. „Junge, geht es dir gut?“

„Sollten Sie sich das nicht selber fragen?“

Überrascht von seiner tonlosen Antwort wich der Ponchoträger zurück, als um ihn herum finsterer Nebel aufstieg. Dieser bildete Auswüchse, Tentakeln gleich, die nach Drazen langten – und zerfetzt wurden, als ein gleißendes Licht ihn umgab. Ausgehend von Heavy Ts Karte auf seiner Duel Disk.

„Diese Karte ist gefährlich!“, erkannte jener. „Daher also-!“

Matt sah ruckartig auf, in seinen Augen spiegelte sich wilde Entschlossenheit wieder. Und vielleicht noch mehr. „Sie wollten es nicht anders! Effekt des mittleren Kopfes aktivieren! Ich gebe eine Ihrer Karten auf die Hand zurück! Infestation's Viciousness!“

Um jeden der drei Köpfe Ouroboros' kreiste eine Lichtsphäre. Der mittlere schnappte nach seiner und verschlang diese, ehe er anschließend einen schwarzen Partikelstrahl auf Heavy T abfeuerte.

Dieser wurde in die überkreuzten Arme getroffen. Sofort begannen diese sich zunehmend dunkel zu verfärben, selbst die Energiestränge die jene zusammenhielten waren betroffen. Drazen sah dem Ganzen mit in den Nacken gelegten Kopf unruhig zu, dann schrie er: „Nein! Effekt von Heavy T aktivieren! Safety Bit!“

Der Titan streckte seine Arme nach vorn aus und ließ sich damit bewusst treffen. Das T auf seiner Brust begann plötzlich zu leuchten. Die Szenerie wurde umso merkwürdiger, als Drazens anderes Monster, [Scrap Searcher], um Heavy T kreiste und schließlich in genau jenem leuchtenden T verschwand. Dieses sendete direkt im Anschluss einen frontalen, aus dutzenden Waben bestehenden Energieschild aus, der den Strahl zurückdrängte, während Heavy Ts Arme und Brust wieder zu alter Farbe fanden.

Mit einem Knall verpuffte Ouroboros' Attacke schließlich.

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4} OLU: 3 → 2]

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 DEF/0 (10)]

 

Matt stand dem allen mit offenem Mund gegenüber. „Ouroboros' Effekt abgewehrt und zudem-!? Wie!?“

Drazen erklärte: „Das ist Heavy Ts letzter Effekt. Er kann sich selbst jederzeit wieder in Angriffsposition bringen und zudem vor Monstereffekten schützen. Das kostet jedoch eines meiner anderen Monster. Des Weiteren ziehst du als Ausgleich jedes Mal eine Karte, wenn er das tut.“

Mit einem Blick voller Erkenntnisse sah Matt sein Deck an. Das war alles Drazens Plan gewesen. Wenn er jederzeit dafür sorgen konnte, dass Heavy T die Position wechselt, dann war es die ganze Zeit seine Absicht gewesen, Matt in dem Glauben zu lassen, es würde sich eine Falle in der schwächlichen Verteidigung verbergen. Und die gab es auch, nur sah sie ganz anders aus, als Matt letztlich erwartet hatte: Ressourcenverbrauch. Matt hatte alles aufgegeben, um einen imaginären Feind loswerden zu wollen!

Keuchend griff er nach seinem Deck. „Sie haben mich echt an der Angel. Wollten Sie das? Dass ich Ouroboros beschwöre!? Ihretwegen-!“

„Zumindest hat der Schatten, der dich umgibt, jetzt eine Form“, erwiderte Drazen ernst, „aber was du getan hast, hast du aus eigenem Antrieb getan.“

Der alte Mann zeigte mit dem Finger auf den dreiköpfigen Drachen. „Du hast Angst davor. Aber nicht, weil seine Finsternis Unglückselige vernichten könnte. Sondern weil du dich nach ihm verzehrst!“

„Nein!“, polterte Matt. „Wie kommen Sie auf die Idee!?“

„Weil du dir selbst eine scheinbar gefährliche Situation vor Augen gehalten hast, für die es keine Beweise gab.“ Drazen sah ihn fest an. „Und echtes Zögern sieht anders aus.“

Matt senkte seine Stimme. „Glauben Sie was Sie wollen, ich kenne die Wahrheit. Ich muss noch durch Ihren Effekt ziehen, also …“

… tat er dies auch und legte jene Karte sofort in sein D-Pad ein. Woraufhin sie sich vor seinen Füßen materialisierte. Ohne Handkarten verlautete er: „Zug beendet.“

 

Gleich im Anschluss riss Drazen seinerseits eine Karte von seinem Blatt und schenkte ihr für einen kurzen Augenblick mit einem verschmitzten Grinsen Aufmerksamkeit, ehe er eine andere aus seinem Blatt mit dem Daumen vorschob und diese auf seine Duel Disk klatschte.

„Komm zu Daddy, [Scrap Chimera].“

Matt fasste sich stöhnend an die Stirn. „Stimmt, die hatte er ja auch noch … verdammt!“

Es bedarf wenig Erklärung, warum auf Drazens Spielfeldseite gleich zwei statt einem Monster auftauchten. Das linke war die eben beschworene Schimäre, ein beflügelter Löwe bestehend aus Altmetall. Neben ihm setzte sich aus um Drazen herum auftauchendem Schrott ein zweiköpfiger Hund zusammen.

„Natürlich“, sagte Matt dazu grimmig, „[Scrap Chimera] kann bei ihrer Beschwörung einen Scrap-Tuner wie Orthros reanimieren. Sie haben sie extra dafür im letzten Zug recycelt.“

Drazen nickte grinsend.

 

Scrap Chimera [ATK/1700 DEF/500 (4)]

Scrap Orthros [ATK/1700 DEF/900 (4)]
 

Im Anschluss erwiderte der Weißhaarige und streckte dabei bewusst den Arm in die Höhe: „Ich denke du weißt, was jetzt kommt. Ich stimme meinen Stufe 4-Orthros auf meine Stufe 4-Chimera ein!“

Beide Monster stiegen ebenfalls in die Luft auf, etwa auf Höhe von Heavy Ts Kopf. Dort zersprang der zweiköpfige Schrotthund in vier grüne Lichtzirkel, die die Schimäre passierte und sich dabei selbst in gleich viele grüne Sphären verwandelte. Drazen zitierte: „From within a pile of junk a heart of steel is born! The embodiment of the discarded! Synchro Summon!“

Ein greller Blitz durchschoss die Ringe. „Tear them appart, [Scrap Dragon]!“

Unter einem metallisch hohl klingendem Schrei verkündete ein imposanter Drache sein Kommen. Bestehend aus dunklen Schrottteilen, waren seine Schwingen nichts weiter als zusammengeschweißte, verschieden große Metallplatten. Bedrohlich leuchteten seine Augen rot auf.

 

Scrap Dragon [ATK/2800 DEF/2000 (8)]

 

Während das Monster über Drazen verharrte, zeigte der Matt eine Karte mit dem Rücken vor. „Die da setze ich verdeckt und aktiviere anschließend den Effekt [Scrap Dragons].“

Er legte die Falle [Scrap Rage] in seine Duel Disk ein, doch kaum materialisierte diese sich vor ihm, zerplatzte sie schon in tausend Stücke.

„Einmal pro Zug erlaubt es mir mein Monster, eine meiner Karten zu zerstören, um im Gegenzug dasselbe mit einer von deinen zu tun.“ Drazen streckte den Arm aus und zeigte auf Matts dreiköpfigen Drachen. „Los, Scrap Burst Salvo!“

[Scrap Dragon] saugte die entstandenen Partikel der zerstörten Karte in sein Maul auf, um im Anschluss ein ganzes Geschwader an, aus allen möglichen Schrottteilen bestehenden, Raketen in Ouroboros' Richtung abzufeuern. Kurz vor dem Einschlag schnappte der linke Kopf nach dem um ihn kreisenden Xyz-Material. Sofort darauf wurde der Drache an mehreren Stellen seines Körpers gleichzeitig getroffen und demnach in Explosionen regelrecht eingedeckt.

„Das zum Thema dunkle Kräfte …“, flötete Drazen fröhlich.

„Dunkle Kräfte haben die dumme Angewohnheit, sich nicht so leicht vertreiben zu lassen, finden Sie nicht?“

Drazen gab ein überraschtes „Hmm?“ von sich und sah nach oben, wo der Rauch sich lichtete. Und Matts finstere Kreatur, als wäre nichts geschehen, weiter über ihm flog.

„Nicht nur Sie können Ihre Monster schützen!“, raunte Matt und nickte zu seiner offen stehenden Schnellzauberkarte. „Ich habe es [Xyz Shift Break] zu verdanken. Denn diese Karte erlaubt es, für einen Zug den Effekt mit einem gleichrangigen Monster von meinem Extradeck zu tauschen.“

Matt präsentierte eigens dafür [Evilswarm Thanatos], den er zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt, ehe er diesen zurück in sein Extradeck schob. „Der da kann sich auch im Gegnerzug vor Monstereffekten immun machen, indem er auf eines seiner Xyz-Materialien verzichtet. Kommt Ihnen sicher bekannt vor?“

Passend dazu kreiste nur noch um den rechten der Köpfe des maskierten Drachen eine Lichtkugel.

„Das ist nichts, was man nicht durch einen gepflegten Angriff richten könnte“, erwiderte Drazen unbesorgt und befahl: „Greif [Evilswarm Ouroboros] an, [Scrap Dragon]! Scrap Burst Stream!“

Ohne Umschweife feuerte der Schrottdrache einen heftigen, blauen Laserstrahl auf seinen Kontrahenten ab. Matt wich zurück, als jener mitten in der Brust getroffen wurde und explodierte. Eine Schockwelle entstand, die den ehemaligen Dämonenjäger noch weiter zurückdrängte, doch er hielt sich kämpferisch auf den Beinen.

 

[Matt: 1800LP → 1750LP / Drazen: 3750LP]
 

Dort, wo Ouroboros zerstört worden war, breitete sich derweil ein dunkler Nebel aus, welcher Drazen keinesfalls entging. Abwartend beobachtete er, wie sich das ganze Feld seines Gegners damit füllte – und jener zu keuchen begann. Was nicht zuletzt daran liegen konnte, dass das Gras und Moos, welches von dem Nebel berührt wurde, in Sekundenschnelle einging.

„Wie es scheint geht das Ableben deines Monsters mit einigen unschönen Nebeneffekten einher“, sagte der Weißhaarige mit einer Spur Besorgnis, „Bursche, du solltest so eine Karte nicht spielen, wenn du sie nicht-“

„Sie irren sich!“, fauchte Matt und ballte vor ihm eine Faust zusammen. „Sehen Sie genau hin!“

Plötzlich zog sich der ganze violett-schwarze Nebel in atemberaubender Geschwindigkeit an einem Punkt über ihm zusammen und bildete den dreiköpfigen Drachen, der wütend aufschrie. Um ihn rotierte ein Xyz-Material, während er seine Schwingen schützend vor die Köpfe hielt.

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4} OLU: 1]

 

Matt hielt die Karte von [Evilswarm Dullahan] zwischen den Fingern. „Wenn ein Schwärmer-Xyz zerstört wird, während Dullahan noch sein Xyz-Material ist, kann er jenes Xyz-Monster nur einmal während des Duells reanimieren und erneut zu seinem Xyz-Material werden.“

„Und du dachtest, ihn in Verteidigung zu beschwören würde etwas bringen?“ Drazen seufzte und fasste sich kopfschüttelnd an die Stirn. „Na ja, du lernst es auch noch. Heavy T, greif Ouroboros an und benutze Gravity Reverse!“

Matt weitete die Augen, als der Metallgigant einen seiner Arme ausstreckte, in dessen Handinnenfläche eine blaue Energiesphäre eingesetzt war. Diese wirkte eine Kraft aus, die den dreiköpfigen Drachen ohne Vorwarnung Richtung jener sich rot verfärbenden Kugel riss.

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4} OLU: 1]

 

„Verdammt“, murmelte Matt, der alles mit halb zu Schlitzen geschlossenen Augen beobachtete.

„Wann immer Heavy T angreift, kann er die Position seines Gegners wechseln“, erklärte Drazen dazu.

Derweil hatte Ouroboros sein unfreiwilliges Ziel fast erreicht. Sein gigantischer Gegner holte mit der anderen Faust aus und schlug zu. Es folgte eine gewaltige Explosion, die Matt beinahe von den Füßen riss.

 

[Matt: 1750LP → 1500LP / Drazen: 3750LP]

 

~-~-~

 

Sie hatte genug, was sie mit einem Schnaufen lautstark kundtat. Einem bockigen Kleinkind gleich blieb Anya einfach stehen und wurde entsprechend laut. „Mir reicht's! Wie lange wollen wir noch planlos durch diesen kack Wald latschen?“

Die beiden vor ihr antworteten synchron, etwas, das sie seit einer gefühlten Ewigkeit perfektioniert zu haben schienen. „So lange wie es dauert.“

„Mein Bauchgefühl sagt, wir sollten genau in die entgegengesetzte Richtung! Seid ihr sicher, dass es hier lang geht?“ Es war deutlich zu herauszuhören, wer hier das letzte Wort haben wollte.

Zanthe, der sich durch einen Busch schob, drehte sich genervt um. „Natürlich. Dich am Waldrand auszusetzen ist zu riskant, du könntest zurückfinden.“

Der schwarzhaarige Hüne, der die Dreiergruppe anführte, ignorierte die Streitigkeiten, was ihm aber sichtlich schwer zu fallen schien. Seine Mimik sprach Bände. Selbst die bitterste Zitrone könnte nicht solch verzogene, durch die Narben besonders schiefe Lippen hervorbringen. Aber er hatte etwas, was die beiden vermissen ließen: ein geringes Maß an Selbstbeherrschung.

„Scheiße, wie weit wollen wir noch hinaus? Es dämmert bereits!“, zeterte Anya weiter.

Zanthe drehte sich um und murmelte verschwörerisch. „Sag, für wen tun wir das noch gleich?“

Stille.

„Dacht' ich's mir doch.“ Der Werwolf setzte seinen Weg fort. „Das Einzige, was hier dämmert ist deine geistige Umnachtung. Also sei doch -bitte- endlich still und-!“

 

Die Erde wurde erschüttert. Zu schwach, um irgendwelchen Schaden in ihrer Umgebung anzurichten, aber wiederum stark genug, dass es jeder der Drei bemerkte. Anya rutschte gar den kleinen Hang hinab, den die Drei beschritten und stieß fast in Zanthe.

Sofort drehte das Mädchen sich um. Zunächst war sie sich nicht ganz sicher, doch irgendetwas war da. Etwas, das die Bäume überragte und in der untergehenden Sonne glänzte. Etwas, das nach Triumph roch.

In einer voller Selbstgefälligkeit triefenden Umdrehung grinste Anya ihre beiden Weggefährten altklug an, die sich bereits mit vielsagender Miene zu ihr wandten und dank Fingerzeig unmittelbar auf das aufmerksam gemacht wurden, was Anya entdeckt hatte. „Wie war das? Diese Richtung ist die Richtige? Ja, ist sie das immer noch, huh!?“

Zanthe ließ im Affekt den Kopf hängen, als wäre gerade jede Hoffnung gestorben, ihn von seinem Werwolffluch zu befreien. „Blinde Hühner und Körner, Anya. Blinde Hühner und Körner …“

Die aber stierte geradewegs an ihm vorbei, schließlich musste noch ein anderer Anwesender seine Niederlage eingestehen. „Also Big Al, hast du wenigstens die Eier es auszusprechen? Wer hatte Recht, wer?“

 

Diejenige, die vermutlich eines grausamen Todes sterben wird, wenn sie ihre beiden Begleiter weiterhin so terrorisiert.

 

Levriers Stimme aus dem Off wurde gekonnt von Anya ignoriert.

„Könnte mir jetzt einer von euch gefälligst Recht geben, damit in wir -die andere Richtung- können!?“

 

Du meine Güte, mir dünkt, du willst dich für irgendetwas an den beiden rächen, Anya Bauer. Allerdings hätte ich dir schon vorhin sagen können, in welche Richtung du musst, wenn du Matt Summers finden willst. Dieses Monster befindet sich schon seit geraumer Zeit dort, geschweige denn von den Schwingungen, die selbst bis hierher reichen …

 

Die bereits vom breiten Grinsen überstrapazierten Mundwinkel Anyas krachten metaphorisch gesprochen Meter tief in die Erde. „ … Levrier …?“

 

Was? Du hast nicht gefragt. Das ist meine heutige Lektion für dich. Oh, eigentlich ist das eine gute Idee, dir auch in Zukunft ein paar grundlegende Kniffe im Umgang mit der Realität beizubringen. Ich fürchte nur, es wäre vergebene Liebesmüh.

 

In Anyas Augen traten bereits die roten Äderchen hervor. Ihre Faust knallte gegen den nächstbesten Baum, der zum Glück nicht vor Schmerz schreien konnte. Aber selbst wenn er es doch könnte, würde er in diesem Moment ohnehin von Anya übertönt werden. „Levrier!?“

 

Er will es alleine austragen, Anya Bau-

 

Doch mitten in seiner mit einem wesentlich ernsteren Ton untermalten Rechtfertigung wurde Levrier vom Bimmeln eines Mobiltelefons gestört, welches sich in der Innentasche des roten Mantels von Alastair befand. Der fischte es raus und legte es ans Ohr.

„Ja?“

Dann geschah eine Weile nichts, bis der Hüne murmelte: „Komme sofort.“

Schon legte er auf und stürmte geradewegs an den anderen beiden vorbei, die gar nicht wussten, was überhaupt los war. „Ihr müsst ohne mich weiter … es gibt ein Problem.“

 

~-~-~

 

Drazen verzog ärgerlich die Mundwinkel. „Zähes Biest …“

Obwohl der Angriff seines Heavy Ts voll ins Schwarze getroffen hatte, wurde Ouroboros lediglich von der Explosion zurück zu Matt geschleudert, ohne aber sichtbare Schäden genommen zu haben. Mitten im Flug spreizte Ouroboros die Schwingen und konnte sich so verlangsamen, bis er schließlich zum Halten kam.

„Ahja, das hatte ich vergessen zu erwähnen. Nach dem Einsatz von [Evilswarm Dullahans] Effekt wird das Monster, welches er reanimiert hat, im Kampf unzerstörbar.“

„Das ist ärgerlich. Aber wie sagt man so schön? Es gibt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen“, Drazen rieb sich den Hinterkopf, „und ich habe deine angenommen, also muss ich da wohl durch.“

Derweil kreuzte sein Stahltitan die Arme über das T auf seiner Brust. Dazu sagte Drazen: „Ah, natürlich, da Heavy T angegriffen hat, wechselt er die Position.“

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 DEF/0 (10)]

 

Der Weißhaarige nahm eine seiner verbliebenen beiden Handkarten und aktivierte sie. „In meiner Main Phase 2 spiele ich diese hübsche Zauberkarte aus. Sie nennt sich [Monster Reincarnation] und lässt mich eine Handkarte abwerfen, um ein Monster von meinem Friedhof zu erhalten.“

Er schob seinen [Scrap Soldier] in den Friedhofsschacht seiner Duel Disk und präsentierte [Scrap Chimera], die er fest umschlossen hielt. „Damit du weißt, was dir im nächsten Zug blüht. Du bist dran, Kleiner.“

Matt stöhnte ärgerlich. „Nicht schon wieder … nächste Runde [Scrap Twin Dragon], oder was?“

 

Ohne langes Zögern griff Matt nach seinem Deck und zog. Jene neue Handkarte entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln, ehe er sich an Drazen wandte und den Arm ausstreckte.

„Ich aktiviere den Effekt des linken Kopfes von [Evilswarm Ouroboros]! Infestations Rejection!“

Das um den Drachen kreisende Xyz-Material hielt vor besagtem Kopf und wurde umgehend verschlugen. Sofort spie dieser eine pechschwarze, aus winzigen Partikeln bestehende Wolke direkt auf Drazen ab. Jener wurde an seiner Hand getroffen und ließ [Scrap Chimera] fallen, da seine Haut sich zusammenzog und dampfte, als wäre sie von Säure getroffen worden.

„Infestations Rejection sorgt dafür, dass Sie eine Handkarte abwerfen müssen“, erklärte Matt, „und da Sie nur eine hatten, war das Resultat offensichtlich.“

Der Weißhaarige, welcher sich den verätzten Handrücken hielt, verzog die Augen. „Clever.“

„Und jetzt befehle ich Ouroboros, Ihren Heavy T anzugreifen! Infestation Absolute MAX!“

Alle drei Köpfe bündelten gleichzeitig schwarze Energie in ihren Mäulern, ehe sie diese simultan auf Heavy T abfeuerten.

Drazen schwang den Arm aus. „Mein Monster ist nicht daran gebunden, wann es seinen Effekt aktivieren muss. Von daher opfere ich jetzt [Scrap Dragon], um Heavy Ts Position zu wechseln und ihn immun vor Monstereffekten zu machen. Safety Bit!“

Während sich die drei Strahlen auf ihrem Weg zum Titanen vereinten, streckte dieser seine Hände aus und ließ ein aus vielen Waben bestehendes Kraftfeld vor sich erscheinen, während der Schrottdrache sich in weiße Partikel auflöste, welche vom T in der Brust des Riesen absorbiert wurden.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 DEF/0 (10)]

 

Matt grinste. „Da sich Ihre Monsterzahl verändert hat, entsteht ein Replay. Und ich entscheide mich, nicht weiter anzugreifen.“

Sofort lenkte sein Drache den Angriff an seinen massiven Gegner vorbei und ließ ihn stattdessen weit entfernt im Wald einschlagen, wo eine düstere Explosion entstand.

„Dank Heavy Ts Effekt darf ich jetzt ziehen“, sagte Matt verheißungsvoll und tat auch dies, „ich setze eine Karte verdeckt. Sie sind.“

Seine andere Karte nehmend, ließ er diese vor seinen Füßen erscheinen.
 

Drazen stand absolutes Unverständnis ins Gesicht geschrieben. Nicht, weil er überrascht war von Matts strategischem Geschick, ihm sowohl [Scrap Dragon], als auch [Scrap Chimera] zu nehmen. Nein, es lag daran, dass der junge Mann keine Sekunde damit verbracht hatte, auch nur darüber nachzudenken, wie er vorgehen sollte. Es geschah alles in einer beängstigen Geschwindigkeit, dass Drazen nicht mehr an seinem Gefühl zweifelte.

„Du bist nicht alleine“, mutmaßte er frei heraus. „Hat er, sie oder es dir gesagt, was du tun musst, um mich am effektivsten zu bekämpfen?“

„Ich weiß nicht wovon Sie reden“, wies Matt ihn ab.

Der alte Mann kratzte sich resignierend am Kopf. „Du bist ein ganz schöner Sturkopf, wenn du das Offensichtliche nicht aussprechen willst. Aber wie du meinst, schließlich ist es dein gutes Recht, mit deinem Leben zu tun, was immer du willst. Es ist nicht meine Aufgabe, dich zu belehren.“

Der scharfe Tonfall Matts ließ ihn aufschrecken. „Und warum tun Sie's dann?“

Allerdings enthielt Drazen ihm eine Antwort vor und rückte stattdessen mit geschlossenen Augen seine Brille zurecht.

 

Dann rief er: „Ich bin am Zug! Draw!“

In einer halbmondartigen Bewegung riss er die Karte von seinem Deck und drehte sie noch während des Schwungs um, betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Und grinste.

Sofort legte er sie in seine Duel Disk ein. „Ich aktiviere [Monster Reborn]! Hmm … welches nehm' ich …?“

Als er seinen Friedhof aus der Duel Disk nahm, fiel ihm sofort der [Scrap Dragon] ins Auge, welcher ganz oben lag. Allerdings müsste er für seinen Effekt eine seiner eigenen Karten zerstören, um Ouroboros loszuwerden und da er sonst nur Heavy T besaß, erschien ihm dies zu riskant. Letztlich erkannte er beim genauen Durchsehen seiner Karten, dass er gar nicht auf [Scrap Dragon] angewiesen war. Es gab einen viel einfacheren Weg.

„Das Monster, was ich wiederbelebe, ist [Scrap Golem]!“, verkündete er und legte dessen Karte auf die Monsterkartenzone links neben Heavy T.

Vor Drazen erhob sich ein massives Konstrukt, bestehend aus einem Kühlschrank als Körper, einer Mikrowelle als Kopf und Ventilatoren als Händen. Ein richtiger Schrottgolem.

 

Scrap Golem [ATK/2300 DEF/1400 (5)]

 

Dessen Besitzer streckte den Arm aus. „Bist ja noch jung, vielleicht erinnerst du dich also noch, wie unser Duell begonnen hat? Einmal pro Zug kann [Scrap Golem] einen seiner Freunde der Stufe 4 oder weniger reparieren, wobei es keine Rolle spielt, auf wessen Spielfeld das Monster erscheint.“

Sein schwarzhaariger Gegner in dem dunklen Ledermantel zeigte keine Regung.

„Nun, ich wähle [Scrap Searcher]. Und du weißt, wird der spezialbeschworen, zerstört er alle Monster seines Herren, die nicht aus Schrott bestehen.“ Drazen zückte die Karte des Scheinwerfervogels und war bereits im Begriff, sie Matt zuzuwerfen, als dieser abwehrend die Hand hob.

„Nicht nötig. Es mag eine nette Idee sein, aber ich aktiviere meine Falle!“

Vor ihm sprang die violett umrandete Karte auf. Und ohne Vorwarnung gab Ouroboros einen gebieterischen, dreifach widerhallenden Schrei von sich, während Matt sich nebenbei seiner Handkarte [Evilswarm O'lantern] entledigte. Aus dem Nichts ging ein Blitzschlag auf [Scrap Golem] hernieder und zerlegte ihn kurzerhand in seine Einzelteile.

Drazen überspielte seinen Schreck mit einem anerkennenden Pfeifen. „Das kam unerwartet …“

„Der Effekt von [Xyz Wrath] erlaubt es mir, sofern ich ein Xyz-Monster kontrolliere, durch das Abwerfen einer Handkarte die Aktivierung von Monstereffekten zu annullieren und dessen Auslöser zu zerstören, solange dieser mindestens auf Stufe 5 ist“, erklärte Matt und fügte hinzu: „und da es eine dauerhafte Falle ist, kann ich sie mehrmals benutzen.“

„Solange du Handkarten hast. Aber du hast keine mehr, genau wie ich“, merkte Drazen findig an.

Matt erwiderte das mit einem selbstbewussten Grinsen. „Nein, im Moment nicht. Aber Sie sind auch nicht in der besten Position. Natürlich können Sie noch angreifen, werden [Evilswarm Ouroboros] aber nicht zerstören. Und da Sie keine anderen Monster besitzen, können Sie Heavy Ts Position nicht in meinem Zug ändern, nachdem er angegriffen hat.“

Auch Drazen zeigte jetzt sein Pokerface und lächelte trügerisch. „Also bin ich gezwungen, auf meinen Angriff zu verzichten. Aber vergiss nicht, dein Ouroboros besitzt kein Xyz-Material mehr und ist auch so nicht stark genug, um Heavy T zu besiegen.“

„Das muss er auch gar nicht“, erwiderte Matt unbeeindruckt, „nächste Runde ziehe ich nach und selbst wenn ich die Karte nicht gebrauchen kann, werden Sie ab diesem Punkt Heavy Ts Effekt nicht mehr einsetzen können, wenn Sie ihn nicht an meine Falle verlieren wollen.“

Drazens Grinsen wurde breiter. „Gut durchdacht. Warst das du oder dein kleiner Mann im Ohr? Dann wollen wir doch mal sehen, was du mit deiner nächsten Karte anstellst. Ich gebe ab.“

Die beiden standen sich engstirnig auf der Lichtung gegenüber. Über Matt flog der dreiköpfige, pechschwarze Drache, während Drazen sich vor seinem Mecha-Titanen Heavy T befand. Ersterer kontrollierte zudem die offenen Fallen [Infestation Infection] und [Xyz Wrath].

 

Evilswarm Ouroboros [ATK/2750 DEF/1950 {4} OLU: 0]

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 DEF/0 (10)]

 

Matt zog auf. Die Karte in seiner Hand ansehend, zeigte sein missmutiger Blick, dass er nicht zufrieden war. Ein Schwärmer wäre jetzt sehr praktisch gewesen, denn den hätte er mit einem nützlicheren dank [Infestation Pandemic] austauschen können. Aber so war es eine nutzlose Zauberkarte.

„Ich passe“, verkündete er nichtsdestotrotz selbstbewusst. Der Plan würde Erfolg haben, Drazen waren im Angesicht von [Xyz Wrath] die Hände gebunden.

 

Dieser ließ ihn nicht lange warten und zog ebenfalls auf. Etwas veränderte sich schlagartig in seinem Blick, das bemerkte Matt sofort. Drazen kräuselte die Stirn und starrte ihn intensiv an, ernst, als wolle er allein dadurch ausdrücken, dass Schluss mit lustig war.

„Du fühlst dich sehr sicher hinter deinem Drachen.“

Matt korrigierte: „Ich verstecke mich nicht hinter ihm, wenn Sie das meinen.“

„Das würde ich an deiner Stelle auch nicht. Er bringt nichts Gutes.“

„Wann tun solche das jemals?“, lautete Matts vielschichtige Gegenfrage.

Was Drazens Mundwinkel zumindest einen kurzen Augenblick hochzucken ließ. „Der Punkt geht an dich. Dummerweise ist der Sinn des Spiels aber, sie dir zu nehmen. Also bin ich ein braver Duellant und tue genau das!“

Im gleichen Atemzug rammte er eine Zauberkarte in seine Duel Disk. „Ich rüste Heavy T mit der Zauberkarte [Axe Of Fools] aus!“

Nicht schlecht staunte Matt, als in der rechten Hand des Titanen eine riesige, silberne Axt erschien. Inmitten des Klingenblattes war eine aus Gold bestehende, gackernde Fratze eingebaut, die tatsächlich Geräusche von sich gab.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 → 4000 DEF/0 (10)]

 

„Falls du dachtest, ich würde mich mit Angriffen zurückhalten, täuscht du dich“, rief Drazen mit ausgestrecktem Arm, „los Heavy T, schlag zu!“

Sein stählerner Riese holte mit der Axt weit aus, ehe er seinen Arm nach vorne schwang. Dabei wurde dieser immer länger dank der elektrischen Stränge, die die einzelnen Komponenten verbanden. So reichte er mühelos über das gesamte Spielfeld und ließ die Axt einem Henker gleich auf Ouroboros niedergehen, welcher über Matt verharrte. Als sie Kontakt mit dem dreiköpfigen Drachen herstellten, sauste sie durch ihn durch, wobei sich die Konturen des Biests für einen Moment verzerrten. Stattdessen peilte die Klinge gleich Matt an, der ihr mit Schweiß auf der Stirn entgegensah.

Er nahm zwei Sprünge rückwärts, um nicht erschlagen zu werden, als die Axt den Erdboden vor ihm spaltete. Doch Matt hatte nicht damit gerechnet, dass anschließend eine Schockwelle folgen würde. Noch mitten in seinem zweiten Sprung wurde er von dieser erfasst und fortgerissen, landete meterweit entfernt, vorbei an Bäumen in den Wald geschleudert.

„Urgh!“

 

[Matt: 1500LP → 250LP / Drazen: 3750LP]

 

Drazen stand derweil mit seinen Armen verschränkt inmitten der Lichtung. Sein Poncho wurde von einer etwas stärkeren Brise angehoben, während er beobachtete, wie Matt sich zurück zu seiner Spielfeldseite schleppte.

„Wie du sicher schon bemerkt hast, hat Heavy T seine Position nicht gewechselt“, erklärte er seinem Kontrahenten nebenbei, „das liegt daran, dass [Axe Of Fools] seinen Effekt negiert. Dachtest du wirklich, ich wäre nicht auf Situationen vorbereitet, in denen es mir an Monstern zum Opfern mangelt?“

Matt, wieder in Ausgangsposition, wischte sich ein Rinnsal Blut mit dem Handrücken von der Wange. „Ich wäre enttäuscht, wäre das nicht der Fall.“

„Du nimmst das alles viel zu leicht“, klagte Drazen seinen Gegner plötzlich lautstark an, „Zug um Zug verlierst du mehr Lebenspunkte, ohne eine geeignete Gegenoffensive zu starten, selbst mit den Kräften, derer du dich bedienst! Bist du dir im Klaren, worum es hier geht!?“

„Einer Freundin zu helfen“, antwortete er nicht sehr überzeugend.

Drazen stampfte wütend auf. „Warum tust es dann nicht!?“

Als sein Gegner nichts sagte, straffte sich der Ponchoträger, als wäre die Sache für ihn damit beendet. Unterkühlt sprach er: „Ich werde dich töten, wenn du verlierst. Als Hüter kann ich nicht zulassen, dass dir Heavy T in die Hände fällt. Du hättest mich nie beschwören sollen. Zug beendet.“
 

Matt zog lasch von seinem Deck und schenkte der Karte gar keine Beachtung. Stattdessen senkte er den Blick. „Wann habe ich jemals behauptet, dass ich mit allem kämpfe, was ich bieten kann?“

„Hmm?“, horchte Drazen auf.

„Sie unterschätzen mich maßlos.“ Matt hob langsam seinen Kopf. „Ich habe genug Gründe, hier als Sieger herauszugehen und glauben Sie mir, das werde ich auch.“

In seinen Augen leuchtete etwas auf. Und es war nicht etwa brennender Kampfgeist, sondern etwas Sichtbares. Ein Symbol, in seiner rechten Pupille, zu klein, als dass Drazen es erkennen konnte.

„Und irgendwo haben Sie die ganze Zeit gewusst, dass Sie nie eine Chance hatten, habe ich recht? Zwar wollen Sie selbst bestimmen, -wie- es geschieht, aber diese Wahl haben Sie nicht. Nicht alles im Leben ist eitel Sonnenschein.“

Ruckartig streckte Matt die Faust nach oben. „Und nun sollen Sie wissen, wovon ich spreche! Rank-Up-Incarnation Summon!“

Sein Drache schrie gleich dreifach wütend auf, als sich über ihm das Overlay Network bildete …

 

~-~-~

 

Anya und Zanthe strichen eilig durch das Dickicht, an Bäumen und Wurzeln vorbei, mit dem Blick fest Richtung auf den Titanen gerichtet, der nicht mehr weit entfernt sein konnte.

Die Blondine führte die mittlerweile nur noch zwei kleinen Jägermeister missmutig an. „Kann nicht glauben, dass er uns einfach zurückgelassen hat!“

„Schien wichtig zu sein“, hörte sie Zanthe hinter sich mutmaßen, „an seiner Stelle hätte ich auch die Flucht vor dir ergriffen.“

Mit geweiteten Augen wirbelte das Mädchen zu ihm um. „Was hast du gerade gesagt!?“

„Putz dir die Ohren!“, zeigte sich der Kopftuchträger unbeeindruckt und rückte ihr mit seinem Gesicht so nahe, dass sie seinen Atem auf der Haut spüren konnte.

Die beiden stierten sich Stirn an Stirn derart feindselig an, bis Zanthe unvermittelt von ihr zurückschreckte. Doch nicht etwa, weil Anya den Wettbewerb gewonnen hatte, sondern aus einem anderen Grund, auf welchen er mit dem Finger zeigte. „Grundgütiger, was geht denn da ab!?“

Den Kopf zur Seite drehend, folgte Anyas Blick seinem Arm. Tatsächlich, nicht weit entfernt stiegen dutzende schwarzer Blitze aus dem Wald auf. Der ganze Wald wurde erschüttert, nur den Bruchteil einer Sekunde, dann drang ein grässliches, schrilles Gebrüll zu ihnen durch.

„Scheint, als würde Summers endlich in die Puschen kommen! Los, mir nach!“

 

Die beiden rannten los. Anya musste zugeben, sich ziemlich verschätzt zu haben. Es sah zwar nicht so aus, aber der Weg war doch noch länger als gedacht. Zumal er durch einen immer steiler werdenden Hang erschwert wurde.

Sie kämpfte sich geradezu vorwärts. Bis etwas Seltsames geschah. Einen Moment lang fühlte sich ihr ganzer Körper taub an, sie verlor den Halt und stürzte rückwärts. Zanthe reagierte umgehend und fing sie ab, hielt sie an den Schultern fest.

„Alles in Ordnung?“

Anya brauchte einen Moment, ehe sie ihre Lage überhaupt erfassen konnte. Das Gefühl in ihren Gliedern kehrte wieder, doch ihr Herz raste. „I-ich denke schon.“

„Ich werd' dich nicht tragen, dafür gibt’s Vampire“, spielte Zanthe auf einen gewissen Roman an und ließ sie los. „Ist nicht mehr weit, ich rieche sie schon …“

 

Und tatsächlich, als sie den Hang erst nach oben geschafft hatten, gestaltete sich der restliche Weg wesentlich einfacher. Wenige Minuten später erreichten sie eine Lichtung – und erschraken.

Überall waren Löcher und Spalten im Boden, entweder von Einschlägen oder anderen Methoden herrührend. Selbst einige Bäume waren ausgerissen und lagen wahllos am Rand der Lichtung verteilt übereinander.

Und mitten drin Matt. Ihnen den Rücken zugekehrt, regungslos auf der Schulter liegend, allein.

„Was ist … ?“ Anya stockte der Atem.

„Wo ist der andere?“, wunderte sich ihr Begleiter nur, als würde ihn der Anblick des tatsächlich Anwesenden gar nicht berühren. „Seltsam, ich hätte schwören können, eben …“

 

Die Blondine aber hörte gar nicht mehr zu, rannte herüber zu Matt und schlitterte das letzte Stück regelrecht, da sie eine astreine Blutgrätsche hinlegte. Sofort fasste sie ihn an den Schultern und drehte ihn auf den Rücken. Auf den ersten Blick konnte sie keinerlei Verletzungen feststellen.

„Ist er tot!?“, schrie sie Zanthe an, als wäre er am Zustand des Dämonenjägers Schuld.

Der aber, noch einige Meter entfernt, schlenderte seelenruhig auf die beiden zu und zuckte dabei mit den Schultern. „Weiß nicht. Kannst ja mal Mund-zu-Mund-Beatmung probieren.“

Wie hätte der Werwolf auch ahnen können, dass sein Scherz derart für voll genommen wird, dass Anya sich über Matt schwang und kurzerhand ihre Hände übereinander auf seine Brust legte? Und zudrückte. Ihr Trommelfell war im Anschluss geneigt zu platzen, als Matt hoch fuhr und derart laut aufschrie, dass sie regelrecht von ihm herunter purzelte.

Keuchend hielt er sich die Stelle nahe seines Herzens und betrachtete das völlig verdatterte Mädchen, als wäre sie eine Wahnsinnige. „Was soll das!?“

„D-das ging aber schnell“, stotterte die sonst so taffe Anya überrumpelt. „Man bin ich gut, call me Jesus oder so!“

„Anya … er war nicht tot, sondern nur bewusstlos“, seufzte Zanthe resignierend, „das war nur ein Scherz gewesen.“

„Hast du eine Ahnung wie weh das getan hat und immer noch tut!?“, fuhr Matt sie weiter an.

Nun schaltete sich Anyas üblicher Trotz ein, gepaart mit der ebenso lästigen Eigenschaft des Mädchens, abrupt das Thema wechseln zu wollen. Sie richtete sich auf und schnaufte wütend. „Nicht annähernd so doll wie das, was ich dir antun werde, wenn du mir nicht gleich sagst, was hier abgegangen ist! Wir wären ja früher hier gewesen, aber du hast vergessen, uns den Zauber mitzugeben, mit dem wir dir folgen können!“

Matt funkelte sie böse an und drehte ihr seine rechte Handfläche zu, in der Heavy Ts Karte lag. „Beantwortet das deine Frage?“

 

Einen Moment hockte das Mädchen mit offenem Mund da. Diese Zeit nutze Matt, sich der weißen Handschuhe zu entledigen und sie Anya zusammen mit der Karte in die Hände zu drücken.

„Da“, raunte er in einem geradezu bösartigen Tonfall, „damit hab ich getan, was du wolltest.“

Verdutzt nahm sie sie entgegen. Matt streckte seinen Arm in die Höhe, Richtung Zanthe, welcher ihn verwirrt anblickend aufhalf.

„Das ist wohl jemand sauer, weil er den Boden geknutscht hat“, scherzte der Werwolf.

Sofort als der ehemalige Dämonenjäger auf den Beinen war, stieß er jenen von sich und lief davon, nur um wieder herumzuwirbeln und Anya strafend anzustarren. „Du sagtest, er würde nicht-!“

Das Mädchen schwang sich ebenfalls auf. „Würde was nicht?“

„Sterben! Du hattest es versprochen! Wenn ich gewinne, würde ihm nichts passieren!“

„J-ja, wieso-“

„Er ist tot, Anya!“, polterte Matt.

Jene drehte sich zu Zanthe, welcher einen ebenso entsetzten Gesichtsausdruck hatte wie sie selbst.

 

~-~-~

 

Der Weißhaarige glitt mit einem milden Lächeln durch die Luft, ehe er auf dem Boden aufschlug und noch ein ganzes Stück weiter rutschte.

 

[Matt: 250LP / Drazen: 3750LP → 0LP]

 

Drazen blieb liegen, schloss die Augen. Ein Augenblick verging, in dem nichts geschah.

Weiter von ihm entfernt stand Matt, mit gesenktem Haupt. Hologramme befanden sich bereits nicht länger auf dem Spielfeld.

Das kam unerwartet“, lachte der Ponchoträger leise, „du bist wirklich 'ne Marke …“

Geben Sie mir die Karte, dann können Sie gehen“, drang Matts feste Stimme an sein Ohr.

Die kannst du dir selbst nehmen. Deine Freundin besitzt die Conqueror's Soul und du bist mit ihr verbunden. Es sollte kein Problem für dich sein.“

Als wäre das das entsprechende Signal gewesen, streckte Matt ungewollt den rechten Arm aus. Und aus Drazens Brust stiegen dutzende Lichtstrahlen auf, die sich zwischen Matts Fingern sammelten und schließlich Heavy Ts Karte bildeten.

Jener betrachtete die Karte vor sich aufmerksam, ließ dann aber den Arm sinken. Und erschrak zutiefst, als er mit ansah, was dort drüben mit Drazen geschah.

 

Er löste sich auf. Seine Haut hatte einen ungesunden, braunen Ton angenommen und zerbröselte Stück für Stück. Ein Windzug, der durch die Lichtung ging, trug seine Überreste zunehmend fort.

„Leider werde ich nirgendwo mehr hingehen können“, krächzte Drazen, bei dem sich selbst dessen Kleidung und Duel Disk auflöste.

Was passiert mit Ihnen!?“, wollte Matt aufgebracht wissen.

„Jetzt, wo ich nicht länger ein Hüter bin, kann ich in Frieden sterben. Aber ich wollte es so, du musst dich nicht schuldig fühlen.“ Drazen lachte bärbeißig auf. „Ha ha, jetzt weißt du, warum ich deinem Ruf gefolgt bin.“

Der Schwarzhaarige schüttelte erschüttert den Kopf, streckte die Arme aus. „Das war nicht, was-!? Das ist nicht, was ich wollte!“

Fast der ganze Körper des alten Mannes war bereits fort, als er sprach: „Natürlich nicht, du bist kein schlechter Mensch. Nur fehlgeleitet. Ich hoffe, dass du das selbst eines Tages einsiehst, bevor es zu spät ist …“

Und als er sich schließlich ganz aufgelöst hatte und vom Wind davongetragen wurde, stand Matt mit einem Gefühl am Rande der Lichtung, welches er noch nie verspürt hatte und unmöglich beschreiben konnte. Schuld, Reue, Wut, Schmerz, Hilflosigkeit – es war ein bösartiger Cocktail, der seine Sinne regelrecht benebelte.

Bis zu dem Moment, als eine eisige Kälte ihn durchzog. Und alles dunkel wurde …

 

~-~-~

 

Als Matt das komplette Duell rekapitulierte, ließ er bestimmte Stellen bewusst außen vor.

Die beiden anderen standen mit fassungslosen Gesichtsausdrücken vor ihm. Es war der Werwolf, der als Erster das Wort ergriff. „Ich glaube, ich weiß, warum er gestorben ist.“

Matt sah ihn mit scharfem Blick an. „Ahja? Sag schon.“

„Er war jemand, dessen innere Uhr durch diesen Zauber von Eden aufgehalten wurde. Er konnte nicht mehr altern, solange er in dieser Stadt war“, mutmaßte Zanthe, der sich am Kinn kratzte, „als er die Stadt verlassen hat, hätte er es aber müssen, zumindest gehe ich davon aus. Aber das ist nicht passiert. Vielleicht hat sein Status als Hüter ihn davor bewahrt. Und nachdem du ihn besiegt hast, hat die Uhr ihn eingeholt.“

„Tch!“

 

Anya wandte sich von den beiden ab. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass diesem Drazen etwas Derartiges widerfahren würde. Der Sammler hatte es versprochen! Niemand würde sterben!

Was, wenn es dasselbe bei den anderen Hütern war!? Das wären dann noch fünf Leute, die sie auf dem Gewissen hätte! Das war alles ihre Schuld und Matt hatte sie da auch noch mit reingezogen!
 

Als sie sich zu den anderen beiden umdrehte, war ihr gar nicht bewusst, dass ihr Tränen in den Augen standen. In diesem Moment dachte Anya Bauer nicht daran, eine gefühlskalte, selbstsüchtige Jägerin zu sein. Sie war ein Mensch, der zutiefst darüber entsetzt war, was die eigenen Absichten angerichtet hatten.
 

„Anya …“, murmelte Zanthe ungewöhnlich mitfühlend. „Gib dir nicht-“

„Fuck!“, brüllte die los und stampfte auf. „Das hätte nicht passieren dürfen! Fuck!“

Matt sah sie hingegen wesentlich weniger emotionsbeladen an und mahnte sie: „Bleib ruhig, wir können auch noch später trauern.“

„Heißt das, dir macht das nichts aus!?“, fuhr sie ihn an.

„Er war sich der Konsequenzen bewusst. Mehr noch, er hat selbst zugegeben, es so gewollt zu haben.“

Ehe Matt sich versah, fiel Anya ihn an, packte den Kragen seines Mantels und riss ihn regelrecht zu sich. „Ahja!? Und weil du sein OK hast, ist die Sache für dich erledigt!?“

„Schluss jetzt, das bringt nichts!“, ging Zanthe dazwischen und stieß die beiden mit seinen Handflächen voneinander weg.

Als hätte Matt gar nicht weiter Notiz von Anyas Anklage genommen, fragte er den Werwolf: „Wo ist Alastair?“

„Ist zurück zum Waisenhaus gefahren. Alector hat angerufen, irgendetwas ist passiert, aber wir haben keine Ahnung was.“ Der Kopftuchträger zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ob er uns überhaupt abholen wird.“

„Nicht gut“, erwiderte Matt mit Blick gen Himmel, „es ist fast dunkel. Und wir werden eine Weile brauchen, um zurückzufinden. Vielleicht …“

 

Während er grübelte was sie tun sollten, betrachtete Zanthe den jungen Mann eingehend. Irgendetwas an seinem Anblick störte ihn. Der Ledermantel, sein Hemd und die schwarze Hose, sie alle waren beschädigt, wiesen Risse und Löcher auf. Aber etwas fehlte. Die Wunden!

Matt selbst sah aus wie das blühende Leben, als hätte es nie einen Kampf gegeben. Völlig widersprüchlich zu seiner äußeren Erscheinung, nach der er Bekanntschaft mit einem Reißwolf gemacht haben müsste.

Zanthe drehte sich herüber zu Anya. Aber die stand abseits von ihnen und kämpfte immer noch mit dem Schock, dass Drazen tot war. Vermutlich hatte sie von Matts optischem Zustand gar keine Notiz genommen.

 

Es irritierte ihn, das Mädchen so betroffen zu sehen. Er hatte sie nicht so eingeschätzt, dass sie sich den Tod jenes Mannes so zu Herzen nahm, obschon sie sich nur kurz begegnet waren. Immerhin musste sie gewusst haben, welche Risiken in ihr Unterfangen involviert waren. Zumal es genauso Matt hätte erwischen können. Was wäre dann?

Aber Zanthe sah davon ab, ihr das jetzt an den Kopf zu knallen. Es würde auch nichts besser machen. Dennoch würde er mit ihr darüber reden müssen, schließlich schien sie noch nicht begriffen zu haben, dass solche Dinge noch häufiger geschehen könnten.

Es war einfacher, wenn nur das eigene Leben betroffen war und nicht das anderer … das verstand Zanthe schon. Aber hier war das nicht der Fall.

 

Er hob die Hand und betrachtete jene betrübt, ballte sie zu einer Faust. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, mit ihr mitzukommen, wenn sie innerlich nicht vorbereitet auf die Konsequenzen ihres Handelns war.

Doch Zanthe ließ von diesen Gedanken ab, als er bemerkte, wie sich dünner Nebel, einer Schlange gleich, um seine Füße wand. Die ganze Gegend war von ihm erfüllt.

 

„Sagt mal“, wandte er sich an die anderen und sah sich auf der mittlerweile vom Mond beleuchteten Lichtung nachdenklich um, „dieser Nebel, der war doch vorhin noch nicht hier.“

Dies bemerkte auch Anya, die sich neben ihn stellte und dabei unter Stirnrunzeln die Arme verschränkte. „Jetzt wo du es sagst, nein. Aber wen interessiert das jetzt schon … “

Auch war es kälter geworden, deutlich kälter.

„Wir sollten lieber von hier-“
 

Matt kam nicht weiter, denn eine unheimliche Stimme unbekannten Ursprungs unterbrach ihn. Verheißungsvoll flüsterte sie in ihrem kratzenden, seltsam mechanisch klingenden Tonfall: „Wenn das erste Siegel gebrochen ist, erwachen wir aus unserem endlosen Schlaf …“

Anya wirbelte erschrocken herum. „Was war das!?“

„Wenn das zweite Siegel gebrochen ist, sprechen wir eine Warnung aus.“

Die Drei, Rücken an Rücken, sahen sich irritiert um, konnten jedoch die Quelle der Stimme nicht ausmachen. Da waren keine Schatten, die zwischen den Bäumen hin und her huschten oder irgendwelche Lichter. Gar nichts.

„Alter, treib deine Horrorshow woanders! Ich hab jetzt grad' echt keinen Bock auf so'ne Scheiße!“

„Und beim dritten Siegel … töten wir.“

Matt weitete die Augen, als er herüber zur Blondine guckte. „Anya, pass' auf!“

Die bekam gar nichts mit. Stattdessen starrte sie nur verwirrt den Dämonenjäger an, der sich ihr allen Ernstes entgegen warf und sie umriss. Keine Sekunde später schoss ein spitzer Pfeiler ganz aus Gestein gemacht genau dort aus dem Boden, wo noch einen Moment zuvor das Mädchen gestanden hatte. Mit ihr im Arm landete er im Moos.

„Oh Mist!“, schrie Zanthe und sprang geschickt erst nach links, dann rollte er sich nach vorn, um so gleich zwei dieser Attacken zu entkommen, die sich wie von Zauberhand wieder in den Erdboden zurückzogen.

„Nicht liegenbleiben! Achte auf die Vibrationen!“, schrie Matt Anya an und riss sie regelrecht am Arm hinauf, zog sie weg, da unter ihr schon wieder ein solcher Stalagmit emporschoss. Sie stolperte und knallte gegen Matt, der sie wegschubste und den entstandenen Schwung dazu zu nutze, sich ebenfalls wegzubewegen, da auch er angepeilt wurde.

„Tanzt, tanzt um euer Leben, Kinder der Vergänglichkeit!“

Zanthe, der dank seiner athletischen Fähigkeiten mühelos allen Angriffen ausweichen konnte, brüllte über die Lichtung hinweg: „Wer zum Teufel ist da!?“

„Ein Wächter der ewigen Ordnung.“

 

Schlagartig hörte es auf. Stattdessen trat aus dem Schatten zweier Bäume eine Gestalt hervor, von der Anya nie geglaubt hätte, dass es sie überhaupt gab. Auch Matts Augen weiteten sich, denn was er dort sah, war ihm nie zuvor begegnet. Selbst der sonst so unerschrockene Zanthe brachte kein Wort raus.

„Die Narren haben etwas Unentschuldbares getan“, sagte die über zwei Meter hohe Gestalt, „nunmehr zum zweiten Male. Und nun ist es an der Zeit, dass der Undying seine Warnung ausspricht.“

 

 

Turn 49 – Declaration Of Superiosity

Das Wesen namens Stoltz, welches sich Anya, Matt und Zanthe in den Weg stellt, bezeichnet sich selbst als Undying, ein unsterblicher Hüter der sogenannten ewigen Ordnung. Er bezichtigt Anya und Matt, jene Ordnung durch ihre Verbrechen zu gefährden. Anya, durch Drazens Tod labil, greift ihn als Kurzschlussreaktion an, doch selbst mit der Unterstützung von Matt und Zanthe scheint es, als können sie ihm tatsächlich nichts anhaben. Mit vereinter Kraft stellen sie sich ihm in einem Duell, doch …

Turn 49 - Declaration Of Superiosity

Turn 49 – Declaration Of Superiosity

 

 

Deutlich konnte man an Anyas, Matts und Zanthes irritierten Gesichtern ablesen, dass sie nicht damit gerechnet hatten, einem derartigen Angreifer gegenüber zu stehen. Dieser bewegte sich aus den Schatten der Bäume und betrat die Lichtung.

„W-was ist das!?“, stammelte Anya.

Matt und Zanthe konnten ihr keine Antwort geben. Sie wussten es einfach nicht.

Wie bei einer höflichen Form der Vorstellung legte ihr Gegenüber den unglaublich langen, dürren Arm auf die von einer weißen Panzerung bedeckte Brust. Es war abstrakt. Die Glieder des Wesens waren so lang, dass es jeden normalen Menschen überragte und doch so dürr, was die Vermutung nahelag, die Knochen würden jeden Moment unter ihrer Last brechen.

„Dieser ist ein Undying. Stoltz wird er genannt und ist ein unsterblicher Hüter der ewigen Ordnung. Einer Ordnung, die diese beiden Menschlinge durch ihre Verbrechen stören.“

Er zeigte auf Matt und dann auf Anya. Die aber konnte sich gar nicht von seinem Anblick lösen. Um die verschrumpelte, gebräunte Haut waren weiße Bandagen gewickelt, aber nicht sorgfältig genug, um alles zu verdecken. Dasselbe war im Gesicht der Fall, dessen gesamte rechte Hälfte betroffen war inklusive Auge. Über jenem verdeckten Auge lag ein Visier, welches seinerseits an dem dünnen, weißen Helm befestigt war, den dieser Stoltz trug.

In Anyas simplen Worten gefasst: er war eine merkwürdige Mischung aus Mumie und Ritter und dabei sicher über zwei Meter groß.

 

Matt derweil trat vor. „Was soll das heißen!?“

„Die Menschlinge sind Feinde der ewigen Ordnung, die zwei ihrer Siegel gebrochen haben.“ Stoltz hob seinen langen Arm und zeigte direkt auf Anya. „Und das Mädchen weiß es. Es ist der Quell des Chaos.“

Die Blonde zitterte, doch nicht wegen der eisigen Kälte. Der Finger, der auf sie gerichtet war, machte ihr wieder bewusst, was mit Drazen geschehen war. Deswegen war dieses Ding hier, um sie zu bestrafen!

Der dichte Nebel waberte derweil geradezu friedlich über den Boden der Lichtung, unscheinbar, als wäre er nur ein Gast auf Durchreise. Keinesfalls war er natürlichen Ursprungs, genau wie diese Kälte.

Zanthe stellte sich schützend vor Anya. „Hey, ist ja schön, dass du uns warnen willst, aber leider hören wir nicht sonderlich gern auf so dubiose Gestalten wie dich.“

Ein fieses Grinsen bildete sich auf den vertrockneten Lippen des dürren Mannes. „Ein Werwolf beschützt einen Menschen. Ob er mehr kann, als nur zu reden?“

„Ich kann dir gerne die Kehle aufschlitzen, wenn du möchtest“, bot Zanthe an und drehte sich zu Anya, „der Typ ist nicht zum Spielen hier. Schnappt dir deinen Lover und hau ab!“

Doch die hörte ihm nicht zu. Anyas trüber Blick machte deutlich, dass sie in Gedanken versunken war. Sicherlich keine guten.

„Dieser hier ist ein Undying“, meinte Stoltz derweil grinsend und legte wieder eine seiner Hände auf die Brust, „er kann nicht sterben. Anders als der Hüter, den das Mädchen auf dem Gewissen hat.“

 

„Was hast du gesagt?“

Ehe Zanthe sich versah, hatte Anya sich an ihm vorbei gedrängt. Sie wirkte geradezu manisch, zitterte, aber ballte dennoch entschlossen eine Faust. „Sag das nochmal!“

„Die Mörderin hat offenbar ein schlechtes Gehör?“, giggelte Stoltz.

Anya kniff ihre Augen zusammen. „Was weißt du von solchen Dingen … verpiss dich!“

„Dieser süße Zorn. Woher rührt er wohl?“ Der Undying streckte ihr den Arm entgegen. „Er kann nichts als zerstören. Und das ist sie, ein Werkzeug der Zerstörung, das nur den Tod bringen kann.“

Etwas in Anya wurde in diesem Moment entfacht. Ein Inferno, Sinnbild dafür, dass sie sich weigerte, jemandes Werkzeug zu sein. Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Es übermannte sie, dieses Gefühl, das die Hilflosigkeit wegfegte und in unbändigen Tatendrang umwandelte. Oder konkrete Zerstörungswut.

„Dir zeig' ich's!“, schrie sie außer sich und rannte auf ihn zu.

Matt wollte sie greifen, doch kam zu spät. „Anya, nicht!“

Doch die streckte bereits ihrerseits im Lauf den rechten Arm aus und rief: „Angel Wing!“

Was sich in ihrer Hand materialisierte, war nicht etwa die Karte des Drachen. Nein, es war die eigentliche Form seines Artefakts. Ein langer, weißer Speer, dessen Spitze aus einem Drachenmaul ragte.

„Die bringt uns nur noch mehr in Schwierigkeiten!“, zischte Zanthe genervt und begann, ihr hinterher zu rennen.

Matt seinerseits wich zurück und griff in die Innentasche seines schwarzen Mantels. „Ich glaube nicht, dass wir um einen Kampf herum gekommen wären. Sie verkürzt nur das Vorspiel.“
 

Unter einem gellenden Schrei holte Anya mit ihrer Waffe aus, packte sie mit beiden Händen fest an und rammte sie in Stoltz' Richtung. Dieser bewegte sich nicht einen Millimeter. Seine Rüstung war so dünn, dass das Klingenblatt sie mühelos durchbohrte. Die Spitze schoss aus seinem Rücken heraus, und Anya starrte den Undying hasserfüllt an.

Doch der grinste. Ehe Anya reagieren konnte, wurde sie am Hals gepackt und in die Höhe gehievt, wodurch sie den Speer losließ. Daraus resultierend knallte dessen Ende des Schafts auf den Boden.

„Ein Undying kann nicht sterben, Kind der Vergänglichkeit.“

Anya krallte sich mit den Fingern in seine Hand fest, ohne aber etwas damit zu erreichen. Im Gegenteil, Stoltz' Griff wurde fester, nahm Anya jegliche Möglichkeit nach Luft zu schnappen.

„Lass sie los!“, fauchte Zanthe.

Anya sah sie über sich, die wölfischen Pupillen. Dann fiel sie, zusammen mit einem Teil von Stoltz' Arm. In gebückter Haltung landete ihrer Freund vor ihr, hatte mit seinen Klauen einfach den Arm des Undying durchtrennt und schlug ihm in einer Halbdrehung noch eine tiefe Wunde in den Teil der Brust, der nicht von der Rüstung bedeckt war, ehe er sich Anya zu wandte, sie an der Hüfte packte und wegriss. Keine Sekunde zu früh, denn unter ihr schoss bereits eine spitze Steinsäule aus dem Boden.

Stoltz' Mundwinkel huschten nach oben, aber nur für einen kleinen Moment. Als an ihm etwas vorbei surrte und in einem Baum hinter ihm stecken blieb, drehte er sich überrascht um. Drei Messer, fein auf engstem Raum untereinander steckend. Der Undying fasste sich an den Hals, der ebenfalls tiefe Schnitte aufwies – direkt an der Halsschlagader.

Matt hatte die Klingen geworfen, während das Wesen mit den beiden anderen beschäftigt war.

 

Zanthe schleppte Anya zurück zu Matt, schon längst wieder völlig zum Mensch geworden. Das Mädchen streckte schnaufend den Arm aus, woraufhin sich der Speer in Stoltz' Abdomen in gleißendes Licht verwandelte, welches sich einfach durch die Steinsäule fraß und in Anyas Hand zur Karte Angel Wings wurde. In dem Moment zerbarst der Stalagmit.

„Unmöglich!“, keuchte Zanthe.

Stoltz stand da. Mit zwei Armen, unversehrtem Hals, Magen, keinem Kratzer auf der Brust.

Anya weitete die Augen, dann brüllte sie: „Mit dir bin ich noch nicht fertig! Heavy T!“

An ihren Händen materialisierten sich massive Panzerhandschuhe, von sehr schlichter Aufmachung. Das Mädchen kreuze die Arme über die Brust und stieß einen unmenschlichen Schrei aus. Aus dem Boden in ihrem Umfeld wurden dutzende Erdbrocken und Steine gerissen, die um sie herum levitierten. Anya schlug mit der Faust in die Richtung ihres Feindes und schleuderte damit jene Stücke wie einen Bombenhagel auf Stoltz. Dieser wurde voll erfasst und von jedem einzelnen der nicht kleinen Brocken getroffen. Doch wie Regen prasselten sie an ihm ab, während er nur seine gelben Zähne blitzen ließ.

Matt griff Anyas Schulter und riss sie zu sich herum. „Hör auf, das bringt nichts!“

„Lass mich, Summers!“

Gegen ihren Willen verschwanden jedoch die Panzerhandschuhe, wodurch es sich für sie zunächst ausgekämpft hatte.
 

„Ich habe eine Idee“, meinte Matt zu seinen Mitstreitern, „wenn wir ihn nicht töten können, dann müssen wir ihn anders loswerden. Aber dazu muss ich mich mit ihm duellieren.“

Zwar wollte Matt gar nicht daran denken, dass er -es- gleich zweimal an einem Tag beschwören musste, aber was für eine Wahl hatte er schon im Angesicht dieser Kreatur? Seinen Plan B wollte er jetzt noch nicht umsetzen, solange sie nicht wussten, womit sie es genau zu tun hatten …

Zanthe schüttelte verständnislos den Kopf. „Ein Duell? Jetzt? Hast du dir vorhin den Kopf zu hart gestoßen!?“

„Vertrau mir, ich weiß, was ich tue.“

Anya sah über die Schulter zu den beiden. „Mir ist es egal, wie wir diesen Dreckskerl fertig machen, Hauptsache wir tun es!“

Schulterzuckend resignierte Zanthe. „Na wenn ihr meint … dann wir drei gegen den.“

„Die Verbrecher wünschen ein Duell?“ Stoltz zeigte seine widerlichen, gelben Zähne. „Der Undying ist offen für jede Art von Bestrafung.“

 

Überrascht von der Kooperationsbereitschaft des Undying, platzierten Anya, Matt und Zanthe sich in genauer jener Reihenfolge am Rande der Lichtung, in einer Linie. Ihnen gegenüber die hagere Gestalt, deren Herkunft sie nicht kannten.

„Nun zu eurer Bestrafung“, sagte jene und ließ an ihrem Arm eine goldene, an ihrem Ansatz leicht gekrümmte Duel Disk erscheinen. Dabei drehte er seinen Kopf einmal um 360°, was bei seinen Gegnern ein breites Spektrum an Emotionen, hauptsächlich Ekel und Fassungslosigkeit hervorrief. „Nun werden die ahnungslosen Tölpel den Terror erleben, die sie Feinde der ewigen Ordnung sind!“

„Was willst du überhaupt von uns, du Freak!?“, fauchte Anya und trat vor. „Wenn du glaubst, mir Angst zu machen mit deinen Tricks, bist du schief gewickelt! Und das meine ich wörtlich, du verdammte Mumie!“

Stoltz' unbedecktes Auge begann rot aufzuleuchten. „Was der Undying will, fragst du? Nur eins. Euer Verderben.“

„Duell!“, hallte es anschließend im Chor von der Lichtung.

 

[Anya: 4000LP Matt: 4000LP Zanthe: 4000LP //// Stoltz: 4000LP]

 

„Der erste Zug gehört dem Undying“, verkündete Stoltz und zog sogleich sechs Karten auf einmal.

Matt, dessen Kleidung von seinem Duell gegen Drazen übel zugerichtet war, stand nur wackelig auf den Beinen.

„Mach jetzt nicht schlapp!“, mahnte ihn Zanthe, allerdings mit einem skeptischen Unterton. „Gegen diesen Typen da war dein Gegner eben nur die Aufwärmrunde.“

Der schwarzhaarige Dämonenjäger biss die Zähne zusammen. „Geht schon.“

Woher sollte Zanthe auch ahnen, dass es nicht physische Strapazen waren, die ihn belasteten?

„Was soll der überhaupt darstellen?“, motzte Anya, die ihre düsteren Gedanken offenbar verdrängt zu haben schien. „Ist das ein Mensch, ein Dämon oder eine Maschine?“

Mit den Schultern zuckend, erwiderte Zanthe: „Von jedem ein bisschen würde ich sagen.“

„Er ist ein Undying“, erwiderte der über zwei Meter große Mann, „also zollt ihm Respekt, Feinde der ewigen Ordnung. Und er beendet seinen Zug.“

Eine kalte Brise zog über die Lichtung hinweg, das Laub der Bäume raschelte unheimlich, fast einem Omen gleich. Von dem niemand Notiz zu nehmen schien.

Anya legte den Kopf schief. „Huh!?“

„Er spielt keine einzige Karte aus?“, wunderte sich auch der Werwolf der Gruppe.

Gleichzeitig beschäftigte Matt etwas anderes. Abwesend murmelte er: „Undying …?“

 

„Na dann bin ich jetzt eben dran!“, fauchte Anya und zog ebenfalls auf sechs Karten auf. „Ich beschwören [Gem-Knight Amber]!“

Vor ihr tauchte ein Ritter in goldener Rüstung auf. Aus seiner linken Handfläche zog er einen knisternden Dolch, ganz aus Blitzen bestehend, hervor.

 

Gem-Knight Amber [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

 

Anya grinste bitterböse in sich hinein.

Drei gegen einen? Pah! Sie würden die Mumie überrollen, so viel stand schon mal fest. Und zwar mit allem was sie hatten. Der Spinner konnte sich unmöglich um sie alle drei gleichzeitig kümmern, dazu müsste er noch stärker sein als Isfanel. Und wenn man sein Feld so ansah, war er das gewiss nicht!

„Amber wird aber nicht lange bleiben!“, rief die Blondine und streckte den Arm aus. „Ich aktiviere den Effekt des [Angel Wing Dragons] in meinem Extradeck. Indem ich ein Licht-Monster von meinem Deck auf den Friedhof schicken, kann ich es als Empfänger für Angel Wings Beschwörung benutzen!“

Die gewählte Karte schob sich aus dem von Logan geliehenen, schwarzen D-Pad hervor. Anya zeigte [Alexandrite Dragon], ein normales Monster der Stufe 4 vor.

„Damit komme ich zusammen mit Amber auf Stufe 8!“ Ein goldener Ring materialisierte sich über dem Mädchen. „From the light of a different world, the herald of starlight decends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you!“

Ihr Ritter derweil begann in die Höhe zu schweben, zerplatzte in vier grüne Lichtkugeln, die von hinten nach vorne durch den goldenen Ring schossen.

„Synchro Summon! Shine forth!“

Ein gleißender Blitz durchdrang den Ring, von dessen Rändern sich vier weiße Schwingen zu strecken begannen.

„[Angel Wing Dragon]!“

Durch einen Dimensionsspalt schob sich nach hinten weg der massive Schweif des weißen Drachen, nach vorne hin drang der Kopf des Ungetüms hervor, welcher dank des goldenen Kragens stark einer Kobra ähnelte. Die beiden Körperhälften traten solange aus der wässrigen Oberfläche im Ring hervor, bis sie sich perfekt aneinander schmiegten und den kompletten Körper ergaben.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Ihr hünenhafter Gegner begann plötzlich zu gackern. „Ist das alles, was das Mädchen aus dem Artefakt der Hüter hervorbringen kann? Der Undying kommt nicht umher, sie als erbärmlich zu bezeichnen. Nur ein Schatten der wahren Kraft.“

Anya schnaubte wütend. „Keine Ahnung wovon du redest, Schrumpfhirn! Ich für meinen Teil bin zufrieden!“

Was selten genug vorkam. Sie schnappte sich eine Fallenkarte von ihrer Hand und schob sie in die Duel Disk. „Mit der wirst du noch ganz viel Spaß haben! Zug beendet!“

Die Karte materialisierte sich vor Anyas Füßen, welche stolz die Brust nach vorn streckte. Diesmal würde es kein Desaster geben wie damals im Turm mit Isfanel. Dafür würde sie schon sorgen. Und die anderen beiden Flachzangen würden gefälligst mithelfen.

„Los, Summers, gib ihm die volle Ladung!“

 

„Das geht nicht, wir können erst ab unserem jeweiligen nächsten Zug angreifen“, belehrte Matt sie und zog nebenbei.

„Als ob ich das nicht wüsste!“

„Ist ja ein Wunder, dass sie es nicht trotzdem probiert hat“, murmelte Zanthe in die Richtung des Dämonenjägers, der aber nicht in Lästerlaune war.

Tatsächlich war Matt froh, dass Anya ihre Probleme im Moment mit Bravour verdrängte und sie nicht noch mehr in Schwierigkeiten brachte. Nachdenklich betrachtete er sein Blatt. Wie er Anya allerdings kannte, würde sich das bald ändern und sie nächste Runde wie ein Stier ins Rote rennen. Und Zanthe schätzte er als die Art von Duellant ein, die sich eher auf Technik, statt auf rohe Gewalt verließ. Was dann noch blieb, war ein eher defensiver Stil. Er warf noch einmal einen Blick auf seine Handkarten. Wenn jeder von ihnen diesem Stoltz mit einer anderen Strategie begegnete, konnte dieser unmöglich alle drei auf einmal aushebeln. Also würde er die Rolle der 'Wall' übernehmen.

„Ich beschwöre [Evilswarm Castor]!“, rief Matt und legte jenen auf sein schwarzes D-Pad. „Er lässt mich einmal zusätzlich einen Schwärmer als Normalbeschwörung rufen.“

Es materialisierte sich auf seiner Spielfeldseite ein Krieger, dessen linke Hälfte der Rüstung schwarz, die rechte hingegen weiß war. An seinen Schultern hing ein zerfetzter, roter Umhang.

 

Evilswarm Castor [ATK/1750 DEF/550 (4)]

 

„Moment mal, den kenne ich doch“, schoss es aus Zanthe heraus, als er auf das Monster mit dem Finger zeigte, „das ist mein [Constellar Pollux]!“

Als Beweis zeigte der junge Mann Matt Pollux' Karte, die er zufällig auf dem Blatt hatte. Und tatsächlich, das Artwork war fast identisch zu Castors Erscheinung. Einzig dass Pollux ganz in Weiß gekleidet und sein Umhang nicht zerschlissen war.

„Interessant. Mein Schwärmer-Deck ist das Resultat eines … Zaubers“, erklärte Matt mit skeptischem Blick auf die Karte, die Zanthe daraufhin wieder in sein Blatt nahm, „alle meine Monster sind korrumpierte Versionen von Monstern meiner Bekannten. Was für ein Zufall, dass eines deiner Monster dazugehört, noch bevor wir uns kannten.“

„Ja. Wirklich komisch“, murmelte Zanthe mechanisch.

„Egal, zurück zum Duell!“, wandte sich Matt an deren gemeinsamen Gegner. „Ich nutze Castors Effekt und beschwöre jetzt [Evilswarm Heliotrope]!“

Der Dämonenjäger im schwarzen Ledermantel knallte besagte Karte auf sein D-Pad. Und Anya pfiff spöttisch, als neben Pollux ein in dunkelgrüner Rüstung steckender Ritter auftauchte. Ihr [Gem-Knight Emerald], entsprechend generalüberholt durch finstere Kräfte.

 

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]

 

Matt schwang den Arm aus. Seine Monster lösten sich in violette Lichtstrahlen auf, die in die Höhe stiegen. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Finsternis-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Xyz Summon! Erscheine, manipulative Schattengewalt!“

Über dem jungen Mann öffnete sich ein schwarzer Wirbel, der die beiden Lichtstrahlen in sich aufsog. Anschließend landete mit einem Satz ein dunkler Krieger auf den Knien vor Matt.

„[Evilswarm Nightmare]!“, titulierte jener sein neues Monster.

Es handelte sich dabei um einen Ritter in dunkler Stahlrüstung, ebenfalls umhüllt von einem roten Umhang. In der Hand hielt er eine Klinge, die sich wand wie die Spitze einer Bohrmaschine. Um diese kreisten zwei Lichtkugeln.

 

Evilswarm Nightmare [ATK/950 DEF/1950 {4} OLU: 2]

 

„Das Vieh kenn' ich auch“, maulte Anya, „das ist eines dieser Monster von der dämlichen Lügenbaronin Nina Placatelli. Woher kennst du die denn, Summers?“

„Gar nicht“, erwiderte Matt steif, „aber ihr. Vielleicht besitze ich deshalb eines ihrer Monster?“

„Pft. Ist ja auch egal.“

Der Dämonenjäger nickte. „Völlig richtig. Ich aktiviere jetzt den dauerhaften Zauber [Xyz Wall]!“

Um Matts Teil des Spielfelds herum bildete sich ein bunter Schleier, den Nordlichtern nicht unähnlich. In ihm spiegelte sich das Antlitz von [Evilswarm Nightmare] dutzende Male wieder, als handle es sich um die Scherben eines zerbrochenen Spiegels.

„Weiter geht’s mit [Xyz Shift Break]! Für einen Zug tauscht dieser Zauber den Effekt Nightmares mit einem gleichrangigen Xyz-Monster aus meinem Extradeck aus.“ Matt zückte bereits ein Monster namens [Evilswarm Ophion]. „Und jetzt aktiviere ich [Evilswarm Nightmares] neuen Effekt. Indem ich ein Xyz-Material abhänge, füge ich meiner Hand von meinem Deck eine Infestation-Karte hinzu! Expand Infection!“

Schwarze Schwingungen begannen aus allen Richtungen Nightmares Körper zu verlassen. Sie resonierten mit denen, die Matts Deck zeitgleich aussendete, aus welchem im Anschluss eine einzelne Karte schoss. „Ich nehme [Infestation Pandemic]! Und jetzt, da ich ein Xyz-Material von Nightmare durch Aktivierung seines Effekts abgehangen habe, kommt [Xyz Wall] ins Spiel! Diese erhöht jetzt die Verteidigung aller Monster in offener Verteidigungsposition um 1000!“

Der bunte Schleier um Matt herum wurde dichter. So dicht, dass man meinen konnte, es würde sich tatsächlich um eine echte Mauer handeln.

 

Evilswarm Nightmare [ATK/950 DEF/1950 → 2950 {4} OLU: 2 → 1]

 

Das getan, schob Matt eine seiner Handkarten in den mittleren Zauber- und Fallenkartenschlitz seines D-Pads. „Diese hier setze ich und gebe an Zanthe weiter. Damit erhält Nightmare seinen ursprünglichen Effekt zurück.“

Perfekt, dachte er dabei noch. Sein Monster würde jedem Versuch, es zu Fall zu bringen, standhalten. [Xyz Wall] beschützte zusätzlich Monster in Verteidigungsposition vor anderen Monstereffekten, während seine gesetzte [Infestation Pandemic] ihn gegen Zauber und Fallen absicherte. Und sollte Stoltz auf die Idee kommen, ein stärkeres Monster spezialbeschwören zu wollen, würde Nightmare es in die verdeckte Verteidigungsposition bringen. So leicht würde man seine Verteidigung nicht knacken!

Trotzdem schien Stoltz belustigt, denn er kicherte unentwegt und zeigte mit dem langen, dürren Finger auf Matt. „Der Junge glaubt, sich hinter seinen Karten verstecken zu können. Der Junge irrt.“

„Wir werden sehen“, blieb dieser selbstbewusst.

„Der Immaterielle irrt sich auch“, erwiderte Stoltz grinsend und sah abwechselnd von Anya zu Matt herüber.

Anya verzog amüsiert die Mundwinkel. „Hast wohl gehört, was Levrier gesagt hat? Dass du keine Chance gegen uns drei hast.“

Hinter ihr erschien [Gem-Knight Pearl], Levriers durchsichtiger Avatar.
 

Um genau zu sein sagte ich, er würde es sehr schwer haben. Deine Interpretation meiner Worte weicht von der Realität ab, Anya Bauer. Wie immer.

 

„Und trotzdem irrt der Immaterielle“, sagte Stoltz nur frohlockend.

 

Während das Geplänkel zwischen der 'Mumie' und Anya stattfand, griff Zanthe nach seinem Deck, doch zog er nicht.

Etwas beunruhigte ihn. Damals, als er gegen Anya verloren und [Angel Wing Dragon] abgegeben hatte, fand eine Veränderung statt. Mit ihm, mit Angel Wing – und noch mehr, da war eine Kraft gewesen, welche er nicht begreifen konnte. Unscheinbar nur, für normale Menschen wie Anya nicht zu bemerken. Der Fluss der Energien wich im Moment seiner Niederlage von seinem Kurs ab, nur einen kurzen Augenblick.

Nur ein flüchtiges Gefühl war es gewesen, dessen er sich selbst erst jetzt vollständig gewahr wurde. Als wäre mit seiner Niederlage etwas aus einem langen Schlaf erwacht. Und nun, da Drazen ebenfalls seinen Hüterstatus und darüber hinaus noch sein Leben verloren hatte, war diese Kraft, deren Repräsentant Stoltz war, endgültig auf sie aufmerksam geworden. Zanthe war sich sicher, noch mehr über Stoltz' Hintergründe zu wissen. Selbst den Namen glaubte er schon einmal gehört zu haben. Doch die Erinnerungen schienen so weit entfernt, dass er sie nicht erfassen konnte.

 

Unsicher, ob er die anderen beiden darauf hinweisen sollte, zog Zanthe auf sechs Karten auf. Er betrachtete sie.

Vielleicht irrte er sich aber auch. Nein … Stoltz schien zu wissen, was Angel Wing war – und dass er offenbar nicht sein volles Potential entfaltete. Eines, um das selbst Zanthe bisher nicht wusste.

„Ich beschwöre [Constellar Algiedi]“, rief er gedankenversunken und legte gleich zwei Karten in seinen Duellhandschuh ein, „und kann durch deren Effekt ein Stufe 4-Constellar spezialbeschwören. Also folgt [Constellar Kaus].“

Dabei war er derart mit Grübeln beschäftigt, dass er die beiden Schlüssel, die in seiner offen gehaltenen Handfläche erschienen, einfach zur Seite warf. Dort bildeten sich zwei Runentore, aus denen die beiden weißen Krieger brachen.

Die linke, Algiedi, war eine Hexe in blauem Umhang, die einen Zauberstab schwang. Ihr Helm mit den nach hinten gebogenen Hörnern zeichnete sie zum Stern des Steinbocks aus. Ihr Partner, Kaus, war ein bogenschießender Zentaur, der Schütze.
 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1000 (4)]

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4)]

 

„Stoltz“, grübelte Zanthe leise, „wo habe ich den Namen bloß schon einmal gehört?“

„Der verräterische Werwolf hat seine Pflicht vergessen“, gackerte Stoltz belustigt, „oder kennt er diese gar nicht? Wurde er nicht aufgeklärt darüber, was die Hüter beschützen?“

Zanthe sah ruckartig auf. „... nein. Ich glaube nicht. Ich habe Angel Wing noch nicht lange besessen und ich weiß nur, dass ich ihn niemals hergeben durfte. Mehr nicht.“

„Lügt der Werwolf? Oder will er wirklich nichts wissen?“ Stoltz legte seinen Kopf wortwörtlich auf die Schulter, da sein Hals bei der Bewegung einknickte. „Nun, es ist einerlei. Einem toten Wolf nützt das Wissen der Lebenden nicht.“

Jener zuckte unbedarft mit den Schultern. „Nicht so voreilig, noch lebe ich. Also sprich schon.“

„Der Wolf, der lebt, ist ein Fehlschlag. Die Undying teilen ihr Wissen nur mit denen, die ihnen ergeben dienen.“ Stoltz rückte seinen Kopf mit den Händen wieder in die richtige Position. Es war, als wäre sein Hals innerhalb einer Sekunde wieder stabil. „So einer ist der Werwolf nicht.“

„Dann kann ich dir auch nicht helfen“, wies Zanthe ihn ab, „also werde ich, der unwürdige Werwolf und Feind der ewigen Was-auch-immer, einfach meinen Zug fortsetzen!“

Dabei streckte er den Arm aus. „Bis zu zweimal pro Zug kann [Constellar Kaus] seine Stufe oder die seiner Mitstreiter um eins erhöhen. Los, bring euch beide aufs nächste Level!“

Kaus spannte seinen goldenen Bogen und schoss zwei gleißende Pfeile kerzengerade gen Himmel. Es verstrichen einige Sekunden, bis sie direkt auf ihn und Algiedi niedergeschossen kamen und beide bei Kontakt in goldene Auren hüllten.

 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1000 (4 → 5)]

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4 → 5)]

 

Der jung gebliebene Mann streckte den Arm aus. Seine Finger umschlossen den Griff eines langen, goldenen Schlüssels, der noch während der Bewegung entstanden war. Dabei sprach Zanthe, als er sich das seltsame Gebilde an die Stirn hielt: „Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network! Aus zwei Stufe 5-Lichtern wird ein scheinender Stern! Rang 5! Xyz Summon!“

Mit einer flinken Bewegung rammte er den Schlüssel in den Boden. Genau an der Stelle, in der jener versank, entstand ein sich weit ausbreitender Runenzirkel. Als dieser auch Algiedi und Kaus einschloss, versanken jene in ihm. Und als sie gänzlich verschwunden waren, trat vor Zanthe ein stolzer, weißer Krieger aus dem Kreis, der sein massives Goldschwert nicht etwa aufrecht führte, sondern falsch herum mit sich trug.

„[Constellar Pleiades]!“, rief Zanthe seinen Namen.

Um jenen rotierten seine beiden Xyz-Materialien.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 2]

 

Matt sah fragend herüber zu Zanthe, der den Blick bemerkte und unter stillem Verständnis nickte. Dann schob er zwei Fallenkarten in seinen Duellhandschuh. „Damit dir auch nicht langweilig wird, setze ich diese beiden Schätzchen verdeckt.“

Zu beiden Füßen materialisierten sich die Karten vergrößert vor Zanthe.

„Dein Zug, oh Undying Stoltz, hoher Herr von was auch immer und Verfechter von irgendwas, was du uns aber nicht so recht verraten willst! Mein Respekt ist dir gewiss!“

Zanthe macht noch einen damenhaften Knicks.

 

„Der verräterische Wolf mag Späße“, sagte Stoltz und zog schwungvoll auf, „der Undying auch. Deswegen soll der Wolf nicht der Erste sein, der stirbt.“

Den Kopf wieder bedrohlich schief legend, sah die groteske Gestalt ihr Blatt an. Dann zupfte sie mit ihren dürren Fingern eine Karte heraus und legte diese auf die goldene Apparatur an seinem Arm. „Der Undying beschwört [Centurion Atlas]!“

Ein kalter Wind fegte durch die Lichtung. Diesmal wurde er bemerkt, war sein Ursprung doch nicht zu übersehen. Hinter Stoltz baute sich eine mehrere Meter hohe Kreatur auf. Vier massive Beine aus Stahl stützten den Zentaur, dessen Körper aus unzähligen Würfeln bestand, die sich hin und her bewegten. In seiner Brustmitte war eine blaue Kugel eingelassen, die grell leuchtete. Sein Kopf war von einem Helm bedeckt, unter dem ein rotes Auge hervor stach.
 

Centurion Atlas [ATK/2500 DEF/2500 (10)]

 

„Nicht im Ernst.“ Anya stand mit offenem Mund da. „Krasses Teil.“

Stoltz lachte bitterböse. „Der Centurion ist harmlos, da es ihm an einer geeigneten Energiequelle mangelt. So kann er auch ohne Tribute das Schlachtfeld betreten, doch verliert er in dem Fall ohne andere Monster der Stufe 10 mit genau 0 Angriffskraft die seine.“

Und so verdunkelte sich erst der Kern des riesigen Zentaurs, dann auch sein Auge. Die Bewegungen der Würfel stoppten augenblicklich.

 

Centurion Atlas [ATK/2500 → 0 DEF/2500 (10)]

 

Die gewaltige Kreatur sank auf die Vorderbeine, ließ leblos die Arme hängen und drohte in diesem Zustand, Stoltz unter ihrem massiven Gewicht zu begraben.

„Der Undying setzt eine Karte verdeckt“, verkündete jener und ließ sie vor sich erscheinen. „Doch das markiert nicht das Ende seines Zuges, im Gegenteil. Der Undying aktiviert [Age Of Termination].“

Nichts tat sich um ihn und sein Monster herum, außer dass ein leises Klappern aus Atlas' Innerem zu vernehmen war.

 

[Anya: 4000LP Matt: 4000LP Zanthe: 4000LP //// Stoltz: 4000LP → 2000LP]
 

„Ahja? Und was macht die?“, hakte Anya der Form halber nach.

„Ein Centurion vermag nun jeden Feind anzugreifen, wenn er dafür im Austausch ein Leben mal 2000 erhält.“

Zanthe sah sofort herüber zu Matt. „Dann wird es sicher nicht bei 0 Angriffspunkten bleiben.“

„Nie im Leben“, erwiderte der aus Erfahrung, „mach dich bereit.“

„Der Werwolf hält sich für schlau“, kommentierte Stoltz dies und zückte eine weitere Zauberkarte, „vielleicht ist er es sogar? Der Undying aktiviert [Age Of Change]. Sie stellt vollkommen verbrauchte Energie wieder her und verdoppelt sie obendrein. Mit dem Zusatz, nun jede Verteidigung mit Durchschlagschaden zu strafen.“

Anya, Zanthe und Matt gaben überraschte Laute von sich, als [Centurion Atlas] sich mit einem Ruck wieder aufrichtete. Dabei glühte sein Kern nun nicht mehr blau, sondern rot auf, im Einklang mit seinem Auge.

 

Centurion Atlas [ATK/0 → 5000 DEF/2500 (10)]

 

„Okay, genug davon!“, polterte Zanthe. „Hier ist Endstation für dich und deine Schrottkiste! Ich aktiviere [Constellar Pleiades'] Effekt! Indem ich ein Xyz-Material abhänge, gebe ich eine deiner Karten auf die Hand zurück!“

Der weiße Krieger absorbierte eine der Lichtsphären um ihn herum mit dem verkehrt gehaltenen Schwert, welches er nun mit beiden Händen anpackte und in einer 360°-Drehung ausschwang.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 2 → 1]

 

Dabei schickte er eine Schockwelle los, die direkt auf die Brust des Titans zusteuerte – und an einem unsichtbaren Schild abprallte.

„[Age Of Termination] verhindert im Zug der Aktivierung die Auswirkungen aller zielenden Karteneffekte“, erklärte Stoltz und kicherte böse, „vielleicht ist der Werwolf doch nicht so klug wie er dachte.“

Alarmiert drehte sich Zanthe zu Matt um und machte mit den Händen eine ausholende Bewegung, die ausdrücken sollte: „Was nun!?“

Matt nickte herüber zu Anya, die auch noch eine verdeckte Karte besaß. Zanthe schüttelte wiederum skeptisch den Kopf, woraufhin der Dämonenjäger zustimmend seufzte.

Stoltz indes schwang den dürren Arm aus. „Damit ein Centurion angreifen kann, muss zuvor eine verdeckte Nicht-Monsterkarte geopfert werden. So geschehe es mit [Age Of Wonders], die sich durch ihren eigenen Effekt zurück auf das Feld setzt.“

Die Karte vor seinen Füßen löste sich in bunten Partikeln auf, die vom Kern des Maschinenwesens absorbiert wurden. Gleichzeitig dazu entstand sie wieder vor Stoltz' Füßen. Dieser war aber längst damit beschäftigt, sich seiner übrigen drei Handkarten zu entledigen. „Und der Effekt von [Centurion Atlas] erhöht seine eigene Stärke um 500 für jede Karte, die sein Herr abwirft.“

Nun begann dessen 'Herz' regelrecht zu pulsieren.

 

Centurion Atlas [ATK/5000 → 6500 DEF/2500 (10)]

 

Der Blondine stand der Mund weit offen. „Alter … und das Vieh kann uns alle angreifen! Scheiße!“

„Und das wird der Centurion auch!“, versprach Stoltz düster.

Anya weitete die Augen beim Anblick des riesigen, vierbeinigen Zentaurwesens, das sich wie ein Turm über der Lichtung erstreckte und die Bäume um sie herum winzig erschienen ließ. Langsam hob es seine Vorderläufe an.

„Seht die Macht eines Undying! [Centurion Atlas], dreifacher Angriff!“, befahl der Bandagierte, der vor seinem Monster stand und brach in hysterisches Gelächter aus. „Sterbt! Sterbt, sterbt, sterbt, sterbt, sterbt!“

„Nein!“, schrie Anya aufgeregt. „Verdeckte Falle! [Negate Attack]!“

„[Draining Shield]!“, fauchte Zanthe in derselben Sekunde.

„Falsch, falsch, falsch! Während eines Kampfes ist ein Centurion unantastbar!“, gackerte Stoltz und sah gen Himmel. „Die Feinde der ewigen Ordnung sollen den Schmerz spüren!“

Anyas und Zanthes aufgesprungene Fallenkarten klappten sich wieder zu. Letzterer weitete die Augen, denn er würde den Angriff nicht überstehen, wenn dieser jetzt durchkam! So aktivierte er seine zweite Karte, die sofort aufsprang. „Dann [Reinforced Space]! Wenn ich dieses Ding nicht beeinflussen kann, dann wenigstens andere! Xyz-Monster erhalten 300 Angriffspunkte für jedes ihrer Materialien, bis zum Ende des Zuges!“

Sein Monster und auch Matts [Evilswarm Nightmare] schrien stolz auf.

 

Evilswarm Nightmare [ATK/950 → 1250 DEF/2950 {4} OLU: 1]

Constellar Pleiades [ATK/2500 → 2800 DEF/1500 {5} OLU: 1]

 

„Der Werwolf wird das Unvermeidliche nur hinauszögern! Leide!“

„Nur damit du's weißt, Angel Wing-“

„Wird den Kampfschaden nicht verhindern, da ein unter dem Einfluss von [Age Of Termination] stehendes Centurion dies unterbindet! Ihr werdet“, sagte Stoltz, „alle leiden! Und sterben! Sterben, sterben, sterben!“

Damit ließ Atlas seine Vorderläufe hinunter sausen.

Aus der Vogelperspektive sah man, wie die Erde vom Monster ausgehend in Form eines Dreiecks tiefe Risse bekam, ehe das gesamte erfasste Gebiet unter lautem Getöse einfach in sich zusammenbrach. Dabei erklang der Schrei eines Mädchens und zweier Männer.

 

[Anya: 4000LP → 200LP Matt: 4000LP → 450LP Zanthe: 4000LP → 300LP //// Stoltz: 2000LP]
 

Eine dichte Wolke aus aufgewirbeltem Staub überzog die gesamte Lichtung, die kaum noch als solche zu identifizieren war. Alles lag in Trümmern. Das finstere Gelächter des Undying durchdrang die Stille und als sich der Schleier lichtete, erblickte er vor sich zwei junge Menschen, die auf den eingebrochenen Stücken der Erde lagen und sich nicht regten.

Aber Anyas Augen waren offen, obwohl sie drohte, in ihrer schrägen Lage auf dem angewinkelten Stück Boden in ein metertiefes Loch zu rutschen. Was für eine Macht! Sie hatte noch gesehen, wie der Angriff Angel Wing zerfetzt hatte, ohne dass dieser sie hätte vor dem Kampfschaden bewahren können. Gut, dass Levrier es nicht gewesen war, der diesen Angriff entgegen genommen hatte!

Sie schielte in ihrem mitgenommenen Zustand herüber zu Matt, der auf dem Rücken lag und gen Himmel sah. Auf seinem blutverschmierten Gesicht stand das pure Entsetzen geschrieben.

Nur Zanthe neben ihm war es gelungen, sich nicht der schieren Macht [Centurion Atlas'] zu beugen. Er hockte auf einem großen Stein, der durch den Angriff aus der Erde gehoben worden war und sah herüber zu Stoltz. Allerdings war auch seine Kleidung zerschlissen und an einigen Stellen rot getränkt.

„Der hat's drauf, das muss man ihm lassen“, staunte er leise vor sich hin.

„Wir müssen hier verschwinden, sofort!“

Zanthe blickte herüber zu Matt, der sich langsam aufrappelte. „Glaubst du nicht, dafür ist es etwas zu spät?“

Der Dämonenjäger kam schwankend auf die Beine und rannte herüber zu Anya. „Komm her, ehe er seinen Zug beendet! Höchste Zeit für Plan B!“

„Wa-“

„Mach schon!“

Widerwillig sprang Zanthe von seiner erhöhten Position und hüpfte von den Steinen und aufgerissenen Bodenplatten herüber zu Matt, der die völlig planlose Anya am Handgelenk packte.

„Gib mir deine Hand!“, wandte jener sich zu Zanthe um und streckte die seine nach ihm aus.

„Zug-“

Die beiden berührten sich schließlich. Ein grelles Licht begann von Matt auszugehen.

„-beendet.“

Und die ganze Lichtung ging in einer heftigen Explosion unter.

Stoltz legte den Kopf schief, als ihn die Schockwelle erfasste, aber nicht mitriss. Als jene vorbei war, betrachtete er sein Werk der Zerstörung grinsend. Nun war die Lichtung vor ihm zu nichts weiter als einem riesigen Krater verkommen.

„Die Vögelchen sind entkommen. Aber nicht für lange. Ein Undying hat Zeit und weiß Rat. Wir werden uns wiedersehen, wenn das nächste Siegel gebrochen wird. Und vielleicht sogar schon davor.“

 

~-~-~

 

Matt lehnte sich keuchend an einen Baum, am Straßenrand vor dem Waisenhaus. Plan B – die Flucht durch Teleportation, sie war geglückt. Er hatte es gesehen, während sie angegriffen worden waren. Stoltz' Friedhof hatte aufgeleuchtet. Irgendetwas darin, etwas dass er mit [Centurion Atlas'] Effekt abgeworfen hatte, wäre ihnen zum Verhängnis geworden.

„… gut geschaltet“, murmelte er leise vor sich hin.

 

Nicht weit von ihm lagen Anya und Zanthe mit ausgestreckten Gliedmaßen mitten auf der Straße, völlig erschöpft.

„Ich kann's nicht glauben“, murmelte die Blondine, „was war das für ein Freak?“

„Wenn ich das wüsste“, erhielt sie eine wenig hilfreiche Antwort.

Einen Moment ruhten sie sich still von den Strapazen aus, bis Matt schließlich an sie heran trat. In seinem Gesicht stand die Anspannung geschrieben. „Wir müssen Alector von dem in Kenntnis setzen, was eben passiert ist.“

Mit einem Ruck hatte Anya sich kerzengerade aufgerichtet. „Spinnst du!? Der wird mir die Schuld dafür geben!“

„Und, ist das etwa nicht die Wahrheit?“

Die Blondine verstummte. Dann drehte sie den Kopf weg. „Yeah … Tch, meinetwegen, sagen wir's ihm. Hab eh keine Wahl, was?“

„Wird schon halb so wild.“ Zanthe raffte sich auf und half Anya dabei, es ihm gleich zu tun. „Bisschen Geschleime und vielleicht lässt er uns leben.“

Matt drehte sich in Richtung des Waisenhauses. Im Dunkel der noch jungen Nacht leuchtete es aus allen Fenstern hell wie eine Sonne.

„Bin gespannt, was Alastair dazu bewegt hat, uns zurückzulassen …“

Mit diesen Worten ging er die Straße entlang, gefolgt von den beiden anderen.

„Stimmt, da war ja auch noch was“, grummelte Anya, „der Tag ist schon so scheiße genug, ich hab keine Lust auf noch mehr schlechte Nachrichten.“

Zanthe neben ihr schnalzte mit der Zunge. „Schlimmer geht immer, liebe Anya. Gewöhn' dich dran, dann kannst du nicht enttäuscht werden.“

 

Als sie das Waisenhaus betraten, wurden sie auf dem Weg in Alectors Büro von dutzenden großer Augen beobachtet. Einige der Kinder steckten bereits in Schlafanzügen. Die Stufen ins nächste Stockwerk nehmend, sah Anya betrübt zu ihnen herunter.

Es war Alectors gutes Recht zu erfahren, was passiert war. Von diesem Stoltz ging eine ernsthafte Gefahr aus, über die er informiert werden musste. Was, wenn dieses Monster zurückkehrte? Anya wollte nicht wissen, was dieser Undying den Kindern antun könnte.

Sie folgten dem Gang, bogen dann um die Ecke und wenig später klopfte Matt schon an Alectors Tür. Als er sie zu öffnen versuchte, bemerkte er jedoch, dass sie abgeschlossen war.

„Nanu …?“

„Bist du das, Matt?“, hörte er Als Stimme durch das Holz dringen.

Irritiert davon, dass sein Freund in Alectors Büro eingeschlossen war, erwiderte er: „Ja. Warum ist-!?“

Das Klicken eines sich öffnenden Schlosses ertönte. Schon schwang die Tür auf. Alastair, immer noch in seinem roten Mantel, sah kurz auf den Gang und stellte fest, dass außer den Dreien niemand sonst hier war. Mit einem Kopfnicken nach rechts forderte er sie auf, das Büro zu betreten und als sie alle drin waren, schloss er hinter ihnen wieder ab.

 

Anya verstand sofort, was das alles sollte.

Vor seinem Schreibtisch stand der erstaunlich kleine Alector und neben ihm ein alter Bekannter, eingekerkert in ein schmales, gelbes Kraftfeld. Langes, schwarzes Haar, eine Butleruniform.

„Kyon …“, brummte sie.

„Ich habe ihn dabei erwischt, wie er hier herumgeschnüffelt hat“, bellte Alector sofort, „aber er will mir nicht sagen, was er sucht.“

Der Blondine entglitt ein erleichtertes Stöhnen. „Und ich dacht' schon, jemand wie der Sam-“

Matt stieß das Mädchen von hinten an, sodass es jäh unterbrochen wurde. Die kapierte erst jetzt, dass sie Alector lieber nicht sagen sollte, wessen Vasallen er da gefangen hielt.

Sofort richtete sie sich erschrocken auf. „Alter, lass den sofort frei!“

„Ich danke dir, Anya Bauer. Endlich jemand mit etwas Verstand“, sagte Kyon, der wie immer seine Sonnenbrille trug und nickte ihr anerkennend zu.

Anya wurde kreidebleich beim bloßen Gedanken daran, was der Sammler mit ihr anstellen würde wenn er erfuhr, dass sein Handlanger wegen ihr festgehalten wurde. Was natürlich die Frage aufwarf, warum der überhaupt hier war.

Die beschäftigte scheinbar auch Alector brennend. „Ihr kennt euch? Dann erklärt's mir! Der Drecksack tut geradezu so, als hätte er seine Zunge verschluckt!“

„Wie ich bereits sagte, mich zu foltern erzielt nicht den gewünschten Effekt“, sprach Kyon derart unbeeindruckt, als wären die garantiert unangenehmen Stunden mit Alector spurlos an ihm vorbei gezogen.

„Keine Ahnung, so gut kenn' ich ihn auch nicht.“ Aber Anya fiel dabei etwas ein. Da gab es doch jemanden, der eine Karte von Kyons Deckthema spielte. Schelmisch schielte sie herüber zu Zanthe, der den direkten Blickkontakt mit dem Gefangenen mied. Zufall? „Warum sagst du nicht etwas dazu, Flohpelz?“

 

Überrascht zuckte Zanthe zusammen. Nur sehr widerwillig trat er unter den strengen Blicken der anderen Anwesenden vor und kratzte sich nervös am Kopf. „Ich? Wieso ich?“

„Tu doch nicht so“, schnarrte Anya. „Ich wette, ihr kennt euch!“

„Nein.“ „Aber natürlich.“

Der Werwolf weitete seine Augen, als ausgerechnet Kyons gleichzeitiger Ausruf den seinen übertönte und ihm darüber hinaus noch in den Rücken fiel.

Die Unruhestifterin höchstpersönlich verschränkte triumphierend die Arme. „So so, sieh an. Und?“

Zanthe drehte den Kopf zur Seite. „Ist kompliziert und geht euch nichts an.“

„Eigentlich kennt er nicht mich, sondern mein Gefäß. Oder was mal mein Gefäß war, denn die Seele, die sich in diesem befand, ist bereits lange vor meiner Ankunft in diesem Waisenhaus fort“, erklärte der Immaterielle Kyon bereitwillig, „ihr müsst wissen, ich habe den Pakt geschlossen, weil in diesem Körper kein Bewusstsein mehr steckte. Ich denke, das ist besser, als ein denkendes Wesen zu bedräng-“

 

Plötzlich brach es aus Zanthe heraus. Er stürmte auf Kyon zu und schlug mit seinen Fäusten gegen den gelblichen Energieschirm, der den Butler umgab. „Und da musstest du dir ausgerechnet diesen Körper aussuchen!? Huh!?“

„Vorsicht!“, schrie Alector.

Dampf stieg unter Zanthes Fäusten auf, die von der Energie versengt wurden. Jener ließ sich erst mit Gewalt von Alastair wegzerren. Zischend riss der Werwolf sich los und wandte sich von der ganzen Gruppe ab. Es brauchte einen Moment, ehe er seine Stimme wieder fand.

„... er ist ungefährlich, soweit ich das beurteilen kann. Lassen Sie ihn bitte gehen.“

Alector sah mit misstrauischem Blick herüber zu Zanthe. Matt ergriff das Wort. „Tu was er sagt. Er ist zwar kein Freund, aber auch kein Feind.“

„Nein“, knurrte Alector, „der geht nirgendwo hin.“

Sofort stampfte Anya auf den pensionierten Dämonenjäger zu. „Besorg' dir'n Hörgerät, Opa! Wir sind uns alle einig! Also mach hinne!“

Gänzlich unbeeindruckt von der Blonden, sah Alector zu Matt und Alastair herüber. Während Letzterer keinen Hehl daraus machte, dass er die Meinung seines Mentors teilte, nickte Matt entschlossen. „Wenn wir ihn hier behalten, haben wir am Ende nur denjenigen an der Backe, der hinter ihm steht. Ich weiß, wie gerne du ihn umbringen möchtest, aber … lass es, okay? Das sorgt nur für mehr Probleme.“

Alector zischte wütend, lenkte aber trotz wegwischender Handbewegung ein. „Ich hoffe, du weißt, was du da tust …“

Er schnippte mit dem Finger und schon verschwand Kyons Käfig. Dieser verneigte sich höflich. „Ich bedanke mich, Matt Summers und entschuldige mich für den Ärger, den mein unbedachtes Handeln verursacht hat. Ich bürge dafür, dass es keine Konsequenzen bezüglich meiner Gefangenschaft für euch geben wird. Damit empfehle ich mich.“

„Hau bloß ab“, raunte Anya gallig.

Das tat Kyon auch. Vor ihm öffnete sich ein ovales, schwarzes Portal mit spiegelnder Oberfläche, welches er durchschritt und das schließlich mit ihm verschwand.

 

Matt atmete tief durch. Die Frage, was der Kerl hier wollte, musste jetzt hinten anstehen. Zum Glück hatte sich Alector erstaunlich kooperativ gezeigt, ein Zeichen, dass er Matts Urteil vertraute, was bei dem alten Kauz selten genug vorkam. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum Matt Kyon gehen ließ. Er wollte nicht, dass jener womöglich etwas von dem mithörte, was sie zu berichten hatten. Schließlich war es nicht auszuschließen, dass dieses Wissen über welchem Weg auch immer an den Sammler geriet, selbst wenn sie Kyon töteten. Bekanntlich konnte der Sammler Tote wiederauferstehen lassen.

Es war das Beste so, zumindest hoffte Matt das.
 

„Alector, wir haben ein Problem“, begann er dann.

„Ich weiß. Etwas ist im Wald … war im Wald.“ Der pensionierte Dämonenjäger strich sich über den grauen, kurz geschnittenen Bart. „Die Resonanzchronosphären, die ich überall in der Gegend verteilt habe, sind mir durchgebrannt.“

„Das ist ein Werkzeug um Dämonenaktivitäten zu messen“, erklärte Alastair der unwissend dreinblickenden Anya.

Daraufhin schilderte Matt, wie es zu der Begegnung mit Stoltz gekommen war. Zu Anyas Erleichterung änderte er die Geschehnisse so ab, dass nicht offensichtlich wurde, wessen Tun den neuen Feind auf den Plan gerufen hatte. Stattdessen ließ er Stoltz eher wie ein Monster wirken, dass von Anyas bloßer Existenz angezogen wurde. Und von seiner.

Als er geendet hatte, saß Alector an seinem Schreibtisch. Der Lichtpunkt der Lampe im Zimmer spiegelte sich auf seiner Glatze zwischen dem Haarkranz. Über diese strich er nachdenklich.

„Undying. Nein, das ist kein Begriff, den ich in meiner Laufbahn jemals gehört habe“, sagte er schließlich. „Kind, was für einen Stein hast du da ins Rollen gebracht?“

„Ich weiß es nicht“, seufzte Matt. „Aber ich glaube, wir haben ihn nicht zum letzten Mal gesehen. Er ist hinter mir und Anya her. Also sollten wir diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.“

Umgehend stürzte sich Alastair dazwischen und riss Matt an den Schultern zu sich. „Das kann nicht dein Ernst sein, Matt!“

Jener drehte den Kopf zu Alector. „Du weißt, dass es nicht anders geht, oder?“

Der alte Mann legte seinen Kopf auf den Handrücken, während er seine Arme mit den Ellbogen vom Tisch abstützte. Er sagte nichts, doch in seinen Augen stand es auch so geschrieben: er sah ebenfalls keine andere Möglichkeit.

„Al“, richtete sich Matt an seinen Freund, „wir müssen an die Kinder denken. Bleibe ich hier, riskiere ich nur, dass ihnen etwas geschieht.“

Langsam ließ Alastair ihn los. „Lass uns das alles in Ruhe bereden, Matt …“

Und das taten sie auch. Lange und ausführlich, während ihre Wunden von Alector versorgt wurden.

 

~-~-~

 

Als sie kurz vor Mitternacht geendet hatten, waren Anya und Zanthe auf ihr 'Zimmer' zurückgekehrt – den Dachboden. Nebeneinander saßen sie auf den Kisten, die in der Ecke des engen Raumes standen und schwiegen sich gegenseitig an.

 

Die Gruppe hatte sich nach langer Diskussion geeinigt, wenigstens noch die Nacht hier zu verbringen. Am Morgen würden sie dann mit dem Zug wieder Richtung Anyas Heimat fahren, mit Matt im Gepäck. Jener war zwar alles andere als glücklich darüber, zeigte sich aber dennoch gefasst, Alastair, Alector und die anderen für eine Weile verlassen zu müssen. Denn jene würden hier bleiben, da sie die Kinder nicht alleine lassen konnten.

Anya hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Sie hatte zwar das Artefakt, Heavy Ts Karte, aber zu welchem Preis? Drazen war tot, einen neuen Feind gab es auch und zu allem Überfluss hasste Matt sie jetzt wahrscheinlich dafür, dass er wieder in ihre Probleme hineingezogen worden war.

 

„Ist echt alles scheiße gelaufen, seit wir angekommen sind, huh?“, wandte sie sich an Zanthe.

Der hatte ein Bein angezogen und legte sein Kinn auf dessen Knie, während er auf der Kiste hockte und ins Leere starrte. „Ist dir das auch schon aufgefallen, ja?“

„Tch, wenn du jetzt Schiss hast und nicht mehr mit mir reisen willst, kannst du gerne gehen“, erwiderte Anya trotzig.

Zanthe zuckte lustlos mit den Schultern. „Vielleicht, mal sehen.“

Diese Antwort erschrak Anya mehr, als ihr lieb war. Er erwog tatsächlich zu gehen? Was würde dann aus seinem Heilmittel werden!? Und ihr? Immerhin wusste er eine Menge, was sie nicht wusste, besonders da er einer der Hüter gewesen war. Ganz zu schweigen davon, dass es dann niemanden gab, mit dem sie sich ordentlich zanken konnte!

In dem Moment wurde ihr klar, dass sie Zanthe nicht ausschließlich als Nervensäge betrachtete. Eigentlich war sie recht froh, dass er sie begleitete, vielleicht weil er ihr irgendwie ähnelte und deswegen mit ihr mithalten konnte.

„Hab ich nicht ernst gemeint“, brummte sie deswegen versöhnlich.

„Ahja.“

Nicht gerade, was sie sich als Reaktion erhofft hatte. Schnaufend blickte sie weg und überlegte, ob sie es für heute nicht gut sein lassen sollte. Womöglich sagte er das auch nur, weil er ebenso erschöpft von dem Kampf war wie sie, so ging es ihr durch den Kopf.

 

Nein! Sie wollte es nicht dabei belassen. Ihre eigene Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass es unendlich gut tat, wenn andere einem aufmunternd die Hand reichten. Nun war sie wirklich nicht die Art von Mensch, die so etwas sonderlich gut konnte. Um ehrlich zu sein, verschwendete sie an solche Gesten normalerweise keinen müden Gedanken. Aber so, wie sie sich Trost wegen ihres Fehlers wünschte, könnte das auch gerade bei Zanthe der Fall sein.

Denn ja … Anya wünschte sich gerade nichts mehr, als dass jemand zu ihr sagte, dass es nicht ihre Schuld war, was mit Drazen geschehen war. Natürlich wäre das gelogen, darüber war sie sich im Klaren. Doch allein die Geste und das Gefühl, nicht verurteilt zu werden, waren, wonach sie sich sehnte. Gleichzeitig erkannte sie auch, dass sie niemals mit der Schuld hätte leben können, wenn sie damals im Turm von Neo Babylon ihre Freunde geopfert hätte. Auch wenn ein solches Leben ihr nie in Aussicht gestellt worden war. Dennoch … sie war froh, es nicht getan zu haben.

 

Sie schwang sich von der Kiste und drehte sich zu Zanthe um, der nur mit einer Augenbewegung zu ihr aufsah.

„Hey, Flohzirkus … was ist los?“, fragte sie frei heraus. „Du bist sonst nie so depri und ich glaube kaum, dass das mit der Gruselmumie zusammenhängt.“

„Ich möcht' nicht drüber reden“, kam eine lasche Antwort.

Anya fasste sich genervt an die Stirn. „Mir doch egal, ich will drüber reden! Glaubst du, es wird besser, wenn du vor dich hin schmollst? Wohl kaum!“

Zanthe ließ sein Bein sinken, saß jetzt aufrecht vor ihr. „Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Sorgen um mich machst. Um ehrlich zu sein wusste ich gar nicht, dass du das überhaupt kannst. Aber diese Sache ist etwas, worüber ich nicht reden möchte, okay?“

 

Etwas Dunkles flackerte in Anyas Augen auf. Eine Art von Überlegenheit, die selbst Zanthe unheimlich war. Und er sollte auch wissen warum, als sie sagte: „Kyons Körper. Du bist schuld an dem Zustand desjenigen, der da vor ihm drin gesteckt hat, richtig?“

Zwar war Zanthe immer etwas blass um die Nase gewesen, doch Anya glaubte zu erkennen, wie sich der Farbton um noch ein paar Nuancen aufhellte. Der Mund des jungen Werwolfs stand offen, aber kein Ton kam über seine Kehle.

Anya setzte sich daraufhin wieder neben ihn. „Hab ich den Jackpot geknackt?“

Keine Antwort.

Das Mädchen legte behutsam ihre Hand auf seine Schulter. „Keine Ahnung was da zwischen dir und Pre-Kyon passiert ist, aber … es ist passiert. Ob du schuld bist oder nicht, es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn ich jetzt Abby wäre, würde ich so etwas sagen wie 'man muss lernen, sich selbst zu verzeihen' und solche Kacke. Da ich aber nicht Abby bin, musst du dir diesen Part selbst denken.“

Sie seufzte. „Er war dein erster Freund oder sogar mehr als das, nicht wahr? Du kannst mir ruhig erzählen, was passiert ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist … wenn man Fehler macht.“

Langsam drehte Zanthe seinen Kopf in ihre Richtung und begann unvermittelt zu kichern. Ein kleines Äderchen zuckte an Anyas Schläfe. „Was ist daran so lustig!?“

„Alter, Anya, du-!“ Aber weiter kam er nicht, da er von einem ernsthaften Lachkrampf geschüttelt wurde.

Die Blondine, die nicht verstand was jetzt los war, fuhr sich über die Haare und über das Gesicht in der Annahme, dass vielleicht irgendetwas auf ihr herumkrabbelte. Dem war aber nicht so, weshalb sie langsam ungehalten wurde. „Was ist denn!?“

„Du laberst so einen Schwachsinn und glaubst den dann auch noch“, prustete Zanthe und verstellte seine Stimme, so dass sie etwas tiefer klang, „ich habe meinen Freund ins Koma geprügelt, ich böser Junge. Aber jetzt ist Anya da und rettet mich!“

Der platzte der Kragen, sodass sie kurzerhand Zanthe von der Kiste schubste und sich auf ihn schmiss. „Du elende Kackratte, wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen!? Sei froh, dass sich überhaupt jemand für deinen kümmerlichen Werwolfarsch interessiert! Alter, wenn ich mit dir fertig bin, gibt’s einen mietbaren Körper mehr für die Immateriellen!“

Dabei drohte sie ihm mit erhobener Faust, doch Zanthe lachte weiter und drückte sie mit den Füßen von sich weg.

 

„Ist doch nur Spaß“, meinte er im Gerangel versöhnlich, „aber so daneben lagst du noch nie mit dem, was du so vor dich her blubberst!“

Anya aber hörte nichts mehr. Wäre Rot ein Ton, würde jetzt vermutlich eine Melodie namens Blutmarsch in ihrem inneren Ohr dudeln. Doch wenn man ehrlich war, tat sie das eigentlich immer, nur die Lautstärke variierte.

„Vielleicht erzähl ich's dir irgendwann.“ Zanthe drehte kurzerhand den Spieß um, umklammerte Anyas Hüfte mit seinen Beinen und wälzte sie zu Boden. „Aber nicht heute. Und sicher auch nicht morgen.“

Ihren Fäusten ausweichend, nahm er an, dass sie ihn schon verstanden haben würde.

 

Wenig später lagen sie fix und fertig in ihren Schlafsäcken. Die einzelne Glühbirne, die das Zimmer zuvor erhellt hatte, war mittlerweile ausgeknipst.

„Flohpelz?“, fragte Anya neugierig. „Meinst du, Summers hasst mich jetzt?“

Zanthe lag auf der Seite und hatte bereits die Augen geschlossen. „Nö, denn wenn er ehrlich mit sich selbst ist, ist er selber schuld, dass er dir geholfen hat.“

„Ich hab nur keinen Bock auf diese griesgrämige Masche, die er neuerdings an den Tag legt, damit das klar ist!“

Unvermittelt richtete Zanthe sich auf. Anya, die auf dem Rücken lag, konnte seine Umrisse dank des durch ein kleines Fenster in den Dachboden einfallenden Mondlichts deutlich sehen. Er trug sein schulterlanges, schwarzes Haar offen, was Anya insofern erstaunte, dass er sein Kopftuch wenigstens zum Schlafen mal abnahm.

„Anya“, begann er ernst, „da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss.“

 

Er berichtete ihr von seiner Beobachtung bezüglich Matts Wunden beziehungsweise dem Fehlen ebenjener. Denn dasselbe war ihm abermals aufgefallen, als sie sich vom Schlachtfeld zurück zum Waisenhaus teleportiert hatten. Matts Kleidung war lädiert gewesen bis zum Geht-nicht-mehr, aber er selber? Kein Tropfen Blut, keine Schramme, nichts.

Als Alector ihre Wunden versorgt hatte, war ihm nicht entgangen, dass Matt sich aus dem Zimmer gestohlen hatte unter dem Vorwand, mal eben auf die Toilette zu müssen. Eine halbe Stunde lang wohlgemerkt. Danach kam er in frischen Klamotten wieder und behauptete, ihn habe es nicht so schlimm erwischt, alles sei in Ordnung.

 

Als er geendet hatte, hatte sich Anya ebenfalls aufgerichtet. „Ne, ist mir nicht aufgefallen.“

„Vielleicht … hat er gelogen.“

„Inwiefern?“

Zanthe brauchte einen Moment, um seine Anschuldigung vor Anya auszusprechen. „Vielleicht ist Drazen nicht zu Staub zerfallen.“

„Du meinst, der hat sich nur verduftet? Aber warum sollte Matt uns deswegen anlügen?“

Der Werwolf klatschte sich die Hand gegen die Stirn, denn so viel Dummheit musste kompensiert werden und das ging nur durch Schmerz. „Anya! Du denkst in die falsche Richtung! Ich meinte, was ist, wenn er Drazen bewusst getötet hat?“

Jetzt, wo er es ausgesprochen hatte, merkte er selbst, wie schwerwiegend sein Vorwurf überhaupt war. So extrem, dass Anya einem Moment gar nichts herausbrachte.

„... geh schlafen, Idiot“, zischte sie böse, „hast dich wohl noch nicht ganz von deinem komischen Werwolf-Rausch erholt.“

Zanthe war jedoch niemand, der einmal etwas Gesagtes nachträglich herunterspielte, weshalb er erwiderte: „Ich weiß, es ist verrückt, aber wir waren nicht anwesend. Und irgendwas Schräges ist da vorgegangen. Du hast doch diese schwarzen Blitze selbst gesehen, die waren doch äußerst ungewöhnlich, meinst du nicht?“

Anya schnaubte. „Ahja? Fragen wir Levrier, der kennt sich in so etwas am besten aus! Also los, raus mit der Sprache!“

Vor den beiden materialisierte sich [Gem-Knight Pearl] mit verschränkten Armen, direkt vor dem Fenster. Das Mondlicht drang durch seinen durchsichtigen Körper hindurch.

 

Ich komme nicht umher, Zanthe Montinari insofern zuzustimmen, dass ich ebenfalls eine merkwürdige Präsenz während des Duells gespürt habe. Diese lässt sich jedoch ganz einfach dadurch erklären, dass Matt Summers Deck von der dunklen Magie der Immateriellen Urila geschaffen wurde und jene immer noch in sich tragen könnte.

 

Anya warf sich regelrecht in ihren Schlafsack und drehte sich um. „Hörst du? Das hast du vermutlich gesehen. Ich kenne das Deck, ist halt etwas crazy! Matt würde nie jemanden kaltblütig ermorden.“

Seufzend sah Zanthe Levrier an. „Danke. Ich hoffe, du hast Recht.“

Überzeugt klang er dabei nicht.

 

Das kann ich dir nicht versprechen. Doch wie Anya Bauer sagte, ist Matt Summers ein gewissenhafter, ehrlicher Mensch. Seine derzeitige seelische Verfassung mag zerrissen sein, aber solch dunklen Gedanken ist er erhaben.

 

„Und die Wunden?“, fragte Zanthe, als wolle er nicht so leicht klein beigeben.

 

Sprich ihn selbst darauf an. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.

 

Levrier verschwand.

„Können wir gerne morgen machen“, schlug Anya vor, „aber jetzt will ich pennen! Gute Nacht!“

„Nacht“, murmelte Zanthe, der immer noch aufrecht saß.

Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, Matt einfach zu fragen? Am Ende sah er wirklich nur Schatten, die ihm einen Streich spielten …

 

 

Turn 50 – Mercy

Anya, Matt und Zanthe verabschieden sich am nächsten Morgen von Alector und Alastair. Jener fährt sie noch zum Bahnhof, doch als er zurückkehrt, bemerkt er, dass ein Bannkreis um das Waisenhaus gesponnen wurde. Alarmiert betritt er diesen, nur um …

Turn 50 - Mercy

Turn 50 – Mercy

 

 

Der nächste Morgen begann für alle zunächst mit einem gemütlichen Frühstück. So gemütlich es eben ging, wenn man mit über 60 Kindern im selben Raum verweilte. Wie üblich ging es in der riesigen, ausgebauten Küche hoch her. Die drei langen Tafeln der Kinder waren bis auf den letzten Platz besetzt, lautes Geschnatter und Gekicher drang zu dem kleinen Tisch der Erzieher.

 

An jenem saßen auch Anya und Zanthe, aßen zusammen mit den beiden Erzieherinnen sowie Matt und Alastair Rührei und etwas Toast. Während die anderen vier sich über die finanzielle Lage des Waisenhauses unterhielten – offenbar ein echter Dauerbrenner – warfen Anya und Zanthe sich immer wieder verschwörerische Blicke zu.

Letzterer nickte in Matts Richtung, als wolle er Anya auf etwas aufmerksam machen. Matt hatte bereits aufgegessen und seine Ellbogen auf den Tisch abgestützt. Erstaunlich ausgelassen scherzte er mit Alastair, wie der nur ohne seine Hilfe in dem Frauenhaushalt zu recht kommen würde.

Anya drehte irritiert den Kopf zu Zanthe. „Was denn!?“

„Guck doch mal seine Arme an!“, flüsterte Zanthe, auch wenn es schon mehr nach einem Zischen klang.

Das Mädchen musterte Matt erneut. Die Ärmel seines schwarzen Hemdes hatte er hochgekrempelt, weil er zuvor in der Küche geholfen hatte. Keine Narben waren an ihnen, keine Kratzer, gar nichts.

„Da ist nichts!“

„Eben“, erwiderte Zanthe eindringlich, „was haben diejenigen, die sich mit Immateriellen vergnügen?“

Anya ging ein Licht auf. Natürlich, ein Paktmal! Sie selbst und ihre Freunde hatten solche besessen, darunter auch Matt. Als die Immateriellen, von denen sie sie hatten, dann das Zeitliche segneten, verschwanden die Male. Es war also nicht ungewöhnlich, dass Matt kein Paktmal- moment! Darauf wollte Zanthe hinaus! Wegen Matts unglaublichem Heilungsprozess hatten sie vorhin beim Aufstehen die Vermutung angestellt, ob er nicht vielleicht einen Pakt geschlossen haben könnte. Offensichtlich nicht.

„Sackgasse“, nuschelte Anya. „Ich sagte doch, er-“

 

Unvermittelt sah der Schwarzhaarige mit dem nach hinten gekämmten, etwas nach oben stehendem Haar seine Gegenüber fragend an. „Was tuschelt ihr die ganze Zeit?“

„Nichts“, log Zanthe, „wir finden nur dein Hemd total schick.“

„Erzähl das deiner Großmutter“, murrte Matt und kniff die Augen zusammen. „Lästert ihr über mich?“

Anya grinste keck. „Klar, Summers! Wir sind total erstaunt darüber, wie fit du im Vergleich zu uns bist. Aber wen wundert das, du hast ja auch total auf Nummer sicher gespielt.“

Darauf wusste Matt im ersten Moment nichts zu erwidern, blinzelte nur verdutzt.

„Sieh an, wer da spricht“, fiel ihr Zanthe unvermittelt in den Rücken. „Wer war denn von uns am wenigsten vorbereitet? So wirst du nie Duel Queen werden. Und sowieso, du bist derart eingerostet, dass du dem Typen kein Haar krümmen konntest in deinem Wutanfall. Andererseits, ob du nun dabei warst oder nicht, es hätte wohl eh nichts geändert …“

Den Kopf ganz langsam, fast schon in Zeitlupe zu ihm drehend, traten aus dem Weiß in Anyas Augen bereits deutlich die Äderchen hervor. „Was hast du gerade gesagt?“

Plötzlich lachte Alastair schallend auf. „Ich wäre an deiner Stelle auch wütend, wenn die einzige Qualität, die ich besitze, derart herabgestuft wird.“

Damit hatte Anya endgültig das Nachsehen und wurde von allen Seiten auf äußerst fragwürdige Art und Weise aufgemuntert.

 

Während sie sich den Seitenhieben der anderen ausgesetzt sah, traten zwei Kinder an ihren Stuhl heran, kaum älter als zehn Jahre.

„Du“, begann der Junge schüchtern, „willst du mit uns spielen?“

„Wir haben gesehen, dass du ein Deck hast“, plapperte das Mädchen dagegen drauf los, „vielleicht-“

Die beiden verstummten abrupt, als Anya ihren Kopf in beängstigender Geschwindigkeit zu ihnen drehte. Das eine Auge von ihrem Pony verdeckt, sah sie die beiden geradezu manisch an.

„Ä-äh vielleicht gehen wir besser“, stammelte der Junge erschrocken.

„Nicht doch“, murmelte Anya und ein gehässiges Grinsen bildete sich auf ihren Lippen, „ich liebe Kinder. Lasst uns spielen.“

Damit stand sie auf und ließ sich wegführen, wobei die Kinder alles andere als glücklich dabei anmuteten. Zanthe sah ihnen mit gemischten Gefühlen hinterher. „Ich glaube, das wird in einer Katastrophe enden.“

„Immerhin beschäftigt sie sich mit ihnen“, brummte Alastair, „das rechne ich ihr hoch an.“

„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass sie dabei keinen Hintergedanken hat?“ Matt seufzte. „Das da ist Anya.“

Zanthe nickte. „Da wird jemand einfach sein angeknackstes Ego aufpolieren wollen …“

 

~-~-~

 

Wesentlich später als ursprünglich vorgesehen machte sich die Gruppe schließlich abreisefertig. Hauptsächlich lag dies an Anya, die ein Kind nach dem anderen zu einem Duell herausforderte, offenbar regelrecht in einem Rausch verfallen war. Am liebsten hätte sie sich gleich mehrere auf einmal zur Brust genommen, doch da die Kinder nur eine Duel Disk hatten, war dies nicht möglich. Dennoch hatten die Kinder Spaß dabei, da sie es mal mit einem anderen Gegner zu tun bekamen.

Denen, die gegen Anya gewannen, verging der Spaß allerdings ganz schnell. Dann schrie sie so lange nach einer Revanche, bis die Kinder panisch zustimmten. Anya war nach einer etwas längeren Serie von Niederlagen – zwei Stück um genau zu sein – schon drauf und dran, ihre neue schwarze Weste zu verwetten, hätte Matt sie nicht aufgehalten.

 

Am späten Vormittag hatten Anya und Zanthe ihre Koffer schließlich gepackt. Jene lud Alastair in den vor dem Waisenhaus stehenden VW-Bus, während Matt noch auf sich warten ließ. Das Duo wartete im Türrahmen auf das fehlende Gruppenmitglied.

Zu ihrer Überraschung trat aber nicht Matt, sondern Alector zwischen sie und betrachtete Alastair nachdenklich. Dann richtete er sich an Anya.

„Kann ich kurz mit dir reden? Unter vier Augen?“

Die sah verwirrt Zanthe an, während der sich hämisch hinter Alectors Rücken mit dem Finger über die Kehle fuhr. Der warf daraufhin dem Werwolf einen scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Lass das!“

Mit der Zunge schnalzend, zuckte Zanthe mit den Schultern und rannte herüber zu Alastair, vermutlich um ihn wieder einmal erfolglos anzuflirten.

„Was ist?“, wollte Anya wissen. „Sind Sie böse auf mich, weil ich ihren Liebling mitnehme?“

Alector fuhr sich über den Bart. „Böse trifft es nicht einmal annähernd. Du hast ihn in etwas hineingezogen, aus dem er womöglich nicht so leicht wieder herauskommt. Mach mir nichts vor, es hängt mit dem Gefallen zusammen, den du von ihm eingefordert hast. Er ist ein schlechter Lügner.“

„Keine Ahnung, sieht ganz danach aus“, gestand Anya, da sie keinen Sinn darin sah, es abstreiten zu wollen.

„Da er jetzt mit dir reist, hast du die Verantwortung, ihn ebenso zu beschützen wie er dich beschützen wird. Ich hoffe, dessen bist du dir bewusst.“ Alector sah sie scharf von der Seite an.

Sie erwiderte den Blick unerschrocken. „Gibt Schlimmeres.“

Der alte Mann trat einen Schritt vor. „Glaub mir, das gibt es. Und höre ich davon, dass ihm etwas geschehen ist, während er mit dir zusammen war, werde ich dich finden und dir zeigen, von welcher Art von 'schlimm' ich rede.“
 

Anya lachte plötzlich belustigt und schlug ihm unvermittelt auf die Schulter. „Bevor das passiert, zeig ich Ihnen erstmal, was ich unter 'schlimm' verstehe, 'kay?“

Er drehte sich, etwas aus dem Konzept gebracht, perplex zu ihr um, doch starrte er nicht etwa in ein vergnügtes, sondern sehr ernstes Gesicht. „Aber das ist doch gar nicht, worüber Sie wirklich reden wollten, oder? Dieselbe Predigt haben Sie uns gestern schon gehalten.“

„Nein“, erwiderte er schließlich, „ich habe eine Frage an dich. Ich hoffe, du kannst mir die Antwort geben, die Matt mir nicht geben konnte.“

„Und worum geht’s?“

„Es dürfte dich nicht überraschen, dass dein Name mir schon bekannt war, noch bevor du hierher gekommen bist. Wie du dich sicher noch erinnern wirst, hat Matt mich bezüglich deines damaligen Problems um Hilfe gebeten.“ Zur Verdeutlichung zeigte er auf ihren nackten Unterarm. „Es ging um den Pakt, aus dem du dich lösen wolltest.“

Das Mädchen hob jenen Arm und betrachtete ihn. „Ja, da war doch diese Geschichte mit dem Jinn. Sie haben uns diese Lampe geschickt. Natürlich ist alles schief gegangen … das war alles Ihre Schuld, wenn man's recht betrachtet!“

Alector überhörte den Kommentar und sah sie eindringlich an. „Anya, du warst gefangen, während der Jinn sich deines Körpers bemächtigt hat. Warst du da alleine? Oder waren da noch andere, die mit dir eingesperrt waren und jetzt vielleicht frei sind?“

Blinzelnd sah sie von ihrem Arm auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ich war alleine, in meinem Elysion.“

Daraufhin ließ Alector den Kopf hängen. „Schade … ich hatte gehofft, dass du vielleicht auf einen Mann getroffen wärst. Du musst wissen, ich habe lange gebraucht, um diese Lampe ausfindig zu machen. Alastairs Großvater ist ebenfalls auf der Suche nach ihr gewesen und verschwunden. Ich habe alles in dem Brief erklärt gehabt, der dem Paket beilag.“

Das Mädchen kratzte sich am Kopf. „Sorry, aber da war kein Brief. Vielleicht 'ne Notiz, aber kein Brief, in dem etwas über Big Als Opa stand.“

„Das hat Matt mir auch gesagt.“ Alector drehte sich um und ging an ihr vorbei. „Gut, dass ich Alastair nichts davon erzählt habe, er hätte sich nur falsche Hoffnungen gemacht. Nun habe ich Gewissheit. Bitte behalte das für dich.“

Auf der Türschwelle drehte er sich ihr noch einmal zu. „Gute Reise und viel Glück. Du wirst es brauchen …“

Damit ließ er sie zurück und verschwand ins Innere des Waisenhauses. Mitten auf dem Gang traf er auf Matt, aber Anya entschied sich außer Hörweite zu gehen, damit die beiden sich ungestört voneinander verabschieden konnten.

 

Zanthe kam ihr vom VW-Bus aus entgegen, die Mundwinkel erwartungsgemäß tief nach unten gezogen. Anya grinste dreckig. „Na, haste wieder festgestellt, dass er nichts von dir will?“

„Ein Wort, Anya, und ich stell dich dem Erdboden vor“, erwiderte er griesgrämig, „und glaub mir, eure Beziehung wird sehr intim werden.“

Das Mädchen winkte ab und rückte dann ihre Weste zurecht. „Hey, der Spruch könnte von mir sein. Tch, nimm's nicht so schwer. Mach lieber was kaputt, das hilft.“

„Und was?“

Matt trat unvermittelt hinter Anya hervor. „Das kannst du meinetwegen machen, wenn wir in Livington sind.“

„Hat der Alte dir nochmal 'ne Tracht Prügel verpasst?“, fragte Anya hoffnungsfroh, während sie zu dritt zum Wagen liefen.

Matt nickte. „Verbal, ja.“

„Sag mal, Summers“, fiel Anya noch etwas ein, „wieso heilen deine Wunden eigentlich so schnell? Der Flohpelz meint, die würden verschwinden, noch bevor sie richtig zu bluten anfangen?“

Matt blieb abrupt stehen. Zanthe auch, der Anya umgehend einen Jetzt-wälzt-du's-auf-mich-ab-was?-Blick zuwarf. Die zeigte ihm ungekünstelt den Mittelfinger.

Matt drehte sich zu Zanthe um, in seinem Blick lag dabei etwas Undeutbares. Dann schob er den Ärmel seines schwarzen Mantels und anschließend den seines gleichfarbigen Hemdes hoch.

„Was ist da?“, fragte Anya, die nur gesunde Haut sah.

„Nichts“, erwiderte Matt und zupfte seine Sachen wieder zurecht, „wo ich nicht verletzt werde, kann ich logischerweise auch keine Wunden haben. Einleuchtend, oder?“

Ohne sich weiter mit ihnen abzugeben, schritt Matt herüber zu Alastair und unterhielt sich noch kurz über die Zukunft des Waisenhauses.

Zanthe legte den Kopf schief. „Das Thema war für ihn aber schnell erledigt.“

„Na ja, klingt doch logisch. Nur weil seine Kleidung zerfetzt wird, heißt das ja nicht, dass dasselbe auch mit seiner Haut passiert.“

Der Kopftuchträger stöhnte. „Anya … wirklich jetzt?“

Wirklich jetzt, wie sie ihm dadurch ausdrückte, dass sie ihn ebenfalls stehen ließ.

„Das stinkt doch alles zum Himmel“, zischte er frustriert.

 

Schließlich fuhren sie los, nachdem sie sich noch einmal von den Erzieherinnen und Kindern verabschiedet hatten, die ihnen wild hinterher winkten. Anya hatte dieses Mal nicht das Glück, vorne zu sitzen und durfte sich die Ladefläche mit Zanthe teilen, während Alastair den Wagen fuhr. Der Weg zum Bahnhof war derselbe, den sie letztes Mal genommen hatten. Sie fuhren durch das kleine Dorf San Augustino, über eine Landstraße vorbei an der kleinen Kapelle, bis sie letztlich den

Bahnhof mit dem Uhrenturm erreicht hatten.

 

Anya öffnete die beiden Türen des VW-Busses und wartete darauf, dass Matt ihr seinen Koffer abnahm. Danach sprang sie von der Ladefläche, mit dem ihren in der Hand und wartete auf Zanthe, der die ganze Zeit vor sich hin schmollte und erst gar nicht daran dachte, dass er jetzt aussteigen musste.

Derweil umarmten sich Matt und Alastair fest. Letzterer klopfte seinem Freund sanft auf den Rücken. „Halt die Ohren steif, Matt. Wenn etwas ist, du etwas brauchst, sag uns unbedingt Bescheid.“

„Ach, die Telefonrechnungen sind schon bezahlt?“, gluckste der. „Mach ich.“

Die beiden lösten sich voneinander. Der Hüne drehte sich zu Anya und reichte ihr seine Hand, die jene eher zögerlich annahm, da sie sich noch nicht so recht dran gewöhnt hatte, nicht mehr die Schlangenzunge zu sein. „Du gib ebenfalls auf dich Acht. Und auf Matt.“

„Wenn's sein muss“, nölte sie.

Zanthe stellte sich neben sie und reichte ihm ebenfalls die Hand, aber ein böser Blick Alastairs reichte aus, damit er sie prompt wieder wegzog.

„Alter, was hast du zu ihm gesagt?“, wollte Anya fasziniert von der Reaktion wissen.

Dass ihr Begleiter sich darüber ausschwieg ließ viel Raum für Interpretationen.

Alastair stieg in den VW-Bus und winkte ihnen aus dem offenen Fenster noch einmal zu, ehe er losfuhr und dabei noch einmal kräftig auf die Hupe drückte.

Die Hände in die Hüften stemmend, meinte Anya: „Tja, ohne ihn wird’s wohl nicht dasselbe sein. Ach ja“, fiel ihr da ein und sie wandte sich an die anderen beiden, „kann ich Nick noch schnell anrufen? Muss da was klären.“

„Meinetwegen, aber beeil' dich, der Zug dürfte gleich kommen“, willigte Matt ein.

 

~-~-~

 

Währenddessen saß Alastair am Lenker des schwarzen VW-Busses und war in Gedanken versunken. Ob es wirklich richtig war, diese Kinder und Matt alleine losziehen zu lassen? Wenn es nicht für das Waisenhaus wäre, hätte er sie begleitet. Aber er wurde dort gebraucht, Alector konnte die Arbeit nicht ohne ihn bewältigen. Matts Verlust war schon schlimm genug.

 

Er schaute aus dem Fenster nach links, wo er die kleine, weiß gestrichene Kapelle sah. Für die Drei hatte er sogar gebetet, obwohl sein Glaube an Gott seit Anothers Taten zunehmend ins Wanken geraten war. Manchmal fürchtete er, dass Gott tot war und nur noch Böses diese Welt heimsuchte. Matt hatte es ihm erzählt. Was der Sammler Anya antat, indem er sie erpresste.

Allein der Gedanke, dass der Collector nicht einmal das einzige Wesen seiner Größenordnung war, ließ ihn zutiefst erschaudern. Und er konnte verstehen, dass Matt Anya nichts von den anderen erzählen wollte, denn mit ihnen zu verkehren würde die Sache mit Sicherheit nur komplizierter machen. Keiner von denen würde ihr ohne Gegenleistung helfen. Wenn sie es überhaupt täten.
 

Als Alastair das Dorf erreichte, fühlte er sich mit einem Male unwohl. Es war nur ein Bauchgefühl, aber etwas stimmte nicht. Draußen gingen die wenigen Leute, die man sah, ihrem gewohnten Tagesablauf nach. An einer Straßenecke stand ein kleiner Fischstand, aber irgendetwas störte Alastair und er konnte nicht beschreiben, was es war.

 

Die Gedanken durch das Schütteln seines Kopfes vertreibend, durchquerte er das Dorf und nahm die Straße Richtung des Waisenhauses. Je näher er diesem kam, desto stärker wurde das Unwohlsein. Bis er es begriff. Einige Meter vor der Auffahrt bremste er den Wagen und stieg hastig aus.

Er konnte das weiße, leicht marodierte Haus bereits sehen. Nichts. Kein Kind draußen, etwas, das ganz gewiss nicht normal war. Niemand war hier, das spürte Alastair.

Noch ein paar Schritte ging er vorwärts, dann blieb er stehen. Und streckte den Arm nach vorne aus, welcher von rosafarbenen Entladungen heimgesucht wurde. Keuchend riss er die Hand weg.

„Bannkreis … Alectors!“, erkannte er und versuchte, sich selbst Einlass zu schenken. Er kannte die Art, wie sein alter Lehrmeister seine Schutzfelder aufbaute. Täte er das nicht, gäbe es keine Chance für ihn, den Bannkreis zu betreten.
 

Er brauchte eine Weile, aber dann gelang es. Regelrecht hinein gezogen wurde er in den von außen her unsichtbaren Kasten. Innen jedoch konnte er erkennen, wie sich die Mauern rund um das Grundstück erhoben und es in eine künstliche Dimension verschoben hatten. Wie abgeschnitten, in einem rosafarbenen Kasten sah es hier aus, denn nach den Barrieren hörte das Blickfeld abrupt auf.

Alastair konnte keine Kampfspuren sehen, während er sich dem großen Gebäude näherte. Und dass der Bannkreis noch funktionierte, bedeutete, dass Alector noch am Leben war. Aber weshalb hatte er diesen überhaupt errichtet?

Mehr noch, etwas irritierte den Hünen im roten Mantel. Es hatte ihn ungewöhnlich viel Zeit gekostet, sich Eintritt zu verschaffen. Fast, als wäre der Bannkreis von doppelter Intensität, was allerdings jeglicher Logik entbehrte – ein normaler war für gewöhnlich völlig ausreichend und besonders die von Alector waren ohnehin so stark, dass niemand sie ohne Weiteres durchbrechen konnte, wenn er nicht genau wusste wie.

 

Er sah herüber zu dem kleinen Schuppen. In dem Moment drang ein Surren an ein Ohr. Ohne nachzudenken sprang Alastair zur Seite. Seine weit offen stehenden Augen verfolgten den hellblauen Energiestrahl, wie er sich seinen Weg an ihm vorbei bahnte und regelrecht in den Boden fraß. Sofort sah er nach oben, zur Quelle.

Dort stand sie, eine Gestalt, wie sie absurder nicht sein konnte. Bandagiert waren ihre unglaublich langen Gliedmaßen, gekleidet in eine weiße Panzerung samt Helm. Eines der Augen war ebenfalls eingewickelt, das anderen hingegen leuchtete rötlich.

„Er ist endlich gekommen, der Dämonenjäger, der den Feinden der ewigen Ordnung hilft.“

Anstatt von der Dachkante zu springen, tauchte die Gestalt wie aus dem Nichts vor dem Eingang des Waisenhauses auf.

„Wer bist du!?“, wollte Alastair wissen, der seitwärts ging, da er es nicht wagte, diesem unbekannten Wesen zu nahe zu kommen.

„Dieser ist ein Undying namens Stoltz. Gekommen, um …“, aber statt den Satz zu beenden, kicherte jener nur geheimnisvoll.

Sofort erkannte Alastair ihn als denjenigen aus Matts Berichten wieder. Ein unsterbliches Wesen. Also waren die Befürchtungen berechtigt gewesen, es war hinter Matt und Anya her.

„Die, die du suchst, sind nicht mehr hier!“, polterte er.

„Oh doch, er ist genau hier. Vor des Undying Nase.“

Der Hüne weitete die Augen. „Von wem sprichst du …? Wo ist Alector!?“

Ein bösartiges Grinsen huschte über Stoltz' spröde Lippen, als er seinen langen Arm anhob und präsentierte. Er war voller Blut. „Jener Mann hat tapfer gekämpft, doch am Ende verloren. Und doch weigert er sich zu vergehen. Hat den Undying in einen separaten Bannkreis eingesperrt. Narr. Dachte er, er würde den Undying damit aufhalten können?“

 

Alastairs Kinnlade klappte herunter.

Sein Mentor war schwer verwundet!? Ein zweiter Bannkreis? Natürlich, jetzt begriff es Alastair. Alector musste erkannt haben, dass er diesen Stoltz unmöglich besiegen konnte und sperrte ihn daher in einem sich mit dem anderen Bannkreis überlagerndem Gefängnis ein! Deshalb war es so schwer gewesen, hier einzudringen, in die zweite Ebene.

 

Plötzlich schlug Alastair die Hände zusammen und schrie auf. Die quaderförmige Barriere, die das Waisenhaus umgab, leuchtete grell auf, verfärbte sich grünlich.

„Du wirst hier nicht rauskommen!“, knurrte Alastair.

Stoltz kicherte. „Der Dämonenjäger benutzt seinen eigenen Bannkreis als zusätzliches Siegel. Also muss der Undying erst ihn töten, bevor er hoffen kann, dass das Leben des anderen gänzlich schwindet …“

 

Alastair stand der Schweiß auf der Stirn.

Spätestens jetzt musste sein Mentor bemerkt haben, dass er wieder zurück war und Stoltz festhielt. Inständig hoffte der Hüne, dass Alector verstehen und sich daran machen würde, die Kinder zu evakuieren, die sich vermutlich in seinem ersten Bannkreis befanden.

Er würde diesen Dämon aufhalten, egal was es kostet-

 

„... aber genau deswegen ist er doch hier. Und ein Exempel an den Feinden der ewigen Ordnung zu statuieren.“

Der Schwarzhaarige horchte auf. „Was!?“

„Dies ist die Warnung, die der Undying seinen Feinden noch nicht hat zukommen lassen.“

Stoltz streckte den langen Arm aus, an dem eine goldene, am Ansatz des Spielplans zur Seite gerichtete Duel Disk erschien.

„Du bist wegen uns hier“, erkannte Alastair, „widerliche Kreatur! Statt dich deinen Feinden zu stellen, greifst du lieber ein Waisenhaus an! Dafür wirst du bezahlen!“

Unter einem wütenden Aufschrei holte er aus seinem roten Mantel ein schwarzes D-Pad hervor und rüstete sich damit aus.

Die gelben Zähne zeigend, rief Stoltz zusammen mit Alastair im Einklang: „Duell!“

 

[Alastair: 4000LP / Stoltz: 4000LP]

 

Alastair atmete hastig. Sein Bannkreis beschützte das Waisenhaus vorerst vor Schäden, doch nur solange er lebte. Würde er sterben, hieße das, dass alle Schäden innerhalb des Bannkreises sich auf die Realität übertragen würden. Denn den Worten dieses Wesens entnahm er, dass sein Meister es nicht schaffen und sein Bannkreis damit bald schwinden würde. Dann gab es nur noch den seinen.

Er durfte also nicht verlieren!

Das konnte nicht sein! Alector konnte doch unmöglich …

 

„Ich beginne!“, polterte er und zog sein Startblatt. „Draw!“

Sein Gegner kicherte nur bösartig. „Dem Undying macht das nichts aus.“

Sofort zeigte Alastair eine Karte vor, nachdem er die aufgezogene in sein Blatt gesteckt hatte.

„Schnellmagie! [Celestial Transformation]! Sie beschwört einen Engel als Spezialbeschwörung von meiner Hand, doch sein Angriffswert wird halbiert und der Ende des Zuges ist auch sein Ende. Erscheine, [Vylon Stigma]!“

Vor ihm tauchte eine beinlose, mechanische Gestalt auf. Der schwarze Körper war mit Gold verziert, selbst die jeweils vier Klauen, die sich an den beiden schlauchartigen Armen befanden.

 

Vylon Stigma [ATK/1600 → 800 DEF/1000 (4)]

 

Sofort legte Alastair noch eine Karte auf seine Duel Disk. „Als Normalbeschwörung rufe ich [Vylon Cube]!“

Noch eine der seltsamen Kreaturen erschien. Es war ein weißer Würfel mit goldenen Armen und einem kleinen Auswuchs, der als Kopf diente.

 

Vylon Cube [ATK/800 DEF/800 (3)]

 

Alastair streckte die offene Handfläche in die Höhe. „Da [Vylon Cube] ein Empfänger ist, stimme ich ihn auf [Vylon Stigma] ein!“

Seine beiden Monster stiegen in die Luft auf. Der Würfel zersprang in drei leuchtende, grüne Energieringe, die die andere Maschine durchquerte.

„Level 3, [Vylon Cube] und Level 4, [Vylon Stigma]! Infinite potential lies within the heart of steel. Cover this infected world with your sacred wings! Synchro Summon! [Vylon Delta]!“

Ein greller Lichtblitz schoss durch die Ringe. Und aus ihnen flog schließlich eine weiße Gestalt mit stählernen Flügeln, die stark an einen Engel erinnerte. Ihr Leib endete in einer rot glühenden Spitze, eingerahmt von drei schwebenden, goldenen Ringen. Delta legte schützend die Schwingen vor seinen Körper, während es über Alastair verharrte.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/2800 (7)]

 

Alastair nahm sein Deck aus der Halterung. „Wenn [Vylon Cube] für die Synchrobeschwörung eines Licht-Monsters verwendet wird, erhalte ich eine Ausrüstungsmagie von meinem Kartenstapel. Und da ich meinen Zug gleichzeitig beende, erhalte ich eine weitere durch [Vylon Deltas] Effekt.“

So nahm er gleich zwei, [Vylon Material] und [Vylon Filament], und zeigte sie vor.

 

Stoltz indes gab sich gänzlich unbeeindruckt und zog auf. „Der Dämonenjäger möchte das hier schnell beenden, aber er weiß nicht wie. Ist dem nicht so?“

„Ich bin kein Dämonenjäger mehr!“, erwiderte Alastair ungehalten. „Ich habe keine Absichten, irgendjemandem zu schaden!“

„Der ehemalige Dämonenjäger nicht, seine Freunde jedoch schon. Und er riecht nach ihnen. Nein, stinkt förmlich danach.“ Stoltz zeigte seine fauligen, gelben Zähne. „Widerlicher kleiner Mensch.“

Der Hüne schnaubte. „Welchen Verbrechens beschuldigst du Matt!?“

„Namen sind unwichtig, genauso das, was mit ihnen verbunden wird. Einzig das Resultat ist entscheidend. Die Feinde der ewigen Ordnung sind entwischt, aber um die Botschaft zu verdeutlichen, wird der Undying ein Exempel statuieren. Jeder soll wissen, was geschieht, wenn man die Undying herausfordert.“

Was Alastair dazu brachte, wütend den Arm auszuschwingen, hatte er das Gefühl, als würden sie völlig aneinander vorbeireden. „Selbst wenn sie Unrecht tun, wie kannst du es wagen, mich ausgerechnet hier dafür zur Rechenschaft zu ziehen!? Ich bin bereit zu verhandeln, wenn es nötig ist. Ich werde mit ihnen reden-“

Stoltz grinste noch breiter, als es ohnehin schon möglich für ihn schien. „Der Undying hat kein Interesse. Die Botschaft wird zu seinen Konditionen übermittelt. Und nun: Beschwörung, [Centurion Atlas]!“

Alastair wurde von einem kalten Wind erfasst, der entstand, als hinter seinem bandagierten Gegner ein mehrere Meter großer, mechanischer Zentaur auftauchte, bestehend aus unzähligen Würfeln, die sich hin und wieder zurück bewegten, um die Umrisse des Wesens zu korrigieren. Unter seinem Helm stach ein rot leuchtendes Auge hervor.

 

Centurion Atlas [ATK/2500 → 0 DEF/2500 (10)]

 

Alastair keuchte irritiert, als er Zeuge wurde, wie der in Atlas' Brust leuchtende Energiekern sich verdunkelte und das Wesen plötzlich den Oberkörper hängen ließ und wie tot da stand.

„Der Undying hat [Centurion Atlas] ohne Tribut beschworen, obwohl keine passende Energiequelle vorhanden ist, weshalb die Stärke seines Monsters auf 0 fällt.“ Allerdings zeigte Stoltz bereits eine Zauberkarte vor, die dies ändern sollte. „Aber das ist nur ein Vorteil, denn er kann dadurch [Age Of Change] aktivieren, die die Stärke eines Monsters verdoppelt, wenn seine Angriffskraft auf 0 reduziert wurde. Zusätzlich fügt es durchschlagenden Kampfschaden zu.“

Mit einem Ruck richtete sich Atlas wieder auf. Der Kern in seiner Brust leuchtete nun bedrohlich rot.

 

Centurion Atlas [ATK/0 → 5000 DEF/2500 (10)]

 

„Centurions können allerdings nur angreifen, wenn der Undying eine verdeckte Zauber- oder Fallenkarte als Kompensation anbietet. Alles hat seinen Preis“, kicherte Stoltz und setzte eine Zauberkarte, die vor ihm erschien und sich sofort auflöste, „doch manchmal zahlt das Schicksal ihn zurück.“

Ganz zu Alastairs blankem Entsetzen materialisierte sich die eben geopferte Karte zurück aufs Feld.

„[Age Of Wonders] setzt sich zurück aufs Feld, wenn sie durch einen Karteneffekt des Undying auf den Friedhof gelegt wurde.“ Stoltz grinste und streckte die Hand aus. „Und nun erlebe den Zorn eines Undying am eigenen Leib! Angriff!“

Im rot leuchtenden Auge des Zentauren sammelte sich Energie an, die dieser in Form eines gebündelten Strahls auf [Vylon Delta] gerichtet entlud. Dieses wurde getroffen und explodierte in einem ohrenbetäubenden Knall. Seine Trümmerteile gingen wie ein Regen nieder und schlugen unter anderem in das Dach des Waisenhauses ein. Alastair wurde von der Druckwelle auf den Boden gepresst und schrie fassungslos, als er die Zerstörung mit ansah, die sein Monster gebracht hatte.

„Nein!“

Ein herabfallendes, spitzes Teil drohte ihn aufzuspießen, doch Alastair rollte sich instinktiv zur Seite und entging seinem sicheren Tod in letzter Sekunde. Dann zersprangen die umliegenden Trümmerteile.

 

[Alastair: 4000LP → 1800LP / Stoltz: 4000LP]

 

Zufrieden grinste Stoltz und legte seinen Kopf schief. Dabei griff er eine Karte aus seinem Blatt und setzte sie neben [Age Of Wonders] verdeckt, wo jene sich dann auch materialisierte.

„Der Undying beendet seinen Zug. Armer kleiner Dämonenjäger, erkennt er doch den Ernst der Lage nicht.“

Er spielte darauf an, dass der inzwischen aufgeraffte Alastair mehr mit den Schäden an Haus und Hof der Anstalt beschäftigt war, denn mit seinem eigenen Wohlbefinden.

„Du Monster!“, bellte er und wandte sich an Stoltz, zeigte mit dem Finger auf ihn. „Dort drinnen sind vielleicht noch Kinder! Weißt du was geschehen könnte, wenn du mich jetzt tötest!?“

Stoltz leckte sich über die Lippen. „Der Undying ist neugierig …“

Sein Gegenüber keuchte, fassungslos vom Blutdurst der grotesken Gestalt.

 

„Draw!“, brüllte Alastair im Anschluss außer sich und riss eine Karte von seinem Deck.

Umgehend schnappte er sich eine Zauberkarte aus seinem Blatt und zeigte sie vor: „Dafür wirst du büßen! [Monster Reborn], eine Magie, die gefallene Soldaten wieder kämpfen lässt!“

Schon erhob sich über dem Hünen der riesige Mechaengel.

 

Vylon Delta [ATK/1700 DEF/2800 (7)]

 

Das Wesen war noch gar nicht vollständig erschienen, da knallte Alastair bereits ein Monster auf sein schwarzes D-Pad. „Und dieses hier wird zu deinem Untergang beitragen! Normalbeschwörung, [Vylon Stella]!“

Eine Gestalt in Form eines sechszackigen, weißen Sterns mit Armen tauchte vor dem fliegenden Delta auf. Die drei goldenen Ringe, die um jede zweite Spitze levitierten, begannen grün zu leuchten, als Alastair verkündete: „Ich stimme mein Stufe 3-[Vylon Stella] auf mein Stufe 7-Synchromonster [Vylon Delta] ein!“

Er streckte den Arm in die Höhe. Sein Stern zersprang in drei grüne Lichtringe, die der geflügelte Metallkoloss durchflog. „Infinite evil, waiting for the purge! Be the voice of his justice! Synchro Summon! Purify this twisted world! [Vylon Ultima]!“

Ein greller Blitz schoss durch die Ringe, als Delta den letzten passiert hatte.

Die neue Kreatur stellte alles in den Schatten. War das vorherige Synchromonster schon groß gewesen, machte Ultima seinem Superlativ alle Ehre. Es kreiste mit seinem langen, kreuzartigen Körper um Alastair, bis es über diesem verharrte. Insgesamt sechs mechanische Schwingen hielten es in der Luft, der Querbalken des Kreuzes war gleichzeitig das massive Paar goldener Arme. Aus ebendiesem Edelmetall war auch das Kragengestell, das um den kugelrunden, einäugigen Kopf des Wesens aufgebaut war, welcher auf der Spitze der Figur saß.

 

Vylon Ultima [ATK/3900 DEF/3500 (10)]

 

Ein funkelnder Lichtschimmer stieg von Alastair aus in die Höhe. „Der Effekt von [Vylon Stella] aktiviert sich jetzt, wodurch ich mein Leben um 500 verringere, um es zu einer Ausrüstungsmagie für Ultima zu machen.“

Jenes verschwand in einer der Schwingen des Wesens, welche rot aufzuleuchten begann.

 

[Alastair: 1800LP → 1300LP / Stoltz: 4000LP]

 

Alastair zeigte mit einem Schlag gleich drei Ausrüstungszauberkarten von. „Nun werde ich mit diesen Magien [Vylon Ultima] zu weiterer Macht verhelfen! [Vylon Material], die es um 600 Punkte stärkt, [Vylon Filament] und [Vylon Segment]!“

Drei weitere grelle Lichter flogen von der Duel Disk des ehemaligen Dämonenjägers in die einzelnen Schwingen des Monstrums, wodurch nunmehr nur noch zwei derer nicht rötlich leuchteten.

 

Vylon Ultima [ATK/3900 → 4500 DEF/3500 (10)]

 

„Jedes Mal, wenn [Vylon Ultima] eine Ausrüstungsmagie erhält, versiegelt es für beide Spieler eine Beschwörungsart“, erklärte Alastair, „und ich benenne Xyz-, Synchro-, Fusions- und Tributbeschwörung! Doch das spielt im Moment keine Rolle.“

Stoltz reckte den Kopf auf seinem dürren Hals im Takt von links nach rechts und zurück, wobei es gelegentlich unangenehm knackte. Dabei grinste er still vor sich hin. Alastair verzog von diesem Verhalten angewidert den Mund, streckte aber zielstrebig den Arm aus. „Mein Monster wird deines jetzt attackieren! Und du wirst nichts dagegen tun können, da [Vylon Filament] während eines Kampfes Aktivierungen deiner Karten unterbindet! Holy Extermination Beam!“

Zwischen seinen Händen bündelte Ultima eine rote Lichtsphäre, aus der ein greller Strahl abgeschossen wurde. [Centurion Atlas] konterte, indem er aus seinem Auge einen eigenen Laserstrahl abfeuerte, welcher ohne Probleme den seines Widersachers zurückdrängte und in jenen einschlagen ließ. Alastair wurde von der dadurch entstandenen Druckwelle erwischt, hielt sich schützend den Arm vors Gesicht. „Ugh!“

 

[Alastair: 1300LP → 800LP / Stoltz: 4000LP]

 

Über ihm explodierte Ultima und verschwand in einer Rauchwolke. Genau in dem Moment schwang Alastair den Arm aus. „Effekt meiner Kreatur! Bevor sie zerstört wird, werden zunächst alle Ausrüstungsmagien geopfert! Gleichzeitig aktiviert sich [Vylon Stellas] Fähigkeit: nach einem Kampf wird der Feind automatisch vernichtet, wenn Stella als Ausrüstungsmagie für eines meiner Monster diente.“

Der Qualm verzog sich und unbeschadet schwebte Ultima über seinem Herrn, auch wenn seine Schwingen verdunkelt waren. Es absorbierte den letzten Rest von [Centurion Atlas'] Angriff in der roten Sphäre zwischen seinen Händen und feuerte mit nun doppelter Wucht erneut auf den riesigen Maschinenzentaur. Und diesmal hatte der nichts entgegen zu setzen und ging nach dem Treffer in seiner Brust lichterloh in Flammen auf, ehe er unter einem unsäglich lauten Donnern explodierte. Dieses Mal war es Stoltz' Spielfeldseite, die in Rauch eingedeckt wurde.

Alastair führte derweil seinen Zug ungerührt fort und zeigte die drei Ausrüstungszauberkarten, die er auf den Friedhof schicken musste. „Wenn eine Vylon-Magie zerstört wird, kann ich mit ihrer Fähigkeit eine weitere aus meinem Kartenstapel meiner Hand hinzufügen. Kurz gesagt ersetze ich damit die drei verlorenen Magien einfach durch exakt dieselben Exemplare!“

Mit einem siegessicheren Schmunzeln suchte sich Alastair [Vylon Material], [Vylon Segment] und [Vylon Filament] aus seinem Deck und rüstete sie alle an Ultima aus. Drei seiner Schwingen leuchteten nun wieder, nur [Vylon Stella] fehlte jetzt, da dieses verbannt werden musste, sobald es als Ausrüstungsmagie nicht länger gebraucht wurde.

Alastair erklärte abschließend: „Nun versiegele ich erneut verschiedene Beschwörungstechniken. Synchro-, Xyz- und Tributbeschwörung sollen es sein.“

Dazu schob er seine letzte Handkarte in einen Backrow-Slot seines D-Pads. Die Falle materialisierte sich vor seinen Füßen. „Nun wird es schwer für dich, etwas zu beschwören, das [Vylon Ultima] übertrumpfen kann. Mein Zug ist beendet!“

 

Vylon Ultima [ATK/4500 DEF/3500 (10)]

 

Genau in jenem Moment lichtete sich auch der Rauch auf Stoltz' Spielfeldseite und zu Alastairs Schrecken war dort etwas. Ein kleiner, hellblau leuchtender Zylinder.

Sein Gegner kicherte böse. „Wenn ein Centurion versagt, hinterlässt es seine Energiequelle für die Nachwelt.“

 

Centurion Core-Spielmarke [ATK/0 DEF/0 (10)]

 

Eine Schweißperle rann über Alastairs Stirn. Umso grimmiger wurde sein Ausdruck, als sein mumifizierter, halb androidischer Gegner leise kichernd zog und aufsah. „Dank der neuen Energiequelle ist es dem Undying nun möglich, Centurions als Normalbeschwörung zu rufen, ohne dass sie dabei ihre Stärke verlieren. Also ruft er [Centurion Meridias]!“

Die Erde gab nach, als sich ein Riese aus dunklen Partikeln bilde und niederkniete. Wie Atlas bestand auch er aus tausenden winziger Kuben, die seinen Körper formten. Dabei setzte sich der blaue Zylinder, welchen Stoltz meinte, wie von Zauberhand in seine Brust ein. Mit beiden Händen hielt der rotäugige Gigant dabei eine Kugel fest, die auf seinem Rücken lagerte und aus horizontal und vertikal verlaufenden, blauen Energielinien bestand. Alastair verfolgte angespannt, wie dessen Gewicht sich auf den Hof des Waisenhauses auswirkte, welcher zunehmend nachgab.

 

Centurion Meridias [ATK/2400 DEF/2700 (10)]

 

Stoltz streckte die flache Hand aus. „Einmal pro Zug ist es dem Undying erlaubt, mit dem Effekt des [Centurion Meridias] ein Centurion aus dem Deck auf seine Hand zu erhalten, doch am Ende des Zuges muss er eine Karte abwerfen.“

Aus denselben Partikeln, die zuvor Meridias gebildet hatten, entstand nun eine Duel Monsters Karte, die über Stoltz' Hand schwebte und welche jener sich schnappte. „Die Wahl des Undying fällt auf [Centurion Hemis]. Und um es zu beschwören, aktiviert er die Zauberkarte [Lost Age]. Er opfert die Energiequelle, um für diesen Zug ein Centurion ohne Tribut und Werteverlust als zusätzliche Normalbeschwörung beschwören zu können.“

Der Zylinder innerhalb der Brust des Riesen löste sich auf. Alastair hörte ein unangenehmes, hohes Surren und sah nach oben. Über Stoltz und Meridias flog eine Art goldene Kugel, aus der genau in der Mitte zwei lange Tragflächen ragten, die nach hinten verliefen. Ebenso befand sich an ihrer Unterseite etwas, das wie ein Teleskop aussah und sich automatisch auf Alastair richtete. Dieser erkannte darin ein orangefarbenes Auge leuchten.

 

Centurion Hemis [ATK/2600 DEF/2800 (10)]

 

Stoltz beugte sich vor und streckte die langen, spindeldürren Arme aus. „Na, fühlt der ehemalige Dämonenjäger schon die Furcht?“

Alastair wollte nicht antworten. Nicht weil es ihm peinlich war, denn ja, er empfand Angst – Angst um die Kinder, die sterben könnten, wenn er diesen Irren nicht zurecht wies. Nein, solchen Wesen gestand er nicht zu, durch Emotionen Besitz von ihm zu ergreifen. Stoltz war das, was Alastair als Dämonen bezeichnete. Und denen schuldete er keine Antwort.

„Kehehe … der Narr glaubt, durch Schweigen den Undying belügen zu können“, gurrte Stoltz und schnüffelte mit seiner verkümmerten Nase, „doch der riecht es. Die Angst. Der Duft unterscheidet sich nicht von denen, die Angst um das Wohl ihres Planeten haben.“

„Geht es dir darum!? Was tun Anya und Matt, um dieses Wohl zu gefährden!?“, verlangte Alastair zu wissen.

„Siegel brechen“, lautete die knappe Antwort, „und der Dämonenjäger sollte wissen, warum man das nie tun sollte, egal was versiegelt wurde. Es hat immer einen Grund.“

Stoltz richtete sich wieder auf. Sein verspielter Ton wurde merklich härter. „Doch den soll er nie erfahren. Der Undying aktiviert den Effekt von [Centurion Hemis]. Durch das Abwerfen einer Handkarte kann es direkt angreifen. Stirb, Helfer des Chaos!“

Es traf Alastair so unvorbereitet, dass er sichtlich zusammenzuckte. Die linke gesetzte Karte von Stoltz löste sich plötzlich auf und der erklärte abermals: „Centurions brauchen viel Energie zum Angreifen, deshalb opfert der Undying [Age Of Wonders], welches sich durch dessen eigenen Effekt zurück aufs Feld setzt.“

Wie sie verschwunden war, so setzte sich die Karte wie durch Zeitumkehr wieder vor Stoltz' Füßen zusammen. Dann leuchtete es nur noch grell und ein roter Lichtstrahl schoss von der Kanone der geflügelten Goldkugel auf Alastair herab. Eine Explosion folgte.

„Der Dämonenjäger hat sicher nicht damit gerechnet, dass keine Karte einen Centurion aufhalten kann, wenn dieser erst angreift“, gurrte Stoltz wieder diabolisch süßlich, „bestimmt hat er-“

„Nein, ich wusste es!“

Der Rauch verzog sich und Alastair stand unbeschadet vor seiner aufgedeckten Falle [Delta Shield] und genau wie auf dem Artwork, hatten drei fliegende Drohnen ein dreieckiges Kraftfeld über ihm erschaffen, das den Angriff abgewehrt hatte.

So verging Stoltz das Grinsen schlagartig. „Er missachtet die Regeln …?“

„Nein, aber Matt hat mir genau erzählt, wie ihr Duell mit dir abgelaufen ist“, widersprach Alastair, „und so wusste ich, dass ich die Karte vor dem Angriff aktivieren muss. Dank [Delta Shield] bleibt mein Monster bis zur End Phase dank seiner hohen Stufe nicht nur vor all deinen Tricks sicher, nein, ich habe auch den Schaden abgewehrt und darf eine Karte ziehen.“

Was der schwarzhaarige Hüne auch tat und dabei zufrieden lächelte.

Ganz zu Stoltz' Ärgernis, welcher einen deutlich schlechter gelaunten Tonfall annahm. „Keiner entkommt den Undying auf Dauer. [Centurion Hemis] wechselt nach Nutzung seines Effekts in die Verteidigungsposition.“

Die Tragflächen und das Laserteleskop wurden in das Innere der Sphäre hineingezogen, die sich nun vollkommen zu einer perfekten Kugel umfunktionierte.

 

Centurion Hemis [ATK/2600 DEF/2800 (10)]

 

„Da der Undying keine Karten mehr auf der Hand hält, kann er auch keine solche mehr abwerfen“, sagte jener wieder beherrschter, „so gilt sein Zug als beendet.“

Alastair war bewusst gewesen, dass Stoltz versuchen würde, den Effekt von [Centurion Meridias] zu umgehen. Das taten sie doch alle.

 

Der Hüne warf einen besorgten Blick zur Seite, betrachtete das Waisenhaus. So wie er Alector kannte, musste der hoffentlich bemerkt haben, dass sein Bannkreis durch Alastair verstärkt wurde, selbst wenn er ihn nicht sehen konnte. Ein alteingesessener Dämonenjäger wie dieser alte Kauz musste doch längst dabei sein, die Kinder zu evakuieren, besonders in seinen letzten Atemzügen. Alector hatte immer für dieses Waisenhaus gekämpft und würde bis zum Ende dafür sorgen, dass keinem Kind ein Leid geschah. Sie waren bereits auf der Flucht, sie mussten einfach!

Auch fragte sich Alastair, was er tun sollte, wenn er Stoltz besiegt hatte. Gefangen nehmen mithilfe des Bannkreises? War dies überhaupt auf Dauer möglich und wenn nicht, wäre er dann dazu gezwungen, ihn entkommen zu lassen? Was wiederum nur bedeutete, dass dieser Bastard erneut angreifen würde, womöglich mit fatalen Folgen. Alastair durfte nicht zulassen, dass Matt, Anya oder jemand anderes zu Schaden kam. Musste er dann dafür …?

Ohne es zu realisieren, griff der Hüne in die Innentasche seines roten Mantels, zog daraus ein Wurfmesser und schleuderte es geschickt in Stoltz' Richtung. In dessen linker Brusthälfte blieb es stecken, hatte die dünne, weiße Panzerung mühelos durchbohrt. Stoltz sah an sich herab, dann grinste er über beide Backen.

„Es steckt wohl doch noch etwas Dämonenjäger in ihm. Er wollte sicher testen, ob ein Undying wirklich unsterblich ist.“ Als würde er den ultimativen Beweis erbringen, zog Stoltz die Klinge heraus und ließ sie fallen. Kein Blut.

Der Schwarzhaarige wusste in dem Moment nicht, ob ihm nun heiß oder kalt war. Das Loch schloss sich vor seinen Augen einfach von selbst. Dort, wo das Herz sein musste.

 

„Draw!“, rief Alastair ärgerlich und riss eine Karte von seinem Deck, während bei Stoltz immer lauter werdendes, höhnisches Gelächter einsetzte.

„Es gibt nichts, das einen Undying töten kann“, flötete jener.

„Nicht alles muss mit dem Tod enden“, widersprach Alastair, „Unsterblichkeit ist kein Geschenk, sondern ein Fluch. Das werde ich dir beweisen!“

Während er aus seinem zwei Karten starken Blatt einen Zauber herausnahm, überlegte er, welche Tricks Stoltz lange genug beschäftigen würden, um zumindest Alector etwas Extrazeit zu verschaffen. Doch das Problem war, dass Alastair keinen seiner Dämonenjägerzauber dabei hatte, schließlich war er seit Monaten nicht mehr interessiert daran gewesen, jene mit sich zu führen, geschweige denn neue herzustellen. Diesbezüglich war er unbewaffnet, abgesehen von dem Messer, das er geworfen hatte und zu Selbstverteidigungszwecken mit sich führte.

„Magiekarte, [Vylon Matter]“, raunte er aufgeregt ob dieser ernüchternden Erkenntnis, „ich mische drei Ausrüstungsmagien von meinem Ablagestapel in meinen Kartenstapel, um entweder eine Karte zu ziehen oder eine auf dem Feld zu zerstören.“

Zunächst die Kopien von [Vylon Material], [Vylon Filament] und [Vylon Segment] aus seinem Friedhof nehmend und ins Deck schiebend, schwang Alastair im Anschluss wie ein Richter den Finger aus und zeigte auf Stoltz' linke gesetzte Karte. Der verstummte in seinem Spott schlagartig.

„Diese da ist die wahre Energiequelle deiner Centurions“, brachte Alastair es auf den Punkt, „dauernd Karten für Angriffe zu opfern würde deine Ressourcen im Nu erschöpfen. Solange du jedoch [Age Of Wonders] hast, ist das kein Problem. Damit ist jetzt Schluss!“

Von der Fingerspitze des Hünen entlud sich ein Blitz, der auf Stoltz' gesetzte Karte geschleudert wurde und diese in tausend Stücke zerbersten ließ. Zu Alastairs Entsetzen sprang schon im nächsten Augenblick die rechte Karte seines Gegners auf, eine Falle namens [Age Of Grotesque].

„Er überschätzt seine Fähigkeiten“, gurrte Stoltz, „jedes System hat seine Schwächen, auch der Undying ist sich dessen bewusst und hat dementsprechend vorgesorgt. Nicht nur setzt [Age Of Grotesque] die verlorene Karte wieder zusammen, nein, sie verbannt nun auch ein Monster des Feindes!“

Genau wie Alastair einen Moment zuvor, streckte der Bandagierte seinen langen, dürren Finger aus und schoss einen Kugelblitz auf [Vylon Ultima] ab. Und sorgte dafür, dass diesmal Alastair in höhnisches Gelächter ausbrach, da besagter Kugelblitz einfach abprallte.

„Nicht nur du sorgst vor. [Vylon Segment] schützt Ultima davor, das Ziel von Monsterkarten- und Falleneffekten zu werden“, erklärte der Hüne triumphierend. „Diese Kreatur wirst du nie wieder los.“

Trotzdem war sein Versuch fehlgeschlagen, die wahre Energiequelle der Centurions zu vernichten, dachte Alastair ärgerlich und wischte sich mit dem Ärmel seines Mantels über die Stirn.

„Im Gegenteil, gleich hast du zwei von der Sorte am Hals!“, versprach er grimmig. „Ich aktiviere meine letzte Handkarte, die Magie [Battle Waltz], die eine perfekte Kopie eines meiner Synchromonster erschafft!“

Eine durchsichtige Silhouette Ultimas schoss aus jenem nach rechts und verfestigte sich dort zu einer absolut identischen Kopie der riesigen, kreuzförmigen Engelsmaschine, von denen Alastair nun zwei kontrollierte.

 

Waltz-Spielmarke [ATK/4500 DEF/3500 (10)]

 

„Der einzige Unterschied zu seinem Original ist, dass die Nachahmung keinen Effekt besitzt und ebenso keinen Kampfschaden zufügen kann“, erklärte Alastair und streckte die Hand aus, „aber da du sowieso nur ein Monster in Angriffsposition besitzt, macht das nichts! Los meine Ultimas, doppelter Angriff auf seine Kreaturen. Holy Extermination Beam!“

Gleichzeitig bündelten die beiden Maschinenwesen zwischen ihren massiven Händen rote Sphären, aus denen sie Laserstrahlen abfeuerten. Zuerst wurde die goldene Kugel am Himmel getroffen, die lautstark explodierte. Dann wurde der Riese vom originalen Ultima zerfetzt. Alastair schnaubte dabei, denn da er sein übliches Equipment nicht benutzte, fügte er Stoltz auch keinen realen Schaden zu.

 

[Alastair: 800LP / Stoltz: 4000LP → 1900LP]

 

Jener wusste das nur zu gut und grinste hämisch. Als die letzten Trümmer sich auflösten, schwebten vor ihm zwei blau leuchtende Zylinder – die Überbleibsel seiner Centurions.

 

Centurion Core-Spielmarke x2 [ATK/0 DEF/0 (10)]

 

Alastair runzelte die Stirn. Er hätte mit Ultimas Effekt die generellen Spezialbeschwörungen versiegeln müssen, dann wäre Stoltz nicht imstande, dauernd Spielmarken zu beschwören. Aber dann wäre er auch nicht in der Lage gewesen, [Battle Waltz] zu aktivieren. Trotzdem, hätte er das früher gewusst … aber vermutlich war Matt gar nicht so weit gekommen, diesen Nebeneffekt der Centurions kennenzulernen, sonst hätte er ihm sicher davon berichtet.

Aus Ermangelung an Handkarten knurrte der Hüne: „Ich gebe ab.“

 

Sein Gegner bewegte seine dürren Finger hin und her, als er nach seinem Deck griff, als könne er es kaum abwarten zu sehen, was er ziehen würde. Als er sich die gezogene Karte dann ansah, kicherte er und zeigte sie vor. „Der Undying aktiviert [Age Of Miracles]. Sie lässt ihn eine Karte ziehen, wenn sich ein Centurion auf seinem Friedhof befindet. Aber mehr noch, er kann dazu Monster der Stufe 10 opfern, um für jedes eine weitere Karte dazu zu addieren.“

Einer der Zylinder vor Stoltz löste sich in blauen Funken auf. Das nahezu vollständig einbandagierte Wesen zog daraufhin zwei Karten von seinen Deck, die er im Anschluss sofort vor sich setzte, je eine rechts und links neben der verdeckten [Age Of Wonders]-Zauberkarte, die Alastair nach wie vor ein Dorn im Auge war.

„Der Undying beendet seinen Zug damit“, gab jener mit seinen drei verdeckten Karten und leerer Hand ab.

 

Gerade wollte Alastair ziehen, da spürte er einen heftigen Schmerz in seiner Brust und verkrampfte. In gebeugter Haltung fasste er sich an die Stelle, wo sein Herz lag, die Augen weit aufgerissen.

„Alector ist …“

Es war, als würde eine unsichtbare Macht ihn erdrücken wollen.

Passend dazu wurde der quaderförmige Bannkreis, der den Hof des Waisenhauses einschloss, von heftigen Fluktuationen heimgesucht. Es entstanden Risse in der grünen Schicht, die sich nur sehr langsam von selbst wieder schlossen, aber gleich wieder aufplatzten. An anderen Stellen flackerte er auf, dann fraßen sich regelrechte Löcher in ihn hinein.

Alastair legte die Hände aufeinander und konzentrierte sich. Ein Bannkreis war menschengemachte Magie. Besonders talentierte Jäger konnten sie auch ohne Karten als Katalysator wirken. Der Hüne gehörte zu ihnen. Er musste seine Energien darauf fokussieren, die Lücken zu schließen, sonst würde die Zerstörung, die in dieser künstlichen Zwischendimension entstanden war, die Realität heimsuchen.

„Leb' wohl“, murmelte er dabei leise.

Es bestand kein Zweifel daran, dass Alectors Tod den Bannkreis instabil gemacht hatte. Nun lag die Verantwortung für diesen allein auf Alastairs Schultern. Eine, die umso schwerer wog, da er sich gleich um zwei Bannkreise kümmern musste.

„Ich hoffe, du hast die Kinder in Sicherheit bringen können.“

„Des Narren letzter Herzschlag ist vorüber. So wie der dieses Menschlings im Antlitz des Undying.“

Hasserfüllt sah Alastair auf. „Du wirst mich niemals unterwerfen, dämonische Brut!“

Zunehmend schlossen sich die Risse und Löcher durch dessen Einwirken, bis der Bannkreis seine ursprüngliche, stabile Form zurückgewonnen hatte.

 

Keuchend griff Alastair nach seinem Deck und riss in einer schwungvollen Bewegung die oberste Karte fort. In der Bewegung schwang sein schwarzer Zopf mit, der narbengesichtige Hüne warf nur einen kurzen Blick auf die Karte, ehe er den Arm ausstreckte.

„Ich befehle meiner Ultima-Kopie den Angriff! Holy Extermination Beam!“

Der kreuzförmige Mechaengel rechts von Alastair aus gesehen konzentrierte zwischen seinen Händen eine rote Energiesphäre, aus der er einen grellen Strahl abfeuerte. Stoltz' verbliebener Energiekern wurde zerfetzt, doch dessen Besitzer bedauerte dies nicht im Geringsten – er grinste unentwegt, wie er es immer tat.

Indes hielt Alastair den Arm weiterhin aufgerichtet nach vorn und zeigte mit dem Finger auf Stoltz. „Dies ist deine Niederlage, Undying! Direkter Angriff, [Vylon Ultima]! Holy Extermination Beam!“

Das Original tat es ihrer Kopie gleich und bündelte eine Kugel aus roter Energie, welche ihrerseits einen mächtigen Lichtstrahl abfeuerte. Jenem sah Stoltz geradezu sehnsüchtig entgegen.

„Falle!“, rief er und ließ eine seiner drei verdeckten Karten aufklappen. „[Ultima Ratio]! Der Undying zahlt die Hälfte seiner Lebenspunkte, um ein Rang 10-Monster von seinem Extradeck zu beschwören und ein Centurion auf seinem Friedhof zu dessen Xyz-Material werden zu lassen.“

Alastair schwang energisch den Arm aus. „Unmöglich, [Vylon Ultima] unterbindet jegliche Xyz-Beschwörungen!“

„Aber das ist keine“, kicherte Stoltz. „Also wähle ich [Centurion Atlas] als Xyz-Material.“

 

[Alastair: 800LP / Stoltz: 1900LP → 950LP]

 

Sein Gegner ließ den Arm sinken. Die Erde bebte. Dann schoss etwas aus ihr, weit hinter Stoltz entfernt hervor. Ein riesiges schwarzes Gebilde, höher als jedes Monster, das Alastair kannte. Zehn Meter, zwölf Meter, immer größer wurde es. Die Bäume des angrenzenden Waldes wurden ausgerissen, Erde, Steine, Dreck, alles was über dieser Kreatur gelegen hatte wurde aufgewühlt, flog im hohen Bogen durch die Luft. Das Waisenhaus wurde von einem fliegenden Baum durchbohrt, was Alastair einen entsetzten Schrei entlockte. Steine und aufgerissene Erde schlugen neben ihm ein.

Und da stand er, der Riese, schwarz wie die Nacht. Aus massiven, glänzendem Gestein geformt, Arme und Beine so breit wie der Schuppen des Waisenhauses. Zwei Köpfe besaß er, ohne einen Hals ragten sie direkt aus den Schultern der Kreatur. Jedoch leuchte nur eines der Augenpaare goldgelb auf.

„Der [Centurion Titan] ist all seinen Feinden erhaben“, kicherte Stoltz bösartig.

 

Centurion Titan [ATK/4000 DEF/3500 {10} OLU: 1]

 

Alastair musste seinen Kopf in den Nacken legen, um das Monstrum in seiner ganzen Größe zu erfassen. Dieses reichte bis an den Rand des Bannkreises und vermutlich würde es noch darüber hinaus wachsen, wenn es nur könnte.

Ruckartig wandte sich Alastair an seinen Gegner. „Ein beeindruckender Anblick, fürwahr. Aber er hat ein wesentliches Manko! Er ist zu schwach! [Vylon Ultima], zerstöre ihn! Holy Extermination Beam!“

„Heh …“

Nachdem ihr erster Angriff einfach vor Stoltz verpufft war, feuerte die Engelsmaschine im Anschluss gleich einen weiteren ab. Dieser sauste mehrere Meter über den Undying hinweg und schlug direkt in der Brust des Titanen ein. Bis auf ein paar schwarze Steinbrocken, die aus seinem Körper brachen, geschah jedoch gar nichts.

 

[Alastair: 800LP / Stoltz: 950LP → 450LP]

 

„Der [Centurion Titan] ist im Kampf unzerstörbar, solange er sich in Angriffsposition befindet“, ließ Stoltz verlauten und begann hysterisch zu lachen, warf zwischendurch ein: „wer wird an wem scheitern, fragt der Undying?“

„Meine einzige Karte setze ich verdeckt! Zug beendet!“

Vor Alastair materialisierte sich jene Falle. Dem Hünen stand der Schweiß auf der Stirn: er war nur noch einen Angriff vom Sieg entfernt, doch was kam dann? Wäre es richtig zu fliehen? Nicht, solange er nicht sichergestellt hatte, dass alle evakuiert waren!

 

Stoltz derweil zog auf und kicherte noch immer unentwegt hämisch. Er streckte seinen langen, dürren Arm aus und ließ seine Handfläche über eine seiner verdeckten Karten gleiten. „Der Undying aktiviert [Age Of Wonders]. Sie stellt nicht nur eine Energiequelle für Centurions dar, sondern auch für ihren Herren. So heilt sie diesen auf Befehl um 1000 Lebenspunkte.“

Die Karte löste sich in grünen Partikeln auf, welche von Stoltz' hageren Körper aufgenommen wurden.

 

[Alastair: 800LP / Stoltz: 450LP → 1450LP]

 

Er gibt freiwillig eine seiner wichtigsten Karten auf, wunderte sich Alastair. Das verhieß gewiss nichts Gutes.

Und er sollte richtig liegen, denn Stoltz streckte seinen langen Arm gen Himmel. „Erfahre den Zorn des Titanen! Der Undying aktiviert seinen Effekt! Im Austausch für 1000 Punkte seines Lebens und ein Xyz-Material vernichtet der Titan jede andere offene Karte auf dem Spielfeld, indem er die Hälfte seiner Macht opfert. Leide. Leide!“

Alastair weitete die Augen. An einigen Stellen platzten Stoltz' Bandagen ab, tiefe Risse schnitten sich in seinen Körper und verheilten sofort wieder. Dazu begann um ihn herum eine durchsichtige Aura zu entbrennen, die zunehmend dafür sorgte, dass er vor Alastairs Auge verschwamm. Gleichzeitig trat aus dem Kopf mit dem leuchtenden Augen eine gleißende Energiesphäre aus, welche [Centurion Titan] zu umkreisen begann.

„Leide!“

 

[Alastair: 800LP / Stoltz: 1450LP → 450LP]

 

Die Lichtkugel wurde von dem Titanen mit seiner Faust geschnappt und zerquetscht. Dann begann gleißendes Feuer um sie zu schlagen, ehe der Centurion ausholte und [Vylon Ultima] anpeilte.

 

Centurion Titan [ATK/4000 → 2000 DEF/3500 {10} OLU: 1 → 0]

 

Alastair spürte den Windzug, der ihm entgegen kam. Dann prallte die gigantische Faust zunächst auf die Kopie seines Ultimas, welche sich schützend vor das Original positioniert hatte. Doch sie gab der gewaltigen Kraft umgehend nach und zersprang, sodass als Nächstes das richtige Synchromonster an der Reihe war. Die Engelsmaschine über ihm wurde von der flammenden Faust erfasst, hielt dem Druck aber stand. Jedoch wurde dadurch eine Druckwelle erzeugt, die den Hünen fortschleuderte. Dabei rief er noch: „Nicht so schnell! Effekt [Vylon Ultimas]! Bevor er zerstört wird, werden all seine Ausrüstungs-!“

„[Declaration Of The Maker]. Ein beliebiger Effekt wird mit der Macht der Centurions unterbunden.“

Noch während Alastair in den Schuppen hinter ihm einschlug, sah er von Stoltz' Finger ausgehend einen Lichtblitz Richtung Ultima schießen, welcher jenes Wesen traf. Vor dem Undying stand seine letzte Falle aufgeklappt. Die kreuzförmige Engelsmaschine leuchtete kurz bläulich, dann löste sie sich auf wie Papier, das in ein Kaminfeuer gehalten wurde.

 

Der ehemalige Dämonenjäger wurde durch die hölzerne Wand des Schuppens geschmettert und krachte in den Kaninchenstall, der sich in dessen Innerem befand. Halb liegend, gab er dem metallischen Geschmack auf seinen Lippen nach und spuckte Blut.

Er raffte sich auf, knickte aber wieder ein und stieß gegen die Ställe. Erst jetzt bemerkte er, dass sich ein Stück Holz durch den Unterschenkel seines rechten Beins gebohrt hatte. Während er hinab sah, spürte er nur einen leichten Windzug.

Stoltz stand direkt vor ihm. „He he …“

„Ich bin noch nicht … am Ende“, keuchte Alastair. „Ich aktiviere den Effekt vo-!“

Ehe er das tun konnte, führte der über zwei Meter große Undying mit seiner Hand eine ausholende, quer verlaufende Bewegung aus. Die Augen des Dämonenjägers folgten ihr und wanderten dann dorthin, wo sein D-Pad war. Nur dass dieses zusammen mit einem großen Stück seines Unterarms fehlte und stattdessen auf dem Boden lag. Blut spritzte.

Alastair öffnete den Mund, doch Stoltz kam ihm zuvor. „Und wie will der Menschling das tun?“

„Du elender-!“

„Das Gesetz der Undying ist absolut“, sagte ebenjener unter einem süffisanten Grinsen, „jeder, der es bricht, wird bestraft. Die ewige Ordnung muss gewahrt werden. Wer sie gefährdet, kann keine Gnade von den Undying erwarten.“

Stoltz sah gebieterisch auf seinen verstümmelten Gegner herab. „Die Warnung ist ausgesprochen. Der [Centurion Titan] wird nun das Ende herbeiführen.“

Mit diesen Worten verschwand Stoltz so schnell vor Alastairs Augen, wie er gekommen war.

 

Stille. Dann das ohrenbetäubende Getöse gigantischer Fäuste, die einfach alles in ihrem niederhagelnden Zorn zerstörten. Unter ihrer Wucht gab das Waisenhaus wie Pappe nach, die Erde wurde zerschmettert. Und der Schuppen.

Der Bannkreis flackerte unruhig auf, ehe er wie ein Spiegel in tausend Stücke zerbarst.

 

~-~-~

 

Das schwarze Portal schloss sich hinter Stoltz, als der magere Hüne einen kreisrunden, dunklen Raum betrat. Um ihn herum leuchteten verschiedene, holografisch dargestellte Anzeigen auf, größtenteils von hellblauer Farbe.

„Wir haben dich erwartet, Stoltz“, hallte eine weibliche, leicht mechanisch klingende Stimme zu seiner Rechten durch den Raum.

„Zed“, erwiderte Stoltz und kicherte böse, „die Undying ist auch endlich erwacht. Wie schön.“

Sein Blick war jedoch auf den Thron gerichtet, der sich inmitten des Saals befand. Auf diesem saß eine in Dunkelheit gehüllte Gestalt.

„Ricther“, säuselte Stoltz weiter belustigt, „der Undying hofft, seine Mission zur Zufriedenheit aller ausgeführt zu haben.“

Dessen Silhouette ließ zumindest erahnen, dass er ebenfalls großer Natur war, wenn auch nicht so extrem wie Stoltz. Dafür war er deutlich kräftiger gebaut.

Neben den Thron trat die Gestalt namens Zed. Es war eine Frau von normaler Statur, mit bis zum Boden hängenden, schwarzen Haar. Das Markante an ihr war nicht etwa die weiße, ärmellose Robe mit Goldverzierungen und Umhang. Nein, es war die Maske, die weit über ihren Scheitel hinausragte und wie ein Turm anmutete, der ihr gesamtes Gesicht ab den Augen verdeckte.

„Wieso bist du so spät zurück?“, fragte sie scharf.

„Die Undying weiß doch, warum. Der Undying hat ein Exempel statuiert.“ Das sagend, schloss sich sein Griff fester um das in Leinen gehüllte Bündel in seiner Hand.

„Das war nicht Teil deiner Aufgabe“, erwiderte Zed ungehalten, welcher dies nicht entgangen war. „Was ist das?“

Stoltz verneigte sich in bester Butlermanier. „Nur ein wenig Lektüre zur Unterhaltung. Der Undying entschuldigt sein Verfehlen. Es geschah in der Hoffnung, dass der Tod des Dämonenjägers Alastair van Hellsing die anderen Menschlinge davon abhalten wird, weitere Siegel zu brechen.“

„Trotzdem hattest du nicht das Recht, Unschuldige in-“

 

Ricther, der auf seinem Thron saß, hob die Hand und brachte die einzige Frau in der Runde sofort zum Schweigen. Seine tiefe Stimme hallte durch den kleinen Raum. „Was geschehen ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wenn die Warnung ihren Sinn erfüllt, wurde dadurch zumindest weiteres Blutvergießen verhindert.“

Gleichzeitig erhob sich Stoltz wieder aus seiner Verneigung und zeigte sich demütig. „Der Anführer der Undying sieht wie immer klarer als seine Hände. Er erinnert sich genau an die Regel.“

So begann der Bandagierte zu rezitieren: „Das erste gebrochene Siegel weckt die Undying. Das zweite beschwört sie zum Ort der Sünde, damit sie ihre Warnung aussprechen. Und ab dem dritten … töten sie.“

Gerade die letzten beiden Worte betonte er dabei besonders.

„Uns obliegt es, ob wir dieser Regel und allen anderen Folge leisten. Zumindest solange das Wohl der ewigen Ordnung nicht gefährdet ist“, antwortete Ricther streng, „du hast deine Mission erfüllt, Stoltz, ohne eine davon zu brechen. Geh jetzt und lade dich auf. Deine Kraft muss fast verbraucht sein.“

Sein Gegenüber nickte. „Wie der Anführer wünscht.“

Damit drehte er sich um und verließ den Raum durch eine nahezu unsichtbare Tür, die sich automatisch vor ihm öffnete.
 

Zed wandte sich umgehend an Ricther. Dabei strich sie über einen der Schläuche, die von der Decke hingen und überall am Körper des Undying angeschlossen waren.

„Was er getan hat, wird ihn tagelang außer Gefecht setzen“, sagte sie und sah zu Ricther auf, „es kommt mir vor, als wären wir nur fehlerhafte Kreaturen, die für wenige Momente-“

„Rede nicht weiter, Zed. Wir sind Undying. Wenn alles zerbricht, sind wir es, die für Ordnung im Chaos sorgen.“

„Ein Chaos, das von einem der unseren heraufbeschworen wird“, erwiderte sie und wurde nun trotz ihrer mechanisch anmutenden Stimme eindringlicher, „willst du es ihm etwa durchgehen lassen!?“

„Er hat keine der Regeln gebrochen, auch wenn sein Vorgehen nicht ideal war.“ Ricthers Stimme wurde leiser und gewann einen nachdenklichen Ton. „Du wirst ihn im Auge behalten, während ich abwesend bin. Ich will über alles, was er tut, im Bilde sein.“

Die Frau an seiner Seite nickte. „Dann hast du es auch bemerkt. Dass er sich verändert hat … blutrünstiger geworden ist.“

„Noch ist es zu früh, um ein Urteil zu fällen. Stoltz' gesamte Natur unterliegt seiner Herkunft. Und ein unendlich scheinender Schlaf kann selbst die stärksten Geister aus dem Gleichgewicht bringen.“ Ricther drehte seinen Kopf zu Zed. „Aber wenn er jenes nicht wiederfindet, werde ich da sein. Und ein Urteil fällen. Denn das ist meine Aufgabe.“

 

 

Turn 51 – Into The Abyss

Während Anya und Co den Weg zur Heimreise antreten, bringen Nicks Recherchen erschreckende Erkenntnisse zutage. Darüber hinaus erhält er einen Brief von Kali, die ihn auffordert, sie in einer leer stehenden Lagerhalle zu treffen. Eine Falle witternd, macht Nick sich dennoch auf den Weg …

Turn 51 - Into The Abyss

Turn 51 – Into The Abyss

 

 

Man konnte es geradezu als Hämmern bezeichnen, wie Anya in die Tasten des öffentlichen Münztelefons schlug, welches sich vor dem beschaulichen kleinen Bahnhof von San Augustino befand. Matt und Zanthe warteten mit gepackten Koffern an der Treppe, die direkt zum Bahngleis führte.

Angespannt hielt Anya sich den Hörer ans Ohr, war sie schließlich erst jetzt dazu gekommen, Nick anzurufen. Und es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis der sich bequemte abzunehmen.

„Das hat aber gedauert“, hörte sie ihn schnarren.

Die Blondine runzelte ärgerlich die Stirn. „Woher willst du wissen, dass ich es bin?“

„Habe ich das etwa behauptet? Aber schön, dass du es trotzdem bist. Wie ist es gelaufen?“

Anya sah am Telefon vorbei zu ihren beiden Begleitern, deren Blessuren für das bloße Auge zwar nicht mehr sichtbar, deswegen aber noch längst nicht vergessen waren. Anya mahlte mit dem Kiefer. „Ich würde sagen nicht so gut.“

„Hast du die Karte etwa nicht?“

„Doch, das schon“, erwiderte sie zögerlich, „aber der Typ ist jetzt so'n bisschen … tot.“

Es dauerte einen Moment, bis Nick reagierte. Ziemlich geschockt, sogar für seine Verhältnisse. „Er ist -was-!?“

„Zu Staub zerfallen.“ Anya zuckte mit den Schultern und stöhnte. „Keine Ahnung wieso. Der Flohpelz meint, sein Status als Hüter könnte seinen Alterungsprozess aufgehalten haben und nun, da er keiner mehr war, ging's rapide bergab.“

Zugegeben, was sie da wiedergegeben hatte, entsprach nur bedingt der eigentlichen Erklärung, aber wen juckten schon Details? Die änderten eh nix mehr daran, dass der Typ tot war.

Sie hörte, wie Nick schluckte. „Und das ist okay für dich …?“

„Hab ich das behauptet!?“, brauste sie sofort auf. „Aber Matt sagt, dieser Drazen habe es selbst so gewollt, sonst hätte er sich nicht beschwören lassen. Wusstest du, dass er mal ein Bewohner der heiligen Stadt Eden war? In der niemand je stirbt?“

„Ja … das wusste ich.“

Anya stöhnte abermals und legte, an den Telefonmast lehnend, ihre Hand auf die Stirn. „Ich will nicht sagen, dass mir egal ist, was mit dem Typen passiert ist. Aber …“

„Schon gut, Anya. Ich verstehe schon, worauf du hinaus willst.“

 

Das Mädchen sah wieder herüber zu Matt, der mit dem Kopf nickte. Gerade fuhr der Zug unter lautem Getöse ein.

„Harper, das ist nur die Spitze des Sahnehäubchens“, fuhr Anya eilig fort, „gleich als Summers ihn besiegt hatte, tauchte plötzlich so'ne uralte Mumie auf. Nannte sich Undying oder so. Weißt du zufällig, was das ist?“

Am anderen Ende der Leitung gab Nick ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Undying? Ich weiß nicht, kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber wie auch immer, es klingt ziemlich … unsterblich.“

„Sag mir was, was ich noch nicht weiß. Der Spinner hat damit unentwegt geprahlt und mich provoziert, also hab ich's so'n bisschen ausprobiert! Und naja“, Anya schnaubte wütend, „er hat wohl nicht gelogen. Jedenfalls hat der uns angegriffen und selbst zu dritt hatten wir keine Chance. Das war der totale Freak!“

„Warte einen Moment, ich checke mal kurz etwas. Vielleicht kann ich herausfinden, wo er sich jetzt aufhält. Wann war das Duell ungefähr und wo?“

„Gestern Abend, vielleicht ein paar Kilometer von San Augustino entfernt, in einem Wald.“

 

An einem weit entfernten Ort legte Nick den Hörer seines Schnurlos-Telefons neben sich auf die Bettdecke und öffnete bei seinem, vor ihm aufgeklappten, Laptop ein Programm, auf welches er eigentlich gar keinen Zugriff haben dürfte. Schnell tippte er ein paar Tastenkombinationen ein, gab dann den Namen der von Anya genannten Ortschaft ein und dazu ein Zeitfenster. Jedoch wurde ihm ein leerer Bildschirm präsentiert.

Die angewinkelten Beine aufs Bett niederfallen lassend, griff er nach dem Hörer und sagte: „Nichts. Da sind keine Aufzeichnungen von eurem Duell auf den Servern der AFC.“

„Bist du sicher?“, quakte Anya. „Guck noch mal, aber beeil' dich, der Zug fährt gleich los!“

„Warte.“

Nick legte den Hörer noch einmal beiseite und gab diesmal in einem anderen Fenster die ID-Nummer von Anyas Duel Disk ein. Doch das letzte Duell, das vor dem gestrigen Datum in der Registratur fand, war jenes mit Abby am Flughafen gewesen. In dem Moment erinnerte sich Nick, dass Anya inzwischen Logans D-Pad benutzte und ihr Log dementsprechend nutzlos war. Kurzerhand, da er Logans ID nicht kannte, schwenkte er auf Matts um. Aber auch hier wurde deutlich, dass dieser sich nach seinem Kampf mit Drazen nicht mehr duelliert hatte.

„Was immer dieser Undying getan hat, seine Spuren verwischt er gut“, sprach Nick schließlich mit unter dem Ohr geklemmten Hörer.

Währenddessen hatte längst etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregt – Matts vorletzter Zug im Duell gegen Drazen. Denn dort fand er etwas, das mit Sicherheit nicht da sein sollte. Nicks Augen weiteten sich, als er begriff, was er da vor sich hatte. „Anya? Nimm dich-“

„Sorry Nick, muss Schluss machen, der Zug ist gleich weg. Bin irgendwann abends zuhause. Hol' uns ab, bye!“

Schon hatte sie aufgelegt.

„-vor Matt in Acht“, beendet er übergangen seinen Satz.

 

Das schnurlose Telefon rutschte ihm von der Schulter und fiel auf die Tastatur. Nick schob ihn beiseite und öffnete die Datei der einen Karte Matts, die ihn so unvorbereitet getroffen hatte.

„Keine Daten vorhanden“, murmelte er fassungslos.

Sich aufrichtend, fuhr sich der junge Mann durchs zerzauste Haar, fasste sich dann mit beiden Händen an die Wangen. Unmöglich, wie konnte das sein? Was hatte Matt da angestellt, dass er so eine Karte besaß?

Eigentlich kannte Nick die Antwort, fürchtete sich jedoch davor, sie auszusprechen. Denn sie ließ ihn an den guten Absichten des Dämonenjägers arg zweifeln.

 

Schließlich rollte sich Nick über sein Bett und watete durch sein unordentliches Zimmer, in dem sich die Klamotten nur so übereinander stapelten. Mit nichts als einer Boxer Short bekleidet, schnappte er sich wahllos ein dunkelgrünes T-Shirt, roch dran, verzog eine angeekelte Miene, nur um es sich dann trotzdem anzuziehen. Dabei sah er, das Shirt halb übergezogen, einen Augenblick lang an seinen hageren Körper hinab, der auf den ersten Blick unscheinbar wirkte, doch auf den zweiten deutliche Ungleichmäßigkeiten aufwies … Brandnarben. Unzählige. Nick schüttelte den Kopf. Kurz darauf hatte er auch noch eine graue Hose gefunden, die er sich überzog und warf sich dazu eine dünne, hellgrüne Jacke über.

Es war Zeit für einen kleinen Stadtbummel. Das Undying-Problem ordnete er derzeit als größer ein als Matts kleines Geheimnis, weshalb er sich zuerst darum kümmern wollte. Was aber nicht hieß, dass er sich nicht Sorgen um Anya diesbezüglich machte. Ausgerechnet Matt …

 

-~-~-

 

Die abgeblätterten Lettern waren tatsächlich übermalt worden. Nur leider nicht mit passender Farbe, sondern Graffiti, stellte Nick mit bedauernder Mimik fest, als er über die Straße der großen Kreuzung ging, direkt auf die kleine Stadtbibliothek zu.

 

Es brannte Nick unter den Fingernägeln, Anya von seinem Fund zu berichten, wusste er doch nicht, was er daraus schließen sollte. War Matt gefährlich? So oder so, selbst wenn er sie jetzt kontaktierte, würde er den Dämonenjäger im Schlimmstfall aufmerksam machen und das wollte er vermeiden. Zumindest, solange er sich der Sache nicht selbst angenommen hatte. Dementsprechend musste er sich wohl oder übel darauf verlassen, dass Zanthe solange auf sie aufpasste. Was seine ohnehin schon große, innere Nervosität alles andere als linderte.

Solange er auf seine Freundin warten musste, sagte sich Nick, konnte er wenigstens versuchen, etwas über diesen neuen Feind, die Undying, herauszufinden. Und obwohl man es nicht glauben wollte, zog der hagere junge Mann in dem Fall alte Wälzer moderner Technologie vor. Aus einem ganz bestimmten Grund.

 

Nick betrat das orange gestrichene, mit silbernem Grafitti übersäte Gebäude. Sofort kam ihm ein muffiger Geruch entgegen, als er die Tür hinter sich schloss. Er wandte sich rechts an den Holztresen und stellte unmittelbar fest, dass sich auch im Inneren der Bibo seit seinem letzten Besuch nichts getan hatte. Der uralte, angegilbte PC, den die Bibliothekarin Mrs. Wilson benutzte, fing immer noch Staub.

Jene, ein grauhaariges Reptil, saß auf ihrem Stuhl und schien vor sich hin zu dösen. Selbst das hatte sie schon letztes Mal getan.

„Entschuldigung“, sprach Nick sie an.

Die Alte öffnete ihre Augen und zischte: „Vergiss es, wir haben keine Pornos und auch keine Comics.“

„Daran erinnern sie sich noch?“ Nick staunte nicht schlecht.

„Alt zu sein bedeutet nicht automatisch an Alzheimer zu leiden“, krähte sie ärgerlich, „du kleiner Perverser hast nur Unruhe gestiftet.“

Abwehrend hob Nick die Hände. „Und das tut mir auch unendlich leid.“

Er neigte sich über den Tresen. „Aber ich verspreche, heute keinen Ärger zu machen. Ich suche ein ganz bestimmtes Buch. Der Titel lautet 'Thirty Legends – The Whole Truth'“

Aus ihrer Hornbrille sah Mrs. Wilson ihn verständnislos an. „Für diesen Plunder interessiert du dich?“

„Ich will eine Parodie darüber schreiben“, log Nick, ohne rot zu werden.

„Für mehr taugt es auch nicht“, erwiderte sie abfällig, „du findest es im dritten Regal von rechts, ganz hinten.“

Der zerzauste brünette Bursche zog sich vom Tresen zurück und bedankte sich artig.

 

Keine fünf Minuten später saß er an einem der Tische zwischen den Regalen und machte eine der Bankerleuchten vor ihm an. Dabei blätterte er bereits in dem Schinken, den ein Verwandter der regionalen Trash-Reporterin, Nina Placatelli, geschrieben hatte.

Warum war dieses Buch so wichtig? Nun, Nick wusste, dass der Autor unter anderem ein Interview mit Drazen geführt und das Erfahrene in einem der Kapitel niedergeschrieben hatte. Erst durch diese Umstände hatten Nick und Drazen sich kennenlernen können.

Der größte Teil des Kapitels drehte sich um die Stadt der Unsterblichen, Eden, in der Drazen einst gelebt hatte. Sie galt als Utopia der Menschen, eine künstlich erschaffene Welt inmitten des Nexus, erbaut, um seine Bewohner vor den Fängen des 'wahren Feindes' zu schützen. Niemand wusste genau, wer oder was der 'wahre Feind' war, von dem Another gesprochen hatte. Fest stand, dass Eden bereits vor über einem Jahrtausend errichtet worden war und sich nun irgendwo im Nexus befand, abgeschottet und unerreichbar.

Doch darum ging es Nick gar nicht. Eher um eine Aussage Drazens, die sich in dem Buch befand und sich auf diejenigen bezog, die zusammen mit den Menschen und Immateriellen Eden erschaffen hatten.

„Die Undying“, fand Nick den Absatz dazu schließlich.

Jedoch wurden sie nur ein einziges Mal erwähnt, als unsterbliche Wächter der ewigen Ordnung, die mit ihrer Macht die Stadt der Allerheiligsten, Eden, aufgebaut haben. Mehr hatte Drazen nicht über sie verloren.

 

Nick schloss das Buch und schob es beiseite, stützte seine Ellbogen auf dem Tisch ab und legte sein Kinn auf die mit beiden Händen geballte Faust.

Nun, das war weniger als er erhofft hatte zu finden. Im Grunde sagte es nichts aus, was ihm bezüglich ihrer Motive weiterhelfen könnte. Und doch ratterte es in seinem Inneren.

„Sie beschützen die ewige Ordnung“, murmelte er, „also bedroht Anya diese.“

Und sie waren die Schöpfer der Stadt Eden. Könnte das bedeuten, dass sie sich auch dort aufhielten? Zumindest schienen sie nicht prinzipiell feindlicher Natur zu sein, wenn sie den Menschen und Immateriellen halfen. Im Gegenteil, anscheinend beschützten sie diese.

Umso dunkler wurde Nicks Ahnung, dass das Tun des Sammlers nicht im Interesse der Allgemeinheit war.

„Du bist der 'wahre Feind'“, schloss er kurz darauf. „Es ergibt Sinn! Urila sagte, einer von ihnen wäre in dieser Welt gestrandet. Und niemand kommt an deine Macht heran …“

Die Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag. Es passte auf abstruse Weise, auch wenn er sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte. Aber … Anya stand im Dienste des 'wahren Feindes'. Wenn dem so war, würde sie sterben, ob sie ihre Mission erfüllte oder nicht.

Sofort sprang Nick auf, auch wenn er nicht einmal wusste, was er jetzt tun sollte. Wie er dagegen vorgehen konnte. Nick Harper verspürte in diesem Augenblick dieselbe Machtlosigkeit wie damals, als er Anya hinterher sah, wie sie sich zum Turm von Neo Babylon aufmachte.

 

-~-~-

 

Zuhause angekommen, stürmte Nick umgehend in sein Zimmer. Er musste irgendwie Anya kontaktieren und warnen, aber die war nicht erreichbar, solange sie mit Matt und Zanthe im Zug saß. Unter Umständen könnte er Alastair anrufen, aber das würde genauso wenig nützen und im Schlimmstfall nur für mehr Ärger sorgen. Aber er kannte vielleicht noch eine Möglichkeit, Anya die Botschaft sofort zukommen zu lassen.

Warum hatte er ihr kein neues Handy besorgt!? … richtig, weil sie die letzten zwei binnen Rekordzeit in ihre Einzelteile zerlegt hatte. Großartig!

 

Nick sah sich aufgeregt in seinem völlig zugemüllten Zimmer um, auf der Suche nach seinem Festnetztelefon. Da fiel ihm ein flacher Umschlag auf, der auf seinem Schreibtisch in der Ecke des Zimmers lag. Er war sich sicher, ihn vorhin noch nicht dort gesehen zu haben. Höchstwahrscheinlich war er von seiner Mutter, die hoffentlich verkündete, ein neues Leben in Alaska anzufangen!

Neugierig ging er auf den Schreibtisch zu, schnappte sich den unbeschrifteten Umschlag und holte den Brief daraus hervor.

 

Triff dich heute um 14 Uhr mit mir im Gewerbegebiet nahe der Müllhalde. Lager 17, das leer stehende. Dort werde ich dir Rede und Antwort stehen. Keine Lügen. Kali

 

Die relativ kurze Botschaft versetzte Nick in erstauntes Schweigen. Hatte er richtig gelesen, Kali? Die, die ihn angegriffen hatte!? Und Anyas geliebte Battle City-Duel Disk gestohlen hatte? Warum sollte sie ihn jetzt treffen wollen, wenn sie auf Rache nach Anya aus war?

Das roch nicht nur nach einer Falle, das stank förmlich danach.

Aber wieso ausgerechnet zu diesem ungünstigen Zeitpunkt? So blieb ihm nur noch knapp eine halbe Stunde, wie ihm ein Blick auf seine Armbanduhr verriet. Und er hatte gerade andere Probleme!

 

Nick überlegte, ob er der Aufforderung nachkommen sollte. Einerseits bot sich so die Möglichkeit, mehr über sie herauszufinden und zudem war das Ganze doch etwas zu offensichtlich. Sie musste damit rechnen, dass er es durchschaute. Bloß wieso machte sie sich dann die Mühe?

Dass sie wiederum einen so abgelegenen Ort aussuchte, deutete durchaus daraufhin, dass sie ihn entsorgen wollte. Dort würde sie niemand stören. Aber selbst wenn das der Fall war … er konnte ihr zuvor kommen. Er musste es zumindest versuchen. Dann hatte Anya ein Problem weniger, mit dem sie sich herumärgern musste.

„No risk, no fun“, lautete seine Devise.

 

Zwar gefiel es ihm nicht, aber vielleicht wäre es sogar das Beste, Anya noch nicht sofort über die Herkunft des Sammlers in Kenntnis zu setzen. Zumal er für seine Theorie noch keine handfesten Beweise hatte. Am Ende tat Anya nur etwas, das sie am Ende bereuen würde. Was den Sammler und auch Matt anging, wäre es am besten, das Mädchen vorerst im Unwissenden zu lassen.

Was die beiden anging, würde er sich noch früh genug mit ihnen auseinandersetzen. Zunächst war aber Kali an der Reihe.

 

Er nahm aus der Innentasche seiner grünen Jacke ein altmodisches Handy und betrachtete das Display. Er schnappte sich den Laptop von seinem Bett, trug ihn herüber zu seinem Schreibtisch und setzte sich, während er den Apparat aufklappte. Mit der Intention, im Falle des Falles eine ganz eigene Überraschung für Kali vorzubereiten.

 

-~-~-

 

Etwa eine dreiviertel Stunde später fand Nick sich auf einem riesigen Gelände wieder. Die meisten Lagerhallen vor ihm wurden nicht länger genutzt, da die Firmen entweder zugrunde gegangen beziehungsweise aufgekauft worden waren oder schlichtweg umgezogen sind. Nick verstand selbst nicht, warum niemand hier Gewerbe betrieb, obwohl die Lage eigentlich recht gut war.

 

Er marschierte weiter geradeaus. Vor ihm befand sich das riesige, heruntergefahrene Tor, über dem die Zahl 17 in roter Farbe prangerte. Die vergleichsweise kleine Tür nebenan stand einen Spalt weit offen.

Das hier war sein Ziel.

 

Ohne Umschweife trat Nick ein. Durch die Fensterreihe an der Hinterseite des Gebäudes drang genug Tageslicht, um einigermaßen gut sehen zu können.

Die Halle selbst war komplett leergefegt. Zur linken Seite gab es eine Stahltreppe, die zu den im oberen Geschoss liegenden Büroräumen führte. Vier massive Säulen stützten das Lager. Nick war allein.

„Ich bin da, wenn auch etwas verspätet“, verkündete er das Offensichtliche, doch keine Reaktion folgte. Bissig fügte er noch hinzu: „Ich hoffe, nicht zu spät für den Nachtisch.“

Er schritt vorsichtig durch das Lager, sah sich um. Etwa auf der Hälfte des Weges zum anderen Ende bemerkte er einen Schatten. Hinter einer der Säulen auf der rechten Seite trat eine komplett in schwarzer Kutte verhüllte Gestalt vor. Es war dieselbe, die Kali getragen hatte, ohne Zweifel.

„Wie schön, dass -du- pünktlich bist“, schnarrte Nick, „also, was willst du von mir?“

Keine Antwort. Stattdessen hob Kali den Arm, an welchem eine blaue Duel-Disk angebracht war und aktivierte diese.

„Im Ernst?“ Nick schnalzte mit der Zunge. „Ich dachte wir wollten nur reden?“

Er sah auf den Apparat an seinem Arm. Immerhin hatte er mit so etwas schon gerechnet, doch das hier war ihm etwas zu plump.

Sein Blick richtete sich wieder auf Kali. „Komm schon, so eine armselige Falle?“

Wieder gab es keine Reaktion ihrerseits. Nick seufzte. „Na schön … aber ich warne dich. Ich bin vorbereitet. Wenn du mich auch nur versuchst umzubringen, wirst du diesen Raum selbst nicht lebend verlassen.“

Dafür hatte er gesorgt.

 

So standen er und Kali sich in der leeren Lagerhalle gegenüber. Nick griff unter seine Duel Disk und deaktivierte die Sicherheitsmechanismen des Solid Vision-Systems, welches dafür sorgte, dass die Spieler keine Verletzungen durch die Duelle erlitten. Denn er war sich sicher, dass Kali ebenfalls mit harten Bandagen kämpfen würde.

„Wenn du offenbar nur hier bist, um mich endgültig aus dem Weg zu räumen, dann gut!“, rief Nick zornig. „Aber heute wird es nicht so enden wie letztes Mal! Duell!“

Seine vermummte Gegnerin schwieg, wie sie es schon die ganze Zeit getan hatte.

 

[Nick: 4000LP / Kali: 4000LP]

 

Umgehend zogen beide der Reihe nach fünf Karten. Bevor Nick das Wort ergreifen konnte, kam ihm Kali zuvor, indem sie stillschweigend eine sechste Karte zog und damit offiziell das Duell begann. Selbst ihre Hände steckten in schwarzen Handschuhen.

Ihr erster Zug sah dabei erstaunlich kurz aus: sie legte ein Monster verdeckt auf ihre Duel Disk und verharrte dann, nachdem es auf dem Spielfeld erschienen war, solange, bis Nick irritiert nachzog.

 

„Nicht mal im Duell sagst du was?“, fragte jener missmutig und setzte seinerseits ebenfalls ohne Ankündigung ein Monster, welches in horizontaler Lage vor seinen Füßen auftauchte. „Na gut, ich setze die da und beende.“

Noch eine Falle gesellte sich verdeckt hinter seinem Monster dazu.

 

Kali zog erneut auf und wiederholte die Prozedur ihres letzten Zuges, indem sie ebenfalls wieder ein Monster setzte, dessen Karte sich neben dem anderen materialisierte. Danach blieb sie regungslos stehen, bis Nick sagte: „Gut, wenn du nichts mehr tust, bin ich dran!“

 

Sofort riss er die nächste Karte von seinem Deck. Jetzt war es an der Zeit, ihre Verteidigung zu durchbrechen. „Ich beschwöre [Wind-Up Knight]!“

Vor dem großgewachsenem jungen Mann tauchte ein etwa anderthalb Meter großer, weißer Spielzeugritter mit Aufziehschlüssel auf dem Rücken auf.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

„Zum Angriff!“, befahl Nick lautstark. „Nimm das Monster, das sie als Erstes gesetzt hat!“

Sein Krieger stürmte auf die von Kali aus linke gesetzte Karte zu. Jene wirbelte herum und präsentierte eine gar groteske Gestalt. Ganz aus schwarzer, schlammiger Masse bestehend, hockte dort etwas, das entfernt an die Form eines jungen Mädchens mit langem Haar und Priesterhaube erinnerte. Dabei hielt das Wesen einen ebenfalls mit jener dunklen Flüssigkeit überzogenen Zauberstab fest in den Händen.

 

??? [ATK/1000 DEF/800 (4)]

 

Mit einem Schwerthieb zerteilte Nicks Ritter die Kreatur. Kali streckte den Arm aus, ohne jedoch etwas zu sagen. Aus ihrem Deck schob sich automatisch eine Karte, die sie auf den Friedhof legte.

Nick stand der Mund offen. Dieses Monster eben, das erinnerte nicht im Entferntesten an die Celestial Gears, die Kali bei ihrem letzten Aufeinandertreffen benutzt hatte! Und jetzt, wo er genauer hinsah – ihre Duel Disk war eines der typischen, blauen Standardmodelle des letzten Jahres. Kali hingegen benutzte eine rote V-Duel Disk unbekannter Bauart.

„Du bist nicht Kali!“, schloss er verblüfft. „Aber wer bist du dann!?“

Keine Reaktion. Was Nick dazu brachte, die Stirn zu kräuseln. „Wenn du nicht freiwillig reden willst, werde ich dich eben zwingen! Ich aktiviere meine verdeckte Falle, [Zenmairch]!“

Die Karte klappte vor ihm hoch und Nick nahm seinen Ritter von der Duel Disk, welcher im Folgenden auch vom Spielfeld verschwand. „Diese Falle tauscht eines meiner Spielzeuge mit einem gleicher Stufe von meiner Hand aus! Ich beschwöre [Wind-Up Juggler]!“

Vor ihm tauchte ein grüner, auf einer Feder springender Spielzeug-Jongleur auf, dessen unbekümmertes Katzengesicht nicht darüber hinwegtäuschte, wie gut er mit seinen Bällen jonglieren konnte.

 

Wind-Up Juggler [ATK/1700 DEF/1000 (4)]

 

Nick streckte den Zeigefinger aus und deutete auf das andere verdeckte Monster seines Gegenüber, wer auch immer unter der Kutte stecken mochte. „Vernichte es!“

Der Jongleur tat dies sogleich und befehligte seine insgesamt fünf Bälle in Richtung jenes Monsters, welche wie von Zauberhand Kanonenkugeln gleich auf die Karte zuschossen und sie bombardierten. Jene wirbelte um, präsentierte ebenfalls eine annähernd humanoide, schwarze Schleimgestalt mit knochigen Auswüchsen auf dem Rücken, welche gnadenlos durchlöchert wurde.
 

??? [ATK/1750 DEF/1000 (4)]

 

Nichts geschah, nachdem die Kreatur vernichtet worden war. Was Nick zum Anlass nahm, sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke zu ziehen und damit per Remotesteuerung die Daten des Duells aufzurufen, die sein Rechner zuhause aufnahm. Doch zu seinem Entsetzen konnte er keinerlei Infos über Kalis oder wessen Karten auch immer einholen. Es war, als duelliere er sich alleine.

„Wer oder was bist du!?“, wollte er nun deutlich aufgeregter wissen.

Wie üblich erfolgte keine Reaktion seiner- oder ihrerseits.

„Ich habe dich was gefragt! Was soll das hier? Wieso hast du mich hierher gerufen?“

Nichts. Nick atmete tief durch. So kam er nicht weiter!

„Also schön, ich setze eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“

Jene materialisierte sich vor seinen Füßen und ließ Nick mit drei Handkarten zurück.

 

Sein Gegner zog derweil auf sechs auf und tat nun endlich etwas anderes, als nur Monster zu setzen. Allerdings missfiel Nick zutiefst, dass jene Person ihm im übertragenen Sinne plötzlich kommentarlos einen Ritualzauber vor die Nase hielt, dessen Name er nicht lesen konnte. Und auch als sein Gegenüber die Karte in die Duel Disk schob und jene sich vergrößert auf dem Spielfeld zeigte, schien sie irgendwie verschwommen. Nick konnte lediglich das Artwork erkennen, eine Art schwarzen Schlund mit mehreren Ebenen, in denen sich immer wieder Spiegel befanden.

Plötzlich stieg ein schwarzes Licht aus dem Friedhof der blauen Duel Disk auf, der oder die Fremde nahm ein hochstufiges Monster von dort und platzierte es in die Verbannungszone. Zahlte er so etwa die Kosten für die Ritualbeschwörung!?

Nick wich zurück, als sich derselbe Schlund vor seinem Gegner auftat, der auf der Karte zu sehen war. Und ihm entstieg eine schier grauenhafte Kreatur. Größtenteils bedeckt von Teer und einer anderen, bläulichen Flüssigkeit, waren die sichtbaren Stellen des Körpers dieser zweibeinigen, knapp zweieinhalb Meter hohen Kreatur nur Knochen. Zwischen ihren Fingern befanden sich gelbliche Schwimmhäute, genau dasselbe konnte man auch vom Kopfansatz an bis zum Rücken in Form eines Kamms beobachten.

 

??? [ATK/2600 DEF/2400 (8)]

 

Plötzlich streckte die verhüllte Gestalt den Arm aus und zeigte auf Nicks Monster. Dabei entstieg die eben erst verbannte Kreatur ihrer Verbannungszone und glitt als leuchtende Kugel zurück in den Friedhofsschlitz der blauen Duel Disk.

Nick war bewusst, dass sein Gegner wohl zur Aktivierung des Effekts ein verbanntes Monster zurück auf den Friedhof legen musste – es ergab nur Sinn, da dies insgesamt eine gute Kombo darstellte.

Die Kreatur öffnete das Maul ihres knochigen Schädels und verspritzte ein blaues Sekret in Richtung seines Jongleurs, weshalb Nick reflexartig den Arm ausschwang.

„Wenn das ein zielender Effekt ist, werde ich ihn abwehren! Ich aktiviere meine verdeckte Falle [Zenmailstrom] und opfere Juggler, um dafür ein Spielzeug von meiner Hand zu rufen!“ Er knallte jenes auf seine Duel Disk. „Erscheine, [Wind-Up Knight]! Und wenn ich dies getan habe, darf ich vom Deck ein weiteres Wind-Up mit gleicher Angriffskraft rufen! Los, [Wind-Up Soldier]!“

Vor ihm materialisierten sich zwei Gestalten. Eine war der weiße Spielzeugritter und die andere ein gleichgroßer, hellgrüner Roboter, dessen Kopf die Form eines Magneten hatte.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

Die Flüssigkeit schoss an ihnen vorbei ins Leere und fraß, unbemerkt von Nick, ein Loch in die Wand der Lagerhalle hinter ihm. Derweil war er froh, dafür gesorgt zu haben, dass es kein legitimes Ziel mehr für den Effekt gegeben hatte und dieser somit verpufft war.

Umso überraschter war er, als sein Gegner oder seine Gegnerin schließlich ein anderes Monster vom Friedhof vorzeigte und verbannte: es war das mit 1750 Angriffspunkten, welches er zuvor im Kampf zerstört hatte. Sein Gegenüber zeigte im Anschluss die groteske Ritualzauberkarte vor, die er seinem Ablagestapel entnahm und fügte sie seiner Hand hinzu. Nur um dann den Effekt des Ritualmonsters vor ihm erneut zu aktivieren, ganz zu Nicks Entsetzen. Denn nachdem jener sein 1750-Angriffspunkte-starkes Monster wieder von der Verbannung auf den Friedhof gelegt hatte, ging das Ganze von vorne los. Und diesmal konnte Nick sich nicht wehren.

So schoss die riesige Kreatur ihr blaues Sekret auf [Wind-Up Knight] und verätzte ihn derart, dass Plastik und Metall zu schmelzen begannen und er am Ende völlig deformiert war.

 

Wind-Up Knight [ATK/1800 → 900 DEF/1200 → 600 (4)]

 

Nick schluckte. „Nicht gut …“

Damit schwang sein stiller Feind den Arm aus und befahl offenbar den Angriff. Seine schlammige Kreatur mit dem Rückenkamm rollte sich zu einem einzigen Matschball zusammen und fegte über das Feld, wobei der Kamm dabei den Boden regelrecht zersägte. Sein Ziel war Nicks geschwächter Ritter, obschon er noch ein gesetztes Monster kontrollierte.

Der junge Mann streckte den Arm aus. „Effekt vom [Wind-Up Knight] aktivieren! Nur einmal solange er offen liegt kann er einen Angriff abwehren!“

Doch anstatt dem etwa Folge zu leisten, rührte sich bei dem verätzten Spielzeug gar nichts. Sein Effekt musste negiert worden sein, erkannte Nick fassungslos und sah zu, wie sein Ritter einfach überrollt wurde. Dabei spritzte ein wenig vom Teer der Kreatur durch die Gegend und erwischte Nick am Arm, fraß sich durch seine hellgrüne Jacke. Dieser fackelte nicht lange und zog diese hastig aus, warf sie weg, ehe er noch verletzt wurde. Fassungslos betrachtete er das Kleidungsstück vor ihm am Boden, welches sich immer mehr zersetzte.

 

[Nick: 4000LP → 2300LP / ???: 4000LP]

 

Zeitgleich nahm sein Gegenüber eine Handkarte und setzte sie in die Duel Disk ein, womit sie zischend vor dessen Füßen erschien. Der Zug galt damit als beendet, wobei Nick einen Moment brauchte, um sich vom Anblick seiner Jacke loszureißen.

 

Schließlich zog er auf und verfiel in grüblerisches Schweigen. Das lag an der simplen Tatsache, dass er mit der wohl größten, vielleicht einzigen Schwäche seines Decks konfrontiert sah: starken Monstern. Keines der Monster in seinem Deck kam über 2600 Angriffspunkte hinaus, weshalb Nick auf Zauber und Fallen zurückgriff, um jene zu verstärken. Ferner benutzte er Karteneffekte, wenn er doch einmal stärkeren Feinden gegenüber trat, da es in der Regel seine Strategie war, den Gegner in ein bis zwei Zügen mit Monstern zu überrennen.

Allerdings verfügte er im Moment weder über stärkende Karten, noch über Feldsäuberer. Was ihm im Grunde nur eine Wahl ließ …

„Ich beschwöre [Wind-Up Dog]!“, verlautete er und legte jenen auf seine Duel Disk.

Vor ihm tauchte ein kleiner, blauer Spielzeughund auf, der in einer Tour ein mechanisch klingendes Kläffen von sich gab.

 

Wind-Up Dog [ATK/1200 DEF/900 (3)]

 

Nick legte Zeige- und Mittelfinger an die Stirn, erkläre: „Ich aktiviere die Effekte von Soldier und Dog. Sie erhöhen nur einmal ihre Stufe und Angriffspunkte um ein gewisses Maß, solange sie auf dem Feld liegen.“

Die beiden Aufziehschlüssel, die sich auf den Rücken der Spielzeuge befanden, begannen sich rapide zu drehen.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 → 2200 DEF/1200 (4 → 5)]

Wind-Up Dog [ATK/1200 → 1800 DEF/900 (3 → 5)]

 

Das erledigt, schwang Nick den Arm weit aus. „Jetzt erschaffe ich das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 5-Monstern wird ein Rang 5-Monster!“

Beide lösten sich in braune Lichtstrahlen auf. Gleichzeitig öffnete sich inmitten von Nicks Spielfeld ein schwarzer Wirbel, der die beiden Energien absorbierte und schließlich einen mannshohen Robokrieger ausspuckte. „Erscheine, [Wind-Up Arsenal Zenmaioh]!“

Die rote Maschine bezog vor Nick Position. Bewaffnet mit einem Bohrkopf als rechte Hand und einer vom Körper getrennten, frei schwebenden Faust machte er einen imposanten Eindruck im Vergleich zum Rest von Nicks Monstern. Dabei wurde er von zwei Lichtsphären umkreist, die hinter sich gelbe Schlieren zogen.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 2]

 

Nick sah eine Fallenkarte auf seinem aus zwei Karten bestehenden Blatt an und überlegte, ob er sie setzen und durch Zenmaiohs Effekt zusammen mit der verdeckten Karte seines Gegners zerstören sollte. Aber er brauchte seine eigene und wollte nicht das Risiko eingehen, dass diese Person dort drüben ihre Karte ankettete.

So streckte er den Arm zum Befehl aus. „Los, greife dieses Ding an! Wind-Up Power Punch!“

Ja, dachte er dabei, er würde dadurch Zenmaioh verlieren. Aber eine andere Möglichkeit zur Bekämpfung des Ritualmonsters sah er derzeit nicht.

So schoss sein Roboter seine Faust ab, direkt auf die Teerkreatur zu, welche ihrerseits mit dem Spucken von Säure antwortete. Zwei Explosionen erfolgten am Ende und das Feld war monsterfrei.

„Ich setze die hier verdeckt und beende meinen Zug!“

Vor Nick tauchte die Karte auf. Ein diebisches Grinsen umspielte dabei seine Lippen.

 

Nach wie vor stumm zog sein Gegner eine Karte auf, nur um sofort im Anschluss die Hand über die verdeckt liegende Karte vor sich fahren zu lassen. Jene normale Falle klappte auf und zu Nicks entsetzen war dort der mit Spiegeln bedeckte Abgrund abgebildet, aus welchem ein ganzes Bündel violetter Lichtstrahlen Richtung des Betrachters schoss, die von der schattenhaften Gestalt des 1750-Angriffspunkte-Monsters dieses Themas ausgingen. Passend dazu zeigte Kali oder wer auch immer die Ritualzauberkarte vor, die sie im vorigen Zug auf die Hand genommen hatte. Aus ihrem Deck schob sich eine blau umrandete Karte, die sie umgehend ihren Blatt hinzufügte.

„Noch ein Ritual?“, fragte Nick. „Verstehe, damit holst du Nachschub!“

Wortlos bestätigte sein Gegner die Annahme mit der Aktivierung der Ritualzauberkarte und verbannte das Stufe 8-Monster vom Friedhof, wie er es schon bei der letzten Beschwörung dieser Art getan hatte. Vor ihm erschien der Schlund in die Tiefe, dem eine weitere dieser merkwürdigen Kreaturen entsprang. Ein knorriges, dürres Gebilde in gebückter Haltung, überzogen mit dem schwarzen Teer. An seinen Armen hingen riesige Beutel gefüllt mit einer gelben Flüssigkeit.

 

??? [ATK/2400 DEF/1800 (8)]

 

„Gut, der ist nicht ganz so stark“, überlegte Nick laut und strich sich übers Kinn.

Zu seinem Erstaunen aktivierte sein Gegner eine weitere Zauberkarte, eine dauerhafte. Auf ihr war das zuvor zerstörte Ritualmonster mit dem Kamm abgebildet, wie es die violetten Strahlen aus dem Abgrund empfing.

„Eine Geschichte?“

Nebenbei versuchte Nick den Kartennamen zu lesen, um einen Anhaltspunkt über das Thema zu finden, doch egal wie sehr er sich konzentrierte, es war, als habe er einfach das Lesen verlernt.

Derweil legte der Kuttenträger das verbannte 'Ritualopfer' wieder auf den Friedhof, um offenbar den Effekt des Ritualmonsters auf dem Feld zu aktivieren. Dieses biss in einen der gelben Beutel an seinem Arm und spuckte die Säure auf Nicks gesetzte Karte.

„Falle aktivieren, [Xyz Reborn]! Die kriegst du nicht!“, donnerte Nick, der ahnte, dass sein Gegner sie zerstören wollte. „Sie reanimiert ein Xyz-Monster auf meinem Friedhof und wird gleichzeitig zu seiner Overlay Unit!“

Aus dem Boden vor ihm brach sein Zenmaioh, während sich die Falle in eine leuchtende Kugel verwandelte, die um ihn zu kreisen begann.

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 1]

 

Plötzlich leuchtete die dauerhafte Zauberkarte seines Gegenübers auf, um die plötzlich ebenfalls eine finstere Energiekugel rotierte.

Nick schloss daraus: „Zählmarken? Aber wofür? Und wie hast du sie bekommen?“

 

??? [???-Zählmarken: 0 → 1]

 

Plötzlich verbannte sein Gegner wieder das Ritual-recycelnde Monster auf seinem Friedhof, um dementsprechend den Abgrundzauber wieder auf seine Hand zu bekommen. Diesen aktivierte er sofort im Anschluss und verbannte dafür das Stufe 8-Monster von seinem Friedhof.

Ein zweites Mal in diesem Zug öffnete sich der dämonische Spiegelabgrund und würgte regelrecht ein weiteres Ungetüm hervor. Dieses neue war eine Art vierbeiniger Knochenkäfer, ebenfalls mit Teer überzogen und dazu noch mit einem riesigen Gefäß auf dem Rücken beladen, in dem eine schwarze Flüssigkeit brodelte.

 

??? [ATK/0 DEF/3000 (8)]

 

Um dessen Effekt zu aktivieren, legte der Verhüllte das eben verbannte Ritualsubstitut wieder auf den Friedhof und schwang den Arm dabei aus. Der Käfer beugte sich daraufhin vor und vergoss einen Teil seiner Flüssigkeit, die sich wie ein Schatten über den Boden schlängelte und dann um Zenmaioh wand, um den sofort Blitze schlugen. Er ging in die Knie, während der Schatten herüber zu dem Säurebeutel-Monster schlich und in ihm verschwand.

„Was!?“, keuchte Nick. „Zenmaioh wechselt in-!?“

 

Wind-Up Arsenal Zenmaioh [ATK/2600 DEF/1900 {5} OLU: 1]

??? [ATK/2400 → 2900 DEF/1800 (8)]

 

Zusätzlich dazu gesellte sich eine weitere violette Kugel zur Zauberkarte seines Gegners, weshalb Nick vermutete, dass immer eine neue dazu kam, wenn eines dieser Ritualmonster seinen Effekt aktivierte. Aber wozu dienten sie? Nein, anders gefragt: Was wäre das Schlimmste, womit er nicht rechnen würde?

 

??? [???-Zählmarken: 1 → 2]
 

„Automatischer Sieg …?“, konnte er eine heimliche Vermutung nicht unterdrücken.

Wenn ja, wie viele brauchte diese Person dann!? Oder vielleicht war es doch etwas ganz anderes?

Er hatte jedoch keine Gelegenheit, sich weitere Gedanken zu machen, denn sein Gegner zeigte auf Zenmaioh. Nick wusste: „Der Angriff kommt …“

Und er musste den kompletten Effekttext der Karten dort drüben nicht kennen um zu wissen, was ihn erwarten würde. So streckte das Monster seines Feindes die Arme aus, aus denen schlauchartige Auswüchse direkt an seinen Hals schossen und die Säure von seinen Beuteln ins Maul pumpten. Es spie einen Säurestrahl auf Nicks Roboter, der sofort zerschmolz wie Eis in der Wüste. Nick wich mit einem Seitwärtsschritt der Attacke rechtzeitig aus. Und diesmal konnte er aus den Augenwinkeln beobachten, wie die Wand hinter ihm ein neues 'Fenster' verpasst bekam.

„Ugh“, stöhnte er dabei, auch wenn er nicht überrascht war, von durchschlagendem Kampfschaden erwischt zu werden. Sonst hätte der Wechsel seines Zenmaiohs in Verteidigungsposition keinen Sinn ergeben.

 

[Nick: 2300LP → 1300LP / ???: 4000LP]

 

Doch was dann folgte war selbst für ihn ein Schock. Die dauerhafte Zauberkarte seines Gegners leuchtete auf und prompt spie die Kreatur noch einen Strahl Säure – auf Nicks verdecktes Monster.

„Noch ein Angriff!?“

Der junge Mann erblasste, als seine Karte getroffen wurde und um die eigene Achse wirbelte. Aus ihrer Vorderseite entstieg eine putzige, mechanische Spielzeugbiene, die regelrecht zerfetzt wurde.
 

Wind-Up Honeybee [ATK/100 DEF/300 (1)]

 

Nick aber dachte in diesem Moment nicht an ihr Schicksal, sondern nur an das seine. Der durchschlagende Kampfschaden, er würde ihn-!

Doch zu seinem Erstaunen wurde er nicht von der Säure angegriffen. Die Quelle seines Schmerzes sollte von ganz woanders herrühren: der Zauberkarte. Denn die beiden Sphären, die um sie kreisten, wurden schlagartig mobil und schossen auf Nick zu. Wie dünne Klingen wirbelten sie dutzende Male um ihn und zerfetzten seine Kleidung. Er schrie panisch auf, ehe die Tortur stoppte und der junge Mann in die Knie sackte.

 

[Nick: 1300LP → 700LP / ???: 4000LP]

 

Nick verstand die Welt nicht mehr. Der sogenannte Trampelschaden hätte ihn auslöschen müssen, doch stattdessen wurde ihm viel weniger Schaden berechnet. Oder vielleicht … vielleicht gab es auch nie Kampfschaden und stattdessen rührte jener vom letzten Angriff von einem Effekt? Aber wie sollte er das wissen, wenn er die Kartentexte nicht lesen konnte!? Langsam begriff er, wie sehr er doch im Dunkeln tappte.

Schließlich sagte er keuchend: „Da du [Wind-Up Honeybee] durch einen Kampf zerstört hast, kann ich jetzt ein Spielzeug von meinem Deck beschwören. [Wind-Up Magician] in Verteidigungsposition!“

Er knallte vor Wut die Karte heftiger als nötig auf seine Duel Disk. Vor ihm tauchte ein Spielzeugmagier auf, der einen Zauberstab in seinen Kneifzangenhänden hielt.

 

Wind-Up Magician [ATK/600 DEF/1800 (4)]

 

Im Gegenzug zeigte sein Gegenüber plötzlich selber ein Monster vor und legte es auf die Duel Disk, woraus Nick schloss, dass er eine Normalbeschwörung durchführte. Vor ihm tauchte eine weitere, mehr humanoid wirkende Teerkreatur auf, die statt auf Beinen auf acht Knochenauswüchsen ging, was ihr ein spinnenhaftes Äußeres verlieh.

 

??? [ATK/0 DEF/0 (4)]

 

Zunächst bemerkte Nick es nicht, doch als sich in der Magengegend der Kreatur ein Maul öffnete, verschlug es selbst ihm die Sprache. Jenes sog plötzlich Luft in sich auf, wobei gleichzeitig ein violetter Lichtball aus dem Schlund schoss. Analog öffnete dazu der Magier gegen seinen Willen den Mund und spuckte seinerseits eine rote Kugel aus. Und während die sinistre Kreatur die rote verschlang, verleibte sich [Wind-Up Magician] die violette seines Gegners inne. Woraufhin sich seine Augen schwarz wie die Nacht verfärbten.

 

Wind-Up Magician [ATK/600 → 0 DEF/1800 → 0 (4)]

??? [ATK/0 → 600 DEF/0 → 1800 (4)]

 

Als dem seltsamen Schauspiel nichts mehr folgte, galt der Zug als beendet und das giftige Ritualmonster spuckte das schwarze Wasser in das Behältnis seines käferartigen Kameraden zurück.

 

??? [ATK/2900 → 2400 DEF/1800 (8)]

 

Sofort im Anschluss erhob sich Nick langsam und hielt sich den linken Arm, der am meisten von dem Angriff abbekommen hatte. Das würde ein paar tolle Narben geben, dachte er dabei ärgerlich, was wiederum keine Rolle spielte, da ohnehin … nein, daran wollte er jetzt nicht denken!

„Draw!“, rief er nichtsdestotrotz wütend und zog auf. Froh über seine neueste Errungenschaft, zeigte er zunächst seine andere Handkarte vor. „Ich beschwöre [Wind-Up Rat]! Nur einmal, solange sie auf dem Feld ist, kann ich sie in Verteidigung wechseln und ein Spielzeug von meinem Friedhof ebenfalls in Verteidigung reanimieren!“

Zu seinen Füßen eine kleine, blaue Spielzeugratte auf, die auf Rädern im Kreis rollte. Dabei drehte sich der Aufziehschlüssel auf ihrem Rücken wie verrückt.

 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

 

Vor ihm entstieg aus einem sich öffnenden Runenzirkel der Spielzeugsoldat mit dem Magnetkopf, welcher augenblicklich in die Knie ging.

 

Wind-Up Soldier [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

Er streckte den Arm aus, erklärte: „Da sich jetzt der Effekt eines Wind-Ups aktiviert hat, beschwört [Wind-Up Magician] nur einmal einen Kameraden vom Deck! Los!“

Doch zu seinem Erstaunen geschah gar nichts.

„Wieso-!? Ah … natürlich.“

Nick fasste sich kopfschüttelnd an die Stirn. Der Seelenaustausch zwischen seinem Spielzeugmagier und dieser Spinnenkreatur eben, vermutlich wurden nicht nur die Werte ausgetauscht sondern auch die Effekte negiert. Großartig …

„Dann muss es eben ohne funktionieren! Ich erschaffe das Overlay Network und lasse meine beiden Stufe 4-Monster zu einem Rang 4-Monster werden!“ Den Arm in die Höhe reißend, ließ er den dunklen Galaxienwirbel inmitten seiner Spielfeldseite erscheinen. Magician und Soldier wurden als rote beziehungsweise braune Lichtstrahlen in ihn hineingezogen. „Erscheine, [Wind-Up Zenmaister]!“

Aus dem Schwarzen Loch baute sich vor Nick ein großer Roboter auf. Von weißgrüner Lackierung, besaß Zenmaister vier Düsenantriebe statt Beinen und ballte seine mächtigen Fäuste. Die zwei Lichtsphären, die um ihn rotierten, gaben regelmäßig elektrische Entladungen an ihn ab. Hierzu erklärte Nick: „Zenmaister bekommt für jedes Xyz-Material 300 Angriffspunkte spendiert.“

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/1900 → 2500 DEF/1500 {4} OLU: 2]

 

Zwar würde Nick am liebsten das schwache Spinnenmonster angreifen, doch war es wichtiger, zunächst das offensive Ritualmonster loszuwerden. So zeigte er auf jenes. „Zenmaister, dort ist dein Ziel! Wind-Up Armored Fist!“

Zenmaister fuhr einen seiner Arme an einer Zugfeder aus und schlug damit aus der Distanz die Säurekreatur seines Gegners wortwörtlich zu Brei. Doch plötzlich drehte das Xyz-Monster sich um, die Augen schwarz leuchtend und ehe Nick sich versah, bekam er die andere Faust in den Magen und wurde von den Beinen gerissen.

 

[Nick: 700LP → 600LP / ???: 4000LP → 3900LP]

 

Vor sich hin hustend, drehte sich der auf dem Rücken liegende Nick um und hielt sich, abgewandt von seinem Gegner, den Bauch. Seine Augen geweitet, konnte er nicht fassen, dass sein eigenes Monster ihn angegriffen hatte. Doch ihm ging ein Licht auf … [Wind-Up Magician] war besessen worden und nun Teil Zenmaisters. Kein Wunder, genau das hatte sein Gegner beabsichtigt und offenbar gehofft, er würde die schwächere Kreatur angreifen, was seine Niederlage bedeutet hätte.

„... aber dem kann ich Abhilfe leisten!“, stieß er stur hervor und richtete sich auf. „Ich aktiviere [Wind-Up Zenmaisters] Effekt und verdeckte damit [Wind-Up Rat] bis zur End Phase.“

Bewusst seinen Magier unter dem Xyz-Monster hervor ziehend, ließ er seinen Roboter mit einer sanften Kopfnuss dafür sorgen, dass die Maus sich unter ihrer Karte verkroch.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/2500 → 2200 DEF/1500 {4} OLU: 2 → 1]

 

Doch Nick haderte. Xyz-Materialien galten ohnehin nicht als auf dem Feld, ergo besaßen sie keine eigenen Effekte mehr, was bedeutete … sein Monster stand immer noch unter dem finsteren Einfluss seines Gegners! Aber wie konnte er sich sicher sein?

Nick legte seine letzte Handkarte in die Duel Disk ein. „Mit [Pot Of Avarice] mische ich fünf Monster von meinem Friedhof in mein Deck zurück und ziehe dann zwei Karten.“

Er entschied sich für die Wind-Ups Magician, Knight, Juggler, Honeybee und Zenmaioh, schob sie in sein Deck, ließ dieses durchmischen und zog dann zwei Karten auf. Eine davon setzte er sofort in seine Zauber- und Fallenkartenzone, wodurch diese sich vor ihm materialisierte. Mit seiner letzten Handkarte sagte er unruhig: „Ich beende den Zug.“

Ihm gefiel gar nicht, eine tickende Zeitbombe auf dem Feld zu haben. Nicht, wenn er so wenig Lebenspunkte besaß. Derweil wirbelte die verdeckte Karte seiner [Wind-Up Rat] wieder herum und präsentierte das kleine, blaue Spielzeug auf Rädern.

 

Wind-Up Rat [ATK/600 DEF/600 (3)]

 

Ohne Umschweife zog sein stiller Gegner und legte ein Monster auf seine Duel Disk, vermutlich als Normalbeschwörung. Vor ihm tauchte eine mit Teer überzogene, humanoide Gestalt auf, die einen pechschwarzen Schleier trug und sich rückwärts beugte. Aus ihrem Abdomen wuchsen sechs Knochenarme, die gen Himmel gerichtet waren und der ganzen Kreatur eine bedrückende Note der Verzweiflung verliehen.

 

??? [ATK/1900 DEF/500 (4)]

 

Allerdings löste die Kreatur sich zusammen mit ihrem spinnenartigen, seelentauschenden Artgenossen unter einem klagenden Schrei plötzlich in schwarze Lichtpartikel auf, welche vom Deck ihres Besitzers absorbiert wurden. Aus diesem schoben sich dann zwei Karten. Nick erkannte eine weitere Kopie des Ritualzaubers und dazu ein blau umrandetes Monster.

„Runde 4 … was kommt diesmal, ein Matschgolem?“, fragte er zynisch.

Er sollte es schnell herausfinden, denn sein Gegenüber aktivierte den Ritualzauber und ließ den Schlund voller Spiegel vor sich erscheinen. Dieser absorbierte das violette Licht, das vom Friedhof ausgesendet wurde, als der Kuttenträger sein Stufe 8-Ritualsubstitut wieder einmal von dort verbannte.

Dem Abgrund entstieg eine geflügelte Gestalt, einem Drachen nicht unähnlich, wie alle Monster dieser Art pechschwarz. Zwischen seinen knorrigen Schwingen befand sich nichts außer dichtem, weißem Nebel.

 

??? [ATK/2500 DEF/2300 (8)]

 

Der Unbekannte streckte den Arm aus: sogleich kehrte das verbannte Stufe 8-Monster auf seinen Friedhof und der Nebel durchzog binnen Sekunden die gesamte Lagerhalle. Nick verspürte aus dem Nichts einen Stich in seiner Hand und als der Nebel sich verzog, war seine letzte Handkarte verschwunden. Dafür umkreisten nun drei violette Sphären die dauerhafte Zauberkarte auf der Spielfeldseite seines Gegners.

 

??? [???-Zählmarken: 2 → 3]

 

„Ich hätte mehr erwartet“, spottete Nick, „diese Karte habe ich ohnehin nicht gebraucht.“

Sein Gegenüber aber hielt den Arm weiterhin ausgestreckt und lenkte ihn lediglich herüber zu dem Teerkäfer samt dessen riesigem Behälter mit der schwarzen Flüssigkeit darin. Sein verbanntes Ritualzauber-Recycling-Monster mit den 1750 Angriffspunkten stieg als holographische Version seiner Karte auf und verschwand in seinem Friedhofsschlitz.

Daraufhin beugte sich der Käfer über und vergoss einen Teil seiner Ladung, die wie ein Schatten über den Boden schlich, kurz Nicks Zenmaister umschlängelte, kurzschloss und in die Verteidigungsposition zwang, ehe es zum geflügelten Ungetüm sprang und in dessen Maul verschwand.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/2200 DEF/1500 {4} OLU: 1]

??? [ATK/2500 → 3000 DEF/2300 (8)]

??? [???-Zählmarken: 3 → 4]

 

Gleichzeitig war um die dauerhafte Zauberkarte eine vierte Lichtsphäre dazugekommen, die bedrohlich mit den anderen wie ein Bienenschwarm um die Karte zog. Nick schwante Böses.

So streckte sein Gegner nun den Zeigefinger aus und deutete auf das Monster des zerzausten jungen Mannes. Die geflügelte Teerkreatur öffnete ihr Maul und stieß eine dichte, weiße Nebelwolke in Richtung des lahmgelegten Zenmaisters aus.

„Du bist ein Idiot“, grinste Nick, „es war ein Fehler, seine Position zu wechseln!“

Natürlich war es im ersten Moment ein logischer Schritt, schließlich war der Durchschlagschaden das Ziel seines Gegners. Aber hatte jener vergessen, dass Zenmaister besessen war und den Kampfschaden zurück geleitet hätte, wenn er einfach mit dem Seelenräuber angegriffen hätte? Oder funktionierte das in diesem Fall nicht? So oder so, er würde nicht nur den Schaden abfangen, sondern einen zweiten Angriff sponsored by weird Spellcard aufhalten!

„Falle aktivieren! [Overwind]! Sie verdoppelt die Werte meines Monsters, schickt es aber während der End Phase ins Extradeck zurück.“

Der Aufziehschlüssel auf dem Rücken seines Monsters begann sich derart rapide zu drehen, dass schon Rauch aus allen Öffnungen Zenmaisters aufstieg, welcher sich noch einmal aufrappelte und den Nebelstrahl mit gekreuzten Armen abwehrte.

 

Wind-Up Zenmaister [ATK/2200 → 4400 DEF/1500 → 3000 {4} OLU: 1]

 

„Kein Schaden!“, jubelte Nick. „Und lass mich raten? Da du mein Monster nicht zerstören konntest, darfst du auch nicht noch einmal angreifen, richtig?“

Sein Blick fiel dabei auf [Wind-Up Rat], die ihm mit ihrer niedrigen Verteidigung das Genick brechen würde, wenn er sich irrte.

Da sein Gegner aber keine Regung zeigte und auch keinen neuen Angriff befahl, ging Nick davon aus, im Recht zu sein. Trotzdem stand ihm der Schweiß auf der Stirn, denn so einem derart schwierigen Gegner hatte er noch nie gegenüber gestanden.

Zu seinem Erstaunen löste sich sein Roboter plötzlich in leuchtende Partikel auf, während das geflügelte Ungetüm die schwarze Flüssigkeit zurück in den Behälter des Käfers spuckte. Der Zug war also beendet, ohne dass sein Gegner eine Karte setzte?

 

??? [ATK/3000 → 2500 DEF/2300 (8)]

 

Sofort griff Nick nach seinem Deck, hielt aber inne, als ihm mit einem Schlag etwas klar wurde. Sein Mund öffnete sich langsam, doch kam kein Ton daraus hervor. Dann ballte er eine Faust.

Er konnte gar nicht gewinnen. Die Lage war aussichtslos für ihn. Seine Ressourcen waren verbraucht und egal was er zog, er würde niemals beide Monster loswerden können. Die Verteidigung dieses Teerinsekts war einfach zu hoch. Und es würde nur dafür sorgen, dass er nächste Runde wieder durchschlagenden Kampfschaden erleiden würde. Sein Gegner besaß noch eine Handkarte und war sicherlich in der Lage, wieder ein Ritualmonster zu beschwören.
 

Als Nick das erkannte, ließ er die Arme kraftlos sinken. Wie hatte er das all die Zeit übersehen können, ausgerechnet er!? Diesen Kampf darum, wer länger mit seinen Ressourcen zurecht kam, ein Kampf, den er nur hatte verlieren können, weil er nicht seinem Duellstil entsprach. Er war am Ende seines Lateins.

„Gut gemacht“, murmelte er abwesend, „wirklich gut.“

Er schritt auf die zerschmolzene Jacke zu, die vor ihm lag. Und trotz der Säure nahm er sie in die Hand, verätzte sich und holte dort sein auf den ersten Blick unmodern wirkendes Handy hervor, das zum Glück nur am Gehäuse etwas Schaden genommen hatte.

„Ich werde jetzt einen Anruf tätigen“, sagte er, „mich verabschieden.“

Ohne eine Reaktion zu erwarten, wählte er eine Nummer und legte den Apparat ans Ohr. Seine Hand war rot und voller Blasen. Dabei sah er seinen Gegner entschlossen an. „Hi Mum. Du weißt schon, Farewell. Episode 911.“

Mehr sagte Nick nicht und legte wieder auf.

Dann griff er nach seinem Deck. „Tut mir leid, aber das musste sein. Draw.“

Völlig gelassen zog er seine Karte. Dann streckte er den Arm aus. „Ich wechsle [Wind-Up Rat] in den Angriffsmodus und aktiviere ihren Effekt. Da sie kurzzeitig verdeckt lag und somit ihr Effekt zurückgesetzt wurde, kann ich nun erneut ein Wind-Up von meinem Friedhof beschwören. Erscheine, [Wind-Up Hunter], welchen du eben durch den Effekt deines Monsters hast abwerfen lassen! Dazu erschaffe ich das Overlay Network!“

Die Maus drehte sich wild im Kreis, dann verwandelte sie sich schon anlässlich des sich öffnenden Schwarzen Lochs in einen braunen Energiestrahl. Das andere Spielzeug erschien gar nicht erst, sondern stieg gleich als violetter Strahl aus dem Boden auf und wurde ebenfalls verschluckt.

„Aus meinen beiden Stufe 3-Monstern wird ein Rang 3-Monster! Xyz Summon! Erscheine, [Wind-Up Carrier Zenmaity]!“

Aus dem Wirbel tauchte ein längliches Spielzeugschiff auf, das größer als alles war, was Nick zu bieten hatte. Um genau zu sein war es ein Flugzeugträger, nur dass dort verschiedene Wind-Up-Monster in Reihe an Deck standen. Zwei Lichtkugeln umkreisten das gewaltige Boot.

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3} OLU: 2]

 

Das Handy fest in der Hand umklammert, streckte er den Arm aus. „Indem ich einmal pro Zug ein Xyz-Material abhänge, kann ich direkt ein Spielzeug vom Deck aufs Feld beschwören! [Wind-Up Kitten]!“

Der Flugzeugträger schoss eine kleine, goldene Spielzeugkatze in Richtung des Teerkäfers ab, welche in der Luft wild mit ihren Gliedmaßen fuchtelte. Dabei drehte sich auf ihrem Rücken ihr Aufziehschlüssel.

 

Wind-Up Carrier Zenmaity [ATK/1500 DEF/1500 {3} OLU: 2 → 1]

Wind-Up Kitten [ATK/800 DEF/500 (2)]

 

„Diese kleine Mieze kann nur einmal, solange sie offen liegt, eines deiner Monster zurück auf die Hand geben. Damit ist dein 'Tank' Geschichte!“, verlautete Nick, als Kitten in ebenjenen Teerkäfer krachte und dafür sorgte, dass dieser sich in Luft auflöste.

Damit stand er jetzt nur noch dem geflügelten Etwas gegenüber, das aber stärker als seine beiden Monster war. In der einen, herabhängenden Hand das Handy haltend, zeigte Nick seine verbliebene Handkarte vor und drückte klammheimlich den Abnehmen-Knopf seines Mobiltelefons.

„Diese Karte nennt sich [Generation Force].“ Nick verzog plötzlich die Augen, setzte eine grimmige Miene auf. „Damit übernehme ich für einen Zug die Kontrolle über dein Monster. Komm her!“

Die Kreatur schwang sich herüber zu Nick und bezog über ihm Stellung.

Nick schnaubte, weil sein Gegner keine Reaktion zeigte und nur die Ritualmonster-Karte herüber warf, die er zwischen den Fingern auffing. Wusste er es nicht besser? Dass Nick gerade alles auf den Kopf stellte, die AFC-Server veralberte und einen völlig anderen Effekt ausgelöst hatte als auf der Karte stand? Den von [Change Of Hearts], einer der wenigen verbotenen Karten Duel Monsters.

Leise murmelte er: „Wenn es ums Überleben geht, hat jeder seine eigenen Methoden. Und wer kann, der wird. Ich kann. Also nimm's mir nicht übel, aber ich lebe lieber und verzichte dafür auf Ehre und Gewissen! Los meine Monster, gemeinsamer direkter Angriff!“

Während sein Flugzeugträger Raketen auf den Feind abfeuerte, stieß die geflügelte Kreatur einen weißen Odem aus. Beide erfassten gleichzeitig die verhüllte Figur und sorgten mit einer Explosion dafür, dass jene im hohen Bogen durch die Luft geschleudert wurde. Dabei lockerte sich die Kapuze und verlor gänzlich den Halt. Und Nick stockte der Atem.

 

[Nick: 600LP / ???: 3900LP → 0LP]

 

Schwarzes Haar peitsche um ihr Gesicht, als die Gestalt sich mitten in der Luft fing, eine Rückwärtsdrehung machte und auf beiden Beinen in kniender Haltung landete. Rehbraune Augen starrten Nick ausdruckslos an. Ein bekanntes Gesicht. Valerie Redfield.

Ehe Nick auch nur begriff, mit wem er es zu tun hatte, machte diese noch einen Sprung zurück und verschwand in einem schwarzen Portal, das sich hinter ihr geöffnet hatte und sogleich wieder schloss.

Und Nick war plötzlich alleine in der Lagerhalle, die Hologramme verschwanden.

 

„Valerie“, stammelte Nick fassungslos. „Warum ausgerechnet-!?“

Er sah auf seine Duel Disk und betrachtete das Ritualmonster, das auf dieser lag. Nun konnte er endlich den Namen lesen. „[Ateritus Mist]. Ater … böse.“

Jetzt wurde ihm klar, woher er diesen Erzählstil der Artworks und die Funktionsweise des Decks kannte: Valeries Gishkis!

Nick sank in die Knie. Niemals hätte er erwartet, dass Valerie seine Feindin wäre. Nein, viel eher glaubte er, dass sie Anyas Feindin war. Was einerseits Sinn ergab, hatte sie schon in der Vergangenheit Anyas Pläne torpediert und sie sogar angegriffen. Aber dass sie so weit gehen würde!

Bloß woher hatte sie diese Kräfte? Durch einen Pakt? Oder steckte sie mit jemandem unter einer Decke? Wer würde … der Sammler! Natürlich!

Die Falle galt ihm, weil er zu viel wusste! Wusste, dass der Sammler höchstwahrscheinlich der 'wahre Feind' war. Also schickte er Valerie, die ohnehin gegen Anyas Vorhaben war, um ihn zu beseitigen. Welche Lügen er ihr auch immer erzählt haben mochte. Es gab nur einen Weg, Klarheit zu schaffen.

 

Nick raffte sich auf und betrachtete die Karte.

Valerie wollte laut eigener Aussage noch bis Ende der Woche in Livington bleiben, angeblich um sich von dem Schock der ruinierten Hochzeit zu erholen. Plötzlich sah Nick das alles in einem ganz anderen Licht. So konnte Valerie insgeheim die Order des Sammlers ausführen. Vermutlich hatte sie sich zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken. Dann würde er ihr einen netten Empfang bereiten!

 

-~-~-

 

Keuchend stand Nick vor den Toren des Redfield-Anwesens. Vor ihm erstreckte sich hinter den Gittern ein riesiger Garten, der seit seinem letzten Besuch vergangenen Herbst um einige farbenprächtige Blumensorten erweitert worden war. Dahinter erhob sich die weiße Villa, deren Vorbild nur das Weiße Haus gewesen sein konnte.

 

Notdürftig hatte er seine Hand mit Bandagen versorgt und sich umgezogen, trug jetzt Jeans und ein weißes, zerknittertes Hemd.

Im Blick des jungen Mannes stand eine unheimliche Entschlossenheit geschrieben, die etwas Gefährliches barg. Wenn Valerie Redfield sein Feind war und ihn ausschalten wollte, würde er ihr zuvor kommen. Nichts anderes sollte dieses Funkeln in seinen Augen ausdrücken.

Nicks Hand glitt in seine Hosentasche und holte das Handy hervor. Zwei Knopfdrücke später und das Tor zog sich automatisch nach links zurück, ohne dass im Haus jemand dazu die Genehmigung gegeben hatte.

Der brünette junge Mann schlenderte gelassen den Kiesweg geradeaus entlang auf die Villa zu, sah dabei zur linken Seite, wo ein Weg um das Anwesen herumführte. Dort befand sich die pompöse Garage, deren Fuhrwerk aus mehreren sündhaft teuren Wagen und einer blauen Yamaha bestand, die direkt vor einem der insgesamt drei Toren stand. Dementsprechend war es sehr wahrscheinlich, dass Valerie hier war, gehörte schließlich ihr das Motorrad.
 

Seelenruhig schritt Nick herüber zur weiß gestrichenen Haustür aus Holz. Ohne Schlüssel kam er dort nicht rein, doch auch hier spielte ihm der Fortschritt des 21. Jahrhunderts in die Hände. Eine Familie wie die Redfields vertraute auf allen möglichen technischen Schnickschnack, um sich vor dem ungeliebten Pöbel zu schützen. Dazu gehörte auch ein elektronisches Schloss samt Alarmanlage, die Nick kurzerhand mit einem weiteren Knopfdruck seines Handys lahmlegte.

Dieses Haus gehörte jetzt ihm.

Einfach mit der Hand die Tür aufstoßend, verschaffte er sich Einlass in den eher bescheiden eingerichteten Flur. Von innen wirkte das Haus gleich ganz anders, viel rustikaler und gemütlicher, nicht so pompös wie von außen. Und dunkel.
 

Von weiter vorne drang lautes Gerede an Nicks Ohr. Er schlich sich zum Wohnzimmer, wo er Marc entdeckte, der auf der halbmondförmigen Couch saß und sich auf dem Flachbildfernseher gerade ein Football-Spiel laut mitgrölend ansah.

Umso besser, war der wenigstens abgelenkt und würde sich nicht einmischen.

Nick drehte sich wieder um und ging auf leisen Sohlen zur Treppe, die er nahm, um sich schließlich nach einigem Suchen vor der Tür von Valeries Zimmer wiederzufinden. Sie war geschlossen.

Sollte er das wirklich tun? Nick kamen Zweifel. Er hatte 'so etwas' noch nie getan und wusste nicht, ob er wirklich das Zeug dazu besaß. Solche Dinge regelte im Normalfall Anya. Aber die war nicht hier und ahnte nichts vom Verrat ihrer Erzrivalin. Und Nick war nicht gewillt zu warten, bis sie zurück war. Er musste die Sache selbst klären.

 

Zögerlich umschloss seine Hand die Klinke und drückte sie behutsam herunter. Ob sie ihn schon bemerkt hatte? Wer wusste schon, über welche Fähigkeiten sie noch verfügte.

Langsam öffnete Nick die Tür und sah in das Zimmer. Tatsächlich, da saß sie, an ihrem Schreibtisch und verfasste offenbar einen Brief. Für den Sammler? Oder eine weitere Falle, für wen auch immer?

Nick schlich sich vorsichtig hinein und setzte einen Fuß vor den anderen. Der Lärm unten kam ihm dabei zugute, so würde Valerie ihn womöglich erst hören, wenn es schon längst zu spät war. Beim Anschleichen fiel ihm auf, wie bescheiden auch Valeries Zimmer eingerichtet war. Ziemlich klein erschien es für so eine große Villa, kaum größer als das von Anya. Nie würde jemand auf die Idee kommen, dass hier ein stinkreiches Mädchen wohnte. Beziehungsweise vor Kurzem noch gewohnt hatte.
 

Schließlich hatte Nick sie erreicht, stand direkt hinter der Schwarzhaarigen, die ihn offenbar nicht bemerkt hatte. In seinen Augen breitete sich ein bitterböses Funkeln aus.

Er legte seine Hände vorsichtig über ihre Augen.

Valerie kicherte vergnügt, nichts ahnend. „Marc, lass das, ich muss den noch fertig kriegen. Mutter-“

„Oh“, hauchte er in ihr Ohr, „ich glaube, das kann warten.“

Damit riss er sie herum und drückte das vollkommen aus dem Konzept gebrachte Mädchen brutal gegen ihren Schreibtisch.

„Nick!?“, keuchte sie. „Was machst-!? Was soll das!?“

„Ich stelle jetzt die Fragen“, zischte er und verlagerte sein Gewicht so, dass sie ihm nicht so einfach entfleuchen konnte. Für Außenstehende musste der Anblick der beiden eine sehr eindeutige, widerwärtige Absicht Nicks ausdrücken, auch wenn dem nicht so war.

„Lass mich los!“, forderte Valerie lautstark.

„Wer hat dir gesagt, du sollst mich umbringen!? Sag es!“

„Ich weiß nicht, wovon du redest!“

Nick erhöhte seinen Druck auf ihre Schultern, spürte anhand ihres aufzuckenden Körpers, dass ihr das weh tun musst-

 

Ein infernaler Schmerz breitete sich in seiner Lendengegend aus. Nick krümmte sich zwangsweise, ließ nur kurz von Valerie ab, sodass diese ihn kurzerhand am Arm packen und ihm diesen auf den Rücken drehen konnte.

„Marc!“, schrie sie mit aller Kraft. „Komm, ich brauche Hilfe! Schnell!“

Obwohl Nick versuchte sich zu befreien, fügte er sich mit jeder Bewegung nur mehr Leid zu, da Valerie nicht weniger zimperlich war als er.

„Du hast zehn Sekunden mir zu erklären“, flüsterte sie und wurde schlagartig sehr laut, „was du hier machst!“

„Tu doch nicht so, du wolltest mich tot sehen!“, erwiderte er zornig, hörte nebenbei, wie jemand mit polternden Schritten die Treppe hoch eilte.

Sie gab ihm einen Stoß und rammte ihn gegen den Schreibtisch, sein Gesicht wurde auf das Kiefernholz gedrückt. „Warum sagst du so etwas? Warum sollte ich!?“

Keuchend presste er hervor: „Sag du es mir doch!“

 

Im gleichen Augenblick kam Marc hereingeschneit, der beim Anblick seiner mit Nick ringenden Verlobten kurz die Sprache verlor. Dann aber wurde auch er äußerst ungehalten. „Was hat der hier zu suchen!?“

„Er sagt, ich hätte versucht ihn umzubringen!“

„So ein Schwachsinn, du warst die ganze Zeit hier!“

Nick funkelte über den Schreibtisch herüber Marc an. „Das würde ich an deiner Stelle auch sagen. Wieso sollte ich gerade dir glauben? Du bist doch der Erste gewesen, der solche krummen Dinger-“

Sofort stürmte Marc auf ihn zu, sodass Valerie gezwungenermaßen von Nick ablassen musste, um Schlimmeres zu verhindern. Trotzdem beugte der schwarzhaarige, kernige Mann sich über ihren ausgestreckten Arm und hielt Nick den Zeigefinger unter die Nase. „Vorsicht Freundchen!“
 

Nick, der endlich frei war, richtete sich sofort auf und wich zurück, stieß dabei gegen eins von Valeries Bücherregalen.

Er musste sich eingestehen, dass er körperlich gesprochen leider schlechte Karten hatte. Das war eben das Manko eines Meisterhackers – keine Zeit für die Muckibude. Er schüttelte die Gelenke, sich darauf vorbereitend, trotzdem kämpfen zu müssen.
 

Valerie, die ihr Haar offen trug, stellte sich zwischen die beiden und funkelte Nick mit einer Missbilligung an, die selbst Anya hätte vor Neid erblassen lassen.

„Nick“, begann sie scharf, „was immer du gesehen hast, ich war es nicht! Das solltest du wohl am besten wissen!“

„Ich weiß was ich gesehen habe!“, verharrte er beharrlich auf seinen Standpunkt.

„Und ich weiß, dass du gleich für lange Zeit nichts mehr sehen wirst-!“

Wieder musste Marc von seiner Freundin gezügelt werden, damit er dem hageren Zwei-Meter-Mann nicht den Hals umdrehte.

„Ich habe einen Beweis!“, fauchte Nick unbeirrt zurück und zückte kurzerhand die [Ateritus Mist]-Karte aus seiner Hosentasche.

Zwar riss Valerie sie ihm aus der Hand, doch gab sie binnen weniger Sekunden zurück. „Solche Monster spiele ich nicht und das weißt du!“

Nick wollte sofort widersprechen, sah jedoch ein, dass sein Argument keines war. Natürlich hätte sie ein anderes Deck für diese Aktion verwenden können, aber wie wollte er ihr das nachweisen?

 

„Vielleicht hast du etwas gesehen, was wie ich aussah, aber nicht ich war“, versuchte Valerie trotz ihrer eigenen Wut objektiv zu bleiben, „erzähl uns genau passiert ist. Dann sehen wir weiter.“

Nick funkelte die beiden böse an. „Also schön …“

Was Nick dann auch tat. Und es half ihm, sein eigenes Temperament ein wenig in den Griff zu bekommen, denn je mehr er berichtete, desto klarer wurde ihm, dass die Valerie vor ihm vielleicht gar nicht so Unrecht haben könnte.

 

„Aber wenn du es nicht warst“, meinte Nick schließlich und lehnte sich mit verschränkten Armen an ihren Schreibtisch, „wer dann? Oder eher was?“

Marc war immer noch hochrot vor Wut aufgrund von Nicks Beschuldigungen. „Was spielt das für eine Rolle? Hast du eine Ahnung, was du eben tun wolltest!?“

„Es tut mir leid, okay!?“

Um ehrlich zu sein, nein, hatte Nick nicht. Er wusste ja nicht einmal, was er mit Valerie angestellt hätte, wenn sie geständig gewesen wäre. Was ihm ein wenig Angst vor sich selbst einflößte und schmerzhaft bewusst werden ließ, dass er sich nicht zu solchen Affekttaten hinreißen lassen durfte.

„Wer könnte ein Interesse daran haben, meine Gestalt anzunehmen?“, fragte Valerie, ohne eine Antwort auf Marcs Frage abzuwarten. Sie stand noch immer vor ihm, was Nick in diesem Moment erst richtig zu schätzen lernte. Marc hätte ihn längst zu Brei geschlagen, jede Wette.

„Praktisch jeder, der Anya scheitern sehen will“, antwortete Nick, „also allen voran Kali. Sie will Rache, wofür auch immer und hat auch den Brief signiert. Aber ich glaube, jemand benutzt sie nur als Sündenbock. Eher denke ich-“

„Fragen wir mal anders“, schnitt Marc ihm das Wort ab, wenn auch in einem etwas ruhigerem Tonfall als zuvor, „wer könnte überhaupt Vals Gestalt annehmen?“

„Der Sammler.“

„Exakt“, konnte Nick seinen Hauptverdächtigen endlich benennen, „der Sammler. Und er hat gute Gründe, mir an die Gurgel zu wollen. Denke ich jedenfalls.“

Plötzlich ließ Valerie die Arme sinken, sah mit einem Mal ziemlich erschrocken aus. Sie drehte sich zu Marc um. „Er hat meinen Namen.“

„Das heißt?“, fragte Nick.

 

Kurz darauf erklärte sie ihm, wie sie Marc durch einen Handel mit dem Collector zurück ins Leben gerufen hatte. Und dass ihr Preis dafür ihr Name gewesen war, durch den der Sammler Informationen sammeln konnte.

Nick hing am Ende die Kinnlade hinunter. Er fasste sich an die Stirn und lachte leise, dann immer lauter. „Natürlich … was für ein perfider Plan. Darauf hätte ich kommen müssen.“

„Worauf hättest du kommen müssen?“, fragte Valerie irritiert.

„Tut mir leid, ich muss los“, meinte Nick plötzlich kurz angebunden und schnellte an ihr vorbei. Jedoch stieß Marc ihn mit der Hand zurück.

„Du gehst nirgendwo hin! Wir holen die Cops!“

„Tu das, aber bitte warte damit noch wenigstens, bis ich mehr herausgefunden habe, okay?“

Valerie nickte zögerlich. „Wir werden es uns überlegen.“

„Es tut mir leid, dass ich euch zu Unrecht verdächtigt habe“, gab Nick aufrichtig, aber gleichzeitig auch nicht sehr überzeugend klingend aufgrund seiner Eile von sich. Es half auch nicht, dass er unruhig zur Tür blickte. „Solange ich mir nicht sicher bin, was das alles sollte, ist es das Beste, wenn ihr nicht mehr wisst.“

Damit war Valerie hingegen nicht einverstanden, wild gestikulierte sie mit den Händen. „So lasse ich mich aber nicht abspeisen. Nicht, nachdem du mich in meinem eigenen Haus angegriffen hast. Was hat das alles zu bedeuten!?“

 

Er konnte es ihnen nicht sagen.

Dass der Sammler hinter dem Mordversuch steckte. Denn der schien tatsächlich bestens darüber Bescheid zu wissen, dass Nick ihm auf die Schliche gekommen war und versuchte nun sofort, ihn mit allen Mitteln loszuwerden. Der 'wahre Feind', der sich Valeries Namen bediente, um damit offenbar eine Art Double zu erschaffen, welches er für seine Zwecke verwenden konnte. Zum Beispiel ungeliebte Mitwisser zu beseitigen, um dann dieser Kali die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Wer wusste schon, was er noch alles mit diesem Klon anzustellen vermochte!?

Aber wenn Nick den beiden dies anvertraute, besonders da Valerie unter permanenter Beobachtung stehen könnte, würde er sie zu Mitwissern machen. Den nächsten auf der Todesliste des Sammlers. Und das konnte er nicht verantworten.

 

„Nein, Valerie“, widersprach Nick scharf, „das hat nichts mit dir zu tun.“

„Und ob es das hat!“

Plötzlich trat er so rasch auf sie zu, dass selbst die taffe Valerie vor Schreck gegen ihren Schreibtisch stieß.

„Du willst nur glücklich sein, nicht wahr?“, fragte Nick leise, während er von ihr abließ. „Wenn dir an diesem Wunsch etwas liegt, dann stell keine Fragen, die dafür sorgen könnten, dass du für immer unglücklich wirst.“

Er konnte ihrer entgeisterten Mimik entnehmen, dass ihr schlichtweg die Worte fehlten. Und Nick nutzte den Moment aus, als Marc seiner Verlobten entgegen kam und sie ihn den Arm nehmen wollte.

So stahl er sich an ihnen vorbei. „Tut mir leid, dass ich euch so viel Ärger gemacht habe …“

Ehe sie reagieren konnten, flitzte er aus dem Zimmer und rannte die Treppen zum Erdgeschoss hinunter, unsicher, was er von nun an tun sollte. Der Sammler wollte ihn tot sehen und das war sicher nicht sein letztes Attentat auf ihn. Er musste also einen Weg finden, sich gegen den nächsten Angriff zu wehren, egal was es ihn kostete …
 

 

Turn 52 – Demise

Nachdem Anya zurück in Livingon ist und es schon zu lange hinausgezögert hat, verabredet sie sich schließlich mit Logan, um endlich ein Freundschaftsspiel gegen ihn auszutragen. Nick, der zusieht, erhält überraschend einen Anruf, der dunkle Erinnerungen weckt und ihn dazu zwingt, sich seiner Vergangenheit in Form eines ihm alten Bekannten zu stellen …

Turn 52 - Demise

Turn 52 – Demise

 

 

Am späten Nachmittag erreichte der Zug, in dem Anya und ihre Freunde saßen, den Livingtoner Bahnhof. Mit ihren Koffern beladen stiegen die Drei, angeführt von der Blonden, aus dem Waggon und schlenderten über den Bahnsteig. Von Nick war weit und breit keine Spur zu erkennen, aber Anya überraschte das nicht. Wer wusste schon, was der Chaot während ihrer Abwesenheit alles angestellt hatte?

 

Vor der Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss des Bahnhofs führte, blieb Matt plötzlich stehen. Anya und Zanthe drehten sich neugierig zu ihm um, als sie bemerkten, dass seine Hand zwar auf dem Geländer lag, welches die Treppe teilte, er aber nicht weiterging.

„Ist was, Summers?“, fragte Anya irritiert.

„Über ein halbes Jahr ist es jetzt her“, murmelte der mit gesenktem Blick, „hier habe ich Tara Lebwohl gesagt.“

Zanthe spitzte die Ohren. „Tara? Wer ist-?“

Doch Anyas plötzlicher, fester Griff um seinen Oberarm unterbrach ihn. „Stell keine Fragen, Nervensäge. Er will einen Moment allein sein.“

„Wenn du meinst“, seufzte Zanthe und zuckte mit den Schultern, bevor er sich unter Anyas Führung wieder den Stufen zuwendete. Nicht zuletzt weil sie ihn unsanft in deren Richtung stieß.

Das Mädchen sah noch kurz zu Matt zurück, der ihr als Zeichen seines Dankes zunickte. Sie sagte zwar nichts, aber ihr Blick sprach Bände. Zerbrich' dir nicht den Kopf darüber, teilte sie ihm still mit. Dann drehte sie sich auch um und folgte Zanthe nach unten.

 

Draußen vor dem Bahnhof befand sich ein Parkplatz. Während Matt seiner Schweigeminute nachkam, erklärte Anya dem Werwolf was damals vorgefallen war.

„Es war kurz nachdem der Turm von Neo Babylon durch uns zerstört wurde“, sprach sie angespannt, da sie für gewöhnlich ungern alte, dazu noch unschöne Erinnerungen mit anderen teilte, „eine Immaterielle namens Urila wurde dadurch aus ihrem Gefängnis befreit und wollte die ganze Stadt umbringen. Hat die Leute in Dämonen verwandelt.“

„Wie geht denn so etwas?“, staunte Zanthe nicht schlecht.

Die beiden schlenderten zu einem Hot Dog-Stand unweit des großen Flügeltors aus Eiche, welches in das Innere des Bahnhofs einlud und immer offen stand. Während sie Zanthe zuerst bestellen ließ, erzählte sie die Geschichte weiter.

„Keine Ahnung, sie hat wohl einen Zauber aus so'nem komischen Buch genommen, das sich in Matts Besitz befindet.“ Sie machte eine Kunstpause. „Jedenfalls war zufällig Matts Freundin Tara zu diesem Zeitpunkt in Livington. Komischer Zufall. Urila hat sie zu ihrem Gefäß gemacht und sie dabei ziemlich übel zugerichtet.“

Sie unterbrach die Story kurz, als sie selbst bestellte und allen Ernstes feststellen durfte, dass Zanthe keinen müden Cent mit sich führte. Nur sehr widerwillig für beide bezahlend, beließ sie es bei einem blöden, vor sich hin genuschelten Kommentar.

Mit ihren Hot Dogs in der einen und den Koffern in der anderen Hand, stellten sie sich etwas abseits auf den Parkplatz. Herzhaft biss Anya in die längst überfällige Mahlzeit und redete schließlich mit vollem Mund weiter. „Ih hae keie Ahnun wie Matt ie ieder in einem Stü-“

„Anya, man redet nicht mit vollen Mund“, belehrte Zanthe sie genervt, „ich verstehe kein Wort.“

Das Mädchen schluckte den Bissen herunter und funkelte ihr Gegenüber böse an. „Also ob mich das juckt. Ich esse wie ich will.“

„Wie ein Schwein?“ Matt trat hinter Zanthe hervor, womit für die beiden die Erzählstunde automatisch beendet war. Anklagend sagte er: „Ihr hättet mir ruhig auch einen mitnehmen können.“

Anya nickte nach links. „Da drüben. Aber sag mir, dass wenigsten du dich nicht bei mir durchschnorren musst.“

 

Die beiden Jungs aber reagierten nicht mehr. Sie sahen jemanden hinter Anya an und als diese sich umdrehte, stand sie Nick gegenüber. Welcher ihr nebenbei bemerkt viel zu nah auf die Pelle rückte. Sofort trat sie ihm gegen sein Schienbein.

„Wie oft noch, Harper!? Nicht von hinten anschleichen, wenn dir deine Knochen lieb sind!“

Der verzog nur schmerzhaft das Gesicht und hielt sich kurz die getroffene Stelle, ehe er die Drei knapp begrüßte.

„Warum hat das so lange gedauert?“, motzte Anya sofort drauf los. „Wir warten hier schon seit einer gefühlten Ewigkeit.“

Zanthe und Matt hinter ihr hoben synchron die Hand hoch und zeigten Nick mit ihren gespreizten Fingern, dass gerade einmal fünf Minuten vergangen waren.

„Heute war'n stressiger Tag“, meinte der hoch gewachsene, zerzauste junge Mann gleichgültig, „können wir los? Ich habe noch was zu erledigen und eigentlich keine Zeit. Mein Wagen ist da drüben.“

Als Nick über die parkenden Wagen zum Straßenrand zeigte, fiel Anya ein blutdurchtränkter Verband um seine rechte Hand auf, der bis weit über sein Gelenk reichte.

„Aber ihr könnt meinetwegen noch aufessen.“

„Harper, was hast du denn da gemacht?“, warf sie ein.

Sofort zog Nick den Ärmel seines ungebügelten, weißen Hemdes über den Verband, um zumindest den größten Teil der Verletzung zu verbergen. „Mich vorhin geschnitten.“

„Biste jetzt unter die Ritzer gegangen oder was?“

„Nein, es ist … komplizierter“, erwiderte ihr Freund aus Kindheitstagen und sah herüber zu den beiden Jungs. Besonders Matt nahm er ins Visier. „Manchmal passieren Unglücke, nicht wahr?“

Der schwarzhaarige Dämonenjäger nickte zustimmend. „Solange es nur Unfälle in der Küche sind, ist es ja halb so wild.“

„Natürlich.“ Nicks Stimme hatte einen seltsamen, schneidenden Ton angenommen. „Andererseits, die eigenen Missgeschicke hält man am liebsten geheim.“

Matt bemerkte es scheinbar gar nicht. „Mir ist so etwas nicht peinlich. Als Küchenhilfe im Waisenhaus hab ich mich irgendwann dran gewöhnt.“

Schließlich wandte sich Nick vielsagend mit den Augen rollend von den anderen ab und trottete bereits zum Wagen. Die Hot Dogs hinunter schlingend, folgten Anya und Zanthe ihm eilig, mit Matt als Schlusslicht.

„Der ist ja heute mal wieder ganz komisch drauf. Grassiert im Moment irgendwas, dass all meine Freunde neuerdings total launisch oder gleich fucking Weirdos sind?“, murmelte Anya zu Zanthe, der ihr aber auch keine befriedigende Antwort liefern konnte.

 

-~-~-

 

Nick fuhr den weißen Chrysler Neon die Einfahrt hinauf, direkt in die offen stehende Garage hinein. Kurz darauf stiegen die Vier aus dem Wagen und es dauerte keine fünf Sekunden, da platzte Anya bereits der Kragen.

„Harper!“, fauchte sie ihn von der Beifahrerseite an. „Was wollen wir hier!? Du solltest mich nachhause fahren. Heißt so viel wie zu mir, nicht zu dir!“

Nick sah sie über das Dach des Wagens in der dunklen Garage abwartend an. „Und weiter?“

„Bring mich-!“

Scharf schnitt er ihr ins Wort. „Hast du je einen Gedanken daran verschwendet, dass es im Moment nicht die beste Idee ist, bei dir Zuhause zu wohnen?“

Verdutzt blinzelte das Mädchen. „Was meinst-“

„Du wirst von einem unsterblichen Dämonen verfolgt, der nichts lieber täte, als dich und alle in deiner Nähe in klitzekleine Stückchen zu schneiden.“ Nick schnalzte mit der Zunge. „Ich bin mir ziemlich sicher, wenn er an der Tür klingelt, wird deine Mutter ihm mit ihrem wundervollen Lächeln aufmachen. Willst du das?“

Leider verstand Anya nicht ganz, worauf er hinaus wollte. Also übernahm das Zanthe, der hinter ihr stand. „Was er sagen will: Es ist das Beste für deine Mum, wenn du dich eine Weile von ihr fern hältst, um diesen Stoltz nicht auf sie aufmerksam zu machen.“

„Oh!“ Anya ging ein Licht auf. „Daran habe ich gar nicht gedacht!“

Der Werwolf hinter ihr seufzte mitleidig. „Natürlich nicht …“

Im Gegensatz dazu war Matt erstaunt von Nicks eigenem Handeln. „Aber es ist okay, wenn du stattdessen deine Eltern in Gefahr bringst?“

„Was mit denen geschieht, ist mir völlig gleichgültig“, erwiderte der Größte in der Gruppe in einer Eiseskälte, die selbst die beiden Streithähne erschaudern ließ, „abgesehen davon ist mein Vater im Moment auf einer Tagung und kommt so schnell nicht wieder. Bedankt euch bei seiner Affäre. Und Mum wird sich freuen, mal anderen Leuten als mir auf die Nerven gehen zu können.“

 

Die Drei verdutzt hinter sich lassend, ging Nick ungestört um die Motorhaube, an Anya vorbei und öffnete eine Tür, die ins Innere des Hauses führte. Nebenbei drückte er auf einen Schalter und ließ das Garagentor hinunter fahren.

„Tolle Familienverhältnisse“, staunte Zanthe, als es zunehmend dunkler wurde.

Matt gesellte sich neben ihn. „Bin ich froh, nicht sein Bruder zu sein.“

Selbst Anya pfiff anerkennend. „Wow Harper, aus dir wird ja doch noch'n Mann. Aber im Ernst, in meinem Freundeskreis ist das total normal.“

Der Kopftuchträger – heute strahlte besagte Kopfbedeckung in knalligem Rot – musste auflachen. „Echt?“

„Na ja“, begann Anya schulterzuckend und folgte nun mit den anderen beiden im Gepäck Nick ins Haus, „überleg' mal. In Nicks Familie hassen sie sich gegenseitig, Abbys leibliche Eltern sind tot, genau wie Big Als, dann haben wir noch Matt, dessen Schwester seinen Dad umgenietet hat …“

„Musste das sein?“, brummte Matt, der verständlicherweise nicht so gerne an seine Vergangenheit erinnert werden wollte.

„Oh, Redfields Mutter lebt auch in Paris als Designerin. Aber die zählt nur halb, weil die Ehe intakt ist, nur sehen die sich eben nicht so häufig“, plapperte Anya einfach weiter. „Ah ja und ich? Dad hab ich auch schon bestimmt'n Jahr nicht mehr gesehen. Die Einzigen, bei denen es wirklich läuft, sind Butchers Familie und eventuell noch das Pennerkind-Imperium.“

Zanthe kam nicht umher, ein amüsiertes Glucksen von sich zu geben. „Hast wohl'n Händchen dafür, dir solche Freunde anzulachen.“

„Wem sagste das?“

„Und deine Familie, Zanthe?“, hakte Matt neugierig nach, während sie einen kleinen Vorraum durchquerten, in dem Waschmaschine, Trockner und ein Schrank voll mit Putzmitteln und Ähnlichem standen.

Der Werwolf winkte ab und blieb kurz stehen, sodass der Dämonenjäger ihn überholte. „Meine Eltern waren okay, auch wenn ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Sind schon lange tot.“

„Wie alt bist du eigentlich?“ Interessiert drehte sich Matt im Laufen zu Zanthe um.

„Du fragst mich Sachen“, lachte der vergnügt auf, „geboren 1871. Rechne es dir aus.“

Anya kam nicht umher, einen galligen Kommentar abzugeben. „Wow, seit über 100 Jahren in der Pubertät. Das hat bisher nur Levrier geschafft.“

Strike, gleich zwei Seitenhiebe auf einmal! Anya bekam gleich bessere Laune. Und scheinbar wollte die ewige Nervensäge in ihrem Ohr ihr beweisen, dass sie falsch lag, indem sie allen Zweifeln erhaben reagierte. Nämlich gar nicht.

 

Ausgelassen gegenseitige Sticheleien austauschend, durchquerten die Drei einen Flur. Nick war schon vorgegangen, um die Sache mit seiner Mutter zu klären.

Als Anya sie kurz darauf in das Wohnzimmer führte, saßen Mutter und Sohn auf dem Sofa und sahen zusammen Fernsehen.

„Ihr könnt bleiben“, meinte Nick lässig.

„Ja! Setzt euch!“ Seine Mutter drehte sich zu den Neuankömmlingen um und winkte sie mit einer Tüte Chips in der Hand herüber. Kurze, dunkelrot gefärbte Haare, eine böse Hakennase, erinnerte sie Anya immer wieder an einen Geier, der um seine Beute kreiste. „Das große Millionen-Quiz fängt gleich an!“

„Hi, Mrs. H!“, grüßte Anya sie träge.

„So schnell ging das?“, flüsterte Matt ihr erstaunt ins Ohr, während Zanthe die Einladung prompt annahm und sich zu der Frau aufs Sofa warf.

Anya antwortete ebenso leise. „Frag nicht, Summers. Denk dir deinen Teil einfach.“

„Na ja, ganz nett scheint sie wohl zu sein.“ Kurz mit der Schulter zuckend, gesellte sich Matt ebenfalls zu den anderen. „Schon lange her, dass ich ferngesehen habe. Ein bisschen Entspannung tut jetzt sicher gut. Für heute lassen wir es gut sein, oder?“

Zanthe lud sich seine Futterluke bereits mit Chips voll. „Da kannst du Gift drauf nehmen.“

Seinerseits erhob sich Nick, den Blick auf den Flachbildfernseher gehaftet, über den gerade der Vorspann der Quizsendung flackerte. „Anya, kann ich dich kurz-“

„Nicht jetzt, Harper, die Show fängt an!“

Verdutzt durfte er im selben Atemzug feststellen, dass Anya ebenfalls auf dem Sofa saß, oder besser gesagt dessen Lehne, und sich von Matt die Chips geben ließ. Seit wann verbrachte Anya Bauer freiwillig Zeit mit seiner Mutter!? Anya hasste Mrs. Harper wie die Pest!

„Ist wichtig“, startete er einen neuen Versuch.

„Ich will das jetzt sehen!“, keifte die zurück. „Dachte, du hast sowieso noch was Wichtiges vor!?“

„Ja!“, nickte seine Mutter mit diebischem Vergnügen grinsend. „Lass die arme Anya, sie ist erschöpft von der langen Reise!“

Resignierend seufzte der junge Mann. Da war nichts zu machen. Musste er Anya eben später von seinen ganzen Entdeckungen berichten, sofern sie jene überhaupt interessierten. Manchmal könnte er sie-!

Verstimmt drehte er sich um und verließ die Wohnstube. „Ich bin oben in meinem Zimmer, falls mich jemand sucht.“

 

-~-~-

 

Ganz zu Nicks Ärgernis hatte ihn niemand gesucht. Bis spät in die Nacht vergnügten sich die Vier dort unten, machten ausgelassen sprich lautstark zusammen Essen, schauten fern, machten sich einen Mitternachtssnack, schauten weiter fern, und immer so weiter.

Irgendwann früh morgens kam seine Mutter dann auf die Idee, ihre Gäste auch mal einzuquartieren. Zanthe und Matt teilten sich das Gästezimmer, während Anya freiwillig das Sofa nahm – um näher bei der Glotze zu sein, wie sie unverhohlen zugab.

 

Als Nick gegen 8 Uhr des nächsten Tages die Treppen hinunter stieg, sah er schon, dass Anya mit ausgestrecktem Arm auf dem Sofa lag und vor sich hin schnarchte. Die Decke war verrutscht, das Mädchen lag auf dem Rücken und träumte vermutlich gerade von irgendwelchen Orks, die sie niedermetzelte, wenn man den unregelmäßig auftretenden, grunzenden Geräuschen aus ihrem Mundwerk trauen konnte.

Der dünne junge Mann, noch in Boxer Shorts und weißem Shirt, trat an sie heran und zog ihr die Bettdecke ordentlich über den Körper. Sie hatte sich nicht mal umgezogen, lag in schwarzen T-Shirt und ihrer Weste da.

Aber Nick lächelte versöhnlich. Er konnte ihr einfach nicht böse sein, so sehr er es wollte. Womit er vermutlich der einzige Mensch auf Erden war, sogar noch Abby hinter sich zurücklassend.

 

Doch sein Blick verhärtete sich. Für ihn gab es eine Sache zu klären und er hoffte, dies möglichst unauffällig über die Bühne bringen zu können. Nick drehte sich um, schlich durchs Wohnzimmer, ging an der Treppe vorbei und betrat einen kleinen Flur mit nur zwei Zimmern. Das rechte war lediglich ein kleines Bad für Besuch, wohingegen das linke das dazugehörige Gästezimmer war.

Nick öffnete vorsichtig die Tür. Er spähte hinein, sondierte angespannt die Lage. Das Zimmer war recht klein und hell gehalten, in jenen Pastelltönen, die seine Mutter am liebsten überall sehen würde. Die beiden Koffer der Jungs lagen offen auf dem Boden, allerdings herrschte trotzdem eine erstaunliche Ordnung, wenn man bedachte, dass zwei junge Chaoten darin hausten. Sie hatten das Doppelbett auseinander gezogen, um nicht unmittelbar nebeneinander liegen zu müssen. Ihnen gegenüber befand sich ein großer Schrank mit Spiegel, dazu zu beiden Seiten der Betthälften Nachttische, auf denen die Decks und in Matts Fall auch dessen Brieftasche lagen.

 

Auf leisen Sohlen stahl sich Nick hinein. Zanthe lag im rechten Bett, die Decke weit über sich geschlagen. Matt hingegen mochte es offenbar auf dem Bauch zu schlafen, genau wie bei Anya hing auch sein linker Arm die Bettkante hinab. Zu diesem beugte er sich hinab, hob ihn vorsichtig an, konnte jedoch nicht entdecken, wonach er suchte. Und den Rest seines Körpers abzuchecken erschien Nick zu riskant. So ließ er den Arm behutsam wieder sinken.

Vorsichtig schlich er daraufhin an Matt vorbei, machte einen Bogen um dessen Arm und erreichte seinen Nachttisch. Matts schwarze Deckbox in die Hand nehmend, öffnete Nick sie neugierig. Er musste es mit eigenen Augen sehen. Doch während er die Karten eine nach der anderen nach oben schob, wurde er zunehmend unruhiger.

Wo war sie!? Sie musste doch darunter sein! Doch als Nick mit dem Extradeck fertig war, traf ihn die Erkenntnis: Die gesuchte Karte war hier nicht zu finden. Was ihn dazu brachte, über Inkarnationen zu grübeln. Er hatte Anya nie gefragt, ob jene nur dann eine feste Form annahmen, wenn sie gebraucht wurden oder ob sie, nachdem sie geboren worden waren, kontinuierlich existierten. Sie hatte ihm nur erzählt, dass die Inkarnationen nach dem Tod der Immateriellen verschwunden waren, aber das konnte auf diese Situation bezogen vieles heißen.

Allerdings gab es doch etwas, das Nicks Aufmerksamkeit beim zweiten Durchlauf erregte. So stieß er zwar nicht auf -jene- Karte, dafür bemerkte er aber, dass Matt eine andere integriert hatte.

„[Steelswarm Roach]?“, wunderte er sich im Flüsterton.

Waren nicht alle Steelswarm-Monster Matts verschwunden, nachdem Urila den Dämonenjäger kurzzeitig kontrolliert hatte? Wieso besaß Matt dieses dann noch? Lag es daran, dass es seine alte Paktkarte gewesen war und dementsprechend einen besonderen Status innehielt?

Wie auch immer, Nick war nicht gewillt, Matts Treiben einfach nur mit anzusehen. So nahm er die Karte [Evilswarm Ouroboros] und entfernte sie kurzerhand aus dem Deck des Dämonenjägers, indem er sie sich unbemerkt in die Tasche seiner Boxer Shorts steckte.

Er spürte nichts. Da war kein unangenehmes, unerklärliches Gefühl irgendeiner Dunkelheit, wie Anya sie während des Duells mit Urila beschrieben hatte. Vielleicht war damals jene Immaterielle die Quelle gewesen, doch mittlerweile müsste es einen anderen Grund dafür geben. Kurzum: Wenn es dieses Dunkelheit noch gab – und dessen war sich Nick ziemlich sicher – dann ging sie von Matt aus, nicht von der Karte. Daher war es das Beste und einzig Richtige, sie ihm abzunehmen. Ohne Ouroboros würde er keine Inkarnation mehr durchführen können und genau das war auch Nicks Absicht.
 

„Was machst du da?“

Es kam so unvermittelt, dass Nick zurückschreckte und dabei gegen die Wand stieß, wobei er die Deckbox schnell auf den Nachttisch zurücklegte. Nur einen Sekundenbruchteil später hob Matt seinen Kopf an und musterte sein Gegenüber aus halb zusammengekniffenen Augen.

Nick fackelte gar nicht lange. Er griff nach etwas, das im Bund seiner Boxershorts steckte, versetzte Matt einen Stoß mit seiner bandagierten Hand und drückte ihn konsequent auf den Rücken. Und ehe der sich versah, hatte er ein blitzblank geputztes Küchenmesser an der Kehle.

„Ich weiß ganz genau, was mit dir los ist“, zischte Nick voller Verachtung den verdutzten Matt an. „Red' dich gar nicht erst raus. Was hast du gemacht, um so eine Karte in deinen Besitz zu bringen!?“

Matt blickte in Nicks funkelnde Augen, wobei er die seinen nun weit aufriss. „Wovon redest du!?“

„Sei leise!“, drohte ihm Nick. Zanthe sollte nichts davon mitbekommen. Im Flüsterton fügte er hinzu: „Tu nicht so. Ich rede von deiner Inkarnation!“

Der zerwühlte Schwarzhaarige weitete die Augen noch ein Stück. „Was erzählst du da?“

„Ich habe sie gesehen, während des Duells mit Drazen. Du hast sie belogen, nicht wahr!? Drazen ist nicht zu Staub zerfallen, du hast ihn umgebracht!“

„Nein!“, widersprach Matt, blickte Nick selbst dann widerspenstig an, als dieser die Klinge so fest in die Haut des jungen Mannes drückte, dass Blut über dessen Hals rann.

Doch Nick löste den Druck, als Zanthe ein Geräusch von sich gab, das irgendwo zwischen „Ja“ und „Mjam“ einzuordnen war. Dabei machte der vollkommen in seine Bettdecke Verhüllte Anstalten, sich umzudrehen.

Nick ließ daher von Matt ab, aber hielt ihm das Messer unter die Nase. „Egal was du vor hast, wenn du Anya schaden willst, wirst du es mit dem schlimmsten Dämon von allen zu tun bekommen. Mir! Ich weiß mehr über dich und deine Familie als dir bewusst ist und ich werde dieses Wissen benutzen, sollte es auch nur den geringsten Anlass geben, deine Loyalität gegenüber Anya infrage zu stellen.“

„Du bist doch völlig durchgedreht“, erwiderte Matt zornig, obschon man seiner völlig perplexen Mimik entnehmen konnte, dass er Nick gar nicht recht folgen konnte.

Der drehte sich von ihm ab. „Wir reden ein anderes Mal weiter. Und dann wirst du die Wahrheit sagen.“

 

Damit verschwand der Hausherr aus dem Zimmer.

Matt fasste sich an seinen Hals, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn geschrieben. Nie hätte er damit gerechnet, dass Nick derart durchdrehen konnte.

„Wieso hast du mich nicht gewarnt?“, flüsterte der Schwarzhaarige immer noch erschüttert von dem eben Erlebten.

„Weil ich keine Ahnung hatte, dass er so ein Freak ist?“ Zanthe richtete sich auf, das lange, schwarze Haar über die Schultern liegend. „Junge, wenn der und Anya jemals ein Kind kriegen, haben wir den neuen Fürst der Hölle gefunden.“

Der Dämonenjäger sah völlig überrascht, geradezu erschrocken herüber zu dem Werwolf, der vielsagend zurück starrte. Im Anschluss nickte Matt zögerlich. „Allerdings … kein Wort davon zu Anya, hast du mich verstanden? Ich regele das alleine, offenbar hat er etwas missverstanden.“

„Hat er das?“, fragte Zanthe zu Matts eigener Überraschung erstaunlich misstrauisch.

„Hat er. Oder glaubst du ihm etwa?“ Die Augen des jungen Mannes verengten sich zu Schlitzen. „Denkst du, ich würde Anya vor einem irren, unsterblichen Dämon retten, wenn ich ihr in Wirklichkeit schaden will?“

Ein Schulterzucken später hieß es: „Ich glaube, hier hat jeder so seinen Dreck am Stecken. Meinetwegen, ich halte die Klappe. Aber nur unter einer Bedingung …“

„Und die wäre?“, fragte Matt skeptisch.

 

-~-~-

 

„Was ist denn mit dir passiert, Summers?“, fragte Anya belustigt, als die ganze Sippe zu viert am langen Frühstückstisch saß. Sie spielte auf den Schorf an, der sich an Matts Hals befand.

Der rieb darüber und log: „Bin beim Rasieren abgerutscht.“

Gleich daraufhin warf die Blonde Zanthe einen 'Ich-hab-dir-doch-gesagt-du-bildest-dir-was-ein'-Blick zu, den jener mit undeutbaren Kopfschütteln zur Kenntnis nahm.

Nick, der neben Anya saß und gerade sein Brötchen mit Senf beschmierte – ja, Nick Harpers Geschmack trieb so manch Unwissendem die Tränen in die Augen – funkelte den jungen Mann ihm gegenüber feindselig an und schwieg.
 

Anya rührte in ihrem Joghurt herum und erwähnte beiläufig: „Ich habe heute übrigens etwas vor, weshalb ich euch Knalltüten eine Weile allein lassen muss.“

Sofort begann Zanthe zu kichern. „Hat es was mit -ihm- zu tun?“

Das Mädchen, welches gerade den Löffel im Mund stecken hatte, zog diesen schlagartig heraus. „Woher weißt du das!?“

„Nur so ein Gefühl“, antwortete ihr Gegenüber und zwinkerte verschwörerisch.

Nick wurde hellhörig. „Von wem redet ihr?“

„Von Anyas neuem Freund.“

„Er ist nicht mein Freund!“, betonte Anya sofort sauer. „Nur ein Bekannter, der mir mal geholfen hat. Ich habe ihm ein Duell versprochen. Und meine Therapeutin hat neulich gesagt, Versprechen soll man halten.“

Matt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Lass mich raten, sie heißt nicht zufällig Abby mit Vornamen?“

Die zusammengekniffenen, vor Ärger gefährlich aufblitzenden Augen des Mädchens drücken aus, dass es sich sehr wohl um ihre beste Freundin handelte. Wer sagte schließlich, dass Moralpredigten nicht auch am Telefon ausgesprochen werden konnten? Wobei Anya zugeben musste, im Vorteil zu sein: Noch nie hatte Abby es bisher geschafft, jene auch zu Ende zu bringen, ehe Anya aufgelegt hatte.

„Und wer ist das?“, bohrte Nick nach. „Kenn' ich ihn?“

„Keine Ahnung, ein Mechaniker, Logan heißt er … Was geht dich das überhaupt an, Harper!?“

„Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?“, fragte Nick mit einem Male deutlich aufgeschlossener. „Ich würde gerne zusehen.“

Anya starrte ihn wenig begeistert von der Seite an. „Muss das sein?“

 

„Nimm's ihm nicht übel“, scherzte Matt böse und sah Nick dabei ebenfalls an, jedoch deutlich provozierender, „er ist eben eifersüchtig.“

„Irgendwer muss schließlich auf sie aufpassen“, erwiderte der stets zerzaust aussehende, junge Mann an den Dämonenjäger gewandt.

„Klar, er wird sie bestimmt vergewaltigen, wenn du nicht hinsiehst.“

„Deswegen sehe ich hin.“

„Siehst du auch was anderes als Hirngespinster?“

„Sag du es mir, Matt.“
 

Während die beiden sich zunehmend aggressiver gegenüber einander verhielten, löffelte Anya genüsslich ihren Joghurt aus. So gefiel ihr das, Zank und Zoff schon zum Mittag. Fast wie in den guten, alten Zeiten, als sie noch durch die Gänge der Livington High schlurfte und den Urin roch, der so manches Bein herablief, wenn sie ihre Runde machte. Was war nur aus der glorreichen High School-Zeit geworden, dass sie es jetzt genoss, mit solchen Deppen an einem Tisch zu sitzen?

Einerseits vermisste sie es, andere nach Herzenslust zu tyrannisieren, auf der anderen Seite fühlte sie, wie sie sich immer mehr von ihrem alten Selbst entfernte. Eine Veränderung, von der sie sich nicht sicher war, ob sie ihr behagte.

 

Zanthe stieß ihr, genervt von dem Streit zwischen Matt und Nick, mit der Fußspitze gegen das Schienbein und riss sie aus ihrer Nostalgie.

„Mach was!“

Augenblicklich trat Anya mit doppelter Wucht zurück und sorgte so dafür, dass der ganze Tisch erschüttert wurde, weil ihr Gegenüber so vor Schmerz zusammenzuckte, dass seine Knie von unten gegen das Holz stießen.

Sofort war Ruhe.

Das schmerzende Bein an den Stuhl ziehend und festhaltend, raunte Zanthe: „Ghar! Doch nicht so!“

„Wieso, hat doch funktioniert?“, zuckte Anya unbedarft mit den Schultern. Immerhin, es hatte ihr Spaß gemacht, ihn zu treten. Vielleicht war sie doch noch nicht ganz in der Spießerliga angelangt und ein Comeback als Livingtons Terminatrix nicht völlig ausgeschlossen?

Trotzdem sah sie ein, dass es das Klügste wäre, die beiden Streithähne für eine Weile zu trennen, ehe sie sich noch wie die Tussifreundinnen von Redfield die Augen auskratzten.

Anya stöhnte genervt. Sie wollte doch heute einfach mal einen Tag für sich haben! Aber unter diesen Umständen wäre es besser, wenn sie Nick mitnahm.
 

„Okay, sperrt die Lauscher auf!“, verkündete sie und sprang auf. „Summers und Flohpelz, ihr habt für heute die ehrenvolle Aufgabe, diese Pseudo-Michonne für mich ausfindig zu machen. Wie hieß sie doch gleich, Eddy?“

„Edna. Und wie sollen wir das anstellen?“, fragte Zanthe wenig erfreut.

Anya zuckte mit den Schultern. „Summers, du bist auch ein Dämonenjäger. Telefonier' 'n bisschen 'rum oder so.“

„Ich kenne keine Edna“, erwiderte der jedoch perplex.

„Dann mach dich schlau! Ich bin jetzt jedenfalls weg! Harper, du kommst mit! Irgendwer muss mich ja hinfahren.“

Immerhin ein halbwegs guter Grund, den Deppen mitzunehmen, sagte sich Anya. Oh wie sie hoffte, auf dem Weg zu Logans Werkstatt auf irgendeine barbusige Schrulle zu treffen, um Nick loszuwerden. Egal wie hoch sein IQ war, seine Perversionen stellten jenen locker in den Schatten.

 

-~-~-

 

Nick hielt auf der weiten, leerstehenden Fläche vor der kleinen Werkstatt, die direkt am Stadtrand lag. Das linke Garagentor dieser stand weit offen, gewährte den Blick auf einen weißen Porsche. Anya fielen beinahe die Augen raus, als sie ausstieg und den Wagen ihrer Träume erblickte, wenn man von der Farbe mal absah.

„Was zum-!? Wer würde dem Zwerg so ein teures Teil anvertrauen!?“, staunte sie, als sie die Tür zuschlug. „Dagegen stinkt die Karre deines Alten ab, Harper.“

„Wenigstens gehört sie ihm dafür auch“, erwiderte der unbeeindruckt. „Wo ist er denn nun, dein sogenannter neuer 'Freund'?“

Selbst der sonst eher gleichgültigen Anya entging die schon fast höhnische Bemerkung Nicks nicht, aber sie machte sich nichts daraus. Es gab noch viele Seiten, die sie an Brainiac-Nick nicht kannte, vermutlich gehörte diese besitzergreifende dazu, jetzt, da er sie ausleben konnte. Was sie wiederum doch störte, denn die Vorstellung, dass Nick sie als sein 'Revier' betrachtete, war für Anya mehr als nur irritierend. Abstoßend traf den Nagel am ehesten auf den Kopf, denn der junge Mann war nun wirklich nicht das, was sie sich unter einem Beschützer vorstellte, der ihrer ebenbürtig war. Nicht Nick, und wenn er noch so viele Millionen von reichen Promikonten abstauben konnte. Hirn ersetzte keine Muskelmasse, etwas, das Anya immer bevorzugen würde.

 

Deswegen lachte sie sich auch leise ins Fäustchen, während die beiden über den leeren Parkplatz schlenderten. Nick im Fitnessstudio, das wär's! Nein, selbst wenn er einen Körperbau wie Logan besaß, das … nein. Einfach nein.

„Igitt“, nuschelte sie leise, als sie sich erst richtig bewusst wurde, -worüber- sie gerade allen Ernstes nachdachte.

„Was ist?“, fragte er sie, ihre Rechte flankierend.

„Nichts“, log Anya verstimmt, „hab nur gerade Gedanken an Beziehungen verschwendet. Du weißt schon, mit Liebe und diesem Kack.“

Nick kam nicht umher, nun selbst aufzulachen. „Du weißt gar nicht, wie froh es mich macht, dass sich deine Einstellung diesbezüglich nicht verändert hat.“

Anya blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. „Huh? Wieso?“

„Nur so. Weil wir da einfach gleich denken“, meinte er gut gelaunt und schlurfte an ihr vorbei.

 

Zusammen betraten sie schließlich das Innere der Werkstatt. Es stank nach Öl und anderem Zeug, das Anya nicht definieren konnte. Verbrannter Gummi vielleicht?

Sie sah zur Werkbank, die links an der Wand stand, dann zum Porsche, herüber zu einer leeren Hebevorrichtung weiter hinten im Inneren.

„Wo ist der Kerl?“

„Wenn er nicht hier ist, können wir ja gehen“, schlug Nick umgehend vor.

Anya schüttelte aber den Kopf. „Harper, der wandelnde Meter muss irgendwo hier sein. Denkste, der lässt dieses Teil hier einfach so unbeaufsichtigt rumstehen?“

Zur Verdeutlichung trat sie näher an den Porsche. „Ich frag' mich, wem der wohl gehört. Ob es demjenigen was ausmacht, wenn ich da ein paar Kratzer reinritze? Natürlich erst -nach- einer kleinen Spritztour.“

Sofort zierte ein bitterböses Grinsen ihre Lippen. Wenn sie ihre alte Boshaftigkeit schon nicht mehr an den Leuten aus ihrem Umfeld ausließ, dann wenigstens an ihrer Umwelt. Nicht, dass sie am Ende noch völlig ihr Mojo verlor! Wäre doch geil, GTA mal mit realistischer Grafik zu spielen!

„Keine gute Idee“, vermieste Nick ihr tonlos die Laune, „wenn er dich erwischt, bist du bestimmt nicht mehr seine 'Freundin'.“

Da war es, schon wieder! Was hatte Nick für ein verdammtes Problem!? Jetzt ging es ihr doch auf die Eierstöcke.

 

Aber ehe Anya ihre entbrannte Wut in eine entsprechende Form wenig unterhaltsamer Schimpftiraden verwandeln konnte, wurden die beiden unterbrochen. Unvermittelt kam Logan von irgendwoher hinter dem Porsche hervor. In dreckigem Blaumann gekleidet, schulterte er ein schmutziges Handtuch.

„Du hier? Dachte, du wolltest 'ne Weile Urlaub machen?“

„Der ist ja wirklich so klein, wie du ihn mir beschrieben hast“, stichelte Nick unvermittelt drauf los.

Anya verspürte den dringenden Zwang, ihren Freund ohne Apostrophe dafür zu schlagen. Aufgrund eines Gefühls, mit dem sie selbst noch so gar keine Erfahrungen gemacht hatte. Peinliche Berührtheit.

„Ich hab gesagt, so groß wie ich“, knurrte die im Vergleich zu Nick einen Kopf kleinere Anya, fügte dann noch für Logan hinzu: „Wollte ja nicht lange weg sein.“

Zu ihrer Beruhigung zeigte sich Logan wie üblich von derartigen Scherzen unbeeindruckt. „Und wer ist der da?“

„Anyas Freund.“

Diesmal hatte er es ordentlich, ja fast schon zu ordentlich betont.

„'Ein' Freund“, korrigierte sie ihn reflexartig, „wollte zusehen. Ich hoffe nämlich für dich, dass du Zeit hast. Ich hab nämlich wenig, also sei zufrieden, dass ich sie für dich erübrige!“

Der Schwarzhaarige mit den, Zitat Anya 'Mörderkoteletten', zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Redest du von dem Duell?“

„Von was denn sonst!?“, regte sich das Mädchen auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Also, was ist?“

Logan zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen, viel zu tun ist im Moment ohnehin nicht. Ich will mich nur schnell umziehen.“

„Dann beeil' dich!“

 

Wenige Minuten später standen die beiden sich auf dem Vorplatz der Werkstatt gegenüber. Auf der Straße neben ihnen herrschte reger Betrieb, sie befanden sich unweit der Stadtausfahrt Süd, wie sie inoffiziell hieß.

Nick lehnte etwas abseits an seinem weißen Chrysler Neon und beobachtete Anya und Logan, wie sie die Apparate an ihren Armen aktivierten. Es waren beides schwarze D-Pads identischer Bauart. Sein Blick wanderte herüber zu dem schwarzen Motorrad, welches ebenfalls auf dem Parkplatz stand und Logan gehörte, denn von dort hatte er den Apparat geholt. Er musterte die Maschine mit einem missbilligenden Blick.

 

Logan hatte sich ein kariertes Shirt und eine schwarze Lederjacke angezogen, passend zu seinen bereits abgetragenen Jeans. Er fixierte Anya. „Bin überrascht, dass du so scharf auf dieses Duell bist. Hatte bisher den Eindruck, du würdest dich drücken wollen.“

Mit einer abwinkenden Geste grinste Anya ihn frech an. „Ich? Eine Anya Bauer drückt sich vor gar nichts.“

Im Gegenteil, insgeheim hatte Anya sich zunehmend auf dieses Duell gefreut. Was nicht immer so war, anfangs empfand sie den Gedanken daran wirklich als lästig. Aber Logan war kein übler Typ, wie sie zugeben musste. Da er außerdem noch Anfänger war, würde sie ihre eigenen Fähigkeiten durch ihn besser einzuschätzen lernen. Es gab also nichts gegen ein kleines Spielchen einzuwenden.

„Hoffen wir es“, murmelte der Schwarzhaarige.

„Duell!“, riefen beide anschließend synchron.

Nick verschränkte derweil die Arme und behielt Logan im Auge. Seine abwartende Haltung wirkte auf den ersten Blick gespannt, doch wenn man genauer hinsah, wurde anhand von Mundwinkeln und den leicht zugekniffenen Augen deutlich, dass er nicht allzu viel von Logan leistungstechnisch erwartete. So als würde er sagen: „Mechaniker … na klar.“

 

[Anya: 4000LP / Logan: 4000LP]

 

„Hey, Zwergnase“, raunte Anya erhaben, bereits völlig im Geschehen vertieft, „weil du noch'n Noob bist, kannste meinetwegen anfangen.“

Logan stieß einen gedämpften Lacher aus. „Ganz so unerfahren bin ich nicht. Aber nehm' das Angebot an.“

Nick derweil ließ perplex seine Arme sinken. Murmelte: „Das hat sie doch noch nie-!?“

Beide Kontrahenten nahmen fünf Karten auf, ehe der dunkelhaarige Mann schließlich nachzog. Ein kurzer Blick auf sein Blatt genügte, um ihn ein Monster auswählen zu lassen, welches er auf sein D-Pad legte. „'beschwöre [Battlin' Boxer Headgeared]!“

Zu Logans Rechten baute sich ein schlanker Boxer auf, dessen dunkelblauer Oberkörper derart durchtrainiert war, dass jener wie Stein anmutete. Sein Kopf wurde durch einen roten Kopfschutz abgedeckt, welcher ihm seinen Namen gab.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

„Bei seiner Normalbeschwörung schickt er einen Boxer von meinem Deck auf den Friedhof“, erklärte Logan weiter, nahm aus jenem ein passendes Ziel und schob es konsequent in den entsprechenden Schacht seiner Duel Disk. „Kannst weitermachen, Kleine.“
 

„Wer ist hier klein!?“, fauchte Anya sofort wutentbrannt und riss die nächste Karte von ihrem Deck, welches immerhin in Logans D-Pad steckte. Was Anya aber nur allzu gerne vergaß. „Schau dich mal an! Kommst du überhaupt in irgendwelche Clubs rein? Außer, du gehst aufrecht unter dem Türschlitz durch!?“

Logan reagierte gar nicht, was Anya umso fuchsiger machte. „Schön, ignorier' mich ruhig, Gimli! Mal sehen, was du dazu sagst! Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion] und verschmelze damit [Gem-Knight Garnet] mit [Gem-Knight Crystal] von meiner Hand!“

Über Anya tat sich ein Strom aus aberdutzenden Edelsteinen auf, in den die Abbilder ihrer beiden Krieger gezogen wurden. „[Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Crystal], du die Rüstung! Vereint euch!“

Ein grelles Leuchten trat aus dem Wirbel aus, dann landete mit einem Satz ein Ritter in knallroter Rüstung und blauem Umhang vor Anya. Er schwang stolz seine Lanze. „Lass es krachen, [Gem-Knight Ruby]!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Hau ihn aus dem Ring!“, befahl Anya und zeigte auf Logans Monster. „Sparkling Lance Thrust!“

Gehorsam sprintete Ruby los und holte mit der Lanze nach Headgeared aus. Doch dieser wich mit einem flinken Schritt zur Seite aus und lenkte den Angriff mit einem geschickt platzierten Boxschlag von sich weg.

„Was geht'n hier ab!?“

Auf Anyas Frage hin antwortete ihr Gegner: „Bisschen Training. Einmal pro Zug wird [Battlin' Boxer Headgeared] nicht durch Kampf zerstört, wenn er in Angriffsposition liegt.“

Funken flogen von Rubys Lanze und erwischten Logan, der jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte.

 

[Anya: 4000LP / Logan: 4000LP → 2500LP]

 

„Oh, wie schön für dich“, raunte Anya zynisch, „Zug beendet!“

 

Logan zog sofort auf und legte anschließend eine andere Karte auf seine Duel Disk. „[Battlin' Boxer Glassjaw]!“

Im Gegensatz zu Headgeared war der nun erscheinende Boxer ein wahrer Hüne von äußerst muskulöser, grüner Gestalt. Anya runzelte argwöhnisch die Stirn bei seinem Anblick.

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Logan nickte in ihre Richtung. „Angriff, [Battlin' Boxer Glassjaw]!“

Trotz seiner klobigen Statur war Glassjaw erstaunlich flink zu Fuß und holte mit der Faust aus, als er Ruby erreicht hatte. Die begann mitten im Hieb zu brennen. Als Antwort hob der Ritter seine Lanze und wehrte den Schlag spielend leicht mit jener ab.

„Pah, was soll das denn werden?“, tönte Anya großkotzig.

„Indem ich [Battlin' Boxer Counterpunch] von meinem Friedhof entferne, verstärke ich temporär den Angriff eines Boxers um 1000.“

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 → 3000 DEF/0 (4)]

 

Die Flammen um Glassjaws Boxhandschuh schienen in diesem Moment regelrecht zu explodieren, was dazu führte, dass Rubys Lanze unter der Wucht des Schlages in der Mitte durchbrach und er die volle Ladung direkt in die Brust geschlagen bekam. Anya fluchte dabei laut. „Shit!“

Kaum hatte sie geendet, wich sie erschrocken zurück, da ihr völlig entgangen war, wie sich [Battlin' Boxer Headgeared] an sie herangeschlichen hatte. Seine Faust ging durch ihren Unterleib hindurch, ohne aber Schmerzen zuzufügen. Trotzdem krümmte sie sich rein aus Reflex.

„Das war dann der direkte Angriff“, sagte Logan nebenher.

 

[Anya: 4000LP → 3500LP → 2500LP / Logan: 2500LP]

 

„D'nke“, knurrte das Mädchen und richtete sich auf. „Hab ich auch gemerkt! Dafür brech' ich dir mindestens einen Knochen, Mistkerl!“

Spätestens jetzt hatte sie längst verdrängt, dass ihr das Duell eigentlich Spaß machte. Platt gerollt vom Ehrgeiz persönlich, gefüllt mit Anyas Ego und garniert mit einer saftigen Priese Boshaftigkeit. Ungefähr das wäre ihr Duellstil, würde man ihn mit einer Frühlingsrolle vergleichen.

Logan aber schreckte das nicht ab, er streckte den Arm weit aus. „Da es unklug wäre, Glassjaw auf dem Feld zu behalten, wenn nur ein Angriff ihn durch seinen negativen Effekt automatisch zu Fall bringt, werde ich eine Xyz-Beschwörung durchführen. Ich erschaffe das Overlay Network!“

Seine beiden Monster lösten sich in flammenrote Lichtstrahlen auf und stiegen in die Höhe, wo sich ein schwarzer Wirbel öffnete und sie willkommen hieß.

„Aus meinen beiden Stufe 4-Boxern wird ein Rang 4-Monster! Xyz Summon! [Battlin' Boxer Lead Yoke]!“

Mit einem Satz landete aus dem Galaxienstrom vor ihm eine hünenhafte Gestalt, noch kräftiger als sogar Glassjaw, vor ihrem Besitzer. Dabei war es erstaunlich, dass die Kreatur überhaupt so gebeugt stehen konnte, waren sein Hals und die Arme doch fixiert von massiven Stahlpfeilern, die er auf dem Rücken trug und mit Handschellen an ihnen gefesselt war. Wie ein Gefangener mutete er an. In jedem der beiden Träger befand sich eine Leuchtsphäre.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Logan schmunzelte. „Kannst weitermachen … Kleine.“
 

Seine Gegnerin mahlte regelrecht mit ihrem Kiefer. „Alter … du traust dich was! Jeder andere wäre jetzt längst tot!“

„Und warum nicht ich?“

Anya reckte erstaunt den Kopf nach hinten. Das war, so ungern sie es auch zugab, eine berechtigte Frage. Wieso zur Hölle verschonte sie ihn vor der Anya Bauer-Premium-Wut!? Es gab keinen größeren Volltrottel! Selbst Summers war da noch unterwürfiger. Und Big Al zählte sowieso nicht, der lief eh nicht richtig im Oberstübchen. Dieser Typ da gehörte mit Boy George-Musik gefoltert für seine Dreistigkeit, sich ihr permanent zu widersetzen!

„Keine Ahnung“, brummte sie träge, ihren inneren Monolog wie immer auf das Wesentliche reduzierend. „Keine Lust heute.“

„Hm“, bekam sie nur als Antwort zurück.
 

„Deswegen verlierst du jetzt trotzdem!“, fauchte sie sofort im Anschluss, wieder zu ihrem liebgewonnenen Freund zurückfindend, der schlechten Laune. „Draw!“

Schwungvoll zog sie und zeigte im Anschluss sofort die Karte vor. „Kannst dich auf ein Date mit einem alten Bekannten freuen! Zauberkarte [Monster Reborn]!“

Sie legte jene sofort in ihr D-Pad ein und keinen Moment später stieg aus dem Boden ihr [Gem-Knight Ruby] hervor, frisch dem Grabe entsprungen.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Sparkling Lance Thrust!“, befahl sie auf der Stelle und zeigte auf Logans unterdrückten Boxer.

Unter lautem Kampfgeschrei rannte ihr roter Ritter auf Lead Yoke zu und schlug mit seiner Lanze nach ihm. Sein Gegner wandte sich dabei ab, sodass einer der Metallpfeiler getroffen und zerstört wurde – nicht aber Lead Yoke selbst. Um den entbrannte stattdessen eine flammende Aura.

 

[Anya: 2500LP / Logan: 2500LP → 2200LP]

 

„Wieso lebt der noch!?“

Logan zeigte [Battlin' Boxer Headgeared] vor, welchen er unter seinem Xyz-Monster hervorgezogen hatte und nun in den Friedhofsschacht bugsierte. „Auf Kosten eines Xyz-Materials kann ich verhindern, dass [Battlin' Boxer Lead Yoke] oder einer seiner Trainingspartner zerstört wird. Obendrauf gibt’s 800 Angriffspunkte.“

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 → 3000 DEF/2000 {4} OLU: 2 → 1]

 

Anya nahm irritiert einen Schritt zurück. „Uh, so war das nicht geplant …“

Sofort sah sie eindringlich ihr Blatt an. „'kay, dann eben anders! Ich setze ein Monster und zwei Karten verdeckt! Zug beendet!“

Neben ihrem Ruby materialisierte sich in horizontaler Lage das verdeckte Monster, hinter ihnen die anderen beiden Karten. Damit hatte Anya ihr gesamtes Blatt ausgespielt.

 

Nick indes beobachtete nur mäßig interessiert, wie die beiden sich in ihrem 'Freundschaftsspiel' gegenseitig übertrumpften. Dabei war schon seinem abweisenden Blick, den er immer dann aufsetzte, wenn er Logan betrachtete, anzumerken, wie wenig er von Anyas neuem Freund hielt.

Es war nicht etwa so, dass er Anya keine anderen Freunde gönnte, im Gegenteil. Aber da war etwas, was er an Logan nicht mochte. Nicht die Tatsache, dass er sich von ihren Gebärden unbeeindruckt zeigte, dafür verdiente er sogar eine Auszeichnung. Nein, was Nick so an ihm störte, war die Tatsache, dass … er Anya gefallen könnte. Mehr noch, dass er ihr längst gefiel. Denn seine Sandkastenfreundin hatte es in ihrem Blick, auch wenn sie es selbst noch gar nicht zu begreifen schien. Dieses Funkeln in den Augen, wenn Logan sie ignorierte. Diese ungewohnte Zurückhaltung, wenn er ihr frech kam. Und die Tatsache, dass sie sich für das interessierte, was er erzählte, wie sie selbst auf der Fahrt hierher zugegeben hatte. Etwas, das man einer Anya Bauer höchstens im Alkoholrausch zutrauen würde – Gott schütze uns, wenn sie erst volljährig wurde!

Das letzte Mal, als sie einem Mann derart viel Aufmerksamkeit zukommen ließ, wurde sie am Ende mit gebrochenem Herzen und Blut an ihren Händen zurückgelassen. Und Nick ahnte, dass zumindest Ersteres wieder passieren würde. Denn was sollte ein Mann wie Logan schon mit ihr anfangen können? Spätestens dann, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr, würde er sie zurückweisen, ungeachtet seiner Haltung zum Übernatürlichen. Das hatte Nick im Blut.
 

So biss er sich verbittert auf die Lippen, wissend, dass er nichts dagegen tun konnte, ohne alles nur noch schlimmer werden zu lassen. Hoffentlich täuschte er sich. Bis vor Kurzem hätte er noch damit leben können, wenn es wenigstens Matt wäre, für den Anya sich interessiert. Bei dem war er sich sicher gewesen, dass sie ihm nicht scheißegal war. Doch seit seiner Entdeckung war er froh, dass die Beziehung der beiden rein platonisch war. Denn Matts Motive und Hintergründe waren für ihn ein Rätsel.

Wieso eine Inkarnation und woher? Immer wieder ging es ihm durch den Kopf. Wer stand hinter Matt, oder eher, was? Kaum ein anderer hatte Anya so oft geholfen, damals wie heute. Das erkannte Nick an. Umso mehr musste er hinter Matts Geheimnis kommen, unbedingt.

Ob es richtig gewesen war, ihm so frei heraus im wortwörtlichen Sinne ein Messer an die Kehle zu legen? Das hatte Nick nicht geplant gehabt, er wollte ursprünglich nur die Inkarnation von [Evilswarm Ouroboros] mit eigenen Augen sehen und an sich nehmen. Das Messer hatte er nur mitgenommen, falls Matt aufwachen und ihn angreifen sollte. Zumindest Ersteres war auch eingetreten, doch … Nick gestand sich selbst ein, in letzter Zeit ziemlich impulsiv zu handeln. Er musste vorsichtiger werden, denn diese Aktion war, genau wie die mit Valerie, viel zu undurchdacht gewesen.

Umso mehr lasteten all seine Erkenntnisse und Erlebnisse auf Nicks Schultern, da er sie bisher niemandem anvertraut hatte. Würde er Anya davon erzählen was Matt getan hat oder was der Sammler -wirklich- war, so könnte sie das am Ende nur dank ihres Dickschädels ins Verderben reißen. Sie war einfach nicht der Typ für eine vorsichtige Herangehensweise … was sollte er tun?

Dass Nick derart vor sich hin grübelte bekamen die anderen beiden gar nicht mit.

 

Logan zog und analysierte kurz das Spielfeld, ehe er sagte: „Muss zugeben, das Duell ist in Ordnung. Aber wirklich gut bist du nicht.“

„Ach ja!?“ Man konnte den Farbwechsel in Anyas Gesicht regelrecht mitverfolgen. „Und du!? Kriegst es ja nicht mal fertig, was anderes außer Monster zu spielen!“

„Habe ich schon gewonnen?“ Der knapp Eins-sechzig große Mann zuckte mit den Mundwinkeln, als Anya ihn verwirrt anstarrte. „Eben. Bin auch nicht besser als du.“

Baff davon, dass kein überheblicher Spruch gekommen war, blieb Anya glatt die Spucke weg. Indes machte Logan weiter. „Ich beschwöre [Battlin' Boxer Rabbit Puncher].“

Ein eher hagerer Boxer betrat den Ring, dessen markantestes Merkmal neben den durchwühlten, roten Haaren der gasmaskenähnliche Kopfschutz war, den er an hatte.

 

Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3)]

 

Befehlend streckte Logan den Arm aus und zeigte auf Anyas gesetztes Monster. „Wenn [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] Gegner in Verteidigungsposition angreift, zerstört er sie, bevor der Schaden berechnet wird.“

Anya sah ihn zunächst perplex an, begriff aber schnell, was dies bedeutete, als der Boxer des Schwarzhaarigen grazil über das Spielfeld huschte und seine Faust in der Karte ihres Monsters versenkte. Diese zersprang in tausend Stücke. Wohlgemerkt ohne aufgedeckt zu werden.

„Fuck“, entfuhr es ihr, „wieso wurde [Morphing Jar] nicht geflippt!? Was ist das für ein Scheiß!?“

So konnte sie die fünf Karten nicht ziehen, die er ihr vermacht hätte. Von wegen Anfänger, dieser Typ duellierte sich fast besser als Redfield oder das Pennerkind und das wollte was heißen! Wenigstens bekam er jetzt auch keine fünf neuen Karten, selbst schuld!

„Nennt sich Regeln. Kennste wohl nicht besonders gut“, stichelte Logan und rief sofort im Anschluss: „beim zweiten Mal tut es nicht mehr so weh. [Battlin' Boxer Lead Yoke], zerstöre [Gem-Knight Ruby]!“

Den nun vom Gewicht der Metallsäule freigewordenen Arm schwingend, stürmte der gebeugt laufende Boxer auf Anyas Ritter zu und zerschmetterte ihn regelrecht mit seinem Hieb. Anya wich keuchend zurück.

 

[Anya: 2500LP → 2000LP / Logan: 2200LP]

 

„Da's dir wohl zu langweilig ist, wenn ich nur Monster spiele, setze ich diese Karte verdeckt“, verkündete Logan, „mach dein Ding, Kleine.“

Deren Feld war nur noch mit zwei gesetzten Karten gefüllt, anders als ihre Hand, die leer war. Wie sollte sie da ihr Ding machen, fragte sich Anya wütend. Er hatte auch gut reden, hatte er ein noch fast volles Blatt mit vier Karten.

Und dann dieses 'Kleine' …!
 

„Ich bin verdammte Durchschnittsgröße“, fauchte sie bis aufs Blut provoziert, „du bist ein Fall fürs Kuriositätenkabinett, Mini-Me. Ich hab Ameisen gesehen, die waren größer als du!“

„Komisch, wieso interessiert dich meine Größe so?“, erwiderte er über alle Beleidigungen erhaben. „Möchtest du, dass ich mich für dich auf einen Hocker stelle?“

„Ja, damit ich dich runterstoßen kann, Mistkerl!“, zischte Anya und griff nach ihrem Deck. „Fucking-Mega-Draw!“

In einer ausholenden Bewegung zog sie und betrachtete die neue Karte im Anschluss, welche ihr zumindest ein diebisches Grinsen entlockte. Dann schwang sie den Arm über ihre verdeckten Karten aus, von denen die linke aufsprang, eine Zauberkarte, auf der ein Rubin, ein Topaz und ein Saphir abgebildet waren, die aus einem Wirbelsturm voller Edelsteinen in Richtung des Betrachters schossen. „Ich brauch noch mehr! Und zwar dank [Gem-Trade]. Mit dieser Zauberkarte verbanne ich ein Gem-Knight-Fusionsmonster, wenn eine Karte auf meinem Friedhof liegt, die ein solches beschwören kann.“

Unnötig zu erwähnen, dass [Gem-Knight Fusion] diese Karte war. Das Bestmögliche erwartend, nein sogar insgeheim einfordernd, griff Anya erneut nach ihrem Deck. „Und für jeden Intervasall von drei Stufen des verbannten Gem-Knights darf ich eine Karte ziehen, muss dafür aber auch jeweils eine Draw Phase aussetzen!“

Da sie sich von [Gem-Knight Ruby] trennte, dessen Stufe 6 war, durfte sie zweimal aufziehen. Als Symbol dieses Akts tauchte auf Anyas Brusthöhe ein faustgroßer Rubin auf, der in zwei Teile zerbrach. Sie riss die Karten förmlich vom Deck, während er verschwand. Und spätestens jetzt, da sie schon auf ganze drei Handkarten kam, war ihr Grinsen derart bösartig und vielsagend, dass vermutlich in ganz Livington alte Opfer Anyas spüren konnten, wie ihre physischen und Schrägstrich oder emotionalen Narben zu schmerzen begannen.

Unvermittelt holte sie zwei Karten aus ihrem Friedhof hervor und präsentierte sie in kämpferischer Haltung. „Ich bin noch nicht fertig mit Aufstocken! Indem ich [Gem-Knight Crystal] vom Friedhof verbanne, erhalte ich [Gem-Knight Fusion] von dort zurück!“

Dementsprechend landete das normale Monster in ihrer Hosentasche, während sie [Gem-Knight Fusion] zu ihrem restlichen Blatt steckte.

Schließlich atmete sie tief durch, hielt ihre nunmehr vier Handkarten vor der Brust.

„Alter, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nochmal'n Stück geschrumpft sein, auch wenn das nicht mehr möglich ist!“, protzte sie kurz darauf überheblicher denn je und war dabei schon im Begriff, wieder den Arm auszuschwingen.

Logan regte sich kaum, brummte nur: „Hmm.“

„Ganz recht, widersprech' gar nicht erst! Verdeckte Falle! [Return From The Different Dimension], welche jetzt möglichst viele von mir verbannte Monster beschwört, auch wenn ich dafür die Hälfte meiner Lebenspunkte zechen muss!“

 

[Anya: 2000LP → 1000LP / Logan: 2200LP]

 

Zwei Dimensionslöcher öffneten sich vor Anya, in ihnen sah man nur ein Gemisch bunter Farben. Doch dann sprangen aus ihnen [Gem-Knight Ruby] und [Gem-Knight Crystal], ein Ritter in weißer Rüstung mit kristallinen Schulterplatten, hervor.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Die beiden gehen mir in der End Phase zwar wieder flöten, aber wen juckt's? Bis dahin bist du sowieso nur noch Pampe unter meinem Schuh!“, prahlte Anya ungehemmt weiter. Sie streckte den Arm weit aus. „Ich aktiviere Rubys Effekt und opfere damit Crystal, um Rubys Power um Crystals zu erhöhen!“

Der weiße Ritter löste sich in weißen Funken auf, die sein Kamerad mit seiner Lanze absorbierte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4950 DEF/1300 (6)]

 

Indes konnte sich Nick ein verschmitztes Schmunzeln nicht verkneifen. Unter seinem Alter Ego hätte er jetzt sicher einen lahmen Crystal Meth-Witz gerissen, aber er war froh, es nicht mehr zu müssen. Niemand ahnte, wie anstrengend es war, sich permanent als dämlichster Mensch der Welt auszugeben. Er fragte sich insgeheim, ob es noch Verwendung für jenen Nick gab, nun da die wichtigsten Menschen in seinem Leben eingeweiht waren.

„Heh … man kann nie wissen“, lautete sein Schluss.

Aber Anya hatte nicht übertrieben. Sie würde Logan mit dem nächsten Angriff auseinander nehmen, vorausgesetzt, er konnte nichts tun um das zu verhindern. Es machte ihn stolz zu sehen, welche Fortschritte sie bereits gemacht hatte, auch wenn sie ihre Kopf-durch-die-Wand-Philosophie wohl nie ablegen würde.

Gerade wollte er Anya anfeuern, während sie befahl, [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] und damit Logan den Gnadenstoß zu versetzen, da klingelte sein altes Handy. Erschrocken holte er es aus der Innentasche seiner Jacke hervor. Während es in seiner Hand vibrierte, starrte der junge Mann es entgeistert an, wurde zunehmend blasser, was sowieso kaum möglich war.

„Willste nicht rangehen?“, raunte Logan mit leicht genervtem Unterton.

Nein, wollte Nick ihm sagen. Nicht, wenn er sich absolut sicher war, dass niemand die Nummer des Geräts kennen sollte.

Es hörte nicht auf. Nick entschloss sich, den Wagen zu Umrunden, damit die anderen beiden ungestört vom Telefonat ihr Duell fortsetzen konnten. Und nicht mithören würden. Er hob ab.

 

„Wie ich gerade sagte, nachdem Harpers nerviger Bimmelkasten aus dem letzten Jahrhundert mich unterbrochen hat: Du bist erledigt!“ Anya streckte den Arm aus. „Dein Rabbit Puncher wird jetzt wirklich zum Hasenfuß! Ruby, beende es! Sparkling Lance Thrust!“

Mit seinen gerade einmal 800 Angriffspunkten konnte der Gasmasken tragende Boxer den Angriff nicht genug abfangen, um Logans Niederlage zu verhindern, dachte Anya zuversichtlich. Ihr Krieger ließ seine Waffe einmal über dem Kopf kreisen, ehe er auf den Boxer zu schnellte. Nur leider den falschen, wie Anya erschrocken feststelle, als ihr Ritter ausholte und nach [Battlin' Boxer Lead Yoke] schlug.

„[Shift]!“, rief Logan, dessen Fallenkarte aufgesprungen war. „Sie ändert das Ziel deiner Effekte und Angriffe.“

Lead Yoke drehte dem angreifenden Ruby den Rücken zu, dessen Lanze daraufhin in den übrig gebliebenen Pfeiler gerammt wurde und diesen zum Zerbersten brachte. Logan regte sich nicht im Angesicht der Spitze jener Waffe, die ihren Weg in seine Richtung fortsetzte und einen halben Meter vor seiner Brust in ihrer Bewegung verharrte.

 

[Anya: 1000LP / Logan: 2200LP → 250LP]

 

Mit der gigantischen Fessel verschwand das Xyz-Material darin, das Logan abhing und erklärte: „Lead Yoke schützt sich vor dem KO und wird wieder um 800 Angriffspunkte stärker. Außerdem habe ich Glassjaw auf den Friedhof geschickt, wodurch ich jetzt einen Boxer vom Friedhof erhalte.“

Er zeigte Anya [Battlin' Boxer Headgeared], den er seiner Hand hinzufügte. Das Mädchen knirschte mit den Zähnen, als der nun völlig freie Lead Yoke seine Muskeln anspannte und Ruby mit einem Faustschlag wegstieß.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 → 3800 DEF/2000 {4} OLU: 1 → 0]

 

Das Heulen eines Motors erklang. Anya und Logan drehten sich überrascht zur Seite, sahen wie Nick das Fenster der Fahrertür herunter fahren ließ und sie ansah. In seinen Zügen stand tiefste Anspannung geschrieben. „Ich muss dringend weg. Sorry Anya, du musst leider zu Fuß nachhause. Oder lass dich von deinem neuen 'Freund' fahren.“

Was er wieder mit dieser gewissen Prise Abneigung betonte.

„Huh!? Aber sonst geht’s dir gut, Harper!?“, fauchte das Mädchen baff. „Was soll der Scheißdreck denn, hat deine Mu-!?“

Doch Nick ignorierte sie und setzte seinen Chrysler in Bewegung, drehte auf dem Parkplatz und verschwand ohne Erklärung.

 

Der Mechaniker lachte bitterböse auf. „Scheinbar hat's dem nicht gefallen, wie wir spielen.“

Unter einem ärgerlichen Stirnrunzeln wandte sich Anya ihrem Gegner zu. „Tch! Mich einfach sitzen zu lassen. Der kann was erleben! Dem ramme ich meine Faust so tief in den Arsch, bis er freiwillig mit mir als Bauchrednerin auftritt!“

Oh ja, und das war nur der Auftakt zu Nicks persönlicher Hölle, sponsored by Anya Bauer. Wie konnte der es wagen, mitten in ihrem Duell abzuhauen!? War sie wirklich so schlecht, dass es ihn langweilte oder hatte da gerade irgendeine Bank angerufen, die seine Betrügereien aufgedeckt hatte? Sie wollte es wissen, verdammt!

Logan zuckte mit den Schultern. „Bringt nichts, sich jetzt darüber aufzuregen. Lass uns weitermachen.“

Er erntete ein ärgerliches Schnaufen. „Ja …“

 

Anyas Laune besserte sich auch nicht gerade dadurch, dass Logan ihr die Suppe versalzen und den Angriff knapp überstanden hatte. Mit dem Unterkiefer mahlend, betrachtete sie angestrengt ihre Handkarten. Sie musste etwas tun, denn Ruby würde am Ende des Zuges wieder in die Verbannung verschwinden.

Energisch zog sie [Gem-Knight Fusion] aus ihrem Blatt und rammte diese in das D-Pad an ihrem Arm. „Ich verschmelze Ruby und [Gem-Knight Alexandrite] von meiner Hand und lasse sie zu [Gem-Knight Citrine] werden!“

Wie immer, wenn das Mädchen äußerst erbost war, vergaß sie dabei ihren selbst ausgedachten Beschwörungsspruch und ließ lediglich durch einen gen Himmel gerichteten Schwenk mit der Hand einen Strudel aus Edelsteinen erscheinen. Ruby stieg in die Luft auf und ließ sich mit ausgestreckten Armen einsaugen, danach folgte ihm der in silberner Rüstung steckende Alexandrite. Keinen Moment später flatterte ein blauer Umhang durch die Luft, dessen Träger mit einem Satz vor Anya landete. Glühend rot erstrahlten die Oberarme des Ritters in bronzener Rüstung, der lässig ein Breitschwert, bestehend aus ebenso flackerndem Magmagestein, schulterte.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 DEF/1950 (7)]

 

„Heute nur ein Kurzauftritt für dich, Citrine!“, verlautete Anya autoritär und schwang den Arm weit aus. „Denn ich benutze den Effekt meines [Angel Wing Dragons] im Extradeck und schicke das Licht-Monster [Kuriboss] von meinem Deck auf den Friedhof! Damit wird [Kuriboss] als Empfänger behandelt, der gerade für eine Synchrobeschwörung benutzt wird!“

Nachdem sie die Karte ihres [Kuriboss'] in den Friedhofsschlitz geschoben hatte, ballte sie eine Faust und streckte jene in die Höhe. „Stufe 1 und Stufe 7 ergeben Stufe 8! From the light of a different world, the herald of starlight decends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you!“

Weit über dem Mädchen glänzte es und ehe Logan sich versah, erblickte er einen riesigen, goldenen Ring, in dessen Innerem eine wässrige Oberfläche schimmerte. Citrine stieg in die Luft auf und durchquerte jene Masse, ohne auf der anderen Seite wieder aufzutauchen.

„Synchro Summon!“

Stattdessen streckten sich von dem Ring vier weiß befiederte Schwingen. Gleichzeitig schoss von vorne ein schlanker Drachenkopf hervor, an dessen Nacken ein goldenes Kragengestell befestigt war. Aus der anderen Seite schnellte sein langer, weißer Schweif, bis beide Parteien einen ganzen Körper ergaben.

„Shine forth, [Angel Wing Dragon]!“

Unter majestätischem Gebrüll verkündete der Drache, nun einsatzbereit zu sein und richtete dabei wie eine Kobra sein Haupt auf.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Derweil kniff Logan die Augen zusammen und kratzte sich am Kinn. „Könnte schwierig werden.“

„Oh das wird es“, versprach Anya sehr überzeugt von sich, „und fertig bin ich auch noch nicht! Da ich noch gar keine Normalbeschwörung getätigt habe, hole ich das jetzt nach und rufe [Gem-Armadillo]!“

Ohne lange zu zögern knallte sie jenen auf ihr D-Pad. Unter Angel Wing tauchte ein beinloses Gürteltier auf, das mithilfe von Düsenantrieben vom Erdboden abhob. Anya derweil griff nach ihrem Deck und suchte eine Karte von dort hervor, die sie Logan zeigte. „Wenn der beschworen wird, erhalte ich einen Gem-Knight auf mein Blatt!“

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]
 

Dieser war kein geringerer als [Gem-Knight Turquoise]. Und Anya grinste plötzlich wieder so diabolisch, wie sie es immer tat, wenn sie sich im Vorteil wähnte. Wenn alles andere fehlschlug, würde Turquoise sie retten! Doch dazu brauchte sie etwas.

„Effekt von [Gem-Knight Fusion] auf meinem Friedhof! Ich erhalte sie zurück, indem ich Citrine verbanne!“ Sie steckte das Fusionsmonster in ihre Hosentasche und ihre Zauberkarte wieder ins Blatt zurück. Nur um dann eine andere von dort zu nehmen und in das D-Pad einzulegen. „Die da setze ich. Jetzt bin ich aber durch!“

Zischend materialisierte sich der Schnellzauber vor ihren Füßen. Das Grinsen wurde noch breiter. Der würde sich wundern, freute sich Anya. Niemand trotzte ihr, wenn sie erst ihre Turquoise-Kombo durchzog!

 

Davon schien Logan gar nichts zu ahnen. Sein Blick haftete an [Angel Wing Dragon], den er interessiert betrachtete. „Netten Brummer hast du da.“

„Jep“, erwiderte Anya unter stolz geschwollener Brust, „mein Ass-Monster!“

„In einem Deck voller Fusionsmonster ist er dein Ass-Monster?“, staunte Logan und richtete seinen fragenden Blick auf Anya. Dann zuckte er die Schultern. „Nun, was auch immer für dich am besten funktioniert.“

Plötzlich sah Anya auf ihr D-Pad. So lange hatte sie Angel Wing noch nicht, aber es machte Spaß, ihn zu beschwören, weil es so einfach und nahezu immer möglich war. Er machte ihr Deck noch abwechslungsreicher, was ihr gut gefiel. Was sie wiederum selbst ein wenig überraschte, war sie doch sonst kein Freund von Veränderungen.

Der Anflug eines Lächelns stand ihr im Gesicht geschrieben. Und verschwand augenblicklich, als sie sich gewahr wurde, warum sie Angel Wing überhaupt besaß.

„Wenn er nicht funktioniert, werde ich sterben“, murmelte sie geistesabwesend vor sich hin.

„Du meinst, du verlierst“, korrigierte sie Logan.

Anya sah auf, dann aber mied sie seinen Blick, indem sie zur Seite starrte. „Is' doch dasselbe.“

„Hm. Nein.“

 

Es dauerte einen Moment, ehe sie sich ihm wieder zu wandte und mit einem kurzen Nicken bedeutete, er solle seinen Zug endlich beginnen.

Das tat er auch, ohne weiter auf ihre Worte einzugehen und zog auf sechs Handkarten auf. Eine davon legte er sofort auf sein zu Anya identisches, schwarzes D-Pad. „Den habe ich vorhin zurückbekommen, wenn du dich noch erinnerst! [Battlin' Boxer Headgeared]! Und er schickt bei seiner Beschwörung einen Trainingspartner auf den Friedhof: [Battlin' Boxer Rib Gardna].“

So tauchte der blaue, drahtige Boxer mit dem roten Kopfschutz wieder auf.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Logan nahm eine Karte, die unvermittelt aus seinem Deck hervorstand und schob sie in den Friedhofsschlitz. Anschließend zeigte er eine Zauberkarte vor: „Jetzt aktiviere ich [Batllin' Boxing Spirits]! Im Austausch gegen die oberste Karte meines Decks kann ich einen Boxer in Verteidigung reanimieren!“

So nahm er eine Karte ab und schickte sie auf den Ablagestapel, ehe er mit einer Handbewegung [Battlin' Boxer Rib Gardna] erscheinen ließ: Einen massiven Boxer in einem braunen Bodysuit, dessen klobiger, unförmiger Körper eine erstaunlich gute Zielscheibe abgab.

 

Battlin' Boxer Rib Gardna [ATK/100 DEF/1400 (3)]

 

Unerwartet streckte Logan den Arm in die Höhe. Sein eben erst beschworener Boxer und dazu noch der kleine, flinke [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] verwandelten sich in rote Lichtstrahlen. „Ich öffne das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 3-Monstern wird ein Rang 3-Monster! Xyz Summon!“

Beide wurden in ein schwarzes Loch gezogen, welches sich inmitten des Feldes auftat. „[Battlin' Boxer Cheat Commissioner]!“

Aus dem Wirbel heraus trat eine dubiose Gestalt, gekleidet in einem schwarzen Mantel. In der einen Hand einen Schlagstock für disziplinarische Maßnahmen, hielt er in der anderen ein grünes Megafon, dessen Ende mit spitzen Zähnen gespickt war. Um den Schiedsrichter kreisten zwei leuchtende Lichtsphären.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/0 DEF/1300 {3} OLU: 2]

 

Logan betrachtete einen Moment sein Blatt, als ob er sich über seine nächste Aktion nicht ganz schlüssig war, ehe er entschlossen nach zwei nebeneinander steckenden Karten griff und jene vorzeigte. „Ich aktiviere zwei Exemplare dieser Karte. Sie nennt sich [Solidarity] und erhöht die Angriffskraft meiner Monster eines bestimmten Typs, wenn all ihre gefallenen Kameraden auf dem Friedhof denselben besitzen.“

Überrascht verschränkte Anya die Arme. Der Hände haltende Kreis der fünf Ojama-Geschwister auf dem Artwork der Karten entlockte ihr bestenfalls ein müdes Grinsen. „Übst wohl schon den Zwergenaufstand, was? Komm sag schon, um wie viel werden sie stärker?“

„Pro [Solidarity] um 800. Wie du dir sicher denken kannst, besteht mein Deck nur aus Kriegern.“

Da klappte der Blondine dann doch die Kinnlade hinunter, als sie sich unter Mühen ausrechnete, was das wirklich bedeutete. „So viel!?“

Logan legte die beiden Karten in sein D-Pad ein, woraufhin jene sich vor seinen Füßen in aufgedeckter Lage materialisierten. Seine drei Boxer begannen in roter Aura aufzuleuchten.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3800 → 5400 DEF/2000 {4}]

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 → 2600 DEF/1800 (4)]

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/0 → 1600 DEF/1300 {3}]

 

„Shit“, fluchte Anya leise vor sich hin. „Der will mich platt walzen!“

„Selbst die Schwächsten können stark sein, wenn sie die richtigen Freunde haben“, sinnierte Logan geradezu philosophisch, was zu einem auf den ersten Blick eher bodenständigen Mann wie ihm gar nicht passen wollte.

Seine Gegnerin wiederum sann eher danach, erst mit einem patzigen Spruch zu kontern, doch unverhofft fing sie an, die Bedeutung seiner Worte und der Karte auf sich zu beziehen. Ohne den Beistand anderer wäre sie jetzt nicht hier. Hieß das wiederum, dass sie schwach war?

Als würde Logan ihre Gedanken in jenem Moment erahnen, sagte er: „Man ist nicht schwach, weil man Hilfe annimmt. Und du brauchst welche, stimmt doch, oder?“

Blinzelnd sah Anya ihn an. Dann ballte sie mit ihrer herabhängenden Hand unbewusst eine Faust. Sie löste jene jedoch recht schnell wieder und grinste gelassen. „Pft, jetzt auch noch unter die Pfarrer gegangen oder was!? Wir duellieren uns hier aus Spaß, nicht um meine Seele zu retten!“

Logan lachte kurz auf und nickte dann knapp. „Bah, hast natürlich recht.“

Und obwohl er davon abließ, blieb bei Anya ein fader Beigeschmack. Schwäche … was war das überhaupt für sie, jetzt wo sie darüber nachdachte?

 

Sie hatte jedoch keine Möglichkeit, alsbald zu einem Ergebnis zu kommen, denn Logan streckte den Arm aus. „Dann zeig mal was du noch so drauf hast, Kleine!“

„Ich bin beschissene Durch-schnitts-grö-ße!“, keifte Anya unverzüglich zurück.

Gekonnt ignorierte er ihren Einwurf und rief: „[Battlin' Boxer Lead Yoke], greife ihren [Gem-Armadillo] an!“

Nun frei von seinen Fesseln, schlug der größte und massigste der Boxer nur einmal in die Luft, um eine Druckwelle zu erzeugen, die Anyas fliegendes Gürteltier voll erfasste. Dessen Herrin schwang panisch den Arm aus. „Verdammter Kackmist, ich bin erledigt, wenn der durchgeht! [Angel Wing Dragon], nimm du den Angriff dank deines Effekts entgegen!“

Elegant glitt der schlangenhafte Drache hinab und platzierte sich schützend vor Anyas anderem Monster. Die Druckwelle traf ihn und schleuderte ihn in Anyas Richtung, doch bevor er sie mit ins Unglück riss, zersprang er fünf vor zwölf in tausend Teile.

 

[Anya: 1000LP / Logan: 250LP]

 

„Sorry Kumpel, Angel Wing verhindert auch, dass du mir Schaden in Kämpfen mit ihm zufügst.“

Trotzdem zog Anya die Stirn kraus. So stark, wie Lead Yoke jetzt war, gab es kaum mehr etwas, das ihn noch aufzuhalten vermochte. Sein nächster Angriff würde fatal enden, das stand fest.

„Bin noch nicht fertig. Effekt von [Battlin' Boxer Cheat Commissioner] aktivieren!“, rief Logan plötzlich und riss die beiden Xyz-Materialien unter besagtem Monster hervor.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/1600 DEF/1300 {3} OLU: 2 → 0]

 

Jener saugte die leuchtenden Kugeln durch sein Megafon ein, ehe er eine ohrenbetäubende Schimpftirade in einer unbekannten Sprache zum Besten gab. Anya presste vor Schreck beide Hände auf die Ohren und war umso überraschter, als sie dabei beobachtete, wie sich auf Logans Feld eine gesetzte Zauber- oder Fallenkarte materialisierte.

Noch entsetzter aber war sie anschließend, als Logan ihr entgegen kam und kurzerhand ihre [Gem-Knight Fusion] aus dem Blatt riss, während sie noch damit beschäftigt war, ihre Lauscher zu verdecken.

„Hey, was soll der Mist!?“

„Die wird konfisziert“, erwiderte er gelassen, „so ist das eben, wenn ein Boxer kämpft, während der korrupte Schiedsrichter dabei ist. Eine der Zauberkarten auf deiner Hand wird auf mein Feld gesetzt.“

Prompt drehte er sich mit Anyas Karte in der Hand um, die er der Form halber noch einmal in sein D-Pad einlegte. Seine Gegnerin sah ihm hinterher, als hätte er ihr gerade Barbie für immer weggenommen.

„Du verdammter-!?“, kreischte sie außer sich. „Was soll ich denn jetzt machen, ich brauch die!“

„Denk dir was aus.“ Logan war auf seine alte Position zurückgekehrt. „Außerdem, hast du nicht andere Sorgen? So zum Beispiel den Angriff meines [Battlin' Boxer Headgeared]?“

„Häh?“

Zur Verdeutlichung zeigte er auf Anyas Gürteltier mit Düsenantrieb. „Diesen Angriff da.“

Ehe Anya aber schalten konnte, tauchte schon aus dem Nichts ein Boxhandschuh samt Besitzer auf und verpasste [Gem-Armadillo] eine heftige Linke. Der zersprang mit Tränen in den Augen und eingedrückter Wange unter jämmerlichem Quieken.

 

[Anya: 1000LP → 100LP / Logan: 250LP]

 

Anya wich den umherfliegenden Partikeln mit Seitwärtsschritt aus. Dabei knirschte sie mit den Zähnen. „Großartig …“

Nicht zuletzt deshalb, weil Logans Zeigefinger auf sie gerichtet war, der ihrer Bewegung unbarmherzig folgte. „Sieht nach 'nem Sieg für mich aus. Gutes Spiel, Kleine.“

„Sei nicht so vorlaut, noch steh ich!“

„Direkter Angriff, [Battlin' Boxer Cheat Commissioner]!“, befahl ihr schwarzhaariger Gegner jedoch ehrgeizig.

So stürmte der bestechliche Schiedsrichter auf Anya zu und schwang seinen Schlagstock hysterisch lachend in ihre Richtung.

„Mich knockst du nicht aus!“, schrie die und griff nach ihrem Friedhof. „Ich verbanne [Kuriboss] von meinem Friedhof und negiere den Kampfschaden!“

Kurz bevor Anya den schwarzen Stab mit voller Wucht in die Seite gepfeffert bekam, tauchte genau dort ein brauner Fellball auf und wurde stattdessen erwischt, während Anya die Flucht nach hinten antrat. Die Sonnenbrille des Anführers der Kuribohs flog im hohen Bogen durch die Luft, als der wie ein Baseball mit flatterndem, grauem Cape davon geschlagen wurde.

„Könnte 'nen Home Run werden“, scherzte Logan und sah dem kreischenden Knäuel hinterher.

Anya stemmte wütend die Hände in die Hüften, nachdem sie [Kuriboss'] Karte in ihre Hosentasche gesteckt hatte. „Zu blöd aber auch, da ich meinen eigenen Kampfschaden negiert habe, darf ich keine Karte durch seinen Effekt ziehen.“

„Ist deine geringste Sorge“, reagierte Logan lässig. „Bist.“

„Du bist der Falsche, um von Sorgen zu reden, Grumpy!“, rief Anya daraufhin und streckte den Arm in die Höhe. „Sieh her! Ich verbanne zwei Stufe 4-Monster von meinem Friedhof und reanimiere [Angel Wing Dragon]!“

So entledigte sie sich auch noch des [Gem-Armadillos] und [Gem-Knight Garnets], während über ihr der goldene Ring erschien, aus dem kurzerhand der weiß-goldene Drache geschossen kam und wütend aufschrie.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Gerade wollte Anya die oberste Karte ihres Decks greifen, da machte Logans strenges Kopfschütteln sie darauf aufmerksam, dass sie aufgrund des Effekts von [Gem-Trade] gar nicht ziehen durfte.

Für einen kurzen Moment verharrte Anya. Auf ihrer Hand war nur noch [Gem-Knight Turquoise], aber der war komplett nutzlos, solange ihre [Gem-Knight Fusion] verdeckt vor den Füßen ihres Gegners lag. Also konnte sie [Gem-Knight Pearl] nicht beschwören und stärker machen.

„Schade“, nuschelte sie, rang sich dann aber doch ein grimmiges Lächeln ab, „nur zu dumm, dass ich ihn gar nicht brauche.“

Ihr Blick lag dabei auf der verdeckten Karte zu ihren Füßen. Lead Yoke würde sie zwar nicht im Zweikampf besiegen, aber dafür einen anderen Boxer.

„Zu dumm, dass du die beiden kleinen Fische so schutzlos zurückgelassen hast“, flötete sie und spielte darauf an, dass Logan keine Karten neben ihrer [Gem-Knight Fusion] gesetzt hatte.

Doch der ließ sich nicht einschüchtern und winkte ab. „Musst wissen, [Battlin' Boxer Cheat Commissioner] kann nicht angegriffen werden, solange andere Boxer im Ring sind. Also kein Ding.“

Zuckte demonstrativ mit den Schultern. „Na und? Zu dumm nur, dass das Rotkäppchen auch noch da ist!“

Sie hob den Zeigefinger und richtete ihn unter einem gehässigen Grinsen auf [Battlin' Boxer Headgeared]. „Der da reicht völlig. Los, [Angel Wing Dragon], beende das Duell! Seraphim Judgment!“

Der majestätische Drache öffnete sein Maul und lud darin weiße Energie auf.

Logan zuckte mit den Schultern. „Reicht nicht, um mich zu besiegen.“

„Reicht wohl! Verdeckte Schnellzauberkarte, [Forbidden Chalice]!“, übertönte Anya ihn und schwang den Arm über jene Karte aus. „Sie verstärkt- Huh!?“

Vor ihren Augen verschwand der Boxer mit dem roten Kopfschutz einfach. Wie eine Illusion, die nie da gewesen war. Angel Wing stieß derweil ungehindert seinen weißen, flammenden Energiestrahl aus, um den eine goldene Lichtspirale kreiste. Der Angriff war direkt auf die Lücke zwischen den beiden Xyz-Monstern gerichtet.

Fassungslos breitete Anya die Arme aus. „Was soll der Kackmist!? Ich habe-!? Wo ist dieser Bastard hin!?“

„Verbannt auf Zeit durch [Battlin' Boxer Rib Gardnas] Effekt“, erklärte Logan, „den kann ich vom Friedhof entfernen, um ein bisschen Katz' und Maus zu spielen. Sieht so aus, als gäbe es jetzt nur noch ein legales Ziel für deinen Angriff.“

Mitten in der Luft machte [Angel Wing Dragons] Lichtstrahl eine Kurve und steuerte geradewegs auf [Battlin' Boxer Lead Yoke] zu. Anya stand der Mund offen.

 

Los, benutze jetzt endlich deine Zauberkarte, Anya Bauer!

 

Die aber hatte nur ihren gescheiterten Plan vor Augen. [Forbidden Chalice] erhöhte die Angriffskraft eines Monsters um 400, was gereicht hätte, Logans Lebenspunkte mit einem Angriff auf Rotkäppchen auszulöschen. Aber was brachten ihr die schon, wenn plötzlich der übermächtige Lead Yoke das Ziel war!?

„Das ist viel zu wenig“, knurrte sie leise, „denk dir was Besseres aus, Levrier!“

Sie hörte ihn, wie er schon fast niedergeschmettert stöhnte.

 

Anya Bauer, hängst du eigentlich an deinem Leben?

 

„W-was!?“

Und was sie dann hörte, war der wohl erste Wutausbruch Levriers in der Geschichte ihrer Bekanntschaft.

 

Denkst du nicht mit deinem eigenen Kopf!? Liest du dir nicht durch, was auf den Karten steht, die du benutzt!? Wie viele Kämpfe auf Leben und Tod hast du bis heute ausgetragen, um zu wissen, dass jede Unachtsamkeit das Ende bedeuten könnte!?

 

Bei der sich überschlagenden Stimme in ihrem Kopf zuckte selbst Anya zusammen. „Was ist auf einmal dein Problem!?“

 

Du bist das Problem, Anya Bauer. Du kämpfst wie die Versagerin, die du nicht mehr sein wolltest! Jetzt ist es zu spät. Game Over, wie du-!

 

Anya ließ noch einmal den Arm über ihre verdeckte Karte gleiten, mit einem zutiefst erschütterten Gesichtsausdruck. „Falle! I-ich meine Zauberkarte, [Forbidden Chalice]! Sie erhöht- nein, sie negiert den Effekt eines Monsters auf dem Feld, gibt ihm aber 400 Angriffspunkte dafür.“

Das Megafon in der Hand des Schiedsrichters löste sich plötzlich auf und wurde durch ein Glas gefüllt mit Rotwein ausgetauscht, nachdem Anyas Karte aufgesprungen war. Nur ein Schluck reichte, um ihn zum Würgen zu bringen.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/1600 → 2000 DEF/1300 {3}]
 

Sehr gut. Und nun beende es!

 

„Da der Effekt dieses Typen negiert wurde, kann ich ihn als Ziel des Angriffs auswählen!“

Nur wenige Zentimeter bevor der Lichtstrahl in Lead Yokes Brust einschlug, machte er abermals wie von Zauberhand eine Kurve und traf unvermittelt auf dessen Mitstreiter. Logan wich erstaunt der nachfolgenden Explosion aus.

 

[Anya: 100LP / Logan: 250LP → 0LP]

 

Anya stand der Mund offen, denn sie war nicht imstande, das Geschehene sachgerecht zu verarbeiten.

 

Das war eine schlechte Leistung für ein unnötiges Duell, Anya Bauer. Ich kann nicht glauben, dass du wieder in deine alten, ignoranten Muster verfallen bist.

 

Das unerwartete, abrupte Ende des Duells traf sie nicht weniger hart als die Worte Levriers. Plötzlich hörte er sich nicht mehr wie ihr Freund an, sondern wie dieser Immaterielle von damals, der sie herumkommandieren wollte.

„I-ich …“

„Alles in Ordnung?“, fragte Logan überrascht und deaktivierte sein D-Pad. Die Hologramme verschwanden.

Anya sah ihn an, nahm wie in Trance die [Gem-Knight Fusion] entgegen, die er ihr zurückgab. Und plötzlich fühlte sie sich unendlich hilflos. Dumm. Schwach. Alles was sie gewollt hatte, war Spaß zu haben. Einen normalen Tag mit einem normalen Menschen zu verbringen. Ausgerechnet Levrier musste ihr das vermiesen. Wieso!?

„Ich … weiß es nicht.“

Sich gegenüberstehend, legte Logan seine Hand auf Anyas Schulter. „Siehst definitiv nicht danach aus. Das Angebot mit der Hilfe steht noch.“

Unvermittelt riss sie sich von ihm los, sah ihm aufgelöst in die Augen. „Wie könntest du mir jemals helfen, huh!? Ich werde krepieren, wenn ich nicht besser werde! Und mir läuft die Zeit davon, verstehst du!? Schwach! Verdammte scheiße, ich bin … schwach.“

„Wovon zur Hölle redest du?“ Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Natürlich konnte er ihr nicht folgen.

Etwas, das Anya zu ändern gedachte. „Das willst du wissen? Fein! Dann sperr mal schön die Lauscher auf!“

 

Impulsiv zischte sie an ihm vorbei und packte seinen Arm, schleifte Logan hinter sich her. Er ließ es widerstandslos geschehen.

„Alles ist scheiße!“, fluchte sie dabei. „Dieser beschissene Traum, ich hätte nie daran denken dürfen!“

Sie steuerte das offene Garagentor an. „Und statt meine Zeit hier zu verschwenden, sollte ich vermutlich irgendwo im Nirgendwo sein und jemanden ordentlich verdreschen. Weil das nun mal so läuft, seit die ganze Scheiße angefangen hat. Fuck!“

Als sie ins Innere der Werkstatt gelangten, sprang unweigerlich der weiße Porsche in Anyas Blickfeld. Logan wurde losgelassen, ebenso ein wütender Aufschrei. Der erste Tritt galt dem Nummernschild, das solange beharkt wurde, bis es auf dem Boden lag. Danach schnappte Anya sich aus einem unweit stehenden Werkzeugkoffer einen schweren Schraubenschlüssel und begann, auf die Windschutzscheibe einzuschlagen. Zunächst erschuf sie ein schönes Spinnennetz, ehe sie nach mehrmaligem Zulangen schließlich einen Scherbenhaufen folgen ließ. Keuchend warf sie den Schraubenschlüssel beiseite, nahm Abstand und betrachtete ihr Werk.

„Wird teuer für dich“, merkte Logan trocken an.

Anya winkte ab. „Mir doch egal. Nick bezahlt das.“

„Und, geht es dir besser?“

„Nein.“

 

Sie drehte sich zu ihm um, den Kopf gesenkt haltend und setzte sich auf die Motorhaube des ramponierten Wagens. Dann kam die Stille. Sich neben sie setzend, starrte Logan geradeaus und wartete darauf, dass sie das Wort ergriff.

„… ich stecke in Schwierigkeiten“, begann sie plötzlich tonlos, „ganz tief in der Scheiße.“

„Hast wohl den falschen Leuten ans Bein gepinkelt?“

Anya schüttelte den Kopf. „Ne. Nur mein Leben verkauft. Unwissentlich, damit das ja mal gleich klar ist!“

Sie reckte das Kinn vor, in ihrem Blick stand unbändige Wut geschrieben. „Was glaubst du wohl, wie leicht es ist, jemanden auszunutzen, der glaubt, bald sterben zu müssen? Fuck …“

Dann ließ sie den Kopf wieder hängen. „Jetzt sitze ich in derselben Scheiße wie letztes Mal.“

Logan sah sie forschend von der Seite an. „Klär mich auf.“

Als Reaktion darauf entfuhr Anya ein bitteres Kichern. „Sicher? Wenn ich dir das erzähle, wirst du mich in Victim's Sanctuary einweisen wollen. Und wenn du mir glaubst, dann werde ich dich dort einweisen müssen, weil du dann der größte Idiot auf diesem Planeten wärst, noch vor Harper.“

Er zuckte mit den Schultern. „'bilde mir meine eigene Meinung. Und selbst wenn ich ein Idiot wäre, solche Leute muss es auch geben, damit freche Mädchen wie du sich abreagieren können, wenn sie Probleme haben.“

Anya sah ihn verdutzt von der Seite an. „War das ein Kompliment?“

„… nein.“

Trotzdem gelang ihm das Unmögliche. Anya lachte. Nur ganz kurz, aber er entlockte ihr ein, für ihre Verhältnisse, ziemlich authentisches Lachen. Welches sie, als sie es bemerkte, sofort unter ihren gefühlten hundert Kilo schweren Mundwinkeln begrubt. „Arschloch!“

„Erzähl's, bevor ich das Interesse verliere.“

Anyas Finger krallten sich um den Rand der Motorhaube. „Ich kann's nicht.“

Sie zuckte anschließend zusammen, als sie seine Hand auf der Schulter spürte. „Du kannst. Werd' auch nicht lachen, versprochen.“

„'kay. Wenn du's tust, ramm' ich dir 'nen Schraubenzieher in den Hals und dreh solange, bis du deine Eier schmecken kannst!“ Anya sah ihm tief in die Augen. „Glaubst du an das Übernatürliche?“

„Bin mir nicht ganz sicher. Eher nicht.“ Logan hielt ihrem Blick locker stand. „Sollte ich etwa?“

„Wenn's nach mir geht, nicht. Hab ich das bis vor knapp einem Jahr nämlich auch nicht. Aber blöderweise hat selbst eine Anya Bauer nicht immer das Sagen, schon gar nicht in solchen Angelegenheiten.“

 

Welche sie ihm im Anschluss fast zwei Stunden lang ausbreitete, mit allen Details. Einfach allem, selbst einigen Dingen, die ihre Freunde so nicht kannten. Wie sie Levrier zuerst begegnete, was sie fühlte, als sie den Pakt schloss, wie sie davon erfuhr, was ihr widerfahren würde, wenn sie nicht zu Eden würde und dem Plan des Sammlers, der aus der ganzen Sache seinen eigenen Nutzen zog. Sie gestand sogar, indirekt verantwortlich für Drazens Tod zu sein. Und für Marcs, welcher zumindest wieder lebte.

 

Als sie geendet hatte, war Logan längst aufgesprungen, hatte sich vor Anya aufgebaut und sah sie mit verschränkten Armen an. Sein tadelnder Blick sprach Bände. „Schöne Geschichte hast du dir da ausgedacht.“

Anya sah beleidigt zur Seite. Wie sie das gewusst hatte! Natürlich würde er ihr nicht glauben, egal wie sehr sie auf das Gegenteil gehofft hatte. Sich ihm zu öffnen war so befreiend gewesen, weil er ein Außenstehender war, den sie dazu noch kaum kannte. So gut es auch war um den Beistand ihrer Freunde zu wissen, so wollte sie nicht jedes Mal dieselben Versprechen und Gebete hören.

„Ist nicht ausgedacht“, brummte sie düster.

„Erzähl das jemandem, der'n Huhn nicht von 'nem Pferd unterscheiden kann.“

Täuschte sich Anya, oder klang Logan irgendwie enttäuscht. Fast so, als hätte er Erwartungen gehegt, die sie nicht erfüllt hatte. Was bildete der sich eigentlich ein!?

Wutentbrannt sprang sie ebenfalls auf, stand ihm direkt gegenüber. „Was hast du für ne Ahnung, huh? Levrier könnte mit dir den Boden wischen, wenn ich nur wollte.“
 

Ich will aber nicht.

 

Die Stimme der Vernunft konnte sich gepflegt verpissen, dachte sich Anya sauer über Levriers unproduktive Worte und schnaubte. „Du hast doch selber gesehen, wie Zach mit dieser verfickten Kali abgezischt ist!“

„Ich weiß nicht, was ich dort gesehen habe! Entweder hast du mich damals belogen oder jetzt. Soll ich mich jetzt glücklich schätzen? Was für'n Spiel ist das hier, die versteckte Kamera?“

Anya stampfte mit dem Fuß auf, um wenigstens ein bisschen Wut abzulassen, nachdem aus dem Porsche nicht mehr viel herauszuholen war. „Ach und du? Du tust so, als wärst du der größte Anfänger auf Erden, hast aber ein D-Wheel, greifst in ein Spiel ein, von dem ich nicht mal wusste, dass ich es verlieren würde und duellierst dich besser als ich es je könnte! Wer ist hier der Lügner?!“

Das kalte Aufblitzen in seinen Augen ließ sie verstummen. „Wann habe ich jemals behauptet, ein Anfänger zu sein?“

Es nahm ihr glatt den Wind aus den Segeln. Gar nicht. Davon war sie selbst ausgegangen, nachdem er um ein Duell gebeten hatte. In Ermangelung eines passenden Konters fauchte sie: „Bitteschön, ich bin weder dir noch sonstwem Rechenschach schuldig!“

 

Rechenschaft.

 

Logan schüttelte langsam den Kopf. „Is' richtig. Dasselbe gilt aber auch für mich. In den zwei Stunden, in denen du meine Zeit mit diesem Mist verschwendet hast, hätte ich etwas Sinnvolles tun können. Wie dieses Chaos zu beheben, das du angerichtet hast.“

Dabei richtete er die flache Hand auf den demolierten Porsche.

Es war ein Stich ins Herz für Anya. Den sie unkommentiert ließ, weil ihre Unerfahrenheit in Sachen Gefühlspolitik erneut verhinderte, dass ihren Gehirnwindungen eine passende Antwort entsprang.
 

Anya Bauer, lass es gut sein.

 

Levrier erschien neben ihr und sah in seiner schwebenden Haltung auf sie herab. Sein weißer Helm und das blaue Augenpaar brachten, wie immer, keinerlei Gefühle zum Ausdruck. Doch sein Tonfall drückte, selbst für Anya unmissverständlich, Mitgefühl aus.

 

Du kannst nicht erwarten, dass ein normaler Mensch, dem nie etwas Außergewöhnliches widerfahren ist, dir Glauben schenkt. Er will dich sicher nicht verletzen.
 

Die Blonde sah zerrissen zu Logan herüber, um festzustellen, dass er sich längst abgewandt hatte und die Garage verließ. Ohne es zu wollen, setzten sich ihre Füße in Bewegung. Levrier folgte ihr.
 

Im Gegenteil, ich denke, du hast ihn verletzt. Für ihn ist es eine Lüge, auch wenn du die Wahrheit kennst. Du solltest davon ablassen, ihn einweisen zu wollen. Denn wenn er einmal in diesem Sog steckt, kommt er nie wieder heraus.

 

Anya blieb direkt unter dem Garagentor stehen, sah Logan dabei zu, wie er sich auf sein draußen stehendes Motorrad schwang und sich den Helm umschnallte.

Sie wollte es ihm beweisen. Einfach nur zeigen, dass sie keine Lügnerin und er im Unrecht war, sie als solche zu bezeichnen. Es wäre genug, Angel Wing in seiner Waffenform zu beschwören.

 

Ist es nicht zuletzt diese Unbefangenheit, die du an ihm schätzt? All die Leute, die du kennst, sind bereits Mitwisser deiner Tragödie. Das verbindet. Aber manchmal ist es auch ein Fluch, du weißt es besser als jeder andere.

 

Anya hob langsam die Hand an, spreizte die Finger auseinander.

 

Beschütze ihn vor deiner Vergangenheit und Gegenwart, Anya Bauer. Zieh ihn nicht in des Sammlers Spiel hinein. Wenn er dir erst glaubt, wird er versuchen wollen, dir zu helfen. Das ist die Sorte Mensch, die er ist.

 

Auf Höhe ihrer Hüfte ließ sie ihren Arm verharren. Es war sowieso zu spät, Logan trat in die Pedale und fuhr unter lautem Motorengeheul einfach los. Ohne sich noch einmal umzudrehen oder etwas zu ihr zu sagen.

„Idiot …“, stammelte sie leise.
 

Glaub mir, ich will nur das Beste für euch beide, Anya Bauer. Deswegen werde ich mich auch nicht für meine Worte von vorhin entschuldigen.

 

„Doch nicht du“, murmelte Anya niedergeschmettert, „ich bin der Idiot …“

 

-~-~-

 

Die beiden Türhälften bewegten sich automatisch beiseite, als Nick das mehrstöckige Firmengebäude von Micron Electronics betrat, dem größten Computer-Chip-Hersteller in der ganzen Region, mit Hauptsitz in Livington.

Nein, hiermit hatte Nick nicht gerechnet. Er kannte die Firma aus der Zeitung, aus Medienberichten, aber er hätte nie gedacht, einmal hierher zu kommen.
 

Ungestüm durchquerte er das schlichte, weiße Foyer und fegte regelrecht an der Empfangsdame hinter dem gläsernen Tresen vorbei.

„Sie können nicht-!“

„Ich kann“, widersprach Nick resolut, als er einen der Fahrstühle weiter hinten anvisierte.

Die adrett in Uniform gekleidete, junge Frau stöckelte ihm unbeholfen hinterher.

„Haben Sie einen Termin?“, fragte sie, nur um dann selbst zur einzig richtigen Erkenntnis zu gelangen: „Natürlich haben Sie nicht. Sie sind Nick Harper!“

Vor dem Fahrstuhl angelangt, wirbelte er mit eisigem Blick zu ihr herum, während er noch in der Bewegung gegen die Aufwärtstaste hämmerte.

„Und wenn ich es wäre?“

„Er wartet in seinem Büro auf Sie, 8. Stock“, sagte die Empfangsdame mit fester Stimme.

Ohne zu antworten drehte Nick sich wieder um und stieg wenige Sekunden später in den Aufzug.

 

Besagte acht Stockwerke später stieg er wieder aus, sah sich kurz um. Überall gläserne Türen, in die man erst etwa auf Brustbeinhöhe hinein starren konnte, denn alles darunter war mit matter Glasdekorfolie beschichtet. Auf jeder Tür war mit schwarzen Lettern der Besitzer des Büros samt seiner Stellenbeschreibung angegeben. Anhand einer Wegbeschreibung neben dem Aufzug fand Nick heraus, dass er nach rechts gehen musste, wenn er den Obersesselpupser sehen wollte. Wobei von wollen gar keine Rede sein konnte.

Er folgte dem Gang nach rechts und fand sich bald vor einer Tür mit Aufschrift „Aiden Reid, CEO“ wieder. Ohne auch nur anzuklopfen riss er die Tür auf.

Je schneller er das hier hinter sich brachte, desto besser.

 

Nick fühlte sich schlagartig unwohl, als er das Büro betrat. Das lag aber nicht an der Inneneinrichtung, die tatsächlich sehr geschmackvoll gewählt war mit den dunklen Holztönen und Wohnzimmer tauglichen Möbeln. Es war ein sehr einladendes Büro. Nein, was Nick so schwer im Magen lag war der Mann, der ihn hierher bestellt hatte und bereits, angelehnt an seinen Schreibtisch, hinter diesem auf ihn wartete.

Der erste und vor ein paar Wochen noch einzige Mensch, der über seine Geheimnisse Bescheid wusste.

„Aiden“, brummte Nick beim Anblick des Mannes und das in einem Tonfall, der stärksten Würgereiz ausdrücken sollte. „Was verschafft mir die zweifelhafte Ehre?“

„Du und Ehre? Das wäre mir neu“, scherzte der brünette Mittdreißiger von Micron Electronics auf eine nicht weniger bissige Art und Weise und verschränkte dabei die Arme.

Nick schloss auf einen Wink Aidens hin die Tür und betrachte den Mann, der für ihn Anyas Valerie war. Er hatte sich kaum verändert seit damals, mit Ausnahme davon, dass er Chef eines millionenschweren Unternehmens geworden war. Ein Wissen, das selbst Nick bisher entgangen war.

Kurzes, braunes Haar, fein gegelt, die Andeutung eines Barts um den Mund und klare, graue Augen, die binnen kürzester Zeit die noch so cleversten Lügen entlarven konnten. Nur Satan war noch heimtückischer als dieser Mann.

„Ich habe nicht viel Zeit. Was willst du?“, raunte Nick missgelaunt.

„Wenn du schon so direkt fragst … dich.“ Ein chauvinistisches Lächeln begleitete die Worte des CEOs.

Nick lachte auf. „Bedauere, ich mag meine Männer etwas … weiblicher, du verstehst?“

„Ich mag meine kompetent. Wie soll ich anfangen? Sagen wir einfach, ich habe dich vermisst und dachte, es wird Zeit, dir die Einladung zu schicken, die ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit loswerden möchte. Immerhin sind mir deine derzeitigen Aktivitäten in der Szene nicht entgangen“, sagte Aiden, stieß von seinem Schreibtisch ab und stellte sich hinter jenen, „nur kann ich mir keinen Reim daraus machen. Wonach suchst du? Planst du eine Reihe von Attentaten?“

 

Eine zornige Falte bildete sich auf Nicks Stirn. Aiden spielte auf die Personen an, die Nick für Anya versuchte ausfindig zu machen. Wie naiv von ihm zu glauben, dass Aiden das Hinterherspionieren aufgegeben hatte, nachdem er ihn vor Jahren dafür fertig gemacht hatte. Zwar hatte er befürchtet, nie ganz aus seinen Fängen entkommen zu sein, aber ausgerechnet heute? Ganz schlechtes Timing.

„Wenn, dann würde ich es dir ganz sicher nicht sagen.“

„Ach bitte, Nick.“ Der versöhnliche Ton rief in Nick Gefühle hervor, die er sonst nur von Anya kannte. Und nein, es waren keine guten. „Das würde doch noch zu deinen harmloseren Sünden zählen.“

„Unseren Sünden“, korrigierte Nick ihn steif.

„Unseren Sünden“, bestätigte Aiden ihm lächelnd und faltete die Hände ineinander, „andererseits, dagegen ist dein neuester Affront … traurig. Für ein Genie wie dich sogar jämmerlich.“

„Wovon sprichst du?“

Aiden drehte den Laptop auf seinem Schreibtisch mit einer Handbewegung um. Auf dem Bildschirm war ein Duel Monsters-Spielfeld abgebildet. Dort zu sehen war der letzte Zug von Nicks Duell mit Valeries Klon, oder was auch immer es war. Ihre Seite war komplett leer, es gab keine Daten ihres Decks.

„Und was sehe ich da?“

„Die Frage habe ich mir auch gestellt, Nick. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du kleines Wunderkind jemals in die Lage gerätst, faule Tricks anzuwenden.“ Aiden tippte auf die [Change Of Heart]-Karte, die der virtuelle Nick gerade aktivierte. „Schäm' dich, mein Junge. Das habe ich dir nicht beigebracht.“

„Stimmt. Dagegen ist das noch harmlos.“

Zu seinem Erstaunen bemerkte Nick nebenbei, dass die Ateritus-Karten nun deutlich dargestellt wurden, als hätte es sie schon immer gegeben …

„Dir ist doch klar, dass das hier unser Geheimnis bleiben sollte, oder?“, fragte Aiden plötzlich nach und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischkante. „Du weißt, unsere Szene ist sehr eigenwillig. Hat ihren Stolz.“

Nick kam nicht umher, den Kopf zu schütteln. „Wegen so einer Lappalie bestellst du mich hierher? Pft. Ich gebe nichts auf Stolz. Im Moment ist Stolz etwas, das ich mir nicht leisten kann.“

„Oh, dem stimme ich zu.“

„Was soll das heißen?“
 

Ein siegessicheres Lächeln schmückte Aidens ansehnliches Gesicht. Wie es das immer tat, wenn er glaubte, alle Karten auf der Hand zu haben. „Nun, du wärst sicher nicht sehr erfreut darüber, wenn diese Aufzeichnung ihre Runden macht. Die Konkurrenz schläft nicht und würde das sicher dazu benutzen wollen, deinen Ruf in der Szene zu torpedieren.“

„Ist das dein Ernst?“ Der zerzauste junge Mann lachte halb fasziniert, halb irritiert auf. „Ich sehe nicht, warum ein kleiner Hack mit einer verbotenen Karte-“

„Es geht nicht darum, was man da sieht. Sondern was man nicht sieht, Nick.“ Aiden stieß sich von seinem Schreibtisch ab und trat langsam an Nick heran. „Du bist in der Vergangenheit einigen Leuten böse auf die Füße getreten. Gib ihnen Angriffsfläche und sie werden nur allzu gerne deine Leichen ausgraben. Ganz zu schweigen davon, was geschieht, wenn jemand aus falschem Stolz die Öffentlichkeit von deinen Aktivitäten in Kenntnis setzt. Hiermit hätten sie den ultimativen Beweis, Schwarz auf Weiß. Einfacher geht es gar nicht. Willst du das?“

Der größere Nick legte den Hals schief, als sein Mentor sich vor ihm aufbaute. Sein zynischer Ton war allen Zweifeln erhaben. „Bedaure, habe gerade nicht ganz zugehört. Hab ich da etwas von Erpressung gehört?“

„Selbstverständlich. Anders würdest du ja nicht freiwillig mit mir reden.“

Nick schnalzte genervt mit der Zunge. „Und was muss ich tun, um die Verbreitung des Videos zu verhindern?“

„Ich sagte bereits“, murmelte Aiden und stieß Nick mit der Faust gegen die Brust, „ich will dich. Ich habe noch eine Stelle zu besetzen und du bist der ideale Mann. Kreativ, kompromisslos-“

„Abgelehnt“, wies Nick ihn eiskalt zurück und schob Aidens Faust beiseite, „eher steige ich mit dem Teufel ins Bett als mit dir.“

Aiden lachte stumm auf und zog seine Hand, die er vorher kurz betrachtete, langsam zurück. „Ich habe nichts anderes erwartet. Scheinbar kannst du dir doch noch ein bisschen Stolz leisten.“

 

Nick, der sich Aidens Nähe mit einem flinken Seitenschritt entzog, eilte auf die Tür zu. Als er schon die Klinke in der Hand hielt, drehte er sich noch einmal um. „Wenn es um dich geht hat mich die Vergangenheit eines gelehrt. Gib Aiden Reid den kleinen Finger und er benutzt ihn, um einen Regen der Zerstörung auf die Welt niedergehen zu lassen.“

Aiden schloss die Augen und nickte. „Schade. Das letzte Mal, als ich einen deiner Finger genommen habe, hätte beinahe ein Ring dran gesteckt.“

„Das Gespräch ist beendet“, flüsterte Nick unterkühlt, fügte anschließend noch hinzu: „Tu was du willst, meinetwegen fang' einen Krieg mit mir an. Aber den verlierst du.“

Und riss die Tür weit auf. Aiden blieb stumm, drehte sich zum Schreibtisch und klopfte mit dem Fingern nachdenklich darauf herum, als jener junge Mann davon eilte.

„Denk an deine Sünden“, sagte er dabei vor sich hin, laut genug, dass Nick es noch vernehmen konnte, bevor die Tür ins Schloss fiel.

 

Und so verließ Nick schnellstmöglich das Micron Electronics-Gebäude. Froh, seinem Fast-Verlobten zu entkommen. Dem einzigen Menschen neben Anya, dem es jemals gelungen war, ein Gefühl namens Liebe in Nick zu wecken. Und der Mensch, der ihn im Stich gelassen hatte, als er ihn am meisten gebraucht hatte.

 

-~-~-

 

„Abby“, flüsterte Nick einige Stunden später in den Hörer, nachdem er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte, „ich muss reden.“

„Worum geht es denn?“, hörte er sie besorgt fragen.

Der schlaksige junge Mann setzte sich an den Rand seines Bettes, zerrte nervös am Laken. „Du erinnerst dich doch sicher noch an die Zeit im Kindergarten. Anya und ich, ich habe immer versucht, sie durch mein albernes Verhalten zum Lachen zu bringen.“

„J-ja?“

„Es ist alles eine Lüge. Dieser Junge von damals … das war jemand anderes. Ich bin nicht Nick Harper.“

 

 

Turn 53 – Never Fall Forever

Nick fasst den Mut, Abby von seiner Vergangenheit zu erzählen und eröffnet ihr in diesem Zug Wahrheiten, die niemand je für möglich gehalten hätte. Am nächsten Tag findet ein Treffen zwischen ihm, Aiden und Anya statt, welcher ein besonders für Anya sehr interessantes Angebot unterbreitet. Kurze Zeit später hat diese jedoch ganz andere Sorgen, denn …

Turn 53 - Never Fall Forever

Turn 53 – Never Fall Forever

 

 

„W-wie bitte? Oh Nick“, fauchte Abby Masters wütend durch den Hörer, „deine Scherze waren auch schon mal besser! Ich dachte, das gehört jetzt der Vergangenheit an!“

Nicks Stimme zitterte. „Abby, das ist kein Scherz. Ich bin nicht Nick Harper. Nicht … gebürtig.“

Eine Weile schwieg die Chefsirene in all ihrer Strenge. Nick wagte es nicht zu fragen, ob sie noch dran sei. Dann kam die zweifelhafte Erlösung, in ihrer eisigsten Form. „Erkläre.“

„Die komplette Geschichte kann ich dir nicht erzählen, nicht am Telefon. Es ist keine schöne, wie du dir sicher denken wirst.“

„Ist jemand gestorben?“, fragte sie scharf.

„Ja. Aber nicht gewaltsam“, brach Nick augenblicklich ein, „es war … ich war … ah … Weißt du, wie man Eltern nennt, die ihre eigenen Kinder nicht erkennen? Die nicht merken, dass ihr Sohn plötzlich anders aussieht, sich anders benimmt. Sehr ähnlich, aber doch nicht wie immer?“

„Worauf willst du hinaus?“

Nick schluckte. „Dass meine … 'Stiefeltern' … nicht wissen, dass ihr richtiger Sohn bereits seit über fünf Jahren tot ist. Und dass sie mich seither für ihn halten, aufgrund unserer Ähnlichkeit.“

Abby schwieg wieder.

„Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen müssen … euch.“

„Vor fünf Jahren? Als du ziemlich lange im Krankenhaus gelegen hast, weil du in eurem alten Haus warst, als es abgebrannt ist? Das ging doch beinahe ein Jahr, oder? Du wurdest deswegen zurückgestuft, in unseren Jahrgang.“ Abbys Stimme verlor nun auch ihren Halt. „W-willst du mir sagen, dass … dass ab dem Zeitpunkt … du …?“

„Ja. Der echte Nick ist damals in dem Feuer gestorben. Ich war mit ihm zusammen, als es passierte. Keiner wusste es. Dass wir beide an dem Tag im Haus waren. Sie haben mich … für ihn gehalten. Die Brandwunden haben es versteckt.“

Man konnte Abbys Sprachlosigkeit am anderen Ende förmlich greifen.

Nick erzählte weiter. „Dank meiner geheimen Einnahmequellen habe ich den Harpers Geld zugespielt, damit sie sich die plastischen Operationen für mich leisten können. Die Ärzte haben mich natürlich zu ihm gemacht.“

„I-Ich versteh gerade gar nichts mehr. Was zum Teufel ist passiert!? Wer bist du!?“

„... Eli … Bauer.“

Nick hörte nur noch einen Piepton. Abby musste in ihrer aufkommenden Fassungslosigkeit kurzerhand aufgelegt haben.

 

Fünf Minuten später klingelte das Telefon, das neben ihm lag.

Nick, der die ganze Zeit wie erstarrt da gesessen und ins Nichts gestarrt hatte, griff mit zitternder Hand den Hörer. „Abby?“

„Du willst mir erzählen, dass du Anyas Bruder bist? Aber sie hat nur einen und der heißt Zachariah!“

„Nein, sie hat zwei“, erwiderte Nick, „einen richtigen. Und einen Halbbruder. C'est moi.“

„Aber- aber-!“

„Kennst du die Geschichte, warum sich Anyas Eltern getrennt haben? C'est moi.“ Nicks Stimme war mittlerweile sehr kratzig geworden. „So trug es sich an einem schönen Mai-Tag zu, dass die holde Misses Stevens den potenten Mr. Bauer traf. Aus ihrer recht kurzweiligen Verbindung entstand ein Bastard, dessen Existenz sein Vater sieben Jahre versuchte zu leugnen, bis Mrs. Bauer dahinter kam.“

„Oh Gott, Nick … ich, ich meine Eli …“

„Nenn' mich Nick um Himmels Willen“, forderte der klamm. „Eli gibt es nicht. Ich bin der Grund, warum Anya unglücklich sein musste. Der echte Nick Harper war tatsächlich nur ein Idiot. Aber er war mein Freund, ich mochte ihn. Er erzählte mir viel von eurer Freundschaft. Als er starb und ich in seine Rolle schlüpfen konnte, da …“

Er schniefte. „War ich ihr endlich mal nahe. Ihre Mutter hatte mir zuvor jeden Kontakt untersagt. Vermutlich auf Drohung von Mr. Bauer hin. Es war eine Fügung des Schicksals, dass Nick und ich uns so ähnlich sahen, auch wenn er zwei Jahre nach mir geboren wurde.“

„Dann bist du schon …?“

„Dreiundzwanzig, ja.“

Abby fand langsam ihre Fassung wieder. „Dann … ich hab das die ganze Zeit falsch verstanden. Ich dachte, du wärst verliebt in Anya. Aber dann ist das ja …“

„Bruderliebe. Oder … Schuldgefühle. Vielleicht was dazwischen.“

„Nick, du brauchst deswegen keine Schuldgefühle zu haben!“

Der großgewachsene junge Mann, dem eine Träne die Wange hinunterlief, lachte bitter auf. „Das hat mir Aiden damals auch gesagt.“

„Wer ist Aiden?“

„Aiden Reid, CEO von Micron Electronics. Der Mann, der mir gezeigt hat, wozu ich mit meinem Hackerwissen wirklich in der Lage bin. Neben dir der einzige Mitwisser. Jemand, der vor anderthalb Jahren um meine Hand angehalten hat. Und neuerdings mein Erpresser.“ Nicks Stimme klang wieder belegt. „Abby. Dieser Mann kann mich zerstören mit all seinem Wissen. Mit einem Knopfdruck. Jetzt ist er zurück aus der Versenkung erschienen und will, dass ich für ihn arbeite.“

Abby klang verwirrt. „U-und was will er von dir?“

„Sicher nichts Gutes. Stell dir Anya in weniger aggressiv, dafür aber absolut skrupellos vor. Dann weißt du, wie Aiden tickt.“

„Ach du scheiße“, entfleuchte es völlig untypisch für Abby. „I-ich versteh langsam gar nichts mehr. Nick, das wird mir zu viel!“

Nick aber hörte sie kaum noch in seiner Panik. „Er hat es mir nie verziehen, dass ich ihn im letzten Moment habe abblitzen lassen. Wahrscheinlich hat er mich die ganze Zeit ausspioniert und durch eine Lappalie einen Grund gefunden, wieder Kontakt aufzunehmen.“

„I-ich nehme nicht an, dass Anya weiß, dass sie noch einen zweiten Bruder hat?“

„Nein. Und wenn sie es erfährt, dann weiß ich nicht, was sie tun wird.“ Nick wischte sich die Träne ab. „Stell dir vor, was passiert, wenn Aiden sie aufklärt …“

Abby musste plötzlich auflachen. „Dann wäre das Problem wenigstens gelöst, denn das Erste, was Anya brauchen wird, ist ein Sündenbock. Wenn sie ihm überhaupt glaubt.“

Nick grinste nun auch. Wie ungemein erheiternd so ein kleines bisschen Galgenhumor sein konnte, besonders wenn er von Abby kam.
 

„Also bleibt das hier erstmal unter uns?“, fragte diese dann wieder ernst.

„Ich bitte darum. Ich … als ich ihn, Aiden, heute gesehen habe, da ist alles wieder hochgekommen. Alles, was ich dachte überstanden zu haben.“

Abby seufzte. „Nick, du bist der größte Lügner auf diesem Planeten. Aber ich verstehe dich. Es muss schrecklich gewesen sein, all das die ganzen Jahre mit sich herum zu tragen. Und wenn ich ehrlich bin, komischerweise bist du mir auch erst seit fünf Jahren einigermaßen sympathisch.“

Nick beugte sich lächelnd nach vorne. „Wie ich sagte, das Original war wirklich nur ein Hohlschädel, den ich über euch ausgefragt habe. Es ist tragisch, was mit ihm geschehen ist.“

„Aber eins muss ich noch wissen.“ Nun klang Abby wieder nervös. „Das Feuer von damals … euer Haus. Also Nicks Haus, das alte Harper-Haus. War das wirklich nur ein Unfall?“

„Ja.“

„O-okay, sorry, dass ich gefragt habe.“

„Das ist dein gutes Recht.“ Nick schloss die Augen.

„Wo hast du dann vorher gelebt, als du noch nicht Nick warst? I-ich weiß gar nicht, was ich dich zuerst fragen soll.“

Er öffnete sie wieder. „Das ist eine lange Geschichte. Ein anderes Mal vielleicht.“

„Ist mir nur recht. Puh … das muss ich erstmal verdauen.“

„Es tut mir leid, Abby. Vielen Dank, dass du mir zugehört und … und mich nicht sofort verurteilt hast. Das bedeutet mir sehr viel.“

Abby sagte leise: „Ich tue was ich kann. Weil ich daran glaube, dass du ein guter Mensch bist, dem nur … sehr viel Schlechtes widerfahren ist.“

„Danke, Abby. Dann … gute Nacht. Ich werde mir überlegen, was ich wegen Aiden unternehme. Sei dir sicher, dass er mich nicht davon abhalten wird, Anya zu retten.“

„Ich glaube an dich. Wenn einer das alles kann, dann du. Dir auch eine gute Nacht, Nick.“

 

Nick legte auf. Dann holte er das Handy aus seiner Tasche hervor und las noch einmal die Nachricht, die er auf dem Nachhauseweg erhalten hatte.

 

Eli,

 

ich habe eben ein nettes Telefonat mit deiner Schwester geführt. So sehr das eben geht. Aber schön, dass sie bei dir wohnt, so hast du sie immer im Auge. Ich habe sie mir von deinen Beschreibungen her anders vorgestellt. Du wirst überrascht sein zu hören, dass ich morgen um 13 Uhr mit ihr zum Lunch verabredet bin. Du kannst uns gerne besuchen, wir sind im Trahison Culinaire.

 

Grüße,
 

Aiden“

 

Nicks Hand zitterte, als er die Zeilen wieder und wieder las. Wie um Himmels Willen hatte er Anya dazu gebracht mit ihm Essen zu gehen!? Und was bezweckte er damit!?

Eins stand fest. Wenn er Aiden darin aufhalten wollte, sein Leben und womöglich auch das von Anya und Gott allein wusste wem noch zu ruinieren, dann brauchte er Unterstützung. Und wenn es überhaupt jemanden gab, der seinem ehemaligen Geliebten die Stirn bieten konnte, dann Abigail 'The Justice' Masters … aber bevor er sie dazu benutzte, würde er selbst sein Möglichstes tun!

 

-~-~-

 

Zu dritt saßen sie am nächsten Morgen vor dem Fernseher im Wohnzimmer der Familie Harper. Anya in der Mitte, links neben ihr Matt, rechts Zanthe. Sie verfolgten eine Krankenhausserie, an der sich besonders der Kopftuchträger mit dem schwarzen Haar erfreute, seit er letzte Nacht die Wiederholung der vorherigen Episode gesehen hatte.

So meinte er: „Eigentlich ist das cool, so zusammen auf der Couch zu sitzen.“

„Hmm“, erwiderte Anya desinteressiert, die ihre Arme verschränkt hielt.

Matt rieb sich über die rechte Gesichtshälfte. Seine halb geschlossenen Augen, die tiefen Falten auf seiner Stirn, der abwesende Blick, sie alle sprachen Bände. „Sicher …“

„Nein, ernsthaft“, plapperte Zanthe weiter, „ich hab ganz vergessen, wie es ist, unter Leuten zu sein. Wir sollten öfter etwas zusammen machen.“

„Hmm.“ Derselbe, monotone Tonfall von Anya.

Diesmal antwortete Matt sogar gar nicht.

 

Was Zanthe dazu brachte, sich den beiden zuzuwenden und sie verärgert anzustarren. „Okay, offenbar ist es euch egal, dass ich euch gerade mein Herz öffne. Wenn ihr mir jetzt noch sagen würdet, was ich ausgefressen habe?“

Die junge 'Dame' in der Mitte schnalzte genervt mit der Zunge. „Haben wir behauptet, dass das was mit dir zu tun hat, Flohpelz?“

„Ich habe den ganzen Tag und die halbe Nacht über telefoniert, um diese Edna ausfindig zu machen“, erklärte Matt ebenfalls gereizt, „ohne wirklich Erfolg gehabt zu haben. Sorry, wenn ich gerade etwas unempfänglich bin für Sentimentalitäten …“

„Ach, und was genau -hast- du herausgefunden?“, hakte Zanthe beleidigt nach. „Mit wem Anya gestern telefoniert hat vielleicht? Denn -das- würde mich auch mal interessieren.“

Die reckte den Kopf zur Seite, fixierte ihren Freund mit dem berüchtigten Todesblick. „Geht dich'n Feuchten an! Frag erst gar nicht, 'kay?“

„Hat es etwas damit zu tun, dass Nick erst ziemlich spät nachhause gekommen ist? Habt ihr euch gestritten?“, ließ Zanthe nicht locker.

Ohne Vorwarnung stieß Anya ihren Ellbogen in seine Seite. „Frag nicht!“

 

Der Dritte im Bunde verdrehte kopfschüttelnd die Augen. „Mit wem Anya telefoniert hat weiß ich nicht. Was ich weiß ist, dass Edna und ihr Freund in der Dämonenjägerszene recht unbekannt sind. Lange dabei sind sie jedenfalls nicht, vielleicht ein oder zwei Jahre. Kaum einer meiner Bekannten kannte überhaupt ihre Namen.“

„Für Noobs waren die eindeutig zu gut ausgerüstet“, widersprach die Blonde umgehend, ohne wirklich zu wissen, was überhaupt zum Equipment eines Dämonenjägers gehörte.

Zanthe richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Serie, die vor ihnen flimmerte. „Das sagt nicht viel aus.“

„Nein, sie hat schon Recht. Es dauert Jahre, überhaupt zu lernen, wie man als Mensch Zauber webt und darüber hinaus haltbar macht“, erklärte Matt, „mal abgesehen davon waren ihre Methoden ziemlich ungewöhnlich. Womöglich haben sie sich erst gründlich vorbereitet, ehe sie dieses Leben gewählt haben.“

„Und was weißt du noch über sie?“, wollte Anya wissen.

„Nur, dass sie es tunlichst meiden, mit anderen Dämonenjägern zusammenzuarbeiten.“

Zanthe zuckte mit den Schultern. „Ist das so ungewöhnlich?“

„Eigentlich nicht. Aber je nach Auftrag lässt es sich manchmal nicht vermeiden. Auch ich und Alastair haben schon mit anderen Dämonenjägern zusammengearbeitet.“ Matt beugte sich vor, faltete die Hände ineinander. „So eine Verbindung funktioniert natürlich nicht immer, aber wenn doch, können die Parteien viel voneinander lernen. Aber egal. Diese beiden haben jedenfalls nichts erreicht, das ihnen einen Namen verschafft hat.“

„Das heißt aber nicht automatisch, dass sie kleine Fische sind.“

Auf Zanthes Einwand hin nickte Matt. „Nein … sie verwischen ihre Spuren sehr gut und das macht mir Sorgen. Ich möchte nicht wissen, wie Valeries Hochzeit noch hätte enden können. Aber zumindest wissen wir dadurch, dass auch sie Fehler machen.“

„Ja“, raunte Anya, „den, sich mit mir anlegen zu wollen.“

„Ruf sie doch einfach hierher mit deinem Zauberbuch“, schlug Zanthe vor, korrigierte sich dann aber, „wobei, nein, die würden sicher nie auf deinen Ruf antworten.“

„Wenn ich das Grimoire hier hätte, würde ich es auf einen Versuch ankommen lassen“, antwortete Matt, „aber ich habe es bei Alastair gelassen. Wie du sagtest, es würde uns ohnehin nichts nützen.“

 

Sich wieder zurücklehnend, seufzte Matt resignierend. „Wie es aussieht, tappen wir zurzeit ein wenig im Dunkeln, was die beiden angeht.“

„Vielleicht kann Anya wenigstens für etwas Licht sorgen, indem sie uns sagt, mit wem sie da gestern telefoniert hat“, versuchte Zanthe erneut, seine immense Neugierde zu befriedigen.

Anya ruckte demonstrativ den Kopf zur Seite, von ihm weg.

„Komm schon, sei keine Memme. War es der Zwerg? Hat er dich abblitzen lassen? Sei ehrlich, als du gestern zurückgekommen bist, hast du jede einzelne Blume im Garten von Mrs. Harper zertreten.“ Zanthe beugte sich verschwörerisch zu ihr herüber. „Wenn du mir sagst, was passiert ist, werde ich sie anlügen und behaupten, Nick sei es gewesen.“

„Hmpf!“

„Oder war es etwa schon ein neuer Lover? Sei ehrlich, du hast doch bestimmt mehrere Feuer im Ofen. Ich mein, da wäre der gute Matt hier …“

Der schreckte sofort auf, bekam in rasender Geschwindigkeit eine ganz neue Gesichtsfarbe. „W-wie bitte!?“

„… dann wäre da noch Nick, der dir ja nur so hinterher lechzt. Und was sich liebt, das neckt sich, also ist der Zwerg sicher auch ganz hoch oben im Kurs. Die Stimme war auf jeden Fall männlich, und ich möchte sagen, ich kannte sie nicht. Also, wer ist Nummer Vier?“

„Das hast du gehört!? Du warst doch gar nicht im selben Zimmer!“, staunte Anya mit offener Kauleiste.

Zanthe grinste schelmisch. „Da staunste, was?“

„Tch, okay, ich sag's dir! Aber nur, wenn du aufhörst, solchen Mist zu erzählen! Ich stehe weder auf Summers, noch auf Harper und schon gar nicht auf den Kleinwüchsigen!“

„Gottseisgedankt …“, nuschelte der Erstgenannte leise in seinen nicht vorhandenen Bart und sank noch tiefer in das Sofa, sodass er schon fast wegrutschte.

„Okay. Also?“

 

Bevor sie zu erzählen begann, machte Anya zunächst eine langgestreckte Kunstpause.

„Irgendein Firmenboss. Will mich heute zum Mittagessen treffen, weil er nach einem neuen Gesicht für irgendeine Werbekampagne sucht. Ehrlich gesagt hab' ich kaum zugehört, war mit den Gedanken woanders. Aber scheinbar hat sich 'rumgesprochen, wer hier in Livington das Sagen hat. Kannte mich ziemlich gut, der Spinner.“

Zanthe zog die Augenbrauen hoch. „Und, gehst du hin?“

„Vielleicht. Hab heute eh nix Besseres zu tun. Nick ist nicht da. Keine Ahnung, wo der sich 'rumtreibt, hat mich gestern mitten im Duell sitzen lassen und glänzt seither durch Abwesenheit. Ohne ihn wäre es sinnlos, Recherchen anzustellen. Wenn Matt nix herausfinden kann, dann bleibt uns nur noch der Spinner.“

„Na ja okay. Aber ist das eine gute Idee, da hin zu gehen? Auch auf die Gefahr hin, dass du mal wieder schön verarscht wirst?“, fragte Zanthe und begann zu kichern. „Ich meine, für was sollst du bitteschön werben? Mobbing-Hotlines?“

Anya zuckte mit den Schultern. „Mir egal, mir geht’s nur um das Essen. Ist so ein ganz teurer Laden.“

Was ihre beiden Freunde dazu brachte, in lautstarkes Gelächter auszubrechen.

„Was denn!?“, fauchte Anya. „Wenn der mich verarscht, prügel' ich den solange durch, bis man mit ihm einen Kuchen backen kann! Den Bloody Sunday, 'ne Eigenmarke von mir.“

„Klingt eher nach 'nem Cocktail“, scherzte Zanthe, „man sollte seine Rezepte des Terrors schon auswendig kennen. Aber im Ernst, bist du kein bisschen misstrauisch?“

„Wie gesagt, wenn er mich verarscht, spendiere ich ihm ein One-Way-Ticket direkt in seinen eigenen Anus.“ Anya beugte sich vor, sah Zanthe von der Seite an. „Tut er es nicht, könnte er noch nützlich für mich werden. Nick fällt dazu sicher was ein.“

Der Schwarzhaarige verzog den Mund. „Denkst du auch mal mit deinem eigenen Kopf?“

„Mein eigener Kopf sagt mir, dass ich mich jetzt fertig machen muss“, zischte Anya zurück, „und wenn du es unbedingt wissen willst: Nein, manipulative Machenschaften sind Nicks Revier.“
 

Die Hände von den Oberschenkeln abstützend, richtete sich das Mädchen langsam auf, drehte sich um und sah die beiden Jungs der Reihe nach an. „Ich muss mal schnell nachhause, hab nicht die passenden Klamotten hier. Will ja nach was aussehen.“

„Schlägerbraut?“, gluckste Zanthe und lehnte sich zurück.

„Schlägerbraut“, bestätigte Anya ihm mit diabolischem Lächeln. „Was steht bei euch heute auf dem Programm?“

„Wir sind auch verabredet“, meldete sich Matt auch mal wieder zu Wort, allerdings alles andere als euphorisch, „mit Nicks Mutter. Ein Stadtbummel. Zanthes Idee, bevor du fragst …“

Anya sah den Werwolf überrascht an. „Was hat dich denn geritten?“

„Ich dachte, sie könnte ein wenig Gesellschaft vertragen.“ Zanthe grinste vergnügt. Allerdings wurde sein Tonfall bedrückter, als er erklärte: „Weißt du, ihr Mann ist ein Idiot, etwas, das er eindeutig an seinen hochtalentierten Sohn weitervererbt hat. Keiner der beiden kümmert sich wirklich um sie. Da dacht' ich mir, hey, mache ich ihr doch eine kleine Freude. Und da Matt mir ohnehin noch einen Gefallen schuldete …“

Sichtlich erstaunt verschränkte Anya die Arme. „'kay, du wirst mir gerade richtig unheimlich.“

„Das, was er da hat, nennt man Empathie“, brummte Matt, „und nein, das ist keine ansteckende Krankheit. Was du wissen würdest, wenn du das schon mal gefühlt hättest.“

„Hast du von meiner Schlechte Laune-Frucht genascht, Summers!?“ Das Mädchen schnaufte und schüttelte sichtlich genervt den Kopf. „Tch, was auch immer, ich bin sozusagen weg … viel Spaß oder was auch immer.“

Wütend stampfte sie um das Sofa herum zur Haustür, wobei Zanthe ihr noch hinterher rief: „Er ist sauer, weil du ihm einen Korb gegeben hast!“

Noch während Anya die Tür hinter sich zuschlug, schickte sie dem verhassten Flohzirkus per eindeutiger Fingergestik übelwollende Grüße.

Als sie außer Reichweite war, atmete Matt lautstark auf. „Ich weiß nicht, wie lange ich diese Fassade noch aufrecht erhalten kann.“

„Du musst es ihr sagen“, riet ihm Zanthe besserwisserisch, „je länger du es hinausschiebst, desto schlimmer wird es, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Und das wird sie.“

Matt stand ruckartig auf, sah mit hasserfüllter Miene den anderen jungen Mann an. „Mit jemandem wie Nick in ihrem Umfeld ganz bestimmt …“

 

-~-~-

 

Anya sah sich in dem französischen Restaurant um. Und verspürte sofort den Drang, möglichst schnell das Weite zu suchen. In ihrer gewohnt düsteren Kleidung sah sie im direkten Vergleich mit dem eigentlichen Klientel des Edelrestaurants wie das sprichwörtliche schwarze Schaf aus. Nicht, dass sie das störte. Es war nur, dass jeder dieser Sesselfurzer hier mit Besteck zu essen schien, das mehr wert war als Anyas ganze Zimmereinrichtung. Was sie zu der Frage brachte, was ein elitärer Firmenboss, der ja ganz offensichtlich jener höheren Schicht angehörte, von ihr wollen könnte.

 

An der Garderobe am Eingang ihre geflickte Lederjacke abgebend, ließ sie sich von einem Kellner zum Tisch geleiten.

„Oh, Miss Bauer“, hörte sie da schon die Stimme des Mannes, die sie vorher nur am Telefon gehört hatte. „Wie schön, dass Sie meiner Einladung doch noch gefolgt sind.“

Aiden kam ihr entgegen, in feiner schwarzer Hose mit dazu passendem Sakko. Er reichte ihr die Hand, als wolle er sie zum Tanzen auffordern.

„Ja, schon kapiert, ich bin zu spät!“, nölte Anya, ließ ihn eiskalt stehen und setzte sich an den viel zu kleinen, runden Tisch. Aber vermutlich waren die Teller auch darauf abgerichtet, denn solche Nobelschuppen waren eh nur was für Magermodels und soziale Auslaufmodelle. Und wehe, der Fraß hier schmeckte nicht!

Der CEO von Micron Electronics zog sich das Sakko aus, ließ es von einem Kellner zur Garderobe bringen und setzte sich Anya gegenüber. Die starrte ihn mit einem derart übelgelaunten Blick an, dass es selbst ihm für einen Moment die Sprache verschlug. Was bei Aiden Reid äußerst selten der Fall war.

„Also wie gesagt, danke, dass Sie hier sind.“

„Dürft ich auch erfahren, warum ich hier mit dir Froschschenkel mampfen soll, Milchbubi?“

„Temperamentvoll. Gefällt mir“, versuchte er ihr zu schmeicheln und strich sich dabei mit den Fingerspitzen nachdenklichen Blickes über die Stirn.

Fataler Fehler, dachte sich Anya bereits mit diebischer Zufriedenheit. Er hatte ihr gerade Tür und Angel geöffnet, ihn nach allen Regeln der Kunst zu beleidigen. Zumindest war das ihre Auffassung seiner Worte.

„Oh ja, Froschschenkel, mhmmm …“

Die beiden sahen überrascht auf, als unvermittelt Nick sich einfach einen Stuhl von einem der anderen Tische schnappte und sich heran setzte. Gekleidet in einen feinen, rot-blau karierten Designeranzug. Ein echter Hingucker.

„Was willst du denn hier, Harper?“

Nick lehnte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, legte die Hand provokativ gelangweilt an die Wange und sah herüber zu Aiden, dem nun schon zum zweiten Mal an einem Tag die Worte fehlten. „Das würde ich auch gerne wissen. Aber das musst du Milchbubi fragen, nicht mich.“

 

Aiden nahm eine von drei Gabeln auf seinem Tisch und begann, sie in mit seinen Fingern zu drehen. Dabei sah er bewusst nur Nick an. „Gut, dann kommen wir gleich zum Geschäftlichen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie am Legacy Cup teilnehmen wollen, Miss Bauer.“

„... huh?“

„Ja, das wird sie“, bestätigte Nick knapp. „Und? Gibt es ein Problem?“

„Meine Firma, Micron Electronics, sucht noch nach einem Repräsentanten. Und wer wäre da besser geeignet als jemand aus Livington, wo sich der Hauptsitz von ME befindet?“

„Du willst also, dass Anya dein Logo trägt, während sie am Turnier teilnimmt?“ Nick klang alles andere als begeistert.

Und Anya wusste gar nicht, worum es ging. „Legacy Cup?“

„Später, Anya“, wiegelte Nick sie ab. „Und die Gegenleistung, Mr. Reid?“

„Abhängig vom Erfolg von Miss Bauer“, erwiderte er und sah herüber zu Anya, „kann ich mir vorstellen, neben dem eigentlichen Preisgeld eine großzügige Wiedergutmachung für die entstandenen Umstände auszuzahlen. Ich war so frei und habe bereits einen Vertrag aufsetzen lassen, in dem alles dazu geschrieben steht.“

„Bedauere, wir sind nicht interessiert“, gab Nick eiskalt zu verstehen.

Anya aber war sehr wohl interessiert. Und eine Anya Bauer musste nicht wissen, worum es ging, wenn am Horizont die Scheinchen winkten. „Wie viel?“

„Im Falle eines Titels eine Million“, antwortete Aiden mit einem geschäftsmännischen Lächeln auf den Lippen.

„Wo muss ich unterschreiben!?“, schrie Anya förmlich und beugte sich derart vor, dass es Nick ein Leichtes war, sie schnell wieder auf den Stuhl der Realität zu stoßen.

„Anya, nein! Glaub mir, das ist keine gute Idee.“

Eine imaginäre Zielscheibe erschien auf Nicks Stirn, die Anya mit ihrem Todesblick augenblicklich versuchte zu durchbohren. „Alter, Harper, hast du deine eigene Wichse in den Ohren? Eine Million!“

„Im Falle eines Titels“, wies Aiden sie auf das Kleingedruckte hin.

„Pft, das Ding gewinn' ich locker. Harper, eine Million!“

Nick hielt ihrem Blick stand. „Wenn du auf Blutgeld stehst, klar, warum nicht? Ist ja nicht das erste Mal, dass du deine Seele verkaufst.“

Getroffen, verstummte Anya sofort mit großen Augen.

„Nick war schon immer ein Scherzkeks“, lachte Aiden amüsiert, „mein Vertrag ist sehr fair. Mir geht es in erster Linie darum, meine Firma bekannter zu machen.“

„Indem du die Konkurrenz als Werbeplattform benutzt?“ Nick drehte sich zu Aiden und lächelte plötzlich bitterböse. „Wie überaus gerissen.“

 

Der brünette Mann beugte sich zu Nick vor, so nah, dass man meinen könnte – würde man den Hass der einen Seite außen vor lassen – dass sie sich jeden Moment küssten.

„Mir scheint, du weißt bereits von meiner Partnerschaft mit der AFC.“

Nick legte den Kopf hin zur Seite, demonstrativ von Aiden weg und schnalzte genüsslich mit der Zunge. „Oh, ich wusste nicht, dass das bisher nur intern bekannt war. Die AFC und Micron Electronics schließen sich zusammen, um unter Benjamin Henry Ford ein Konkurrenzprodukt für Duel Monsters zu entwerfen.“

Nun drehte sich Nick wieder zu Aiden. „Wie erzürnt Industrial Illusions sein muss, wenn sie davon erfahren. Was dann wohl passieren würde? Gar nicht auszudenken. Ein Verlust der Markenrechte an Duel Monsters könnte im Schlimmstfall zum Ruin der AFC führen. Denn wir alle wissen ja, dass sie außer Duel Monsters in der Vergangenheit nicht viel richtig gemacht haben.“

„Das zu ändern ist meine Aufgabe als Geschäftspartner“, erklärte Aiden, „ich hoffe, ich kann auf deine und Miss Bauers Unterstützung zählen.“

„Dazu müsstest du erstmal die Investoren davon überzeugen, dass etwas Werbung für deine Firma im Turnier sinnvoll erscheint“, erwiderte Nick majestätisch, „und dann noch mit Anya.“

„Darum musst du dir keine Sorgen machen“, versicherte Aiden ihm selbstbewusst. „Das habe ich bereits.“
 

Anya indes bemerkte gar nichts von dem Kleinkrieg der beiden, der nur so von den Drohungen triefte, die sie um einiges einfacher auszudrücken vermochte. Die Blonde hatte nur eins vor Augen, dass sie vergessen ließ, Nicks Verbindung zu diesem Aiden und überhaupt seine reine Anwesenheit zu hinterfragen.

Eins Punkt null null null Punkt null null null. Und dafür hatte sie nur ein beklopptes Turnier zu gewinnen? Wie geil war das bitte?
 

„Hoffen wir, dass diese Details nicht durchdringen, solange das Produkt noch in Planung ist“, lamentierte Nick, als wäre er ernsthaft um Aidens Erfolg besorgt. „Der Image-Schaden wäre zweifelsohne beträchtlich. Für beide Firmen. Man würde hinterfragen, mit welchen Geldern das alles finanziert wird.“

„Ich bin mir sicher, außer dir weiß kein Außenstehender davon. Und ich bin mir sicher, dass du mit diesem Wissen sehr vertraulich umgehen wirst“, sagte Aiden zuversichtlich und nahm das Glas Wein, das er sich zwischenzeitlich bestellt hatte. Lächelnd hob er es an, obschon seine beiden 'Geschäftspartner' nichts zu Trinken bestellt hatten. „Zum Wohl.“

„Zum Wohl“, erwiderte Nick freundlich und doch so heimtückisch zugleich.

 

Und so speisten sie in stiller Feindseligkeit. Anya verfolgte nur mäßig interessiert, wie der unterschwellige Schlagabtausch nach der Vorspeise, leckeren Canapé, in die nächste Runde ging. Jener setzte sich auch über Hauptgang und Nachtisch hinweg fort, redeten die beiden ununterbrochen in dieser seltsamen Sprache, die dem Mädchen völlig fremd war.

Schließlich wurde es ihr aber zu viel, nämlich als Nick seine alte Freindin Nina Placatelli mit ins Boot zu holen drohte.

„Okay, keine Ahnung wie ihr das seht, aber ich bin voll“, murrte sie und lehnte sich zurück, gab sogar ein lautstarkes Bäuerchen zum Besten. „Kann ich jetzt gehen?“

Aiden zog überrascht die Augenbraue hoch. „Interessantes Mädchen. Sag Anya, hast du eigentlich Geschwister?“

Sofort verkrampfte Nick, während Aiden eine vorbeigehende Kellnerin um die Rechnung bat.

„Nur einen Bruder, aber das ist ein Spacko der Sonderklasse“, brummte sie, „kann ich jetzt den Vertrag unterschreiben und die Kohle haben?“

Den Kopf leicht zur Seite nickend, schmunzelte der CEO von Micron Electronics. „Das überrascht mich. Wie schön, dass du dich so schnell entschieden hast, mit uns zusammenzuarbeiten.“

„Du hast dich verhört, sie überlegt noch“, ging der größte der Drei sofort wieder missbilligend dazwischen. „Ein bisschen hat das noch Zeit. Nicht wahr, Anya?“

„Hat es, Harper? Seh' ich anders!“

„Siehst du nicht“, zischte er nun äußerst verärgert.

Aiden zahlte nebenbei und gab dazu ein äußerst großzügiges Trinkgeld, während er amüsiert verfolgte, wie die beiden sich anfingen zu streiten.

Schließlich erhoben sie sich. Nick nahm all seinen Mut zusammen, indem er den Arm um Anyas Schulter legte und sie fester an sich drückte, während sie zu dritt zur Garderobe schlenderten, wo Anya und Aiden ihre Jacken abgegeben hatten.

 

Als die Dame am Tresen ihnen die guten Stücke reichte, schulterte Aiden das seine und reichte Anya die Hand. „Ich verstehe es, wenn du erst überlegen musst. Daher bekommst du eine Kopie des Vertrages mit der Post zugeschickt, dann kannst du dich in Ruhe damit auseinandersetzen. Immerhin birgt ein Vertrag auch Pflichten, aber das weißt du sicher.“

Wusste sie nicht, wollte Nick am liebsten losschreien, denn genau das wusste sein ehemaliger Geliebter nur allzu gut. Weswegen sonst wäre es so leicht für ihn, Anya ausnutzen? Instinktiv presste er sie noch fester an sich.

Die blickte die Hand nur an, ohne sie zu nehmen. „Was auch immer. Eins will ich aber wissen.“

„Nur zu, frag“, bot Aiden mit einem freundlichen Lächeln an.

„Eigentlich sind es zwei Fragen. Erstens: Warum ich?“

„Durch meine Geschäftsbeziehungen mit der AFC bin ich imstande, die Duellstatistiken der Spieler dieser Region auszuwerten. Und du warst erstaunlich weit vorne mit dabei.“

Anya kräuselte die Stirn. „Wie weit genau?“

„Das darf ich nicht sagen, aber ziemlich weit. Die, die vor dir waren, sind … langweilig.“ Aiden lächelte. „Ich suche nach jemandem mit Ecken und Kanten. Wenn du dir die Pro-Szene ansiehst, wirst du so etwas kaum finden, zumindest nicht ohne Skandal als Anhang, der die Karriere binnen weniger Wochen völlig ruiniert.“

Er hielt ihr die Hand immer noch hin. „Sie sind Marionetten, nichts weiter. Sagen sie etwas Kontroverses, dauert es keine 24 Stunden, ehe eine geheuchelte Entschuldigung folgt. Du bist echt und das ist etwas, was sicherlich viele schätzen würden.“

Nick, der immer noch Anya gegen ihren Willen an sich gedrückt hielt, verzog keine Miene. „Und woher willst du das beurteilen können?“

„Ich sehe es einfach“, erwiderte er selbstsicher, zog letztlich aber seine Hand zurück. „Nun, ich muss mich von euch verabschieden, habe noch einige wichtige Termine. Denk über mein Angebot nach. Wir hören voneinander.“

Zusammen traten sie zum Ausgang des Restaurants. Sich verabschiedend, trat Aiden aus der Tür und wurde prompt von einer schwarzen Limousine empfangen, in die er einstieg. Dabei warf er Nick ein letztes Lächeln zu, ehe er die Tür hinter sich zuschlug und verschwand. Auch die beiden verließen den teuren Laden.

 

„Nick“, schoss es aus Anya, nachdem er sie losgelassen und beide nur einen Schritt an die frische Luft getan hatten, „Turnier? Warum weiß ich nichts davon?“

Nick, der die Führung übernahm und nur so über den Bürgersteig flog, drehte sich nicht einmal zu ihr um. „Weil es noch recht neu ist. Der Legacy Cup ist die einzige Chance für dich, um an Claire Rosenburg heranzukommen. Eine der Zielpersonen. Ich bin derzeit im Begriff, dich dort einzuschleusen. Auf meine Weise.“

„Wow“, staunte die Blondine und holte zu ihm auf, „danke, denk ich. Aber die Arbeit kannst du dir sparen. Ich mein, eine fucking Million, um dann noch meine Mission zu erfüllen? So gefällt mir das.“

„Freu' dich lieber nicht zu früh. Dieses Turnier ist eigentlich eine Privatveranstaltung für aufstrebende Duellanten.“ Nick blieb abrupt stehen und wirbelte zu ihr um. „Dass du auf normalem Wege eine Einladung dazu erhältst ist in etwa so realistisch wie die guten Absichten unseres vermeintlichen Geschäftspartners. Du solltest nicht auf das Angebot eingehen, Anya. Der Vertrag wird nur so von Fallen gespickt sein. Lass mich das regeln! Es gibt dutzende Gründe, sein Angebot nicht anzunehmen.“

„Und es gibt eine Million Gründe, es sehr wohl anzunehmen! Sieh's ein, ich bin zahlenmäßig im Vorteil!“

Er packte sie eindringlich am Arm, weil er schon genau sah, wie sie aus Trotz aufhörte ihn wahrzunehmen. „Der Mann ist schlimmer als jeder Dämon, mit dem du es bisher zu tun hattest. Entscheide dich nicht für ihn, ich bitte dich!“

„Was mich zu Frage zwei bringt, die ich nun dir stelle: Warum zur Hölle hasst du ihn so!?“ Dabei befreite sie sich mit einem Ruck aus seinem Griff.

„Weil er genau das ist, was du an den Menschen verabscheust“, konterte Nick verbittert.

Anya gluckste. „Er ist ein Mensch, schon klar. Aber ein reicher. Und er hat sein Geld wenigstens wirklich verdient.“

Unvermittelt getroffen von dieser unbedachten Äußerung ließ Nick den noch nach ihr ausgestreckten Arm sinken. Dann breitete er ihn und sein Gegenstück im Anflug eines Wutanfalls weit aus. „Weißt du was? Fein! Wenn es das ist, was du willst, werde ich dir nicht im Wege stehen! Aber sage später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“

 

Anya rief ihm noch etwas hinterher, was weniger wie eine Entschuldigung, denn mehr als eine fiese Beleidigung klang, als Nick die Flucht ergriff. Das Rauschen seines Bluts in den Ohren ließ ihn dafür jedoch taub werden.

Wie konnte sie nur so verblendet sein!? Sah sie denn nicht, dass die ganze Geschichte von hinten bis vorne erstunken und erlogen war!? Anya war nicht einmal ansatzweise so hoch im Ranking der AFC positioniert wie Aiden behauptete!

Aber wenn sie der Meinung war, sich mal wieder unnötig ins Verderben stürzen zu müssen, dann würde er dafür sorgen, dass jemand anderes vor ihr stürzen würde.

„Ich werde dich vernichten, Aiden“, zischte er hasserfüllt, „zähl' schon mal die Stunden …“

 

Derweil stand Anya vor einem Blumengeschäft auf verlorenem Posten. Sie blickte herüber zu den Körben, in denen sich die farbenprächtigsten Pflanzen befanden, die sie jemals gesehen hatte. Ja, dachte sie, danke für die Blumen …

Was war denn nun in ihn gefahren? Wenn er ihr wenigstens erklären würde, woher er diesen Typen kannte und weshalb dieser Aiden Reid offenbar seine persönliche Valerie Redfield war!

„Idiot!“, schrie Anya dem sich längst außer Reichweite befindenden Nick frustriert hinterher. „Wehe, der entschuldigt sich nicht bei mir …!“

Sie begann langsam in dieselbe Richtung zu laufen wie er.

Heute war echt der Wurm drin. Erst Matt, jetzt auch noch Nick! Und wetten, wenn sie Abby anrief und ihr von alldem erzählte, würde die am Ende ebenfalls auf ihr herumhacken? Keinem konnte man es recht machen. Nicht, dass sie sich diesbezüglich Mühe gab, aber langsam bekam sie den Eindruck, im Vergleich zu ihren launischen Freunden regelrecht harmlos zu sein. Es war frustrierend!

Wütend trat sie einen Stein vor sich her, während sie den Bürgersteig entlang schlenderte. Noch vor einigen Monaten wäre ihr das alles egal gewesen, sollte doch jeder tun und lassen was er wollte. Diese Anya war sie jedoch nicht mehr, wie sie sich eingestehen musste. Und sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Denn eins stand fest: Damals war alles viel einfacher gewesen.

 

Es passierte so plötzlich, dass Anya nach Luft schnappte. Ohne Vorwarnung durchzog ein heftiger, ziehender Schmerz ihren ganzen Torso. Das Mädchen kippte beinahe vorneüber und presste ihre rechte Hand auf die Brust, in der es regelrecht zu pulsieren schien.

„Nicht jetzt!“, ächzte sie.

War das ein Wink des Sammlers, dass ihre Zeit zunehmend knapper bemessen war? Egal, es sollte aufhören.

„Hgn!“

Es war, als würde ein Sturm in ihrem Inneren wüten und ihre Organe mitreißen. Anya war hart im Nehmen, doch selbst sie konnte dieses Mal nicht an sich halten und ächzte jämmerlich, während sie in die Knie sackte. Selbst das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer, schmerzte jeder noch so kleine Zug nach Luft unsäglich in ihrer Brust.

„Scheiße …!“

Warum ging es nicht weg!? Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Ihr wurde heiß, dann eisig kalt, während sich ihre Gedärme munter zusammenzogen, um eine Rave-Party zu feiern.

„Fuck …“

Kleine schwarze Punkte bildeten sich vor ihren Augen, während sie auf die grauen Pflastersteine des Bürgersteigs starrte.

 

Unvermittelt aber wurde Anyas Wunsch erhört. Der Druck in ihrem Inneren schwand langsam, doch sie wagte es nicht, richtig durchzuatmen. Zu groß war die Angst, damit einen erneuten Anfall auszulösen. Nie hatte sie etwas so Schönes verspürt wie dieses Gefühl des schwindenden Schmerzes.

Das Mädchen stützte sich mit beiden Händen vom Boden ab, durchnässt vom Schweiß, der ihr zwischenzeitlich ausgebrochen war.

„Brauchst du einen Krankenwagen!?“

„Hast du einen Herzinfarkt!?“

Das junge Pärchen, welches geradewegs mit besorgten Mienen auf sie zu eilte, wies sie scharf zurecht: „Was glotzt ihr so!? Haut ab, bin nur gestolpert!“

Allerdings ließ sich der junge Mann, den Anya nur verschwommen wahrnahm, nicht so leicht abwimmeln. „Du siehst aber nicht gut aus.“

„Verpisst euch!“

„O-okay“, stammelte die junge Frau, „wir wollten doch nur helfen.“

Ihr Freund fand da eindeutigere Worte. „Wenn du meinst … blöde Kuh!“

Sie schritten an ihr vorbei, nicht ohne sie dabei im Weggehen noch zu betrachten.

„Ich brauche keine Hilfe“, murmelte Anya zu sich selbst und stemmte sich langsam vom Boden ab, das Bild vor ihren Augen wurde langsam wieder klarer.

Es war demütigend, so machtlos zu sein. Und die würden das jetzt bestimmt überall herum tratschen, um sie zur Lachnummer ganz Livingtons zu machen.

 

Gerade wollte Anya zu ihnen umwirbeln, da spürte sie einen weiteren Stich in der Brust. Alles wurde schwarz vor ihren Augen, doch das war keine Ohnmacht und auch nicht ihrem Zustand geschuldet. Die Farbe kehrte innerhalb eines Herzschlages zurück.

Erschrocken von diesem plötzlichen Impuls drehte sich Anya langsam um die eigene Achse. Die ganze Straße war völlig verändert. Der Himmel war in düsteres Rot getaucht, mehr noch, das Pärchen war nicht mehr zu sehen oder besser gesagt, gar kein Mensch mehr. Aber wäre es nur das gewesen, hätte Anya nicht einmal anerkennend die Augenbrauen angezogen.

Dass ihre Umgebung aber aussah, als hätte ein Amateur unter Nutzung Photoshops erfolglos versucht, sich am Ausschneiden bestimmter Abschnitte der Straße zu üben, hob das alles auf ein ganz anderes Level. Es war, als wären Stücke der Realität einfach herausgeschnitten und an irgendeiner anderen Stelle völlig verquer wieder hingesetzt worden. So fehlte dem kleinen Café gegenüber des Blumenladens ein Tisch samt Stühle und Sonnenschirm, nur um etwas weiter in der Luft inklusive seinem gewohnten Hintergrund auf dem Kopf zu stehen. Dabei war alles nur noch ein Bild, es waren keine dreidimensionalen Gegenstände mehr.

Als Anya fertig damit war, sich umzusehen, seufzte sie schicksalsergeben. „Okay, wer will mich heute umbringen?“

„Ob du heute stirbst oder nicht, hängt von deiner Entscheidung ab, Anya Bauer.“

Das Mädchen traute ihren Augen kaum, als sie sich zum Ursprung der tiefen Stimme umdrehte. Da stand er, direkt vor ihr. In all seiner Pracht. Nahezu einen ganzen Meter größer als sie, starrte er unter der Maske an seinem Helm auf sie herab.

„Noch so ein Freak“, knurrte Anya, ohne einen Millimeter zurückzuweichen. „Ein Undying, wenn man dem Gestank der Arroganz trauen darf.“

Levriers Abbild erschien hinter ihr.
 

Aus welchem Film hast du dieses Zitat geklaut, Anya Bauer? Aber es besteht kein Zweifel, er ist einer von ihnen. Seine Präsenz ist überwältigend, wenn man bedenkt, wie er uns eben noch unbemerkt in die Falle locken konnte.

 

Beide betrachteten ihn, den Hünen. Von seinen Schultern reichte ein roter Umhang bis zum Boden, befestigt an der goldenen Panzerung, die über einer zweiten, silbernen lag. Auch der Helm war aus jenem Edelmetall, verziert mit einem aus roten Fasern bestehenden Kamm. An seiner Hüfte befand sich ein Waffengurt samt massivem Schwert.

„Was verschafft mir die Ehre?“, zischte Anya angespannt. „Und wer bist du?“

Sie verzog ärgerlich die Augen, denn der Helm wurde von einer metallischen Maske verdeckt, aus der nur die braunen Augen andeuteten, dass sich etwas Lebendes unter dieser Rüstung verbarg.

„Ich werde Ricther genannt. Der, der über die Feinde der ewigen Ordnung urteilt.“

„Das schon wieder …“

Vor ihren Augen streckte Ricther seine Hand aus. „Ich halte mich kurz, denn die Zeichen der Zeit zwingen mich, vom gewohnten Kurs abzuweichen.“

„Soll heißen … ?“
 

Er will deinen Tod. Erinnerst du dich noch, als Stoltz sagte, beim zweiten Mal sprechen sie nur eine Warnung aus? Wie du sicherlich noch weißt, wäre diese schon beinahe tödlich für uns ausgegangen. Aber soweit ich mich erinnere, ist das dritte Siegel noch nicht gebrochen …

 

Der mechanisch, Anyas Meinung nach römisch anmutende Hüne ballte eine Faust vor ihrer Nase.

„Stoltz' Taten sprechen für das Verbrechen, was du im Begriff bist zu begehen. Wir haben bereits einmal eine Katastrophe abwenden müssen, die durch das Brechen der Siegel entstanden wäre. Und so habe ich mich entschieden, dass die Regeln nicht länger gelten. Und du an Ort und Stelle dein Urteil erfahren wirst, bist du schließlich nicht diejenige, die zum Brechen der Siegel berechtigt ist.“

Nun wich Anya zurück. „Ahja, und wie sieht dieses Urteil aus!?“

„Wähle: Entweder gibst du die Artefakte zurück und verzichtest auf die weitere Jagd danach, oder ich beende es mit Gewalt.“

„Das muss ich wohl gar nicht erst beantworten, oder!? Was ist das hier überhaupt!?“, wollte Anya wütend wissen. „Warum müsst ihr Freaks immer so'ne Show abziehen, wenn ihr mir auch einfach 'ne beschissene Kugel durch die Rübe jagen könntet!?“

„Wir befinden uns in einem zerbrochenen Pfad. Unfertig, ist er nur das Konzept dessen, was geschehen könnte. Du selbst müsstest am besten wissen, wovon ich rede.“

Das machte Anya hellhörig. „Meinst du die Pfade des Schicksals? Die, die ich mit meinem Cheat Draw ändern kann?“

 

Musst du das immer so nennen, Anya Bauer? Es ist so viel mehr als das.

 

„Levrier spricht die Wahrheit.“ Ricther nickte. „Nur Undying und Immaterielle sind unter normalen Voraussetzungen imstande, diese Kraft zu nutzen. Weswegen es jene gibt, die die Immateriellen ausgelöscht wissen wollen.“

Anyas beseeltes, ehemaliges Paktmonster schwebte ein Stück vor, auf die Höhe des Mädchens.

 

Und wer wäre das?

 

Bevor der Hüne jedoch antworten konnte, kam ihm die Nase rümpfende Blonde zuvor: „Na wer wohl? Der 'wahre Feind'. Denk dran, was er mit deiner Welt gemacht hat.“

 

Ich selbst war nicht Teil davon, wie du weißt. Ich bin nur ein Abkömmling eines echten Immateriellen.

 

„Trotzdem war das deine Familie!“, pochte Anya auf ihren Punkt.

„Und nun bist du im Begriff, etwas zu tun, das die deine in Gefahr bringt, Anya Bauer. Für sie bist du ihr -wahrer Feind-.“ Ricther schwang den linken Arm zur Seite. „Zerbrochen wie dieses Bild auch ist, können deine Aktionen es zur Realität werden lassen. Genauso verhält es sich mit deinem Körper: Du bist nur ein Avatar in dieser noch nicht existierenden Möglichkeit. Doch wenn er hier vergeht und dieser Pfad zur Realität wird, schwindet deine Existenz, entsprechend der Geschichte, die jetzt geschrieben wird.“

Anya blinzelte zweimal. „Huh?“
 

Anya Bauer, was er damit sagt ist, dass dein Körper in diesem Moment auf demselben Was-wäre-wenn?-Szenario basiert wie der noch unfertige Pfad. Und wenn du hier stirbst, wirst du es auch in der Realität, sollte dieser Pfad vollendet werden.

 

„Und dieser Mistkerl hat genau das vor, oder?“

Als Antwort griff Ricther nach dem Schwert an seinem Waffengurt und zog es, streckte es in die Höhe, nur um dann dessen Spitze auf Anya zu richten. „Dein engstirniges Verhalten und die Unfähigkeit, die Konsequenzen deines Handelns zu erfassen zwingen mich dazu, dir deine Entscheidung abzunehmen. Kraft meines Amtes als Wächter der ewigen Ordnung verurteile ich dich ob deiner Taten zum Tode, Anya Bauer!“

In diesem Moment ummantelte das Schwert Ricthers Arm und verband sich problemlos mit ebendiesem, wobei sich der Griff automatisch einzog. Die Klinge wiederum fuhr ebenfalls ein ganzes Stück zurück, bis sie nur noch etwa einen halben Meter lang war. Dafür öffneten sich kleine Schlitze – im Handumdrehen hatte der Hüne nicht nur eine Klinge am Arm, sondern auch eine Duel Disk.

Das Mädchen nahm noch einige Schritte zurück, dabei seitwärts über die Straße gehend, doch hielt sie Ricther mit ihrem Blick geradezu gefangen. Dieser folgte ihr im selben Tempo. „Oh, jetzt sprichst du dein Urteil, huh? Hoffentlich ist das nicht alles heiße Luft! Nur damit du's weißt, du bist nicht der Erste, der sich das falsche Urteil über mich bildet, Blechbirne. Du willst Krieg? Dann sollst du ihn haben! Ich gehe meinen eigenen Weg und niemand wird mich davon abbringen!“

„Dann soll es so sein!“

Anya aktivierte ihr D-Pad und beide riefen: „Duell!“
 

[Anya: 4000LP / Ricther: 4000LP]

 

Anyas Atem ging stoßweise. Das letzte Mal, als sie sich gegen einen dieser Undying hatte behaupten müssen, war sie unangespitzt in den Boden gerammt worden. Dabei war sie nicht einmal alleine gewesen! Hatte sie überhaupt eine Chance?

Selbst Levrier schien zu zweifeln, schüttelte er gedankenversunken den Kopf. Dann sagte er:
 

Das wird womöglich dein härtester Kampf, Anya Bauer. Hätten wir die Möglichkeit zur Flucht, würde ich sie dir unbedingt ans Herz legen. Aber so bleibt uns nur der Kampf. Möge er nicht aussichtslos sein.

 

Aussichtslos? Sie war Anya Bauer! Sie hatte schon mehr aussichtslose Kämpfe ausgetragen als Deutschland während der Kriege und das wollte was heißen! Noch dazu hatte -sie- ihre auch gewonnen! Meistens …

„Ich komme schon klar! Pass auf, dass dir deine Perlen nicht wegfliegen!“, knurrte sie angespannt und schrie kurz darauf: „Hey, Blechbüchse, ich mache den ersten Zug! Draw!“

Sofort riss sie sechs Karten auf einmal von ihrem Deck und musste entsetzt feststellen, dass das Glück ihr nicht gerade hold war. Aber vielleicht konnte sie trotzdem aus dem Blatt etwas machen. Wenn nicht, würde sie zumindest vor allen anderen auf ihrer Schwarzen Liste erfahren, wie 'die andere Seite' aussah – und was man dort alles so anstellen konnte.

Anya fischte ein Monster aus ihrem Blatt und rief: „[Gem-Knight Garnet], ready and waiting!“

Auf ihrer Spielfeldseite erschien ein bronzener Ritter, in dessen Brust ein Granatstein eingelassen war. Zwischen seinen Handflächen erzeuge er demonstrativ eine Flamme.

 

Gem-Knight Garnet [ATK/1900 DEF/0 (4)]

 

„Zug beendet“, verkündete sie.

 

Das massive Schwert an seinem Handrücken mühelos hochhebend, griff Ricther mit der anderen nach dessen Unterseite, nahe des eingezogenen Hefts. Dort befand sich eine Einlassung, in der sein Deck zu finden war und von dort nahm er eine Karte auf. Diese legte er sogleich in die stumpfe Seite der Klinge ein. Und es wurde plötzlich unheimlich kühl in der starr gewordenen, verzerrten Welt. Karte um Karte flog aus dem Deck des Hünen, entlang des Klingenblatts und löste sich vor seinen und Anyas Augen an der Spitze auf.

„Zehn Karten werden verdeckt verbannt, um sie zu beschwören“, erklärte er und streckte den Arm in die Höhe, „erscheine, [Different Dimension Deity – Lastelise]!“

Überall um Ricther herum brachen riesige, pinke Kristallfragmente aus dem Boden hervor und stiegen in die Luft. Einer flog an der Spitze. In ihm war ein blauer Kern eingelassen, der wie ein Auge wirkte. An seinem hinteren Ende platzierten sich drei weitere, die eine Art Kragen dazu bildeten. Je rechts und links verbanden sich die restlichen Kristalle zu gigantischen Händen, bestehend aus drei Fingern, die abseits des 'Kopfes' ihre Position einnahmen. Dem Mädchen blieb die Luft weg bei dem seltsamen Anblick, der sich ihr bot.

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/3000 DEF/3000 (10)]

 

„Solange Lastelise über den Raum herrscht, kann ich keine anderen Kreaturen beschwören. Dies wird auch nicht von Nöten sein.“ Erhaben streckte Ricther den Arm aus und zeigte auf Anyas Krieger. „Vernichte! Declaration of D!“

Die beiden 'Arme' der körperlosen, riesigen Gestalt begannen sich wie Bohrer zu drehen und schossen parallel aus der längsten Spitze gelbe Laserstrahlen auf Garnet.

„So stark!? Da reicht nicht mal-!“, stammelte Anya, doch schon explodierte der Ritter vor ihr.

Von der entstandenen Schockwelle wurde sie mitgerissen und flog im hohen Bogen über die Straße, kam hart auf dem Rücken auf und rutschte noch ein Stück weiter.

„Argh!“, keuchte sie dabei.

 

[Anya: 4000LP → 2900LP / Ricther: 4000LP]

 

„Ich erkläre meinen Zug als beendet“, verkündete Ricther.

Anya richtete sich schwankend auf und hielt sich die linke Schulter, die Einiges bei ihrem Fall abbekommen hatte. Es war alles so schnell geschehen, dass sie kaum den Ablauf hatte erfassen können. Levrier drehte sich, am Rand ihres Spielfeldes verharrend, zu ihr.

 

Er steht Stoltz im Nichts nach. Im ersten Zug ohne Aufwand ein so starkes Monster zu beschwören? Das wird noch nicht das Schlimmste sein, was er besitzt, Anya Bauer.

 

„Was du nicht sagst, Einstein“, ätzte Anya und schleppte sich zurück zum Duellfeld.

Was wollten diese Undying bloß von ihr!? Feindin der ewigen Ordnung? Das war sie ja nun nicht gerade erst seit gestern! Sie hasste alle Art von Ordnung, damit das mal klar war! Wenn die jetzt schon so ausflippten, weil sie zwei dieser Siegel oder was auch immer gebrochen hatte – technisch gesehen nur eins, Matt war genauso schuld! – dann wollte sie gar nicht wissen, was diese Undying unternahmen, wenn sie alle Siegel gebrochen hatte. Gäbe es dann einen Undying-Gangbang?

 

„Draw!“, raunte sie, angefacht von ihrer Wut auf den Sammler, der ihr das alles eingebrockt hatte.

Es war falsch, was sie da tat, das wusste Anya instinktiv. Siegel zu brechen war nie eine gute Idee, da musste man nur die Winchester-Brüder fragen. Bloß scheiße, sollte sie stattdessen freiwillig in die Kiste springen!? Solange sie – sprich Nick – keinen Ausweg aus dem Schlamassel gefunden hatte, würde sie einen Teufel tun, egal wer ihr in die Quere kam!

„Was? Hast wohl plötzlich deine Zunge verschluckt, huh?“, hakte Anya nach und beäugte nebenbei ihr Blatt. „Dein Kumpel war da witziger. Der Vollpfosten hat wenigstens gar nicht erst so getan, als hätte er keinen Spaß daran, uns zu quälen. Und ein kleiner Hinweis an dich, Robocop: Du wirst's genauso versemmeln wie er!“

Im Feuereifer knallte sie ein Monster verdeckt auf Logans schwarzes D-Pad und schob anschließend eine Falle hinterher. „Viel Spaß mit den beiden! Zug beendet!“

In horizontaler Lage beziehungsweise vertikaler Lage materialisierten sich jene Karten vor Anya. Und ja, dieses defensive Spiel war reine Strategie und nicht etwa ein hilfloser Versuch, sich über den nächsten Zug zu retten, weil es sonst keine Optionen gab!

 

„Du bist Stoltz nur entkommen, weil mehrere Individuen dich schützten, Anya Bauer“, erklärte Ricther und zog nebenbei von unterhalb seiner Schwert-Duel Disk, „doch keines von ihnen kann jetzt eingreifen. Gib mir die Artefakte zurück, dann verschone ich dich.“

Unterstreichend streckte er fordernd die freie Hand mit der gezogenen Karte zwischen Mittel- und Zeigefinger aus.

Wäre jene in Anyas Reichweite, würde sie sie sofort wegschlagen. „Verschonen? Entweder krepiere ich, weil ich auf dich höre oder weil ich es nicht tue. Bei Letzterem habe ich größere Erfolgsaussichten, also verpiss' dich!“

„Ganz wie du willst.“ Ricther zog den Arm zurück und fügte die Karte seinem Blatt hinzu, schob anschließend eine andere mit seinem Daumen ein Stück weit daraus hervor. „Dann musst du mit den Konsequenzen rechnen. Ich aktiviere die Zauberkarte [Dimensions Reach]. Ein damit ausgerüstetes Monster erhält für jede verdeckt verbannte Karte 100 Punkte auf seinen Angriff.“

Er legte die Karte mit der anderen Hand in den Schlitz direkt unter der Zone seines Monsters ein. Das Innere der pinken Kristalle Lastelises begann daraufhin zu glühen. Und Anya schluckte.

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/3000 → 4000 DEF/3000 (10)]

 

„Tch, dann wird das ja wieder nichts.“

Ricther streckte den Arm wieder befehlend aus. „Vernichte das gesetzte Monster! Declaration of D!“

Wieder drehten sich die aus drei Kristallen bestehenden 'Hände' des göttlichen Wesens rapide um die eigene Achse und feuerten gelbe Lichtstrahlen auf Anyas horizontal liegende Karte. Die wirbelte herum und offenbarte einen Ritter in hellblauer Rüstung, welcher mit nur einer Handbewegung vor sich eine Eismauer errichtete.

„Pech gehabt, [Gem-Knight Sapphire]“, murmelte Anya wenig mitfühlend.
 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

Schon schossen die Strahlen durch Sapphires Brust und trafen Anya direkt in die ihre. Jene weitete erschrocken die Augen, ehe sie hustete und Blut ausspuckte. An sich herab sehend, sah sie nur zwei dunkle, verkohlte Stellen auf ihrem T-Shirt und an den Rändern ihrer geflickten Lederjacke. Entgeistert schaute sie anschließend auf, in Ricthers Richtung.

 

[Anya: 2900LP → 1000LP / Ricther: 4000LP]

 

„[Dimensions Reach] ermöglicht es, jede Verteidigung zu durchdringen und durchschlagenden Kampfschaden zuzufügen“, erklärte Ricther emotionslos und legte eine weitere Karte in die Klinge an seinem Arm ein. „Diese Karte wird verdeckt ausgespielt. Ich erkläre meinen Zug hiermit als beendet.“

Sofort setzte diese sich vor ihm aus dutzenden Partikeln zusammen.

Indes blickte die Blondine wieder an sich herab und berührte die verbrannten Stellen, die furchtbar schmerzten. Genau genommen war das mit ihrem ganzen Brustkorb der Fall. Sie hatte keine Ahnung, ob irgendwelche Organe verletzt waren. Wenn ja, war das … schlecht. Blut rann ihr von den Mundwinkeln.

„Kacke …“, hustete sie, das Blut spritze nur so aus ihr.

Etwas Unsterblichkeit wie zu Edens Zeiten wäre jetzt wirklich nicht verkehrt.

 

Reiß dich zusammen, Anya Bauer. Das ist nicht dein Blut! Zumindest noch nicht!

 

Verwirrt sah sie nach rechts zu Levrier.
 

[Different Dimension Deity – Lastelise] verzerrt Raum und Zeit. Es hat nicht dir den Schaden zugefügt, sondern deinem Ich, welches das Duell verlieren wird. Vergiss das nicht.
 

„Der Abkömmling hat Recht“, bestätigte Ricther, „es ist eine Warnung an dich, was mit dir geschieht, wenn du dich uns widersetzt. Der Schmerz und das Blut sind echt, aber zur selben Zeit noch nicht geschehen, weshalb du noch lebst. Überlege gut, was du tust. Solange du lebst, steht mein Angebot.“

Anya ließ den Kopf hängen, das Atmen fiel ihr ziemlich schwer unter diesen seltsamen Bedingungen.

„Wenn ich die Karten zurückgebe … hilfst du mir dann?“

„Nein. Die Angelegenheiten der Sterblichen sind nicht die unseren“, antwortete Ricther kühl, „unsere Aufgabe ist es allein, die ewige Ordnung aufrecht zu erhalten. Ist dies getan, versinken wir in einen tiefen Schlaf, der nicht eher endet, bis die ewige Ordnung erneut in Gefahr ist.“

Anya schwang wütend den Arm aus, als sie sich wieder straffte. „Du bist ja ein toller Vogel! Ich soll auf so'ne scheiß Ordnung Rücksicht nehmen, biete sogar meine Kooperation an und du? Du speist mich bestenfalls mit 'nem verfickten 'Danke' ab!?“

„Ich wiederhole mich: Die Angelegenheiten der Menschen gehen uns nichts an. Deine bisherigen Taten sind bereits Sünde genug und bedrohen diese Welt.“ Ricther ballte demonstrativ vor ihr eine Faust. „Mehr davon und du wirst sterben, Anya Bauer. Denn auch wenn ich meine Gnade als Angebot bezeichne, bin ich kein Bittsteller!“

„Ach ja!? Sterben muss ich so oder so, wenn das hier schief geht! Dann aber lieber kämpfend!“ Anya zeigte ihm als Antwort den Stinkefinger. „Also fuck off!“

 

Sofort im Anschluss griff sie nach ihrem Deck und zog schwungvoll. „Draw! Jetzt gibt’s auf die Fresse, Freundchen!“

Sich die neue Karte ansehend, zog Anya den Mund schief. Dann streckte sie die Hand über die vor ihr liegende Falle aus. „Los, [Fragment Fusion]! Zwei Gem-Knights werden im Friedhof durch ihr Verbannen miteinander verschmolzen! [Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Sapphire], du die Rüstung! Vereint euch!“

Plötzlich tauchten vor Anya die verschiedensten Edelsteine auf. Zwischen ihnen bildeten sich weiße Linien, zeichneten nach und nach ein Netz, in dessen Mitte eine Art Portal entstand. Aus diesem tauchte schließlich ein Krieger in roter Rüstung und wehendem, blauen Umhang auf, der sich vor Anya positionierte.

„Wurde auch Zeit, [Gem-Knight Ruby]!“ Die Blonde verschränkte die Arme. „Dummerweise kratzt er am Ende des Zuges ab, weil er mit [Fragment Fusion] beschworen wurde.“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

Sie löste ihre überhebliche Haltung und legte noch ein Monster auf ihr D-Pad. „Jetzt als Normalbeschwörung: [Gem-Knight Emerald]!“

Die Karte, die sie in diesem Zug gezogen hatte. Neben Ruby materialisierte sich sein blassgrüner Kamerad mit dem runden Armschild, der Herr der Smaragde.

 

Gem-Knight Emerald [ATK/1800 DEF/800 (4)]

 

Sofort streckte Anya den Arm aus. „Zu dumm für ihn ist allerdings, dass er nur als Kanonenfutter für Ruby herhält! Indem ich ihn durch dessen Effekt opfere, erhält Ruby seine Angriffspunkte!“

So löste sich der Ritter augenblicklich in grüne Lichtpartikel auf, die der rote Krieger mit seiner Waffe, einer Lanze, absorbierte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4300 DEF/1300 (6)]

 

„Gib's dem Riesenklunker!“, fauchte Anya und zeigte nach oben über Ricther, wo [Different Dimension Deity – Lastelise] verharrte. „Sparkling Lance Thrust!“

Wie eine Rakete löste sich Ruby vom Boden und schoss durch die Luft, die Lanze nach vorne gerichtet. Sein Ziel war der Kern inmitten des Kopfs. Als er diesen erreichte, rammte er seine Waffe bis zum Anschlag hinein. Was folgte war eine gewaltige Explosion, die eine rosafarbene Staubwolke zur Folge hatte, die Ricthers komplettes Feld verhüllte und selbst noch Anyas erreichte.

 

[Anya: 1000LP / Ricther: 4000LP → 3700LP]

 

„Rest in pieces, Bitch!“, jubelte Anya, als Ruby zu ihr zurückkehrte.

Der Rauch verzog sich und – es war noch da! Über Ricther schwebte Lastelise mit seinen beiden, aus drei Kristallpfeilern bestehenden Händen und dem Kopfkragen, als wäre nie etwas geschehen.

Anya stand der Mund offen. „Aber ich habe doch-!?“

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/4000 → 3000 DEF/3000 (10)]

 

„Der Effekt von [Dimensions Reach] hat sich aktiviert“, erklärte Ricther, „würde das ausgerüstete Monster zerstört werden, kann ich stattdessen [Dimensions Reach] opfern und zehn verdeckt verbannte Karten in mein Deck zurückschicken, um [Different Dimension Deity – Lastelise] bis zur End Phase vor Zerstörungen aller Art zu wahren.“

Vor dem Hünen öffnete sich ein kleiner Spalt, aus dem die Karten geflogen kamen und sich zurück zum Heft seines Schwertes begaben, um im Deck dort drinnen zu verschwinden. Gleichzeitig sprang Ricthers gesetzte Karte auf. „Ich aktiviere als Reaktion darauf [Dimensions Downfall]. Wenn verdeckt verbannte Karten in mein Deck zurückkehren, kann ich den Fluss umkehren und während der End Phase eine Zauber- oder Fallenkarte von meinem Friedhof auf die Hand nehmen. Dafür darf ich bis zum Ende meines nächsten Zuges nur diese eine Karte aktivieren.“

Kaum waren alle zehn Karten wieder in seinem Deck, welches automatisch durchgemischt wurde, da schossen zehn neue genau in die andere Richtung und verschwanden wieder in dem Riss vor Ricthers Schwertspitze.

Anya hatte alles mit großer Irritation beobachtet.

 

Anya Bauer! Er wird mit großer Wahrscheinlichkeit [Dimensions Reach] auf die Hand nehmen. Du musst etwas unternehmen!

 

Levriers geisterhafte Gestalt an ihrer Seite war keine große Hilfe, denn das wusste sie auch selbst! Aber was sollte sie tun mit diesem Rotzblatt!? Ruby würde sowieso krepieren, dann stand sie ohne Monster da!

Sie hatte im Grunde gar keine andere Wahl. So zückte sie widerwillig die einzige Zauberkarte auf ihrer Hand. „Ich aktiviere [D.D.R. - Different Dimension Reincarnation]!“

Um die Kosten zu zahlen, legte Anya den [Labradorite Dragon] aus ihrer Hand auf den Friedhof, ehe sie erklärte: „Damit beschwöre ich ein verbanntes Monster auf meine Spielfeldseite und rüste es mit dieser Karte aus! Kehre zurück, [Gem-Knight Sapphire]!“

Vor ihr öffnete sich ein mannshoher Spalt, welcher in seinem Inneren ein weißes Energiegitter zeigte. Daraus zwängte sich der hellblaue Ritter, welcher, als er die Verzerrung überwunden hatte, vor Anya auf die Knie ging und eine schützende Eisbarriere um sich schuf.

 

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

Anya hielt sich die schmerzende Schulter und schluckte, sah wieder auf ihre Brust herab, durch die sich zwei Löcher gebrannt hatten. Sie war machtlos gegenüber diesem Typen! Nicht einmal [Angel Wing Dragon] konnte sie beschwören, da sie dafür [Alexandrite Dragon], sozusagen der Ersatz-Empfänger für Angel Wings Beschwörung, vom Deck auf den Friedhof schicken müsste. Aber genau der gammelte seit Beginn des Duells auf ihrer Hand herum! Scheiße!

„Zug beendet“, murmelte sie verbittert mit ihren letzten beiden Handkarten, wodurch Ruby in tausend Teile zersprang.

Ricther streckte den Arm aus. „Damit erhalte ich durch [Dimensions Downfall] eine Nicht-Monsterkarte von meinem Friedhof. Ich wähle [Dimensions Reach].“

Er nahm sie aus seinem Friedhofsschacht, steckte sie in sein Blatt, das er unterhalb der Klingen-Disc festhielt und besaß damit ganze fünf Karten.

 

Sofort im Anschluss nahm er noch eine weitere von seinem Deck auf. Dabei fixierte er seinen Blick auf Anya, die unter all den Schmerzen ihre Schwierigkeiten hatte, aufrecht zu stehen. „Ein letztes Mal frage ich dich: Wirst du kooperieren und die Artefakte zurückgeben?“

„Nur wenn du mir hilfst“, erwiderte sie stur, „mach den kalt, der mich dazu zwingt eure beschissenen Siegel zu brechen, dann kannst du meinetwegen meine ganze Sammlung haben.“

Levrier neben ihr räusperte sich.

„Sogar den da!“, raunte sie böswillig und zeigte auf ihren Partner. „Na ja, 'kay, eher nicht …“

„Meine Stellung dazu ist dir bereits bekannt, Anya Bauer. Wir Undying mischen uns nicht in die Angelegenheiten der Sterblichen ein.“

Anyas Mundwinkel zuckten nach oben. „War ja klar. Dann tu, was du nicht lassen kannst, Mistkerl.“

Ricther nahm eine Karte aus seinem Blatt. „Wie du willst. Ich aktiviere [Dimensions Reach]!“

Das Innere der Kristalle Lastelises begannen wieder unheimlich zu glühen, als Ricther es mit seiner Karte ausrüstete.

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/3000 → 4000 DEF/3000 (10)]

 

Ricther streckte erhaben den Arm aus. „Dann empfange jetzt mein Urteil! Für das Brechen zweier Siegel der ewigen Ordnung soll dich der Tod ereilen, Anya Bauer! Greife [Gem-Knight Sapphire] an und lösche Anya Bauers verbliebene Lebenspunkte dank Durchschlagschaden aus, [Different Dimension Deity – Lastelise]! Declaration of D!“

Anya nahm einen Schritt zurück, der Schweiß stand auf ihrer Stirn geschrieben. Wie bei den letzten beiden Malen drehten sich die Kristallhände der gewaltigen Dimensionsgottheit wie Bohrmaschinen und feuerten auf ihren Ritter zwei gelbe Laserstrahlen ab.

„Shit …“

Jener wurde zerfetzt, als sich die Strahlen durch seine Brust bohrten. Dabei trafen sie auf den Asphalt, rissen diesen anschließend auf ihren Weg zu Anya auf. Jene wandte sich schnell an Levrier.

„War schön, dich gekannt zu haben! Irgendwie jedenfalls …“

 

Anya Bau-!

 

Dann wurde sie erfasst, alles um sie herum explodierte. Ihr Schrei hallte durch die ganze Straße und wurde doch von niemandem vernommen.

 

 

Turn 54 – Matches

Nicht ahnend, welchem Gegner Anya gegenüber steht, hat Nick sich in der Zwischenzeit zu Aidens Firma begeben. Dort auf seinen Ex-Freund wartend, ist er bereit, sich ein für allemal von ihm loszureißen. Doch …

Turn 54 - Matches

Turn 54 – Matches

 

 

Ricther streckte erhaben den Arm aus. „Dann empfange jetzt mein Urteil! Für das Brechen zweier Siegel der ewigen Ordnung soll dich der Tod ereilen, Anya Bauer! Greife [Gem-Knight Sapphire] an und lösche Anya Bauers verbliebene Lebenspunkte dank Durchschlagschaden aus, [Different Dimension Deity – Lastelise]! Declaration of D!“

 

[Anya: 1000LP / Ricther: 3700LP]

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/4000 DEF/3000 (10)]

Gem-Knight Sapphire [ATK/0 DEF/2100 (4)]

 

Anya nahm einen Schritt zurück, der Schweiß stand auf ihrer Stirn geschrieben. Die Kristallhände der gewaltigen Dimensionsgottheit drehten sich wie Bohrmaschinen und feuerten auf ihren Ritter zwei gelbe Laserstrahlen ab.

„Shit …“

Jener wurde zerfetzt, als sich die Strahlen durch seine Brust bohrten. Dabei trafen sie auf den Asphalt, rissen diesen anschließend auf ihren Weg zu Anya auf. Jene wandte sich schnell an Levrier.

„War schön, dich gekannt zu haben! Irgendwie jedenfalls …“

 

Anya Bau-!

 

Dann wurde sie erfasst, alles um sie herum explodierte. Ihr Schrei hallte durch die ganze Straße und wurde doch von niemandem vernommen.

 

Aufrecht stand der über zwei Meter große Ricther in seiner gold-silbernen Rüstung und wartete darauf, dass der Rauch und aufgewirbelte Staub sich legte. Sein weißer Umhang flatterte in dem Wind, den die pinkfarbene Kristallkreatur über ihm entfacht hatte.

Leises Gestöhne drang an sein durch den Helm nicht sichtbares Ohr. Ein Schatten lag dort drüben auf dem Boden und rührte sich nicht. Sie lebte, und wie er bemerkte, als der Rauch sich verzog, mehr schlecht als recht. Auch wenn es im Angesicht dieser verzerrten Dimension, jenes ungeschriebenen Pfades bedeutungslos erschien.

 

[Anya: 1000LP → 100LP / Ricther: 3700LP]

 

Anya lag auf dem Bauch, quer auf der Straße und sah ihn kämpferisch aus einem blauen Auge an. Die Stirn blutete, ihre Kleidung mehr Fetzen denn alles andere, aber sie lebte – und grinste. Von Levrier alias [Gem-Knight Pearl] war keine Spur mehr. Die ganze, der Realität entfremdete Einkaufsstraße war durch Ricthers Magie leergefegt, wirkte verzerrt unter dem rötlichen Licht seines Bannkreises oder auch dem potentiellen Pfad der Zukunft, wie er ihn nannte.

„Na? Hab ich dir die Suppe versalzen, Blechbüchse?“, krächzte sie in ihrer regungslosen Haltung.

„Anscheinend.“

„Ha ha. Willst sicher auch wissen wie, huh?“ Anya streckte den Arm aus und tippte auf eine Karte, die vor ihr lag. „[Gem-Merchant]. Kann normale Erd-Monster wie [Gem-Knight Sapphire] um 1000 Punkte in Angriff und Verteidigung stärker machen, wenn ich ihn abwerfe.“

„Also hast du den Schaden verringert? Deine Entschlossenheit ist lobenswert“, erkannte Ricther ebenjene an, „aber du bist nicht mehr imstande weiterzukämpfen.“

„Halt's Maul. Und wenn ich mich im Liegen duellieren muss“, fauchte Anya, „dann tu' ich's!“

Ricther nickte. „Ich habe nichts anderes erwartet. Nun, da ich für diesen Zug keine weiteren Karten aktivieren kann, erkläre ich ihn für beendet.“

 

Schwer atmend nahm Anya ihren [Gem-Merchant] und presste sich mit ihm zwischen den Fingern von Boden ab. Langsam erhob sie sich, drohte kurz wieder zusammenzusacken, schaffte es dann immerhin auf die Knie.

Neben den zwei Löchern in ihrer Brust gesellten sich nun auch tiefe Einschnitte, die das Resultat des letzten Angriffs waren. Der ganze Torso war voll von Anyas Blut, welches auf den Asphalt tropfte. Wenn sie dieses Duell verlor, würde dieser zukünftige Körper Realität werden. Und eins hatte Anya begriffen: Der letzte Angriff hatte dessen Leben ausgehaucht. Ihr Herz schlug nicht mehr, was sie durch das Auflegen ihrer Hand spürte.

„Ich geb' nicht auf“, sagte sie zu sich selbst, setzte einen ihrer Füße auf den Asphalt und stand schwankend auf, „ganz egal, ob du ein Undying oder meinetwegen Gott höchstpersönlich bist. Dafür bin ich zu weit gekommen!“

Wie durch ein Wunder hielt sie sich auf den Beinen. Und ein solches forderte sie jetzt auch ein, als sie nach ihrem Deck griff. „Levrier! Einmal Cheat-Draw zum Mitnehmen!“

Obwohl er nicht erschien, konnte sie zumindest seine Stimme vernehmen. Nur leider hatte er keine guten Nachrichten.
 

Unmöglich. Ich habe nicht genug Kraft übrig, um jetzt dem Schicksal einen neuen Pfad hinzuzufügen.

 

„Dann fang' an zu sammeln, du Volltrottel!“

 

Was denkst du, was ich die ganze Zeit tue? Anya Bauer, muss ich dich daran erinnern, dass ich längst kein immaterieller Abkömmling mehr bin, dessen Kraft an die der Originale heranreicht? Im Gegenteil, ich spiele mittlerweile eher in der Schattengeist-Liga.

 

„Was auch immer das jetzt heißt!“, pflaumte Anya zurück. „Was auch immer, beeil' dich gefälligst, lange stehe ich das hier nicht mehr durch, ohne deine Hilfe!“

Schnaubend umschloss sie die oberste Karte ihres Decks. Also keine Spielereien mit dem Schicksal, vorerst. Musste es eben so gehen! Immerhin stand sie ja auch, obwohl sie technisch gesehen tot war. Sie würde das Beste draus machen. Schwungvoll zog sie jene dann und warf noch in der Bewegung einen Blick auf sie.

„Tch, mehr nicht!?“, beklagte sie sich lauthals. Dann sah sie zu Ricther auf. „'kay, mal sehen was du hierzu sagst. Ich setze ein Monster und diese da noch dazu! Zug beendet!“

Vor ihr materialisierten sich die beiden Karten in horizontaler beziehungsweise vertikaler Lage, wobei letztere direkt vor ihren Füßen auftauchte.

 

Zwar zog Ricther sofort auf, beachtete seine neue Karte jedoch gar nicht und steckte sie ins Blatt unter seinem Schwertarm, zu den anderen. Er hob die frei gewordene Hand und spreizte die Finger. „Egal wie hoch die Verteidigungspunkte deines Monsters sein mögen, sie werden niemals genügen, um [Different Dimension Deity – Lastelises] Angriff vollständig abzuwehren! Füge dich deinem Urteil, Anya Bauer! Declaration of D!“

Anya aber grinste diesmal, statt erschrocken zurückzuweichen. „Ne.“

Die aus drei spitzen Kristallen bestehenden Arme der Dimensionsgottheit begannen um die eigene Achse zu drehen und feuerten aus der längsten Spitze zwei gelbe Lichtstrahlen. Die Karte von Anyas gesetztem Monster wirbelte um. Aus ihr entstieg ein weißer Drache, dessen ganzer Körper mit einer Schicht von funkelnden, durchsichtigen Edelsteinen bedeckt war.

 

Alexandrite Dragon [ATK/2000 DEF/100 (4)]

 

Plötzlich aber sprang auch Anyas andere gesetzte Karte auf. Während die beiden Laserstrahlen auf den Drachen zusteuerten, fegte unter ihnen ein Wirbelsturm hinweg, direkt in Ricthers Richtung. Dieser sah erstaunt mit an, wie seine offene Zauberkarte [Dimensions Reach] von besagtem Zyklon zerrissen wurde.

„Oh, hat der [Mystical Space Typhoon] dir einen Strich durch die Rechnung gemacht?“, feixte Anya. „Damit habe ich [Dimensions Reach] zerstört, also nix mit Durchschlagschaden!“

Deswegen überlebte ihr [Alexandrite Dragon] den Angriff trotzdem nicht und implodierte bei Kontakt mit den Strahlen.

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/4000 → 3000 DEF/3000 (10)]

 

„Du schindest nur Zeit, Anya Bauer“, sprach Ricther und schob eine Fallenkarte in die entsprechende Zone der stumpfen Seite seiner Schwertarm-Duel Disk, „diese setze ich und erkläre den Zug für beendet.“

Zischend materialisierte sie sich vor seinen Füßen.

Damit war Anya komplett blank. Kein Feld, keine Handkarten, nichts.

„Levrier, Statusbericht!“, forderte sie daher.

 

Nichts, was du hören willst.

 

Eine zornige Falte bildete sich im Anschluss auf ihrer Stirn. „Na ganz klasse!“

Sie musste sich eingestehen, dass sie noch nicht stark genug war, um ohne jene sagenhafte Fähigkeit Levriers auszukommen. Der Weg zur Duel Queen war dementsprechend noch sehr lang. Aber wenn sie überhaupt etwas von ihrem Traum haben wollte, musste sie eben solche Vorsätze wie das Verzichten auf Schicksalsbeeinflussung vorübergehend außen vor lassen.

Plötzlich spürte sie einen Stich in ihrem nicht mehr schlagenden Herzen, als sie sich an den gestrigen Tag und den Streit mit Levrier und Logan erinnerte. Sie wurde sich ihrer eigenen Hilflosigkeit, ihrer Schwäche wieder bewusst. Die Schwäche, die sie an ihrem Traum zweifeln ließ.

„Wie konnte ich … jemals …“

 

Gib nicht auf, noch hast du nicht verloren, Anya Bauer! Eine Duel Queen zeichnet sich gerade dadurch aus, sich ihrer Fehler bewusst zu sein!

 

Levriers Worte schreckten Anya auf. Hatte er ihre Gedanken gehört!? Oder kannte er sie mittlerweile einfach zu gut um zu wissen, was in ihr vorging. Das Mädchen seufzte. Selbst wenn, im Endeffekt änderten seine Worte nichts an ihrer Abhängigkeit von ihm.

„Was auch immer …“

Es half aber alles nichts, zur Zeit stand das sowieso nicht zur Debatte. Kämpfen würde sie trotzdem bis zum Schluss, so viel stand fest. Nervös griff sie nach ihrem Deck. Kacke, ihr ganzer Körper schmerzte. Wenn das nicht noch schlimmer werden sollte, musste sie unbedingt etwas Gutes ziehen!

„Komm schon!“, flehte sie ihr Deck an und riss die oberste Karte fort. „Draw!“

Würde ihr Herz noch schlagen, hätte es in diesem Moment regelrecht gegen ihre Brust gehämmert, als sie die Karte zwischen ihren Fingern umdrehte und tatsächlich [Pot Of Avarice] erkannte.

„Hell yeah!“, jubelte sie und legte jenen sofort in das schwarze D-Pad ein. „Guck dir den an, du Psycho! Dieser nette Zauber namens [Pot Of Avarice] mischt fünf Monster auf meinem Friedhof in mein Deck zurück und lässt mich zwei Karten ziehen.“

Anya entschied sich für [Gem-Knight Sapphire], [Gem-Knight Emerald], [Gem-Merchant], [Alexandrite Dragon] und ihre neueste Errungenschaft, den [Labradorite Dragon], der wohl in diesem Duell nicht mehr glänzen würde. Als durchsichtige Abbilder tauchten die Karten über ihr auf, bis Anya sie auf ihr Deck legte und jenes durchmischen ließ. Danach legte sie Zeige- und Mittelfinger auf ihr Deck fuhr mit dem Fingernagel ihres Daumens von unten nach oben über den Kartenstapel, bis sie genau die zwei obersten Karten im Griff hatte. Und zog.

„Heh“, gluckste sie beim Anblick der neuen Karten, „das wird lustig!“

Sofort zeigte sie eine davon vor, um sie anschließend auf die Duel Disk zu klatschen. „Ich beschwöre [Gem-Knight Alexandrite], einen Kumpel von meinem Drachen!“

Tatsächlich materialisierte sich ein weißer Ritter vor ihr, in dessen Rüstung die gleichen Edelsteine eingelassen waren wie auf der Haut des [Alexandrite Dragons].

 

Gem-Knight Alexandrite [ATK/1800 DEF/1200 (4)]

 

Anya streckte den Arm weit aus. „Aber leider ist seine Screentime eher kurz bemessen, denn durch seinen Effekt opfere ich ihn, um einen normalen Gem-Knight von meinem Deck zu beschwören. Mach Platz für [Gem-Knight Tourmaline]!“

In funkelnden Partikeln löste sich ihr Ritter auf, welche sich sofort wieder zusammensetzten und einen Krieger in goldener Rüstung bildeten, der zwischen seinen Handflächen elektrische Ladungen austauschte.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Natürlich hatte Anya bei all dem einen Hintergedanken – den Friedhof mit Stufe 4-Monstern zu füllen. Denn gleich würde dieser Spinner ihre neue Lieblingskarte kennenlernen!

Die Blonde nahm ihr Deck aus der Halterung. „In meinem Extradeck gibt es ein ganz besonderes Synchromonster, das ich beschwören kann, wenn ich ein Lichtmonster von meinem Deck auf den Friedhof lege. Und egal ob es ein Empfänger ist oder nicht, durch diesen Effekt wird es dann als einer behandelt, der gerade für die Beschwörung des [Angel Wing Dragons] auf den Friedhof gelegt wurde!“

Endlich konnte Anya ihren [Alexandrite Dragon] nehmen und in den Friedhofsschacht rammen. Über ihr erschien ein massiver, goldener Ring mit über einem Meter Durchmesser. Das Mädchen reckte die Hand nach oben, als wolle sie das Gebilde berühren. „From the light of a different world, the herald of starlight decends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you! Synchro Summon! Shine forth!“

Während ihr Tourmaline zersprang und in Form vierer grüner Lichtkugeln durch den Ring glitt, begannen sich vier weiße, federbesetzte Schwingen von ebenjenem zu spannen.

„[Angel Wing Dragon]!“

Innerhalb des Gebildes befand sich eine wässrige Oberfläche, ein Tor in eine andere Dimension, aus dem nach vorne ein weißer, schlangenhafter Drachenkopf mit Goldgestell um den Kragen schoss. Aus der anderen Seite drang ein peitschender Schweif, bis beide Seiten perfekt aneinander passten und die komplette Kreatur ergaben.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Anya ballte eine Faust, während ihr majestätischer Drache über ihr verharrte. „Zeit zum Gegenangriff, Angel Wing! Los, Seraphim Judgment!“

Jener öffnete sein Maul und feuerte umgehend einen weißen Lichtstrahl auf den Kopf des Kristallgottes ab, wobei der Strahl noch von einer goldenen Flamme wie eine Spirale umkreist wurde.

„Du greifst ein stärkeres Monster an?“, wunderte sich Ricther. „Sicher nicht ohne Hintergedanken.“

„Was denkst du denn!? Sieh dir die hier an!“, raunte Anya und schob einen Schnellzauber in das D-Pad. Vor ihr klappte die Karte hoch und zeigte eine junge, brünette Frau in weißer Tunika, die ausgiebig einen Speer in ihren Händen betrachtete. „[Forbidden Lance]!“

Genau jene Waffe schoss plötzlich mit wahnsinniger Geschwindigkeit aus der Karte, überholte spielend leicht den Lichtstrahl Angel Wings und traf genau in den blauen Kern des Kopfes von Lastelise. Um den schlugen sofort blaue Blitze.

 

Different Dimension Deity – Lasteliste [ATK/3000 → 2200 DEF/3000 (10)]

 

„Das war also deine Absicht.“

„Pft!“ Anya reckte stolz das Kinn. „Nicht nur der Angriffsmalus von 800, mir geht’s auch darum, dass dein Monster jetzt von Zauber- und Fallenkarten unberührt bleibt. Also kannst du es nicht wieder stärker machen!“

Ricther zeigte keine Regung. In diesem Moment schlug Angel Wings Angriff genau dort ein, wo auch die Lanze steckte. Eine heftige Explosion folgte, tausende pinker Kristallsplitter flogen durch die Gegend. Der Hüne wehrte sie ab, indem er einfach seine Schwert-Duel Disk über sich hob. Deren Klinge breitete sich weitflächig aus und war nun mehr ein Schild, denn eine todbringende Waffe. Wie ein Hagel gingen die Splitter auf diesen nieder und prasselten laut klirrend ab.

 

[Anya: 100LP / Ricther: 3700LP → 3200LP]

 

Anya atmete tief durch, als es aufhörte. Diesmal war tatsächlich nichts mehr von dem Monster zu sehen. Sie hatte es geschafft!

„Der Effekt von [Different Dimension Deity – Lastelise] setzt nun ein!“, erklärte Ricther plötzlich und riss sie aus ihrem voreiligen Triumph. „Wenn er das Feld verlässt, wird eine meiner verdeckt verbannten Karten gewählt und wenn ein selbiges Exemplar davon sich in meinem Deck befindet, erhalte ich es.“

Im Bruchteil einer Sekunde war Ricthers Schutzschild wieder zu einem Schwert geworden. Aus dem Nichts stieg vor seiner Spitze eine einzelne Karte auf, die er sich schnappte und zwischen den Fingern zu Anya umdrehte. „Diese Falle nennt sich [Dimensions Foreboding] und in der Tat befindet sich noch ein Exemplar davon in meinem Deck.“

Aus jenem, welches sich am zurückgezogenen Heft des Schwertes befand, schob sich eine Karte hervor, während Ricther das vorgezeigte Exemplar wieder ins Nichts hinab fallen ließ.

„Na ganz toll“, stöhnte Anya, die wieder blank auf der Hand war. „'kay, Zug beendet.“

 

Ricther zog und besaß nun ganze sieben Handkarten, was einen schier unwirklichen Kontrast zu Anya bildete.

Eine davon nahm er und legte sie in seine Klinge ein. „Ich erwecke [Different Dimension Deity – Astellante] aus seinem Schlaf. Genau wie [Different Dimension Deity – Lastelise] muss ich zehn Karten von meinem Deck verdeckt verbannen, um ihn zu beschwören. Wie jede Dimensionsgottheit duldet er keine anderen Monster auf meinem Feld während seiner Anwesenheit.“

Verblüfft sah Anya mit an, wie sich nach und nach zehn Karten aus Ricthers Deck lösten und um die Klinge wirbelnd in einem schwarzen Loch an ihrer Spitze verschwanden. Damit hatte er die Hälfte seines Decks verbannt und vielleicht noch zehn oder so übrig. Wenn sie lange genug durchhielt, würde er sich am Ende selbst besiegen …

Jedoch vergaß Anya jenen Gedanken, als aus dem Asphalt um Ricther herum zehn grüne Kristallsäulen geschossen kamen und in die Luft aufstiegen. Zwei davon führten die anderen an und flogen parallel nebeneinander, bis sie etwa zehn Meter über dem Erboden abrupt stehen blieben. Zwischen ihnen bildete sich eine feuerrote Entladung, aus der plötzlich eine schmale Iris drang. Die anderen Kristalle schwebten in zwei Vierergruppen neben den beiden Hauptsäulen und bildeten etwas, das entfernt an Flügel erinnerte.

„Uh. Da guckt jemand zu viel Herr der Ringe“, kommentierte Anya gallig das Auge, was auf sie gerichtet war.

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/? DEF/? (10)]

 

„[Different Dimension Deity – Astellantes] Werte richten sich danach, wie viele meiner Karten verdeckt verbannt sind“, erklärte Ricther. „Sie entsprechen dem Zweihundertfachen.“

Weitere Ladungen wurden zwischen den 'Schwingen' der Kreatur ausgetauscht.

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/? → 4000 DEF/? → 4000 (10)]

 

„Oh shit!“, keuchte Anya, die damit nicht gerechnet hatte. „Die Dinger werden ja immer stärker!“

Ricther schwang den Arm aus. „Vernichte [Angel Wing Dragon]! Judgment of D!“

Die acht Kristalle, die eben noch Flügel gemimt hatten, richteten sich ruckartig auf Anyas Drachen und gingen dann wie ein Kugelhagel auf diesen nieder. Überall neben ihr schlugen sie ein und letztlich durchbohrte einer von ihnen Angel Wing.

„Aus Kämpfen mit Angel Wing erhalte ich keinen Schaden!“, rief Anya aufgeregt.

Jener explodierte schließlich. Und genau so schnell, wie die spitzen Kristalle gekommen waren, flogen sie wieder zurück zu Astellante, als hätte jemand einfach ein Video rückwärts gespult.

Erst in diesem Moment bemerkte Anya die dauerhafte Fallenkarte, die vor Ricther offen stand.

„Wie du siehst, habe ich vor dem Angriff [Dimensions Twilight] aktiviert, was nur möglich ist, wenn mindestens zehn meiner Karten verdeckt verbannt sind“, berichtete ihr Gegner, „wenn ein Stufe 10-Monster nun einen Feind im Kampf schlägt, bleibt es bis zum Ende deines Zuges vor deinen Zaubern und Fallen immun.“

Anya glaubte sich verhört zu haben. „Was!?“

Dann war dieses Ding ja beinahe unantastbar, solange sie nichts besaß, was stärker war!

Das wusste auch Ricther, der eine weitere Karte nahm und in die Armklinge einlegte. „Du kannst nur scheitern, Anya Bauer. Diese Karte setze ich und erkläre meinen Zug für beendet.“

Vor ihm materialisierte sich seine Falle. Und Anya schwang den Arm aus. „Jetzt kann ich zwei Stufe 4-Monster von meinem Friedhof verbannen und [Angel Wing Dragon] reanimieren! Komm zurück!“

Sie schob [Gem-Knight Alexandrite] und [Gem-Knight Tourmaline] in ihre Hosentasche, wobei gleichzeitig der goldene Ring über ihr auftauchte. Aus ihm schoss der imposante, kobraähnliche Drache.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Die Hand über ihrem Deck verharren lassend, verzog Anya schmollend die Lippen. „Lass mich raten, Levrier. Diese Runde wird es wieder nichts?“

 

Ich muss meine Machtlosigkeit entschuldigen, Anya Bauer. Hätte ich gewusst, dass uns ein Undying auflauert, hätte ich vorher den hiesigen Walmart aufgesucht und ein dutzend schicksalsändernder Donuts gekauft. Was glaubst du wohl!?

 

Anya zuckte zusammen. So wütend hatte sie Levrier selten erlebt, dass er sogar eine für seine Verhältnisse moderne Sprache benutzte. War das jetzt bei ihm Dauerzustand, ihr so ans Bein zu pissen!?

„Ist ja schon gut!“ Grimmig zog sie eben ohne übernatürliche Hilfe ihre Karte, ihr doch egal, würde schon irgendwie passen. … oder auch nicht. „Na toll.“

Kurz überlegte sie, ob sie die Karte ausspielen sollte, entschied sich letztlich auch dafür. Nicht, dass ihr Gegner am Ende auf die dumme Idee kam, mehr als einmal angreifen zu wollen. „Ich aktiviere [Silent Doom]! Dieser Zauber belebt einen Vanilla vom Friedhof in Verteidigungsposition, allerdings kann der nicht angreifen. Da dort sowieso nur noch [Alexandrite Dragon] liegt, nehm' ich den.“

Vor ihr setzte sich aus funkelnden Partikeln der weiße Drache zusammen, dessen Haut von schimmernden, farblosen Edelsteinen überzogen war, die durch Lichteinwirkung trotzdem bunt anmuteten. Schützend legte er seine Schwingen um den schlanken Körper.

 

Alexandrite Dragon [ATK/2000 DEF/100 (4)]

 

Anya verschränke, mal wieder ohne Blatt, die Arme. „Dein Zug, Fettsack!“

Ihr gingen langsam die Optionen aus, dachte Anya aufgeregt. Wenn sie weiterhin so beschissen zog, würde sie verlieren und elendig krepieren! Und das so gar nicht Duel Queen-haft.

 

Der Undying in seiner gold-silbernen Rüstung und der helmartigen Maske zog und ließ Anya dabei nicht aus seinen dunklen Augen. Mit dem Ausschwingen seines Arms ließ er seine gesetzte Karte schließlich aufspringen. „Ich aktiviere [Dimensions Foreboding].“

Anya erinnerte sich, die hatte er vorhin seiner Hand zugefügt. Da kam sicher nichts Gutes bei raus.

„Benötigt werden zunächst fünf verdeckt verbannte Karten, ehe ich sie aktivieren kann. Dann wähle ich eine Karte in meinem Friedhof als Ziel und wenn sich eine desselben Namens unter meinen verdeckt verbannten Karten befindet, erhalte ich das Ziel auf die Hand.“

Demonstrativ zeigt Ricther [Dimensions Reach] vor und erntete augenblicklich von Anya entnervtes Gestöhne. Aus dem Boden schossen die insgesamt zwanzig verbannten Karten Ricthers und staffelten sich in zwei Reihen á zehn Karten vor ihm auf. Die meisten waren Zauber und Fallen, aber Anya sprang sofort die eine Karte ganz rechts in der oberen Reihe ins Auge, die sie nicht sehen wollte. „Großartig … der luckt mich hier weg!“

„Wie du siehst, befindet sich [Dimensions Reach] unter ihnen, wodurch ich das Exemplar von meinem Friedhof erhalte und sofort aktiviere.“

Während die zwanzig Karten wieder im Asphalt verschwanden, begannen die beiden Hauptkristalle Astellantes, zwischen denen sich das Auge befand, grell aufzuleuchten.

„Wie du weißt, erhöht [Dimensions Reach] [Different Dimension Deity – Astellantes] Angriffspunkte um ein Hundertfaches meiner verdeckt verbannten Karten“, erklärte Ricther, „und lässt ihn Durchschlagschaden zufügen.“

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/4000 → 6000 DEF/4000 (10)]

 

Anya sagte dazu gar nichts mehr, so sehr stand ihr das Wasser bis zum Hals.

Gebieterisch streckte ihr Gegner den Arm aus. „Ich befehle dir, [Alexandrite Dragon] zu vernichten und Anya Bauers Lebenspunkte ein für allemal auf 0 fallen zu lassen! Judgment of D!“

Clever, dachte sich Anya. [Alexandrite Dragon] war nicht vor Durchschlagschaden gefeit, anders als sein großer Bruder Angel Wing. Aber leider wusste Ricther eines nicht.

„Pech für dich, [Angel Wing Dragon] kann sich zum Ziel des Angriff machen, wenn mir danach ist!“

Wie beim letzten Mal feuerte Astellante seine insgesamt acht Kristallsäulen auf Anyas Spielfeldseite ab. [Angel Wing Dragon] drängte sich dabei vor den wesentlich kleineren [Alexandrite Dragon] und war es schließlich, der einen der Pfeiler direkt ins Herz bekam und explodierte.

„Der zweite Effekt von [Dimensions Foreboding] wirkt“, rief Ricther, „solange diese Falle auf dem Friedhof liegt, werden alle Monster sofort verbannt, sollten sie den Friedhof betreten.“

Die Nase rümpfend, nahm Anya das Synchromonster von ihrer Duel Disk und stopfte es in die linke, hintere Hosentasche ihrer Jeans. Dann sagte sie: „Is' sowieso egal, habe keine Monster mehr auf dem Friedhof, die für Angel Wings Reanimation herhalten könnten.“

Pfeilschnell flogen derweil die Kristalle zurück zu Astallante und bildeten je zu viert dessen Flügel. Zwischen ihnen entluden sich rote Blitze.

„Der Effekt von [Dimensions Twilight] wirkt und macht [Different Dimension Deity – Astellante] immun vor feindlichen Zauber- und Fallenkarten, bis dein nächster Zug verstrichen ist, Anya Bauer.“

„Oh wie toll“, ätzte die aufgebracht und runzelte ihre Stirn, „ein Monster, das nicht durch Zauber und Fallen besiegt werden kann, trampelt und mal eben 6000 Kilo auf die Waage bringt. Ich Glückspilz!“

„Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus“, sagte Ricther, „Zug um Zug. Aber deine Lage bessert sich nicht, im Gegenteil. Einerseits ist deine Hartnäckigkeit bewundernswert, aber …“

Anya horchte auf. „Aber was?“

„Nichts. Vergiss, was ich gesagt habe. Meinen Zug erkläre ich für beendet.“

 

Jetzt hatte sie nur noch [Alexandrite Dragon], überlegte Anya. Ihre beste 'Wall' war weg und würde nicht wiederkommen. Und der Typ hatte noch ganze sechs Karten, um ihr das Leben schwer zu machen und dazu noch genug Lebenspunkte, um selbst einer billigen Verzweiflungstat zu entkommen, sollte Anya irgendeine einfallen.

Sie kam nicht umhin sich zu fragen: Wie zur Hölle sollte sie ihn besiegen? Ewig würde sie seinen Angriffen nicht entkommen, das wusste er genauso gut wie sie. War das alles, zu was sie alleine imstande war?

Unsicher, ob dieser Kampf überhaupt noch Sinn ergab, sah sie ihr D-Pad an. Beziehungsweise Logans. Der würde ausrasten, wenn er … wenn er erfuhr, dass sie tot war. Toll! Wahrscheinlich würde ihn das nicht mal jucken, nachdem sie sich ja zerstritten hatten. Gott, dieser Idiot!

 

Du wirst ihn wiedersehen, Anya Bauer. Halte noch ein bisschen durch.

 

„Darum geht’s doch gar nicht, Levrier“, murmelte sie betrübt, „ich …“

Sie sah zu Ricther auf, welcher sie die ganze Zeit genau beobachtet hatte. „Wieso? Wieso seid ihr so scharf darauf, dass ich ins Gras beiße? Ich dachte, wir Menschen interessieren euch nicht!“

„Das Brechen aller sieben Siegel hat zur Folge, dass ein Schlüssel geboren wird. Nur mit ihm kann der Narthex betreten werden.“

Anya runzelte die Stirn. „Ist das so etwas wie der Nexus?“

„Nein. Der Narthex ist Teil dessen, was alle Welten vereint.“ Ricther sah gen Himmel. „Wer den Narthex betritt, vermag den Nexus zu lenken.“

 

Ist es das, was der Sammler vorhaben könnte?

 

Die Blonde zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ist das was Schlechtes?“

„Wenn jene Person sinistre Absichten hegt, ja.“ Ricther richtete sich wieder an Anya. „Das, was sich noch im Narthex befindet, ist nicht weniger gefährlich. Deswegen darf niemand ihn betreten.“

„Und lass mich raten, du sagst mir sicher nicht, -was- genau sich noch im Nardings befindet?“

Ihr Gegner schüttelte den Kopf. „Es ist besser, wenn du das nicht weißt.“

„Wer hätte das gedacht“, gab Anya ärgerlich von sich.

Dann griff sie nach ihrem Deck. „Aber fein, hatte eh nicht vor, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Ich werd' dir 'ne Karte aus dem Nardings schicken, wenn ich fertig bin und dann werden wir ja sehen, wer zuletzt lacht! Draw!“

Anya schloss dabei die Augen. Sie spürte nichts, kein Netz aus Pfaden, welches sie zu ihrem Ziel beschreiten musste. Aber Levrier hatte sie ja vorgewarnt, dass es noch dauern würde.

Die Augen öffnend, entlockte ihr die gezogene Zauberkarte einen erstaunten Seufzer. „Huh? Die kommt gerade recht!“

Sofort rammte sie sie in ihr D-Pad. „Lauscher aufgesperrt! [Gem-Trade]! Um sie aktivieren zu können, muss sich zunächst [Gem-Knight Fusion] oder zumindest irgendwas, was Gem-Knight-Fusionen beschwören kann, auf meinem Friedhof befinden.“

In diesem Fall dachte Anya an [Fragment Fusion], war ihr das Original ja in diesem Duell verwehrt geblieben. „Dafür darf ich dann ein Gem-Knight-Fusionsmonster verbannen und für jede drei Stufen eine Karte ziehen. Allerdings muss ich dann für dieselbe Zahl an Zügen meine Draw Phase überspringen.“

Sie zeigte [Gem-Knight Ruby] vor und schob sich diesen dann in die hintere Hosentasche, ehe sie zwei Karten aufzog.

 

Anya Bauer! Beschwöre mich!

 

Anya, die unter anderem ein Monster gezogen hatte, sah sich verwirrt um. Levrier war aber nicht erschienen. „Warum!? Ich sollte eher mehr Monster rufen, damit er mich nicht klein kriegt! Vielleicht halte ich durch, bis er keine Karten mehr im Deck hat!“
 

So viel Zeit hast du nicht, deine Mittel sind nicht unerschöpflich, um seinen Angriffen auszuweichen. Vertraue mir!

 

Was leichter gesagt als getan war. Ricther würde Levrier sofort überrennen und Anya wollte sich nicht ausmalen, was dann mit ihm geschah. Schließlich wusste sie nicht, ob dieses Zukunftspfaddingens nur für sie galt oder für alles, was sich in dieser verzerrten Welt befand.

„Bist du sicher?“, fragte sie skeptisch. „Du weißt, was dich erwartet, wenn …“

 

Wie ich sagte, vertraue mir.

 

Sich an die Stirn fassend, lenkte Anya skeptisch ein. „Also schön, aber wehe das geht schief. Ich beschwöre [Gem-Knight Turquoise]!“

Neben ihrem Drachen erschien ein Ritter in hellblauer Rüstung, die mit gleichfarbigen Edelsteinen gespickt war. Mit sich führte er einen Bogen.

 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]

 

In die Verteidigungsposition.

 

Das wusste sie selbst, dachte Anya, sie war schließlich nicht lebensmüde! Zumindest nicht mehr als sonst!

Selbstbewusst streckte sie den Arm gen Himmel aus. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Ihre beiden Monster verwandelten sich in einen gelben und einen braunen Lichtstrahl und verschwanden in dem Schwarzen Loch, das sich inmitten des Spielfelds auftat. Aus diesem entstieg ein weißer Ritter.

„Erscheine, [Gem-Knight Pearl]!“

Dieser schwebte sofort zu Anya herüber und baute sich zusammen mit seinen sieben riesigen Perlen sowie den beiden Overlay Units vor ihr auf. Unter seinem Helm leuchteten blaue Augen.
 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]

 

Gut gemacht, Anya Bauer. Du wirst es nicht bereuen.

 

„Das hoffe ich auch für dich!“, schnauzte sie Levriers physische Gestalt nervös an. Dabei zückte sie ihre letzte Handkarte und schob sie in den schwarzen Apparat an ihrem Arm. „Die da setze ich verdeckt und beende meinen Zug.“

Mit einem Zischen tauchte die Falle vor ihren Füßen auf.

 

Ricther nahm stillschweigend die nächste Karte von seinem Deck, verharrte anschließend einen Moment, bis er sie wegsteckte und den Duel Disc-Arm anhob. Zwar mochte sein Kopf seinem Blatt zugewandt sein, doch sein Augenmerk lag allein auf Anya.

Die fühlte sich regelrecht durchbohrt von seinem nachdenklichen Blick, was ätzender war als jeder seiner Angriffe. „Was ist!?“

Er murmelte etwas, doch Anya konnte nicht verstehen, was es war. Schließlich ergriff er lautstark das Wort. „[Different Dimension Deity – Astellante], vernichte [Gem-Knight Pearl]! Judgment of D!“

„Levrier!“, schrie das Mädchen aufgeregt, als der Kristallgott seine acht unbenutzten, spitzen Säulen auf ihren Partner richtete.
 

Alles wird gut. Du bist nicht schwach, Anya Bauer!

 

Ehe sie antworten konnte, schossen die Kristalle nacheinander in ihre Richtung. Zwei von Ihnen trafen Levrier direkt in die Brust, spießten ihn auf. Dabei entglitt ihm ein grauenhafter Schrei, der Anya erschaudern ließ.
 

Vergiss … die … Falle nicht …!

 

„Ah! Ja, Falle aktivieren!“ Zerstreut schwang Anya den Arm aus. „[Magic Deflector]! Für diesen Zug setzen die Effekte aller dauerhaften Zauber, Ritualzauber, Schnellzauber und Ausrüstungszauber aus. Also kein Trampelschaden!“

Aus der magenta-farbenen Karte schwebte ein Satellit, der mit seiner Antenne grüne Wellen aussendete. Diese erreichten Ricther gerade rechtzeitig und ließen um seine offen stehende [Dimensions Reach] Funken schlagen. Das innere Leuchten von Astellante erlosch.

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/6000 → 4000 DEF/4000 (10)]

 

Eine Sekunde später explodierte Levrier bereits. Von einem heftigen Windstoß erfasst, schütze Anya sich mit ihren Armen gegen die Schockwelle und konnte sich gerade so auf den Beinen halten, während sie zurückgedrängt wurde.

„Da [Dimensions Foreboding] auf meinem Friedhof liegt, werden all deine Monster verbannt, Anya Bauer“, sagte Ricther.

 

Jetzt! Die Zeit ist gekommen!

 

Plötzlich befand sie sich nicht mehr inmitten der puzzlehaften Einkaufsstraße, sondern in einer dunklen Welt, die nur noch aus dem bunten Mosaik der Erde bestand, in dessen Mitte sie stand – ihr Elysion. Um sie herum schwebten die sieben Perlen von [Gem-Knight Pearl], doch sie leuchteten nicht, waren seltsam farb- und glanzlos.

„Ich … erinnere mich …“, stammelte sie.

Vor ihr materialisierte sich Pearl, dessen weiße Rüstung an allen Ecken und Enden aufgeplatzt war.

„Wir haben unseren Pakt damals neugeschrieben, Anya Bauer.“

„Willst du damit sagen, dass-!? Ich meine, ich wusste, dass du irgendwas vorhast, aber-“ Ihre Stimme überstürzte sich regelrecht. „Aber ich dachte, -die- gibt es nicht mehr!? Und außerdem, zwischen uns besteht kein Pakt mehr, wie kannst du da-?“

Levrier streckte ihr die Handfläche aus, hielt sie ihr entgegen. „Indem ich lebe.“

Der Gedanke an das Kommende gefiel Anya gar nicht. „Aber wird das nicht all deine Kraft verbrauchen?“

„Dann sei es so. Ich lasse dich nicht sterben, Anya Bauer!“

Das Mädchen biss sich auf die Lippen, rang mit sich selbst. „Ich dich auch nicht!“

Dann legte sie ihre Handfläche auf die seine. Von dort begann ein grelles Licht zu leuchten …

 

… und Anya war zurück in der noch nicht geschriebenen Realität.

Sofort streckte sie den Arm mit gehobenem Zeigefinger in die Höhe. „Mach dich auf was gefasst und diesmal meine ich es so! Ich rekonstruiere das Overlay Network!“

Vor Anya öffnete sich der schwarze Wirbel, doch gab es nichts, was er hätte absorbieren können.

Dies überraschte selbst den sonst so gestandenen Ricther derart, dass er zurückwich. „Du tust was?“

„Ich zeige dir die Inkarnation, die jede Regel missachtet! Du hast Pearl zerstört, also wirst du jetzt den Preis dafür zahlen!“

Anya atmete tief durch. „Wenn der letzte Krieger fällt, wird das Licht der Hoffnung in ihm erwachen! Eine neue Kraft wird geboren, geformt von Kameradschaft und Stolz! Steige wie Phönix aus der Asche!“

Mit einem Mal schoss eine gewaltige Energiesäule aus dem Überlagerungsnetzwerk bis in den Himmel. In ihr war eine schattenhafte Gestalt wahrzunehmen. Anya nannte sie: „[The Last Gem-Knight – Pearl Radiance], zeig dich!“

Gleichzeitig explodierte die Lichtsäule regelrecht und löste eine Schockwelle aus, die sämtliche aus dem Gefüge gerissenen Teile ihrer Umgebung zerspringen ließ und selbst den Hünen beinahe von den Füßen riss.

Und da war er dann schließlich. In pechschwarzer, mit allen nur erdenklichen Edelsteinen gespickter Rüstung trat der neue Pearl aus dem Overlay Network hervor. Hinter seinem Rücken schwebten die sieben Perlen, verbunden durch Energielinien in einer Formation, mit der sie an Engelsflügel erinnerten. Die bunten Federn an seinem Helm wippten ob seiner kaum wahrnehmbaren Aura hin und her. Und in seiner Brust gab eine achte Perle goldenes Licht frei.

 

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 1]

 

Ich hoffe, das Ergebnis meines Walmart-Besuchs ist zu deiner Zufriedenheit ausgefallen, Anya Bauer.

 

„Abso-fucking-lut.“ Anya grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Da du Pearl vernichtet hast, hast du seine Inkarnation ausgelöst. Dabei bekommt Levrier seine alte Version obendrein als Xyz-Material, egal ob er durch deine Falle verbannt wurde oder nicht.“

Diese stieg als Licht aus Anyas D-Pad auf und verschwand in der goldenen Perle in Levriers Brust.

„Eine interessante Wendung“, kommentierte Ricther dies und nahm eine Karte aus seinem Blatt, „diese Karte setze ich und erkläre meinen Zug für beendet.“

Die Verdeckte erschien vor seinen Füßen, ganz zu Anyas grimmiger Freude.

Ihr Gegner erklärte: „Da der Zug nun beendet ist, verliert dein [Magic Deflector] seine Wirkung. Darüber hinaus verbannt sich [Dimensions Foreboding] nun, nach der dritten End Phase ihrer Aktivierung, verdeckt von meinem Friedhof. Zudem ist mein Monster vor deinen Zauber- und Fallenkarteneffekten geschützt, da es wieder einen Feind niedergerungen hat.“

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/4000 → 6300 DEF/4000 (10)]

 

„Oh guck mal Levrier, der ist ja noch stärker geworden“, gab Anya hämisch zum Besten. Auch wenn rote Entladungen zwischen den Kristallsäulen stattfanden, war es ihr egal, ob das Ding nun vor ihren Zaubern und Fallen sicher war – sie hatte und brauchte ohnehin keine.

 

Stattdessen verschränkte sie hochmütig die Arme und legte den Kopf schief. „So, da ich [Gem-Trade] letzte Runde aktiviert habe, darf ich nicht ziehen. Sei's drum, für mich ist die Standby Phase sowieso viel wichtiger!“

Ricther fragte: „Aus welchem Grund?“

„Weil du ein Trottel bist“, zischte sie voller Genugtuung, „dank deiner blöden Falle hast du so viele meiner Monster verbannt, dass Levrier jetzt ein wahres Festmahl an Xyz-Material erhält!“

Insgesamt sieben Lichter traten plötzlich aus ihrem D-Pad aus. Sie gehörten zu den Gem-Knights Alexandrite, Tourmaline, Garnet, Ruby, Turquoise sowie zu [Angel Wing Dragon] und [Alexandrite Dragon]. Sie alle verschwanden in Pearl Radiances Brust.

 

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 1 → 8]

 

„Ganz richtig, in meiner Standby Phase erhält Levrier alle verbannten Monster zu seiner freien Verfügung. Oh, und er wird verfügen! Zeig's ihm doch mal!“ Anya zog zwei Xyz-Materialien unter Pearls Karte hervor. „Der chronologisch zweite Effekt von meinem Buddy besagt, dass ich jetzt alle Karteneffekte für diesen Zug lahmlegen werde, außer sie gehören zu Gem-Knights!“

Levrier streckte seine Arme weit aus. An seinem rechten Panzerhandschuh war ein Rubin angebracht, am linken ein Saphir. Mit ihnen absorbierte er zwei Lichtstrahlen, die aus seiner Brust austraten.

 

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 8 → 6]

 

Anya schwang den Arm aus. „Chains of Virtue!“

Ihr Krieger ballte zwei Fäuste, nur um diese wieder zu öffnen. Aus ihnen schossen dutzende Kristallketten, die zu Ricthers verdeckter Karte, seiner offenen [Dimensions Reach] und hin bis Astellante flogen und diese fest umwickelten. Sogar er selbst wurde zum Opfer, schlangen sich gleich vier davon um seinen ganzen Körper.

„Ist nicht so angenehm, huh!?“

Ricther wehrte sich allerdings gar nicht weiter gegen seine Fesseln, was Anya ein wenig aus dem hochmütigen Konzept brachte. Drum wollte sie umgehend eins drauf setzen.

„Jetzt pass' mal auf, was Levrier noch drauf hat! Ich hänge ein weiteres Xyz-Material ab und aktiviere seinen nächsten Effekt! Half Gem!“

Mit seiner Faust schlug sich Pearl Radiance in die Brust, genauer gesagt in die Perle dort, welche in zwei Teile zerbarst und ein grelles Licht freigab. Jenes begann auch von Innen heraus aus den Kristallen Astellantes zu glühen, welcher daraufhin begann, sich durch ruckartiges Hin-und-her-Bewegen mit aller Macht gegen seine Fesseln zu wehren – vergebens.

 

Different Dimension Deity – Astellante [ATK/6300 → 3150 DEF/4000 (10)]

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/2600 → 5200 DEF/1900 {4} OLU: 6 → 4]

 

„Half Gem halbiert die Angriffskraft deines Monsters“, erklärte Anya und zeigte noch ein Xyz-Material vor, welches sie zwischendurch abgehangen hatte, „und [Gem-Knight Turquoise] verdoppelt die von Levrier, da ich ihn abhängen kann, wenn ein Gem-Knight als Xyz-Material entfernt wurde, um meinem Kumpel ein bisschen stärker zu machen.“

Tja, das wusste niemand, dachte sich Anya zufrieden. Dass man Turquoises Effekt auch dann aktivieren konnte, wenn er nicht selbst dafür sorgt, dass er und ein Gem-Knight abgehangen wurden.

„Sieht ganz so aus, als wäre ich dir jetzt so'n bisschen überlegen“ meinte sie stolz und schwang den Arm aus, „noch irgendwelche letzten Wünsche?“

 

Anya Bauer, sei nicht so voreilig. Wir haben noch lange nicht gewonnen!

 

Allerdings juckte Levriers Mahnung sie überhaupt nicht.

Der gefesselte Ricther erwiderte knapp: „Ich habe dir alles gesagt, was es für dich zu wissen gilt.“

„Blechbüchse“, begann sie dann plötzlich in einem völligen Stimmungswechsel und sah ihren beinahe einen Meter größeren Gegner fest in die Augen, „falls du überleben solltest, dann … hilf mir. Egal ob du es darfst oder nicht, ist mir scheißegal.“

 

Anya Bauer, was sagst du da!?

 

„Ganz egal was ich tue, wenn ich wirklich alle Siegel breche“, erklärte sie weiter, „wird der Sammler mich wegwerfen. Oder weiter benutzen, falls das nur der Anfang war. Aber du hättest vielleicht eine Chance gegen ihn.“

Ricther schwieg.

„Ich werde nicht vor dir auf Knien drum flehen, klar!? Wenn du mir nicht hilfst, such ich mir jemand anderes!“

Der hatte ja keine Ahnung, wie schwer ihr es fiel, diese Worte überhaupt auszusprechen. Um Hilfe zu bitten. Das letzte Mal dieser Größenordnung war, als sie im Turm von Neo Babylon festgesteckt und sich alle ob ihres Verrates von ihr abgewandt hatten. Und doch hatten ihre Freunde ihr am Ende versucht beizustehen. Aber ob das bei dem auch funktionieren würde …? Eher nicht.

„'kay, wenn du nichts zu sagen hast, beende ich das hier jetzt! [The Last Gem-Knight – Pearl Radiance], greife [Different Dimension Deity – Astellante] an! Divine Sword of Purity!“

Ihr schwarzer Ritter streckte den Arm aus. Ein gleichfarbiger Blitz fuhr über seine gespreizte Handfläche und erzeugte eine düstere Klinge, in die das komplette Arsenal der Gem-Knight-Edelsteine eingelassen war. Würdevoll umschlossen seine Finger den Griff, da schoss er auch schon pfeilschnell vom Boden in die Luft, mitten auf das Auge zwischen den beiden Hauptkristallen zu.

„Mach es kalt!“, knurrte Anya.

Und das tat Levrier. Mit zwei Hieben über Kreuz zerstörte er die beiden Kristalle und sorgte so dafür, dass das projizierte Auge zwischen ihnen explodierte. Die anderen Kristalle verloren ihre Kraft und fielen wie abgeschossene Vögel in die Tiefe – dorthin, wo Ricther stand.

 

[Anya: 100LP / Ricther: 3200LP → 1150LP]
 

„Jetzt lernst du den letzten Effekt von Pearl Radiance kennen!“, schrie Anya aufgeregt. „Vier Xyz-Materialien kostet er, wenn er ein Monster besiegt. Und wenn du jetzt genau so eins nicht von deiner Hand abwerfen kannst, habe ich automatisch gewonnen! Los, Levrier, The Last Strike!“

 

The Last Gem-Knight – Pearl Radiance [ATK/5200 DEF/1900 {4} OLU: 4 → 0]

 

Unmöglich, schoss es ihr dabei durch den Kopf. Das würde nie funktionieren, Ricther hatte ganze sechs Handkarten. Da würde mit Sicherheit ein Monster drunter sein. Aber wenn er dieses wenigstens verlor, war ihr schon gut geholfen …

 

Levrier indes machte einen Bogen und flog an den in die Tiefe fallenden Kristallsäulen vorbei, auf den gefesselten Ricther zu. Die Klinge vor sich gerichtet, rammte er diese direkt in seines Feindes Nacken. Es folgte eine finstere Explosion, die Rauch aufwirbelte. Keine Sekunde später krachten zwei der Kristalle genau in die Stelle, an der der Hüne gestanden hatte. Die anderen schlugen rings um ihn ein.

Anya stockte der Atem. Vielleicht musste sie gar nicht gewinnen? Würde es nicht reichen, wenn diese Teile Ricther erschlugen? Nein … er war unsterblich. Vermutlich würde selbst Levrier ihn mit all seiner Macht nicht töten können, weshalb sie überhaupt erst um Hilfe gebeten hatte. Und doch, ein Funken Hoffnung war da.

 

Ihr Fuß wippte aufgeregt, wartete sie darauf, dass der Rauch sich legte. Wo zur Hölle blieb Levrier?

Der Lebenspunktestand änderte sich auch nicht mehr, was war da los? Hatte er tatsächlich ein Monster abgeworfen? Wieso meldete sich die Schrottkiste dann nicht?

Jene Ungewissheit zerrte derart an ihren Nerven, dass sie sich auf den Daumen biss. Dann löste sich der Rauch langsam auf, Anya streckte sich kerzengerade. Da war eine schattenhafte Gestalt und stand aufrecht. Aber wer war es, Levrier oder Ricther? Sie konnte es nicht genau erkennen.

„Lass es Levrier sein“, murmelte sie. Wenn er es nicht war, konnte sie davon ausgehen, dass ihr Partner das Zeitliche gesegnet hatte. Wortwörtlich …

Schließlich hatte sich der Qualm ganz verzogen. Um die Gestalt herum lagen die zerborstenen Kristalle. Ein Schwert in ihrer Hand wurde sichtbar, als sie sich Anya zu wandte. Aber ihre Größe verriet sie. Denn Pearl Radiance war bestenfalls so groß wie Nick! Es war Levrier, der dort stand!

 

[Anya: 100LP / Ricther: 1150LP → 0LP]

 

Anya begann zu rennen. Ihre Beine wollten sie kaum tragen, so wabbelig fühlten sie sich an. Doch das hielt das Mädchen nicht davon ab, ihrem Freund um den Hals zu fallen. Der schwarze Ritter brach ob jener unerwarteten Geste fast unter Anyas Umarmung ein.

„Der Mistkerl ist weg! Du hast ihn in die Hölle geschickt, wo sein unsterblicher Kadaver hoffentlich für immer schmoren wird!“

 

Er ist nicht tot, sondern hat die Flucht ergriffen.

 

Etwas unbeholfen, nicht zuletzt weil er es nicht gewohnt war, eine physische Form zu besitzen, tätschelte Levrier den Rücken der Blondine. Die sah enttäuscht zu ihm auf, auch wenn es sie nicht überraschte.

„'kay, hätte ja sein können …“
 

Ich fürchte, ich muss jetzt für eine lange Zeit ruhen. Du hörst von mir, Anya Bauer.

 

„D-danke“, murmelte sie verhalten und ließ ihn los. Vor ihr löste er sich in schwarzen Partikeln auf.

Als er weg war, erlaubte Anya ihren Beinen endlich nachzugeben. Sie sank auf die Knie und sah gen Himmel.

„Tch … wieder einmal davongekommen, huh?“

 

Das Rot um sie herum verflog zunehmend. Stimmen drangen an ihr Ohr, die Einkaufsstraße war wieder belebt, ja geradezu überfüllt mit Menschen. Alles sah wieder normal aus, der Blumenladen, das Café gegenüber.

Und sie? Saß mitten auf der Straße. Und wurde fast überfahren, als unvermittelt hinter ihr ein Wagen mit quietschenden Bremsen hielt und hupte. In dem Moment spürte sie, wie ihr Herz schlug.

Anya sprang auf und streckte dem Fahrer noch den Mittelfinger entgegen, während sie planlos über die Straße eilte.

 

Was sollte sie jetzt tun? Matt und Zanthe davon erzählen? Musste sie wohl oder übel.

Es war kaum zu glauben wie viel Glück sie gehabt hatte. Wer hätte gedacht, dass sie Ricther tatsächlich besiegen konnte? Ohne Levrier wäre ihr das nie gelungen, ein weiterer Beweis dafür, dass sie … schwach war. Aber das war jetzt nebensächlich. Hoffentlich hatte das Duell Levrier nicht zu sehr geschafft.

Dagegen sah sie selbst ganz gewiss nicht mehr so aus, als ob sie gerade einen ihrer schwersten Kämpfe ausgetragen hatte. Dieser zukünftige Pfad, er war nicht zur Realität geworden, nichts verriet mehr von ihren Wunden.

Aber was sollte sie jetzt tun?
 

Am besten wäre es, wenn sie jetzt erstmal nachhause ging und dort nach dem Rechten sah, nur für alle Fälle. Außerdem war es an der Zeit, einen alten Langzeitplan aufzutauen. Eins war so sicher wie das Amen in der Kirche: Diesen Deppen hatte sie nicht das letzte Mal gesehen! Aber nächstes Mal würde sie vorbereitet sein!

Wie schön für Zanthe und Matt, dass die beiden Napfsülzen sich mit Nicks Mutter vergnügten und so schön um den Kampf drumherum gekommen waren. Denen würde sie die Hölle heiß machen, dachte Anya grimmig und überlegte schon, wie sie die beiden am besten als Bodyguards missbrauchen konnte.

 

Und doch … so sehr sie versuchte, einen auf taff zu machen, ihre Beine waren immer noch weich wie Pudding, als sie den Bürgersteig entlang lief. Die Undying waren schlimmer als alles, was sie bisher kennengelernt hatte. Konnten die denn wirklich nicht sterben? Wie sollte sie dann mit ihnen fertig werden?

Gedankenverloren rannte sie dabei durch Livington, rempelte unbeholfen Leute an und beschimpfte sie nicht einmal dafür.

 

-~-~-

 

Eine halbe Stunde später war Anya zuhause angekommen, doch ihre Mutter traf sie nicht an. Die Stufen ins obere Stockwerk nehmend, fragte sich Anya, ob sie nicht im Büro ihrer Mum anrufen sollte, nur um sicherzugehen, dass es ihr gut ging.

Aber als sie ihr Zimmer betrat, um nach dem Telefon zu suchen, wurde sie bereits erwartet. Der rothaarige Sammler stand am Fenster neben ihrem Schreibtisch und sah hinaus in die Ferne.

„Du hast überlebt. Damit bist du eindeutig die richtige Wahl“, sinnierte er zufrieden und drehte sich zu ihr um, „aber ich fürchte, das war nicht der letzte Angriff seiner Art.“

Anya krallte sich am Türrahmen fest, nur um nicht sofort auf ihn loszugehen. „Ein bisschen Hilfe hätte nicht geschadet!“

„Wenn ich dir helfe, werden sie wissen, dass ich dein Auftraggeber bin. Und das kann ich nicht gebrauchen.“ Er strich sich mit angewidertem Blick einen Fussel von seinem schwarzen Sakko. „Keine Sorge, ich unterstütze dich bereits auf andere Weise. Schließlich ist mir dein Wohl sehr wichtig.“

Die Zähne zusammenbeißend, versuchte Anya ihre ohnehin sehr sparsam bemessene Geduld nicht zu verlieren. „Laber' keinen Schwachsinn! Ich bin dir scheißegal! Dir geht’s um den Narsonstwas, sonst nichts!“

„Oh?“ Der Rothaarige zuckte mit den Augenbrauen. „Wer hätte gedacht, dass der Gute so mitteilungsfreudig ist. Nun, ob dem so ist, überlasse ich allein deinem Urteil.“

 

Dies gesagt, trat er auf sie zu. Anya wich keinen Millimeter zurück, obwohl sie wusste, dass dieser Dämon sie auf ein Himmelfahrtskommando geschickt hatte.

„Du bist hier in ernster Gefahr, Anya Bauer“, sagte er, als sie sich näher waren, als ihr lieb war, „im Moment ist Ricther mit sich selbst beschäftigt, das Duell muss ihn erschöpft haben. Aber wenn er erst wieder bei Kräften ist oder eine seiner beiden Hände schickt, dann solltest du bereits an einem weit entfernten Ort sein, wenn du leben willst.“

„Ahja? Und wo soll ich hin?“ Leise fügte sie hinzu: „Der Job erledigt sich nicht von allein …“

„Nicht umsonst habe ich dir mehr als ein Paar meiner Handschuhe überlassen.“

„Ach, meine Freunde sind gut genug, um für dich zu sterben, ja!?“, fauchte Anya ihn wutentbrannt an, aber er winkte ab.

Stattdessen lächelte der Sammlerdämon geheimnisvoll. „Es ist deine Entscheidung. Wie du weißt, findet bald der Legacy Cup statt. Eines deiner Ziele, Claire Rosenburg, wird dort ebenfalls zugegen sein.“

„Also soll ich sie dort einschleusen, huh?“ Das erinnerte die Blonde an etwas. „Nick hatte auch so etwas erwähnt. Kannst du vergessen, wenn jemand daran teilnimmt, dann ich!“

„Betrachte meine Worte als gut gemeinten Ratschlag: Du solltest das Angebot von Aiden Reid ausschlagen und einen anderen Weg finden, sie zu stellen.“ Der Collector verengte seine Augen. „Dieses Turnier wird in allen erdenklichen Medien übertragen werden. Sie – und andere – würden dich sofort entdecken.“

Plötzlich legte er seine Hand auf die ihre am Türrahmen, auch wenn er einen Moment zögerte, höchstwahrscheinlich aufgrund seiner Bakterien-Phobie. Welche bei Anyas, für gewöhnlich nicht gerade pflegeleichtem, Erscheinungsbild vermutlich schon für innere Panikattacken bei ihm sorgte. „Und weil mir dein Wohl so sehr am Herzen liegt, gebe ich dir noch einen Rat. In deinem jetzigen Zustand wirst du sie nicht besiegen können. Egal wie gut du glaubst zu sein, kein Mensch könnte es. Also rate ich dir, dich nach einem neuen Paktpartner umzusehen.“

Nun reagierte Anya doch und riss sich von ihm los, stolperte rückwärts aus dem Zimmer. „Nie im Leben! Eher sterbe ich, als noch einmal diese Scheiße mitzumachen!“

Der Sammler nahm einen Schritt zurück. „Oh, glaube mir, das wirst du auch. Claire Rosenburg ist anders als alle deiner bisherigen Gegner. Aber es war nur ein Rat, die Entscheidung liegt letztlich bei dir allein.“

Hinter ihm öffnete sich ein schwarzes Portal. „Wir werden uns zu gegebener Zeit wiedersehen. Aber jetzt solltest du deine Koffer packen und so schnell wie möglich verschwinden.“

Dann drehte er sich um und verschwand in dem Tor, welches sich sofort hinter ihm schloss.

 

Anya stand nur sprachlos im Flur und wusste nicht, wohin ihre Gedanken als Erstes gehen sollten.

Abhauen? Jetzt sofort? Was würde dann aus ihrer Mutter werden? Und ihrem Job? Mr. Palmer würde sie umbringen, wenn sie wieder eine Auszeit nahm! Wenn sie das Nick, Abby und den anderen erzählte, würden die durchdrehen.
 

Langsam trat Anya wieder in ihr unaufgeräumtes Zimmer ein, welches mit einem Mal befremdlich auf sie wirkte. Orientierungslos ließ sie sich auf ihr Bett fallen und begann, so sehr sie sich auch dagegen strebte, nachzudenken.

 

Einige Zeit verging, da stürmten plötzlich Matt und Zanthe in ihr Zimmer.

„Was ist passiert?“, fragte Ersterer sofort. „War jemand hier?“

Abwesend erwiderte Anya: „Was macht ihr denn hier?“

„Ich hab irgendwas gerochen, was mir bekannt vorkam“, meinte der Werwolf, „es stank ganz schön arrogant. So sehr, dass es selbst über tausende Meter hinweg bis hierher verfolgen konnte.“

Anya brummte: „Der Sammler …“

Und erzählte ihnen im Anschluss von ihrem ach-so-tollen Tag.

 

-~-~-

 

Als Aiden Reid sein Büro betrat, hatte er am allerwenigsten damit gerechnet, dass sein Chefsessel bereits von einem anderen in Beschlag genommen wurde. Der Sessel, den er sich erst vor einem Jahr schwer erarbeitet hatte. Und derjenige, der auf diesem Stuhl saß, war imstande, all diese Mühen innerhalb kürzester Zeit zunichte zu machen. Das wusste Aiden auch ohne zu sehen, wer auf dem ihm abgewandten Stuhl Platz genommen hatte.

Ungeachtet dessen war es die Art des brünetten Geschäftsmanns immer zu lächeln. In dem Fall fiel ihm das aber nicht außergewöhnlich schwer.
 

„Du erzböser kleiner Teufel“, sagte Nick und drehte sich zu ihm mit einem zuckersüßen Lächeln um, „du wartest nicht einmal vierundzwanzig Stunden und ziehst schon meine Familie in deine Abgründe. Verhöre ich mich oder tickt da die biologische Uhr?“

Aiden grinste. „Seit wann bist du so spitzzüngig?“

„Das habe ich mir von einer guten Bekannten abgeschaut.“

„Und du? Du lässt keine vierundzwanzig Stunden verstreichen und hackst dich schon in unseren Main Server.“ Aiden schloss die Tür hinter sich, ohne Nick dabei aus den Augen zu lassen. „Man möchte meinen, du hörst eine Bombe ticken.“

Nick erwiderte das Grinsen. „Oh ja. Tick tack … tick tack …“

„Du hast die Dateien nicht gefunden, die dich belasten, nicht wahr? Oder vielleicht hast du es auch, weißt aber, dass es längst Kopien davon gibt, die sich deiner Kontrolle entziehen. Sonst wärst du jetzt nicht hier.“

„Ich arbeite daran“, versprach Nick gut gelaunt, „aber ich habe dafür etwas ganz anderes gefunden, Aiden.“

Jener durchschritt das Büro und setzte sich auf seinen Schreibtisch. „Deinen Arbeitsvertrag?“

„Nein.“ Nick beugte sich vor und verlor plötzlich all sein Strahlen. „Monochrome.“

Ebenso Aiden. Der sah sofort weg.

 

„Tu nicht so, Aiden. Du wolltest, dass ich es finde“, sagte Nick mit schnarrender Stimme, „jemand wie du würde sonst niemals riskieren, dass etwas von dieser Tragweite von einem der besten Hacker auf diesem Planeten entdeckt wird.“

Nick lehnte sich entspannt zurück. „Die Frage ist nur, warum? Warum sollte ich Monochrome sehen?“

„Um dich zu erinnern, was wir uns einst versprochen haben“, sagte Aiden steif.

„Die Welt verändern, richtig? Ich bitte dich“, gab Nick voller Verachtung wieder und beugte sich aufs Neue vor, „dafür ist es zu spät und das weißt du. Ich kann dir nur den 'freundschaftlichen' Rat geben, dieses Programm zu zerstören.“

„Dein Baby zerstören?“ Aiden sah Nick liebevoll an. „Das würde ich nie tun und das weißt du.“

„Das solltest du aber“, erwiderte der junge Mann eiskalt, „bevor jemand herausfindet, was -du- damit angestellt hast.“

Aiden sah Nick fragend an, also nahm sich dieser seinen Laptop und drehte ihn so um, dass Aiden sehen konnte, was dort schwarz auf weiß stand. Und es ließ ihn erblassen.

„Leb' wohl, Aiden“, hauchte Nick mit unterschwelliger Endgültigkeit, richtete sich sprunghaft auf und watete durchs Zimmer.

Sein Ex-Freund aber lachte plötzlich vergnügt. „Wie berechenbar du bist, Eli.“

„Nenn' mich nicht so“, verlange Nick und drehte sich um. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

„Papi schmeißt dir ein paar Brotkrumen hin und du folgst brav der Spur“, Aiden nickte, „ja, Eli, du bist wirklich außer Form. Dachtest du, ich wüsste nicht, dass du das Programm starten würdest?“

Nicks Lippen umspielten plötzlich ein zuckersüßes Lächeln. „Hast du überhaupt nachgesehen, wer der Empfänger ist?“

„Das war gar nicht nötig. Denn das wusste ich schon bevor du überhaupt den ersten Tastenschlag getätigt hast. Und -er- auch.“

„Das ist unmöglich!“, verlor Nick die Fassung. „Er würde-“

„Er ist genau wie alle anderen, Eli. Und du hättest ihn getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, hätte ich nicht vorher Kontakt mit ihm aufgenommen und gewarnt.“ Aiden sah Nick eindringlich, gleichwohl herausfordernd an. „Wer ist jetzt das böse kleine Teufelchen von uns?“

 

Nick verlor den Halt und sackte gegen die Tür, sah Aiden in einer Mischung von Entsetzen und aufrichtiger Bewunderung für so viel Hinterlist an. Jetzt hatte Aiden noch ein Druckmittel mehr in der Hand. Und jemanden auf seiner Seite, den Nick niemals als Feind gewollt hatte. Mr. Bauer höchstpersönlich. Welcher jetzt womöglich von Monochrome wusste und dass Nick es gegen ihn eingesetzt hätte …

 

„Nimm mein Angebot an und ich sorge dafür, dass dein Vater ein Auge zudrückt. Und Gott allein weiß, wie oft er schon Augen und sämtliche anderen Körperöffnungen für dich zugedrückt hat“, sagte Aiden mit einer Spur Triumph in der Stimme, „noch weiß er nicht, wer genau ihm da an die Gurgel wollte. Wenn er erfährt, wessen Identität du angenommen hast, dann wirst du dir wünschen, in dem Feuer umgekommen zu sein. Er hält dich für tot, genau wie der Rest der Welt.“

„Und dafür gehst du das Risiko ein, dass er von Monochrome weiß? Obwohl ich es von deinem Rechner abgeschickt habe? Du hast keine Beweise, dass ich es war!“, fauchte Nick verzweifelt.

„Sieh mal neben dem Bild nach“, wies Aiden ihn an und deutete auf die Stelle.

Nick eilte wieder herüber hinter den Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte er es. Das eingerahmte Bild von ihm und Aiden vor drei Jahren, als er noch inoffiziell für die Firma gearbeitet hatte. Beide nebeneinander, die Arme um die Hüften gelegt und in die Kamera lächelnd. Nick nahm es in die Hand, es weckte ungewollt die schöneren Erinnerungen ihrer Beziehung.

„Das will ich zurückhaben, Eli“, sagte Aiden.

Nick sah neben das Bild und entdeckte eine Katzenfigur aus Porzellan. Erstaunlich, da Aiden solchen Kitsch verabscheute.

„Eine Kamera“, murmelte er, ohne sich das alles genauer anschauen zu müssen. Wieso hatte er nicht auf so etwas geachtet!?

„Damit kann ich beweisen, dass du an meinem Rechner warst. Du bist so verdammt unvorsichtig geworden“, tadelte Aiden ihn. Und es klang ernsthaft besorgt.

Nick schluckte und sah zu Aiden auf, während er das Bild wieder wegstellte. „Glaub mir, das passiert mir kein zweites Mal.“

„Dann nehme ich an, dass du weiterhin deiner eigenen Wege gehst?“

Der hochgewachsene junge Mann straffte sich. „Nein. Du kannst annehmen … dass ich jetzt deinen Weg beschreite.“

Dann streckte Nick die Hand nach ihm aus. Aiden nahm sie zufrieden. „Das höre ich gerne. Willkommen zurück.“

Der einzige Gedanke, der Nick in diesem Moment noch Halt gab, war der an Rache.

 

-~-~-

 

Als das Portal sich hinter ihm schloss, befand sich Ricther in dem kreisrunden, finsteren Raum, umgeben von dutzenden holografisch dargestellten Bildschirmen und dem mechanischen Thron in dessen Mitte. Sofort spürte er, dass er nicht alleine war.

„Der Anführer kehrt unverrichteter Dinge zurück.“ Es war Stoltz' kratzende Stimme. „Der Undying möchte wissen, warum der Richter Gnade gezeigt hat.“

Der Hüne drehte sich zu der dürren Gestalt um, die regungslos nur wenige Schritte von ihm entfernt stand und schief grinste.

„Mein primäres Ziel war es nie, sie zu töten“, erwiderte Ricther unterkühlt, „aber mein Einschüchterungsversuch ist zweifelsohne erfolglos gewesen, ebenso wie deiner.“

Stoltz kicherte. „Ist das auch die Wahrheit?“

„Die Wahrheit ist, dass ihr Tod bedeutungslos wäre. Wir würden das Unvermeidliche nur verzögern, denn das Mädchen ist lediglich Mittel zum Zweck und würde nach ihrem Tod durch ein neues Opfer ersetzt werden.“

„Fürwahr, der Gedanke erscheint einleuchtend. Doch wie lange noch, bis das Mädchen ihr eigenes Todesurteil unterschreibt?“, gurrte Stoltz und streckte seine langen Arme einladend aus. „Auch wenn dem Undying das Gefühl beschleicht, dass sein Anführer nicht aufrichtig handelt.“

Ricther fragte daraufhin: „Woher kommen deine Zweifel?“

Sein Gegenüber sah bewusst zur Decke. „Wie konnte er das Mädchen finden, wenn doch all die Versuche der anderen beiden Undying gescheitert sind? Ihre Augen sind trübe, das Bild wird von geheimnisvollen Mächten verschleiert.“

„Hast du solange geschlafen, dass du nicht mehr in der Lage bist, deinen Verstand einzusetzen?“, fragte Ricther scharf. „Wir sind Undying und sollten uns nicht auf die Mittel beschränken, die nicht einmal unserer eigenen Hand entstammen.“

Stoltz nahm wieder eine aufrechte Haltung an. „Natürlich nicht. Trotzdem ist es erstaunlich. Unwissende könnten zu dem Schluss kommen, der Anführer selbst würde das Werk seiner rechten Hand behindern.“

 

„Du gehst zu weit, Stoltz!“, donnerte es.

Eine mechanische Tür öffnete sich, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen war. Die Frau mit dem schwarzen, beinahe bodenlangen Haar in der weißen Robe trat herein. Zed stellte sich zwischen die beiden und richtete sich an den bandagierten Undying. „Ricther des Verrats zu beschuldigen ist selbst für deine Verhältnisse vermessen. Zügle deine Zunge!“

„Der Undying wird den Rat beherzigen“, erwiderte jener und verneigte sich.

„Seine Zweifel sind unbegründet, haben aber einen berechtigten Hintergedanken“, schlichtete Ricther, „es gibt neben uns nur fünf Wesen, die in der Lage wären, unserem allsehenden Auge zu entkommen.“

Die Frau mit der turmartigen Maske in der Runde nickte. „Ohne die Eine sind es vier.“

„Der Undying würde nicht ausschließen, was vielleicht ausgeschlossen werden will.“

Sich zu Stoltz drehend, erwiderte Zed: „Die Möglichkeit besteht. Aber ich bezweifle, dass sie dahinter steckt.“

„Um das herauszufinden werde ich euch zunächst zu zwei von ihnen schicken. Zusammen solltet ihr keine Schwierigkeiten haben, die Wahrheit herauszufinden“, ordnete Ricther an und drehte sich um, schritt in Richtung seines Throns.

„Undying brauchen sich vor ihresgleichen nicht zu fürchten“, widersprach Stoltz, „einer der unseren ist mehr als genug.“

„Ihr werdet zusammen gehen. Ihre Macht ist während unseres Schlafes gewachsen, weshalb selbst wir vorsichtig sein müssen.“ Ricther drehte sich um und nahm Platz. Automatisch schossen aus der Decke mehrere Schläuche und verbanden sich mit seinen Armen und Beinen.

Zed trat vor. „Es soll so geschehen, wie du es sagst. Wer sind die Ziele?“

„Die 'Gelehrte' und derjenige, der für das Verschwinden der 'Botschafterin' verantwortlich ist.“

„Dann wird der Undying sich umgehend aufladen“, zeigte sich Stoltz nun gefügig, verneigte sich und verschwand dann durch die Tür, die hinter Zed noch offen stand.
 

Als die beiden alleine waren, seufzte Zed. „Du weißt genau, dass diese beiden gewiss nicht in Anya Bauers Feldzug involviert sind. Die 'Gelehrte' aus Prinzip nicht und 'er' wird vermutlich nicht einmal wissen, dass es die Siegel gibt.“

„Dein Verstand ist scharf wie immer. Nein, ich kaufe mir dadurch nur Zeit“, gestand Ricther, „und Abstand von Stoltz. Deine Befehle bleiben dieselben, behalte ihn unbedingt im Auge, während ich die Sache kläre.“

Seine tatsächliche rechte Hand nickte. „Natürlich. Aber du wirst dein Geheimnis nicht ewig vor Stoltz verbergen können. Er weiß jetzt, dass du imstande bist, Kontakt mit Anya Bauer herzustellen, selbst ohne unsere üblichen Methoden.“

„Sollte er sich einmischen, werde ich ihn unverzüglich vernichten, auch wenn er Stoltz ist.“ In seinem Ton lag eine Endgültigkeit, die ihresgleichen suchte. „Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass das Problem ohne großes Aufsehen gelöst wird. Dazu müssen wir es an den Quellen anpacken. Etwas, zu dem Stoltz nicht imstande ist.“

„Er mag die Brutalität bevorzugen, weil er nicht an Diplomatie glaubt, aber-!“

Ricther's gehobene Hand unterbrach Zed. „Wann habe ich behauptet, mich nur auf Diplomatie zu beschränken?“

Ruckartig wirbelte Zed um, klang plötzlich verstimmt. „Es ist deine Entscheidung, wie du von hier an vorgehen willst. Aber was immer du zu tun gedenkst, tu es schnell.“

Mit diesen Worten verließ sie ebenfalls den kleinen Raum. Ricther fasste sich an die Stirn, als sie weg war. „Warum …?“

 

 

Turn 55 – Metropolis Of Duelists

Über eine Woche ist vergangen. Anya, die den Rat des Sammlers befolgt und Livington verlassen hat, schmuggelt sich zusammen mit Zanthe und Matt in eine Veranstaltung der Abraham Ford Company, die den Auftakt zum Legacy Cup darstellt. Dort sollen alle Teilnehmer über den Ablauf des Turniers informiert werden. Leider entdeckt Henry, dass Anya sich unrechtmäßig auf die Teilnehmerliste gesetzt hat und denkt nicht im Traum daran, es dabei zu belassen …

Turn 55 - Metropolis Of Duelists

Turn 55 – Metropolis Of Duelists

 

 

„Was soll das heißen, ihr werdet nicht mitkommen!?“

Anya warf das T-Shirt in ihrer Hand in den Koffer zurück, welcher vor ihr auf dem Bett ausgebreitet lag. Sich von ihm weg drehend, starrte sie erst Matt an, der auf dem seinen lag und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hielt, dann Zanthe, welcher auf einem Stuhl am Tisch ihr gegenüber saß und seelenruhig ein Buch von Goethe las.

Es war auch der Werwolf, der ihr antwortete, ohne sich dabei die Mühe zu machen, sie anzusehen. „Diese Veranstaltung ist nur für Teilnehmer des Turniers. Sind wir das?“

Anya schnaubte. „Nein, aber man darf Begleitung mitbringen!“

„Solltest du dir nicht mehr Sorgen darum machen, was passiert, wenn sie herausfinden, dass du dich auf die Gästeliste gemogelt hast?“

Unter einem abfälligem Pfeifen wirbelte Anya herum und schritt zu dem großen Panoramafenster ihres Hotelzimmers. „Das wird nicht passieren.“

 

Sie legte ihre Hand gegen das Glas und sah nach draußen.

Vor ihr bot sich ein unglaublicher Anblick. Dutzende Stadien verschiedener Größen füllten den Stadtkern, zwischen ihnen ragten mindestens genauso viele Hochhäuser aus dem Boden. Über den normalen Straßen waren auf massiven Steinpfeilern diverse Rennstrecken gebaut. In Schleifen und engen Kurven verliefen sie, verpassten dem Anblick dank unzählbarer elektronischer Werbemonitore an den Begrenzungen einen futuristischen Anstrich – schließlich waren es Riding Duel-Strecken, die es sonst nirgendwo in den Staaten gab. In der Ferne konnte man ein Flugzeug zum Landeanflug ansetzen sehen, dort, wo auch Anya und ihre beiden Begleiter vor einigen Stunden in Ephemeria City angekommen waren – der Stadt der Duellanten.

Anya kniff böse die Augen zusammen, als am Hochhaus gegenüber auf einer riesigen, digitalen Werbefläche die Gestalt einer schlanken, jungen Frau eingeblendet wurde. Geradezu lasziv, aber doch mit beneidenswerter Lässigkeit saß sie auf ihrem Motorrad und hielt ihren Helm in der Hand. Gekleidet in einen weiß-silbernen Motorradanzug, blickte sie mit ihren strengen, grünen Augen fest in die Kamera. Geradezu überheblich selbstbewusst könnte man meinen. Das blonde Haar zu einem Bob geschnitten, stachen die beiden langen Strähnen hervor, die sich links und rechts von ihrem Pony bis zum Busen erstreckten.

„Claire Rosenburg“, knurrte Anya.

 

Wegen ihr allein war sie hier.

Sie war eine der Zielpersonen, deren besondere Karte sie abnehmen musste, um ihr gestohlenes Leben vom Sammler zurückzuerhalten.

Und der angeblich einzige Weg, sich mit ihr zu duellieren war der, als Sieger des Legacy Cups hervorzugehen. Denn neben einer Einladung in die Pro-Liga, einem Batzen Preisgeld und einem fetten Pokal bekam der Gewinner jenes Turniers die einmalige Möglichkeit geboten, sich mit der Weltmeisterin zu duellieren. Einer Frau, die bereits jetzt trotz ihrer relativ kurzen Karriere als beste Duellantin in der Geschichte Duel Monsters gehandelt wurde. Noch nie hatte Claire ein Duell verloren, so hieß es.

Was mehr als genug Gründe für Anya waren, unbedingt an diesem Turnier teilnehmen zu wollen. Geld, Ruhm, die Pro-Liga, die sie näher an ihren Traum bringen würde und am wichtigsten, diese dämliche Hüter-Karte.

 

Matt raffte sich derweil von seinem Bett auf. „Und du hast dir das gut überlegt, Anya?“

Das Mädchen drehte sich zu ihm um, als Claires Werbung für eine große Motorradmarke durch eine für Duel Disks ersetzt wurde.

Sie nickte heftig. „Was glaubst du denn? Jetzt sind wir hier, also gibt es kein Zurück mehr. So eine Chance kriege ich nie wieder. Ich will nicht das 'Hintertürchen' nehmen, wenn du verstehst?“

„Sie werden dich wieder angreifen“, prophezeite der Dämonenjäger düster.

 

Er sprach von den Undying, die bereits zweimal versucht hatten, Anya ins Jenseits zu schicken. Sie wollten verhindern, dass sie die sieben Karten sammelte, weil damit das Tor zum Narthex geöffnet werden konnte – das Ziel des Sammlers. Anya wusste nicht, was der Narthex genau war oder was der Sammler mit ihm beabsichtigte, aber er hatte sie davor gewarnt, an dem Turnier teilzunehmen. Da sämtliche Medien über das Ereignis berichteten, würden diese unsterblichen Kreaturen früher oder später unweigerlich auf sie aufmerksam werden.

Aber genau das wollte Anya.

 

„Wir haben das doch alles schon durchgesprochen“, raunte sie wütend, „wenn einer dieser Spinner es versucht, nehmen wir ihn gefangen und quetschen ihn aus.“

Zanthe lachte erheitert auf und klappte sein Buch zu. „Du hast wohl vergessen, dass wir uns nicht so recht einig waren, wie wir diese Psychos einkerkern wollen?“

„Ich bezweifle, dass normale Dämonenjäger-Techniken da reichen werden“, sagte Matt, was er schon mehrmals in den vergangenen Tagen betont hatte. „Die Idee ist ja nicht schlecht, etwas, das man nicht töten kann, stattdessen zu versiegeln. Aber wie stellen wir das an?“

Anya stöhnte ob des leidigen Themas genervt. „Lass das mal meine Sorge sein, ich denke mir schon etwas aus.“

„Genau das habe ich befürchtet“, kam es zweifelnd aus Zanthes Richtung.

 

Trotzig stampfte sie wieder zu ihrem Bett in der Ecke des Zimmers und nahm erneut das dunkelblaue T-Shirt aus ihrem Koffer hervor, welches ganz oben auf ihren Sachen lag. Gerade mal mit den Fingerspitzen hielt sie es fest, drehte es zu Matt und sagte: „Vergesst die Undying, das Ding hier ist viel schlimmer.“

„Werbung für deinen Shop?“, fragte Matt, der sich durchlas, was auf der Rückseite des Kleidungsstücks stand. „Nico's Card Shop? Sogar eine Adresse hat er angegeben.“

„Tch, Mr. Palmer lässt mich nur teilnehmen, wenn ich das da während der Live-Duelle anhabe. Wenn nicht, feuert er mich. Glaub ich.“

Zanthe kicherte voller bösartiger Genugtuung. „Tja Anya, du hättest eine Million haben können, aber lieber nimmst du das T-Shirt.“

Als Reaktion bekam er es ins Gesicht gepfeffert. „Nicht witzig, Flohpelz! Das habe ich nicht selbst entschieden, falls du es vergessen hast!“

 

Es hätte alles so schön sein können.

Anya erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie sich mit diesem Aiden Reid zum Essen verabredet hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er ihr eine ganze Million Dollar geboten, wenn sie unter dem Banner seiner Firma, Micron Electronics, am Turnier teilnahm.

Ganz zu Nicks Ärgernis, welcher alles getan hatte, um Anya von diesem Deal abzuhalten. Aiden sei gefährlich und würde ihr früher oder später einen Dolch in den Rücken rammen. Irgendwann hatte Anya nachgegeben, nachdem Nick angeboten hatte, ihr eines Tages das Doppelte zu zahlen. Ihr war es nur recht und wenn Anya ehrlich mit sich selbst war, nahm sie das Geld lieber von Nick an, als von irgendeinem Typen, den sie gar nicht kannte. Solange der Zaster in ihre Flossen wanderte, konnte sie damit leben.

Zumal Nick wirklich alles tat, um ihr auf ihrer Mission zu helfen. Ohne ihn wäre sie nie bis hierher gelangt, dessen war sie sich mittlerweile bewusst geworden und es war auch der Grund, warum sie ihm endlich seine Schauspielerei und Lügen verziehen hatte. Zugegeben, er wusste davon noch gar nichts, aber auch das hatte Zeit. So konnte sie die Lage unter Umständen noch etwas ausreizen.

Da sie allerdings ohne Aidens Hilfe nicht offiziell am Turnier teilnehmen konnte, hatte sie Nick damit beauftragt, sie nachträglich einzuhacken. Und er hatte wirklich gute Arbeit geleistet.

 

Um sich diese noch einmal vor Augen zu halten, zog Anya aus der Innentasche der geflickten Lederjacke an ihrem Leib einen Briefumschlag heraus. Die Einladung für die Veranstaltung morgen Abend, die nur Teilnehmern des Turniers und einigen Sponsoren vorbehalten war. Nick hatte es irgendwie geschafft, eine auf ihren Namen ausstellen zu lassen. Ironisch, denn sie kam direkt vom Veranstalter höchstpersönlich – der Abraham Ford Company, Vertreiber von Duel Monsters in den Staaten. Es konnte also gar nichts schief gehen, Anya war im System als Teilnehmerin vermerkt und besaß obendrein einen schriftlichen Beweis.

Der einzige Nachteil war, dass Nick nur sie hatte eintragen können, nicht Matt und Zanthe. Alle Einladungen waren bereits verschickt worden, doch aufgrund eines 'glücklichen Umstands' konnte Nick den Brief plus E-Mail an eine der Teilnehmerinnen abfangen und zumindest diese nachträglich durch Anya ersetzen. Bei den beiden Holzköpfen war das leider nicht drin gewesen, was natürlich ärgerlich war, hätten drei Teilnehmer vom Team Anya ihre Chancen auf einen Kampf mit Claire sicher erhöht.

Zumindest konnte Anya selbst teilnehmen, hatte also die erste Hürde bereits genommen.

 

Aber immer noch keinen Begleiter für diese kack Party!

„Einer von euch kommt gefälligst mit! Wie sieht das aus, wenn ich da alleine hingehe, huh!?“

Matt, aufrecht auf dem Bett sitzend, zuckte unbedarft mit den Schultern. „Ich würde mir nichts dabei denken.“

Dagegen fand Zanthe wesentlich spitzere Worte. „Ich würde auch nicht allein gehen wollen, wenn ich Angst hätte, die Hälfte von dem, was man mir dort sagt, nicht zu kapieren. Mindestens.“

„Als ob!“, fauchte Anya, doch das leichte Zögern in ihrer Stimme verriet sie. „Was soll da schon groß erzählt werden!?“

„Oh zum Beispiel die neue Duel Monsters-Mechanik“, kam Zanthe ihr sofort altklug zuvor, „oder wie die neuen, Betrugs-geschützten D-Pads funktionieren, die ihr für das Turnier bekommt. Mir fällt da einiges ein.“

Anya knurrte verstimmt: „Schön für dich.“

Dann ließ sie sich auf dem Bettrand nieder. „Aber fein, wenn ihr nicht mitkommen wollt, gehe ich eben alleine.“

 

Unvermittelt erhob sich Zanthe mit einem diebischen Grinsen und wand sich einer Schlange gleich herüber zu Anya, legte den Arm um die Schulter der Blonden, als er sich neben diese fallen ließ. „Ich könnte mich ja dazu erweichen, doch mitzukommen.“

Matt wurde sofort hellhörig und starrte herüber zu den beiden.

„Und was muss ich dafür tun?“, schnarrte Anya grimmig.

„Shoppen.“

„Huh?“

Zanthe ließ sie los, stöhnte kopfschüttelnd. „Anya, das ist eine Veranstaltung für aufstrebende Talente. Will sagen: reiche, aufstrebende Talente. Betonung auf reich. Die AFC lädt nicht jeden ein, sondern vor allem Duellanten, deren Mommys und Daddys mit ihren Brieftaschen gewinkt haben.“

Anya neigte den Kopf schief zur Seite. „Und das hat jetzt was mit Shopping zu tun?“

„Denk doch mal nach! Die rennen dort sicher nur in den feinsten Fummeln 'rum. Wenn du dich nicht noch vor dem ersten Duell zur Lachnummer machen willst, musst du optisch mithalten!“

Zanthe zupfte bewusst provokativ an ihrer Lederjacke. „In dem Ding lassen sie dich selbst mit Einladung nicht rein.“

„Ich sehe das mit den reichen Teilnehmern zwar etwas anders“, meinte Matt und legte sich zurück auf sein Kissen, „aber Recht hat Zanthe. Wir können da nicht in unserer Alltagskleidung auftreten.“

Anya wiederholte erstaunt: „Wir?“

„Wenn er schon mitkommt, was für 'ne Wahl habe ich dann? Außerdem würde ich mich hier ohnehin nur langweilen, während ihr weg seid.“

Zanthe hingegen sprang auf. Erstaunen und auch ein gewisser Verdruss schwangen in seiner Stimme mit. „Was meinst du damit, dass du das mit den reichen Teilnehmern anders siehst?“

„Dass ich der Meinung bin, dass sie mehr nach Talent und weniger nach der dicksten Geldbörse bei der Auswahl der Teilnehmer gehen.“

Der Schwarzhaarige, dessen Haupt heute mal ein grünes Bandana zierte, lachte abfällig. „Erzähl das deinem Alector. Ich hab mir die Liste der ausgewählten Teilnehmer angeschaut, die Nick uns gegeben hat. Viele von denen kommen aus gutem Hause!“

„Und woher willst du das wissen?“

„Recherche? Anya muss wissen, mit wem sie es zu tun bekommt und da sie selbst keinen Finger krumm macht und Nick nicht die ganze Arbeit machen sollte, hab ich selbst ein bisschen gestöbert, bevor wir losgefahren sind“, verteidigte sich Zanthe bissig.

Matt erwiderte: „Und deswegen können sie nicht trotzdem talentiert sein?“

 

Anya stöhnte und stieß sich von der Bettkante ab, lief wieder zum Fenster, während sich im Hintergrund eine handfeste, von vorn herein zum Scheitern verdammte Diskussion anbahnte.

Sie wusste es ja zu schätzen, dass Zanthe trotz seines frechen Mundwerks ebenfalls bemüht war, ihr zu helfen. Aber Nick konnte er nicht ersetzen.

Das Mädchen verstand nicht, warum ihr bester Freund in Livington geblieben war. Sein neuer Job verbot es ihm, hatte er gemeint. Bloß, seit wann scherte Nick sich darum? Mit seinen Hackerfähigkeiten konnte er alles haben, er brauchte keinen Job! Doch egal was sie gesagt hatte, mehr war aus ihm nicht herauszubekommen gewesen. Endlich selbst was schaffen, blah blah, als ob sie ihm das abnahm!

 

„... ist doch purer Idealismus!“, war Zanthe derweil schon bei einer beachtlichen Lautstärke angekommen.

Matt stand ihm direkt gegenüber und verschränkte die Arme. „Und was ist daran falsch? Wenigstens sehe ich nicht in allem nur das Schlechte!“

„Wo tu ich das bitte!?“

„Frag doch Anya, der hältst du ja nichts anderes vor als ihre Fehler.“

Zanthes Kopf ruckte in einer derart raschen Bewegung zu Anya herum, dass gute Ohren ein ganz leises Knacken vernehmen konnten. Sein verkniffener Blick forderte absolute Rückendeckung von der Blonden, aber die schnaufte bloß verärgert. „Haltet die Klappe, alle beide!“

Um sicherzustellen, dass sie auf andere Gedanken kamen, fügte sie noch höchst widerwillig hinzu: „Wir gehen jetzt shoppen!“

 

~-~-~

 

Ephemeria City erwies sich als wahres Labyrinth. Die Straßen der Neustadt waren lang und breit, kreuz und quer, sodass es besonders Anya schwer fiel, sich zu orientieren. Anders als Matt kam sie nicht auf die Idee, ihr über 50 Stockwerke hohes Hotel als Orientierungspunkt zu nutzen. Selbst seine Idee, der über den kleineren Gebäuden verlaufenden Riding Duel-Strecke zu folgen traf bei Anya auf Unverständnis, denn wieso einfach, wenn es auch kompliziert ging?

Unter Zanthes Führung jedoch gelang es ihnen erstaunlich schnell, die ersten Geschäfte ausfindig zu machen. Nicht weit von den Dreien weg gab es einen renommierten und unheilig preisintensiven Anbieter für Herrenmode. Die perfekte Gelegenheit für Anya, den beiden Jungs ein paar von Nicks ergaunerten Scheinen in die Hand zu drücken und sich von ihnen abzukapseln.
 

Das letzte, was das Mädchen wollte war, wie Zanthe ihr Ratschläge in Punkto Mode gab. Zumal sie auch keine Lust hatte, der immer noch unterschwellig vorhandenen Spannung zwischen den beiden Streithähnen ausgesetzt zu sein.
 

Gedankenverloren wanderte sie den Gehweg entlang, der erstaunlich voll war. Vermutlich alles Touristen beziehungsweise Zuschauer, die sich auf das anstehende Turnier freuten. Ihr Blick wanderte nach oben. Direkt über ihr verlief einer dieser Highways für Riding Duels. Das massive Konstrukt wurde regelmäßig von Säulen, so breit wie Limousinen, getragen. In Anyas Laufrichtung verlief die Neigung jener hoch gelegenen Straße ein wenig nach oben, ehe sie bei der nächsten Kreuzung in eine nach links gehende Kurve überging.

 

Siehst du dich auch schon dort oben?

 

Levriers Stimme in ihrem Kopf ließ Anya aufschrecken. Sie nickte fest.

„Jup. Motorradfahren und sich dabei duellieren? Was gibt’s Besseres?“

 

Nacktfotos von Valerie Redfield an das Playboy-Magazin verkaufen?

 

„Außer das!“

Anya beschleunigte ihren Schritt. An der Straßenecke hatte sie eine kleine Boutique erspäht, in der sie ihr Glück bezüglich geeigneter Festkleidung versuchen wollte. In ihrem Lauf gelangte sie aus dem Schatten der Riding Duel-Strecke und ehe sie sich versah, eilte sie die drei kleinen Stufen zur Tür hinauf und betrat unter Glockenbimmeln das Geschäft.

Derweil machte sich Levrier daran, Modeberater zu spielen.

 

Ich habe mir überlegt, dass dir dunkle Kleidung sehr gut steht, Anya Bauer. Sicherlich möchtest du auf zu formelle Kleidung verzichten, weshalb-

 

„Halt die Klappe, Levrier“, brummte sie mit einem spitzbübischen Grinsen auf den Lippen, „ich hab schon so'ne Vorstellung, was ich anziehen werde.“

Hier kannte sie niemand. Matt und Zanthe waren auch nicht da, um ihren Senf abzugeben. Also konnte Anya Dinge tun, die sie zuhause niemals erwägen würde …

 

Das verspricht lustig zu werden.

 

~-~-~

 

Als Anya am späten Abend ins Hotelzimmer zurückkehrte, erkannte sie, dass sie die letzte des Gespanns war. Wobei von Zanthe jede Spur fehlte, lediglich seine Einkaufstüten lehnten an dem vordersten der drei Betten des länglichen Zimmers.

Auch Anya war gut beladen mit zwei großen, weißen Tüten.

 

Matt lag auf seinem Bett in der Mitte, auf seinem Bauch ein Laptop.

„Wo hast'n den her?“, fragte Anya irritiert, die sich sicher war, ihren Freund bisher nicht mit dem Ding gesehen zu haben.

„Vom Restgeld gekauft“, erwiderte er gleichgültig, „ich hoffe, das ist okay.“

„Bist du irre!?“

Ehe Matt sich versehen konnte, schmiss sich Anya neben ihn aufs Bett und betrachtete das neue Gerät begeistert. „Kann man damit zocken?“

„Glaube schon.“ Matt sah sie unsicher von der Seite an. „Hab ihn gekauft, um ein wenig im Netz recherchieren zu können, während wir hier sind. Frag nicht, was Herr Werwolf mit dem Geld anstellen wollte.“

„Noch mehr Kopftücher und so'n Scheiß kaufen?“, fragte Anya hämisch.

Matt schüttelte den Kopf. „Nein, ein paar Hotelmitarbeiter in der Umgebung bestechen, um Deckinfos über deine Gegner zu besorgen.“

Gleichzeitig tippte er den letzten Satz in dem offenen Fenster zu Ende und drückte die Enter-Taste. Anya bemerkte, dass es sich um eine E-Mail an Alector handelte, in der Matt Alastair und die Kinder grüßte.

„Denkst du, die lesen das?“, fragte die Blonde skeptisch.

Der Dämonenjäger im schwarzen Hemd neben ihr zuckte schmunzelnd mit den Schultern. „Wenn sie endlich ihre Telefonrechnung zahlen, dann bestimmt. In 'nem Monat oder so. Würde sie ja gerne mal an die Strippe bekommen, aber das klappt ja schon seit über zwei Wochen nicht mehr.“

 

Anya erhob sich vom Bett und drehte sich zu Zanthes nahe der Tür um. „Wo ist unser Flohzirkus eigentlich?“

„Hatte keinen Bock auf mich und stellt sicher gerade irgendetwas an, für das wir uns am Ende schämen müssen.“

„Klingt, als hätte ich Konkurrenz bekommen“, stellte Anya erstaunlich selbstironisch fest.

Matt musste leise auflachen. „Sieht so aus.“

 

Das Mädchen schlenderte zum Panoramafenster und betrachtete die nächtliche Stadt. Die ganzen Werbeanzeigen an den Hochhäusern waren so grell, dass sie Jalousien brauchen würden, um überhaupt schlafen zu können. Die Riding Duel-Strecken hatten eine eigene Beleuchtung, sogar die Straßenmarkierungen auf ihr waren erhellt. Ephemeria City ließ sich wirklich Einiges dafür kosten. Und irgendwo da draußen könnte schon Claire Rosenburg lauern. Oder ein Undying, der ahnte, dass Anya hier sein würde.

„Ist das wirklich eine gute Idee, Levrier? Sie versiegeln zu wollen?“ Sie fasste sich an die Stirn, einen Hauch von Zweifel an der eigenen Entscheidung äußernd. „Nicht, dass ich das will, aber undercover zu agieren wäre vielleicht doch sicher …“

 

Womöglich ist es das, aber ich bezweifle, dass wir damit dauerhaft Erfolg haben werden. Unsere Feinde werden uns früher oder später finden, also kommen wir ihnen zuvor, indem wir sie zuerst stellen, wenn sie am wenigsten damit rechnen.

 

„Aber warum?“

 

Da wir sie nicht töten können, müssen wir sicherstellen, dass wir sie dennoch dauerhaft aus dem Weg räumen. Dank meiner Abstammung von Isfanel kenne ich eine Möglichkeit, sie in einer separaten Dimension einzusperren. Es funktioniert ähnlich wie der Turm von Babylon, nur in viel kleinerem Rahmen. Außerdem habe ich noch eine andere Absicht …

 

„Das höre ich zum ersten Mal!“

Anya runzelte die Stirn und drehte sich zur Seite, wo sie Levriers Anwesenheit am ehesten vermutete, auch wenn das bei Immateriellen natürlich Quatsch war. Sie waren nirgendwo … und überall.

 

Ricther. Eine Kooperation mit ihm könnte sich als letzter Anker erweisen, sollten wir mit dem derzeitigen Plan scheitern und die sieben Karten nicht rechtzeitig sammeln. Doch dafür müssen wir etwas haben, um ihn unter Druck zu setzen.

 

„Wir sperren ihn ein und holen ihn raus, wenn wir ihn brauchen …“

 

Richtig. Ich bezweifle, dass wir Stoltz auf diese Weise benutzen können. Deshalb muss er es sein. Ich bin mir sicher, dass er genug Ehre besitzt, ein einmal gegebenes Versprechen nicht zu brechen.

 

„Du hast vielleicht Ideen. Das ist so verrückt, das könnte sogar klappen“, meinte Anya belustigt.

Matt sah vom Laptop auf. „Was sagt er denn?“

Die Blonde drehte sich kess grinsend zu ihm um. „Dass wir Versager sind, die die Hilfe der Undying benötigen werden.“

„Wenn er meint“, zeigte sich Matt gleichgültig und richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem teuren Spielzeug auf seinem Schoß zu, „warn' mich nur rechtzeitig vor, wenn ihr irgendetwas ausheckt.“

Was Anyas Mundwinkel noch weiter auseinander rückte. Dummer Matt, als ob man ihn vor so etwas vorwarnen könnte. Nicht mal sie selbst würde wissen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, bevor es bereits zu spät war.

 

~-~-~

 

Ungeduldig pochte es am nächsten Abend, nach einem Tag voller Zank, Sticheleien und Cup Cakes gegen die Badezimmertür. „Anya, was dauert das so lange? Hast du endlich entdeckt, dass du ein Mädchen bist, oder warum wirst du einfach nicht fertig!?“

Konzentriert blickte Anya in den Spiegel über dem Waschbecken und führte vorsichtig -es- Richtung ihrer Augen. Aber sie zögerte, nicht zuletzt auch deshalb, weil Matts ebenfalls ungeduldige Stimme durch die weiße Tür drang. „Das Taxi wartet bereits! Wir müssen los!“

„Scheiße, dann fahrt doch vor, wenn ihr unbedingt wollt!“, raunte sie. „Ist mir sowieso nur recht!“

„Für wen machen wir das doch-“, begann Zanthes typische Leier, die diesmal ein jähes Ende fand.

„Ich sag dir gleich, was du nicht mehr machst, Flohpelz!“, überschlug sich ihre Stimme förmlich, ein Zeichen ihrer Überforderung. „Leben! Und jetzt schnapp' dir Summers und fahr vor, ich komme nach, sobald ich kann. Die werden euch schon reinlassen, ich steh immerhin auf der Gästeliste!“

Zumindest ging sie stark davon aus. Wenn Nick Mist gebaut hatte, dann gab's Kloppe!

„Na schön …“

„Dann bis nachher“, verabschiedete sich Matt skeptisch. Sie hörte, wie die beiden leise irgendwas tuschelten und schließlich die Zimmertür ins Schloss fallen.

 

Jetzt konnte Anya sich endlich wieder dem widmen, was sie bisher nur getan hatte, wenn sie absolut sicher war, dass niemand in der Nähe war, um sie zu beobachten. Wohlgemerkt niemand außer ihren Opfern, welchen der Akt bisher immer gegolten hatte. Aber diesmal war sie selbst an der Reihe.

„... Gott, ich hasse Make-Up!“

 

Ich liebe Clowns.

 

Eine beängstigend große Zornesfalte bildete sich auf der Stirn des Mädchens. „Jetzt reicht's! Du-bleibst-hier!“

Um ihren Worten Taten folgen zu lassen, schnappte sie sich ihre Deckbox, die neben ihrer Jeans auf dem Rand der Badewanne lag und holte [Gem-Knight Pearl] aus dem Extradeck hervor.

„Drei von euch ertrage ich nicht!“, fauchte sie und stopfte Pearl in die Hosentasche der Jeans.

Umso wütender wurde sie, als nur träge kam:

 

Dein Verlust …

 

„Tch!“

Anya wirbelte um und hoffte, nun endlich ungestört 'ihr erstes Mal' zu Ende bringen zu können. Hätte sie sich doch bloß nie auf diese ganze Kacke von wegen 'hübsch machen' eingelassen!

 

~-~-~

 

Das Taxi hielt an. Matt und Zanthe stiegen aus, Letzterer gab dem Fahrer noch ein großzügiges Trinkgeld, ehe sie sich ihrem Ziel widmeten.

„Ich kann nicht glauben, dass wir noch so viel Kohle haben“, staunte Zanthe und steckte seine Brieftasche weg. „Schade, dass Nick so besessen von Anya ist. Mit mir hätte er viel mehr Spaß.“

„Dazu sage ich besser nichts“, nuschelte sein Begleiter, der keine Lust auf Streit hatte.

 

Er und Zanthe kamen so gestriegelt und gebürstet daher, wie man es von einer Veranstaltung dieser Art erwartete. Zanthe trug einen feinen, weißen Designeranzug samt silberner Krawatte, unter der ein schwarzes Hemd zum Vorschein kam. Einzig sein neuestes Kopftuch hatte er sich auch hier nicht nehmen lassen, war dieses doch farblich perfekt angepasst an sein übriges Auftreten. Matt hingegen hatte sich die Haare nach hinten gekämmt und gegelt, trat in einem schlichten, schwarzen Nadelstreifenanzug und weinrotem Hemd auf. Während das Sakko Zanthes mit schwarzen, unebenen Streifen verziert und daher mit dessen flippigen Charakter harmonisierte, war das von Matt gleichfarbig zu seiner Hose.

 

Die beiden standen vor einem riesigen, offenen Bogentor, das Eintritt zu einem kunstvollen Garten samt Springbrunnen gewährte.

„Dass es mitten in einer so technologisierten Stadt einen so konservativen Ort gibt …“, staunte Matt, während sie über den fein gepflasterten Weg liefen, vorbei an einem zu beiden Seiten verlaufenden Minihecken-Labyrinth. „Aber das ist eben die Altstadt von Ephemeria City.“

„Der Besitzer des Anwesens ist einer der Sponsoren des Turniers, hab ich gelesen“, erklärte Zanthe die Zusammenhänge, „er hat ein Faible für Schlösser und sich daher selbst eins gebaut, mitten in der Stadt der Duellanten.“

Beim Anblick des riesigen, dreistöckigen Gebäudes vor ihm stellte Matt bereits eine Vermutung an, welches Schloss es besagtem Sponsor besonders angetan hatte. „Versailles?“

Zanthe drehte sich zu ihm um und grinste breit. „Dein Ernst? Meep!“

Er deutete auf die Glaskuppel des mit dutzenden Scheinwerfern angeleuchteten Gebäudes. „Es hat keine konkrete Vorlage. Ein bisschen von Sanssouci, natürlich auch etwas Versailles, aber auch gotische Elemente wie diese dutzenden Bogensäulen, die du beim Eingang siehst.“

„Interessierst du dich für so etwas?“

„Ein bisschen.“ Zanthe schloss im Alleingang zu der Menschenschlange auf, die vor dem Eingang des Halbschlosses auf den Einlass wartete.

Der zurückgelassene Matt musste schmunzeln. „Der ist immer wieder für 'ne Überraschung gut.“

 

Kurz darauf waren sie drinnen und wurden in einen riesigen, ovalen Ballsaal geführt, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte. Matt war erstaunt darüber, wie gut alles geklappt hatte. Tatsächlich hatte man sie ohne großes Aufsehen hineingelassen, als sie sich als Anyas Begleiter per Personalausweis identifiziert und das verspätete Kommen der Chefin entschuldigt hatten. Allerdings beschlich Matt der Verdacht, dass Nick bereits im Vorfeld die Anmeldungen der beiden vorgenommen haben musste, da die wirklich überall befindlichen Security-Leute sicher niemanden allein auf sein Wort einlassen würden.

 

Der Saal war gut gefüllt mit sicher weit über hundert Leuten und einige würden sicher noch dazukommen. Über ihnen erstreckte sich die ganz aus bunten Gläsern bestehende Dachkuppel, welche religiöse Bilder wie die Geburt Jesu zeigten.

„Er ist etwas verrückt, sagt man“, gluckste Zanthe und meinte damit den Besitzer des Anwesens, „liebt solchen Kram. Schick sieht's ja aus, ist aber nicht mein Ding.“

Über zwei Stockwerke erstreckte sich der Saal. Abgehend vom Eingang verliefen zwei schier endlos wirkende Wendeltreppen zu einer Galerie, die schließlich in einem großen Balkon mündete. Sie mussten sich im hinteren Ende des Schlosses befinden, aber Matt hatte keine Ahnung, ob er damit richtig lag.

 

„Wie lange, bis es losgeht?“

Zanthe schob den Ärmel seines Sakkos weg und sah auf seine brandneue Armbanduhr. „Noch genug Zeit, über 'ne halbe Stunde. Prinzesschen wird schon kommen, mach dir da keine Sorgen.“

„Wir reden hier von Anya“, stellte Matt trocken klar.

Ein belustigtes Kichern war die Antwort. Sowie: „Stimmt. Mach dir Sorgen.“

Der junge Mann im schwarzen Anzug sah sich um. Überall waren kleine, runde Tische aufgebaut, an die sich die Gäste stellen konnten. Umrandet waren sie von edlen Barhockern, falls jemand dabei sitzen wollte. Dazu verteilten dutzende Kellner Champagner. Im hinteren Teil des Ballsaals, wo die Treppen zusammenliefen, war ein riesiger Monitor aufgebaut. Unter ihm befand sich eine kleine Tribüne mit Rednerpult, die aber noch leer war. Rechterhand dieser sorgte eine eigens bestellte Band, bewaffnet mit klassischen Instrumenten, für die akustische Untermalung des Abends.

„Wollen wir uns ein wenig unter die Leute mischen?“

Aber Zanthe war Matts Vorschlag längst zuvor gekommen und hatte sich in ein Gespräch mit zwei jungen Männern verwickelt. Matt verzog die Augen zu Schlitzen.

„Wieso habe ich das Gefühl, dass er nicht mit ihnen redet, weil er ihre Decks sehen will?“

Das Wort, welches er Zanthe tatsächlich im Gedanken unterstellte, unterschied sich nur um einen Buchstaben von dem, welches er laut aussprach. Und das amüsierte Gekicher des Werwolfs, das an sein Ohr drang, bestätigte ihn in seiner düsteren Ahnung.

 

Etwas verloren kam sich der junge Mann schon vor. Um nicht wie bestellt und nicht abgeholt auszusehen, stellte er sich an den nächstbesten Tisch, der bereits von einer jungen Dame besetzt war.

Sie tippte an der Tischkante gelehnt auf ihrem Smartphone herum und nahm keine Notiz von ihm, weshalb er sie genauer betrachtete. Ihr aschblondes Haar war gefärbt, was er an den ganz minimal hervorstechenden, brünetten Ansätzen bemerkte. Etwas über die Schultern hinaus gehend, klemmte es hinter ihren Ohren, an denen zwei knallrote, an kurzen Ketten hängende Kugelohrringe hingen. Dieselbe Farbe wie ihr knielanges Cocktailkleid. Um den Hals trug sie einen Presseausweis.

Matt spürte, wie sich die Farbe seiner Wangen unter einem flüchtigen Brennen der ihres Kleides anpasste. Sie war eine der attraktivsten Frauen, die er je gesehen hatte. Und jetzt bemerkte sie ihn. Ihre hellgrauen Augen drangen regelrecht durch ihn durch, als wüssten sie genau, was er dachte. Dann schenkte sie ihm ein einladendes Lächeln.

 

Doch ehe Matt dieses erwidern konnte, spürte er, wie sich eine Armbeuge um seinen Nacken schlang. Zanthe hauchte ihm mit Blick auf die Journalistin ins Ohr: „Na, Lover Boy?“

„Was soll das!?“, fauchte er unter dem belustigten Gekicher der Blondine.

„Ich dachte, was ich entdeckt habe, willst du dir sicher nicht entgehen lassen. Komm.“

„Sorry“, nuschelte Matt knallrot angelaufen und zog unfreiwillig dem Werwolf hinterher.

Die Journalistin hauchte ihm ein „Bye!“ zu.

Als sie außer Reichweite war, wandte Matt sich an seinen Begleiter. „Was ist denn, siehst du nicht, dass ich beschäftigt war!?“

„Mit ihrem Ausschnitt?“

„Nein!“ Was die Wahrheit war, den hatte Matt tunlichst vermieden anzusehen, obschon die Verlockung dagewesen war. „Und sowieso, wo bleibt überhaupt Anya?“

„Na das will ich dir doch zeigen!“

 

Zanthe führte Matt zu der rechten Wendeltreppe. Mit ausgestrecktem Finger deutete er auf eine junge Frau, die auf halber Höhe zur Galerie am Geländer entlang nach oben ging und nebenbei das Geschehen unten betrachtete.

„Sie dachte wohl, sie könne sich an uns vorbei nach oben verkrümeln. Die Gute hat wohl der Mut verlassen, sich -so- zu zeigen.“

Matt verzog auf Zanthes Kommentar hin den Mund. „Niemals, das ist nicht Anya.“

„Bleib stehen“, rief der aber schon triumphierend, „wir haben dich entdeckt. Flucht ist zwecklos!“

Abrupt blieb Anya-Fragezeichen stehen. Undeutlich kam die Antwort: „Ist sicher 'ne Verwechslung. Schönen Abend noch.“

Zanthe zeigte jedoch einen Vogel. „Als ob! Du siehst zwar nicht so aus, aber du riechst definitiv nach Bauerntölpel.“

Die vor Wut geballte Faust war Antwort genug.

„Also dreh dich schön um, damit wir dich ansehen können“, forderte der Werwolf feixend.

 

Anya murmelte leise vor sich hin: „Das wirst du bereuen, Flohpelz!“

Es hätte alles so schön sein können. Sie stahl sich nach oben und wohnte der Rede von den anderen beiden unbemerkt bei, verschwand vor ihnen und niemand würde jemals erfahren, dass sie … dass sie … was hatte sie bloß dazu getrieben!?

Auf dem Absatz drehte Anya sich langsam um. Schritt für Schritt nahm sie die Treppen nach unten, ihre weißen Stiefel strahlten regelrecht im Lichte der dutzenden elektrischen Kronleuchter, die im Saal angebracht waren.

„Das kann nicht- träum ich?“, staunte Matt atemlos.

Was er da sah, das waren Anyas Beine. Nackte Beine, von den Knien an bis zu diesem kurzen, engen, elfenbeinfarbenen Kleid, welches an ihrer linken Schulter gehalten wurde. Von ihrem Brustansatz herab ging eine Schleppe, die fast bis zum Boden reichte und dem Kleid den dezenten Eindruck eines Morgenmantels verschaffte.

Anya war bereits Rot wie eine Tomate, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Sie hatte es vollbracht, sich dezent eines Kajalstiftes und Wimperntusche zu bedienen. Und scheinbar war sie auch nicht ungeschickt darin, wenn es darum ging, ihr Haar hochzustecken.

„Siehst du bescheuert aus“, feixte Zanthe und krümmte sich vor Lachen.

„Ich hasse euch! Ich hasse euch alle“, fluchte diese wütend. „Wieso ausgerechnet ich!?“

„War doch deine eigene Entscheidung!“, erwiderte der Unruhestifter daraufhin patzig und giggelte weiter vor sich hin.

„Haltet die Klappe, alle beide“, murmelte Matt mit fasziniertem Blick.

 

Als Anya die letzte Stufe nahm, zögerte sie gar nicht lange und rammte ihren weißen Stiefel mit derartiger Wucht in Zanthes Erzeugerorgan, dass dessen Tonfall gefühlte zwei Oktaven nach oben schnellte.

Trotz der Schmerzen keuchte er: „Vorsicht, man sieht deine Boxer-Shorts …!“

Sofort stellte sich Matt zwischen die beiden, ehe einer der Securitys etwas mitbekam. Anyas Augen drohten aus ihren Höhlen zu ploppen.

„Hätte ich doch bloß nie auf euch gehört! Shoppen gehen, am Arsch!“, schrie sie aufgebracht. „War doch klar, dass ihr es scheiße findet!“

„Ich finde, du siehst umwerfend aus!“, beteuerte Matt sofort aufrichtig, wenn er sich auch bewusst war, dass Anya ihm kein Wort glauben würde.

„Betrachte mich umgeworfen“, meldete sich Zanthe mit erhobener Hand böse kichernd hinter Matt.

 

Anya war im Begriff ihre zum Kleid passenden Stulpen hochzuschieben, um ihn tatsächlich 'umzuwerfen', als hinter Matt die eine Person auftauchte, mit der Anya am allerwenigsten gerechnet hatte.

„Also ich finde es auch toll“, sagte Valerie Redfield lächelnd, „endlich traust du dich mal zu etwas anderem, als zu deinen normalen Klamotten.“

Anya sah die Schwarzhaarige vor ihr an. Valerie sah sie an. Anya blinzelte. Valerie wartete auf eine Reaktion. Sie bekam eine.

„... hat wer 'ne Pistole?“, fragte Anya schlaff.

„Ach komm schon, lass dich nicht von den Jungs ärgern“, versuchte Valerie sie aufzumuntern und hakte sich uneingeladen bei ihrer selbsternannten Erzrivalin ein.

Ehe die überhaupt begriff, was gerade geschah, zog Valerie sie schon mit bestimmender, aber sanfter Gewalt davon. „Marc ist auch hier, kommt doch zu uns an den Tisch.“

 

Erst jetzt konnte Anya den unverhofften Informationsinput 'Redfield' verarbeiten und riss sich prompt von jener los, wich geradezu von ihr weg, als wäre sie der Teufel, während die Jungs im Hintergrund dem Spektakel neugierig zusahen.

„Was-zur-Hölle-willst-du-hier-Redfield!?“, brachte sie stoßartig hervor, ohne Luft zu holen.

„Ich bin eingeladen?“, erwiderte die salopp. „Anders als du, nehme ich an.“

„'türlich bin ich eingeladen!“

Geradezu missbilligend warf Anya einen kurzen Blick auf ihr Gegenüber. Violettes, hauchdünnes Glitzerkleid, bis zu den Füßen reichend, dämonisch böser Ausschnitt, vermutlich extra für die Veranstaltung gelocktes, offenes Haar, eine dezente Halskette, gepaart mit protzigen Goldarmreifen. Wo war doch gleich die bestellte Pistole!?

„Anya, erzählt das jemandem, der dich nicht kennt“, mahnte Valerie sie streng, „wie du es angestellt hast, ist mir egal. Sei bloß vorsichtig.“

Die Blonde blinzelte verdutzt. „Huh? Du willst mich nicht anscheißen?“

„Für wen hältst du mich?“, empörte sich Valerie und griff sie wieder am Arm. Leiser sagte sie zu Anya, als sie einen der dutzenden Tische ansteuerte: „So etwas würde ich nie tun. Im Gegenteil, ich hatte es sogar im Gefühl, dass du hier sein würdest. Wegen -ihr- nehme ich an.“

Im Gehen winkte Valerie den beiden noch bei der Treppe stehenden Jungs zu, sie mögen ihr doch bitte ebenfalls folgen. Derweil antwortete Anya verdrießlich. „Na wie schön, dass das so offensichtlich ist. Ja, bin ich. Aber woher weißt du das?“

Valerie starrte stur geradeaus. „Nick und ich hatten ein … kleines Gespräch, wegen so einer Sache, aber das ist nicht so wichtig. Er hat mir vor Kurzem verraten, wen du als Nächstes anpeilst. Um ihn gleich in Schutz zu nehmen, er hat nicht gesagt, dass er dich hier reinschmuggeln will, aber anders kommst du wohl kaum an Claire Rosenburg ran.“

Das erklärte Anya aber nicht, wieso Miss Glanz und Gloria überhaupt hier sein konnte. Etwas, das Valerie ihr von den verkniffenen Augen ablesen konnte. „Erinnerst du dich an das Tag Duell-Turnier damals an der Livington High? Turniere dieser Art wurden letztes Jahr an vielen Schulen in den USA durchgeführt, aber nur wenige der Gewinner erhielten auch tatsächlich eine Einladung für den Legacy Cup. So wie ich und Marc.“

Wie ein Schlag traf diese Nachricht Anya, der die Kinnlade hinunter klappte. Hätte sie das gewusst, wäre dieses beschissene Turnier damals anders gelaufen! Denn sie und Nick waren Zweite! Tch!

 

Endlich angekommen, wartete der Kinnbart tragende Marc in einem schwarzen Anzug auf seine noch-nicht-ganz Ehefrau. Er hielt zwei Gläser Champagner in der Hand und staunte nicht schlecht, als er erkannte, wen Valerie da mit sich schleppte.

„Und wieder hast du Recht“, beglückwünschte er sie, „hätte ich dir mal gleich glauben sollen, dann könnt ich jetzt jedem was anbieten.“

„Ich will eh nix“, raunte Anya und stellte sich dazu. Kurz darauf folgten auch Matt und Zanthe.

„Seid ihr Teilnehmer?“, fragte Valerie und bekam die Antwort als Kopfschütteln.

„Nur sie“, deutete Matt auf Anya.

Valerie stützte ihre Ellbogen am Tisch ab und legte ihren Kopf in geneigter Haltung gegen die Hände, nachdem sie sich auf einen der Hocker gesetzt hatte. „So hätte das nicht laufen dürfen …“

Marc erklärte dazu: „Wir wollten es für dich tun, Anya. Als Nick uns sagte, dass Claire eines dieser Artefakte hat, wussten wir, dass wir die Chance haben sie zu stellen.“

Das blonde Mädchen traute ihren Ohren kaum. „Ihr wolltet-!? Für mich!?“

Ihre grübelnde Pose aufgebend, nahm Valerie die Arme vom Tisch und trank einen Schluck Champagner, ehe sie antwortete. „Warum nicht? In der Zeit hättest du dich um jemand anderen kümmern können. Aber Nick hat dir wohl nicht gesagt, dass wir hier sein werden.“

Anya schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“

Unvermittelt packte Valerie Anya am Arm und sah sie eindringlich an. „Mit dir sind wir jetzt drei Leute, die die Möglichkeit haben, sich mit Claire zu duellieren. Aber …“

„Aber?“, fragte Anya irritiert und sah Matt und Zanthe an, als ob die wüssten, was Valerie wollte.

„Du kannst Claire nicht besiegen. Lass uns das machen.“

Sofort riss Anya ihren Arm weg. „Was soll das denn heißen-!?“

„Sie ist auf einem ganz anderen Level als du“, setzte die Schwarzhaarige ihre Erklärung fort, „als wir alle. Sie hat noch nie verloren. Und viele hier sind fast so stark wie sie. Ich will nicht, dass du deine Zeit hier verschwendest, um zwischendrin aus dem Turnier auszuscheiden. Genau die rennt dir davon, du solltest eher nach Edna such-“

Sofort schlug Anya mit der Faust auf den Tisch. „Du spinnst wohl, Redfield! Denkst wohl, weil du mal besser als ich warst, kannst du dich jetzt aufspielen, huh!? Ich hab dich nicht darum gebeten, mir zu helfen, sofern ich mich recht erinnere! Das hier ist mein Ding, klar!?“

Marc seufzte. „Was habe ich dir gesagt, Valval?“

„Aber Anya, ich sage das doch nicht, um dich zu verspott-!“

 

Lautes Geklatsche ertönte. Während Anya und Valerie stritten, betrat ein junger Mann in weißem Anzug die Bühne. Unter dem Arm des brünetten Henrys eingehakt war seine Schwester Melinda, die sich ihre Haare feuerrot gefärbt und zu zwei Pferdeschwänzen gebunden hatte. Sie trug ein marineblaues Abendkleid, hatte sich ein lavendelfarbenes Tuch um ihre Hüfte gebunden. Zusammen traten sie an das Rednerpult.

„Guten Abend und vielen Dank, dass ihr alle so geduldig gewartet habt“, verkündete Henry stolz über das Mikrofon, „ich bin Hendrik Benjamin Ford und das ist meine Schwester Melinda Ford.“

Der Applaus wurde intensiver. „Wir beide sind heute die Vertreter der Abraham Ford Company und begrüßen alle Teilnehmer sowie Sponsoren des Legacy Cups und auch alle anderen Anwesenden zu dieser Feier.“

Etwas zu Melinda murmelnd, machte er ihr Platz. Voller Freude strahlend, sah sie in die große Runde. „Guten Abend. Lasst mich damit beginnen zu sagen, dass wir froh sind, euch endlich zu diesem Event einladen zu können. Wie ihr wisst, musste der Legacy Cup um ein Jahr verschoben werden, aber endlich ist die Zeit gekommen. Eure Zeit!“

Die Gäste klatschten, einige hoben sogar die Gläser an und bekundeten ihre Dankbarkeit sowie die Hoffnung, die Geschwister haben sich endlich von ihrer langen Krankheit erholt. Die wenigstens wussten, dass es keine Krankheit war, die der Grund für den Aufschub des Turniers darstellte …

Melinda bedankte sich und sprach weiter: „Aber was feiern wir wirklich? Natürlich den Auftakt des Turniers in einer Woche. Aber auch den Beginn einer neuen Ära von Duel Monsters.“

Lautes Gemurmel ging durch den Saal. Einige Vermutungen bezüglich dieser Worte kamen von allen Seiten. Das Wort 'Pendel' fiel immer wieder.

„Was wir euch heute vorstellen, ist für die Öffentlichkeit erst kurz vor dem Start des Turniers gedacht, wenn das nächste Erweiterungsset von Duel Monsters erscheint. Was in genau drei Tagen der Fall ist. Henry wird euch dazu mehr sagen.“

Wieder ertönte Applaus, als die beiden die Position tauschten und der junge Mann erneut ans Mikrofon trat. „Heute gewähren wir euch einen ersten Einblick in die Funktionsweise der Pendelmonster, einer völlig neuen Art von Karte. Darüber hinaus wird es einige gravierende Regeländerungen am Spiel selbst geben, die mit dem Auftakt des Turniers weltweit eingeführt werden.“

Noch lauteres Geraune hallte von den vielen kleinen Tischen. Henry sagte: „Doch bevor wir darauf eingehen, möchte ich daran erinnern, dass die Siegerin oder der Sieger des Legacy Cups neben einem Preisgeld von 500.000$ und der Einladung in die offizielle Profi-Liga auch die Chance erhält, sich mit der amtierenden Weltmeisterin zu duellieren. Und sie ist bereits heute extra für dieses Event angereist! Einen herzlichen Applaus für Claire Rosenburg.“

 

„... das ist nicht wahr, Anya! Du verstehst das völlig falsch! Unglaublich, wie kannst du nur so verbohrt sein!?“, schimpfte Valerie beleidigt.

Doch die Unruhestifterin selbst achtete gar nicht mehr auf ihre Erzrivalin, sondern blickte, wie alle anderen, herüber zur Bühne. Zwei Leute betraten diese in jenem Augenblick.

Drei Stufen nahm 'sie'. Völlig gelassen, als wäre dies für sie nichts Besonderes. Und das war es vermutlich auch nicht. Sie sah etwas anders aus als in der Werbung, noch größer. Fast so groß wie Matt. Ihr blondes Haar hatte sie am Hinterkopf kurz rasiert, trug einen Bob. Ihr Pony ging bis zur Höhe ihrer grünen Augen und von ihm reichten ihr zwei einzelne, im Gegensatz zu der Werbung von gestern grün gefärbte Strähnen bis zur Brust.

Und Claire Rosenburg sah merkwürdig aus. Das limettenfarbene, knielange Kleid stand ihr nicht besonders gut, denn ihre sehnigen, nackten Arme gaben einen unschönen Kontrast zu dem feinen Stoff. Auch ihre schwarzen Lederstiefel wollten einfach nicht zum Rest passen. Begleitet wurde sie von einem rothaarigen Mann in einem schwarzen Designeranzug. Nicht nur saß eine Sonnenbrille auf seiner Nase, nein, über seinem rechten Auge befand sich eine tiefe Narbe, die die Braue zerteilte. Dazu trug er einen Vollbart, lediglich das Kinn hatte er rasiert.

Nebenbei murmelte Marc zu Zanthe und Matt: „Ihr Manager. Unheimlicher Typ.“

„Hörst du mir überhaupt zu!?“, beklagte sich Valerie lauthals.

Anya wandte sich tolldreist entrüstet zu ihr um. „Natürlich nicht!“

Und der Streit ging in die nächste Runde.

 

Nachdem Henry Claire auf die Bühne geholt hatte, erklärte er weiter: „Ihr Duellstil war eine große Inspirationsquelle für uns, was die Entwicklung der Pendelbeschwörung betrifft.“

Plötzlich sprang der riesige Bildschirm über ihnen an. Auf ihm war der komplette Spielplan von Duel Monsters abgebildet.

„Wie kann man etwas toppen, das so flexibel ist wie Claire, so die Kernfrage“, sagte Henry und tippte auf den Touchscreen in seinem Pult, „simpel, wir fügen eine völlig neue Komponente ein.“

Plötzlich veränderte sich der Spielplan, Deckzone und Friedhof sowie Extradeck und Spielfeldkartenzone schoben sich auseinander. Und zwischen ihnen tauchten zwei neue Zonen auf.

„Daher seht nun die Zukunft von Duel Monsters! Die Pendelzonen, ein Platz für die Monster einer neuen Generation, die Pendelmonster! Es sind doch Monster, oder?“

Tosender Applaus, aber auch viel irritiertes Gemurmel, als er den letzten Satz mit einem Zwinkern beendete.

 

Im Anschluss begann Henry zu erklären, wie diese neuen Karten funktionierten. Sie waren sowohl Monster, als auch Zauber, was durch ihren halb orangefarbenen, halb grünen Kartenrand deutlich wurde. Als letztere konnten sie ausgespielt werden, indem man sie in die Pendelzonen legte. Dort besaßen sie einen völlig anderen Effekt. Aber mehr noch, jedes Pendelmonster besaß einen neuen Wert, den Pendelbereich, der mit einem Wert von 1 bis 12 bemessen war. Besaß man zwei Pendelmonster in jenen Zonen, durfte man einmal pro Zug eine Pendelbeschwörung durchführen und beliebig viele Monster von der Hand rufen, deren Stufe zwischen dem Pendelbereich-Wert der linken Pendelzone und des Wertes der rechten lag. Dies zeigte er anhand einiger simpler Beispiele am Bildschirm. Einige Gäste lachten dabei, andere tuschelten aufgeregt.

Dann erklärte Henry, dass Pendelmonster noch eine weitere Besonderheit aufwiesen. Wenn sie vom Feld auf den Friedhof gelegt wurden, gingen sie stattdessen aufgedeckt ins Extradeck – und konnten von dort ebenfalls per Pendelbeschwörung gerufen werden. Auch das zeigte er durch Beispiele, die nun unter großem Jubel aufgenommen wurden. Er schloss seine Rede mit der Hoffnung ab, vielleicht schon erste Spieler mit Pendelmonstern während des Turniers zu sehen.

„Außerdem wird uns bald ein weiterer, spannender Umschwung in der TCG-Szene erwarten“, waren seine letzten Worte. „Vielen Dank!“

Danach überließ er Melinda das Feld, die zunächst ankündigte, dass neue D-Pads zum Start des neuen Sets bereit stehen und für das Turnier sogar Pflicht sein würden, die alten aber weiterhin benutzt werden dürfen, wenngleich sie auch nicht mit den Pendelmonstern kompatibel waren. Teilnehmer würden ihre in den nächsten Tagen oder spätestens zu Beginn des Turniers erhalten. Anschließend klärte sie über die neuen Regeländerungen auf, derer es neben den Pendeln zwei gab: Der Spieler, der den ersten Zug machte, würde fortan seine Draw Phase überspringen müssen. Ein regelrechter Aufschrei seitens einiger entsetzter Gäste war die Folge. Die zweite Änderung erlaubte es nun beiden Spielern, eine Spielfeldzauberkarte gleichzeitig zu kontrollieren. In diesem Moment verstummte Melinda.

 

Anya bekam davon allerdings nichts mit, sie schrie Valerie hinterher, die mit Marc im Schlepptau wutentbrannt das Weite suchte: „Gib einfach zu, dass du mir das nicht alleine zutraust, Redfield!“

Zunächst fiel es Anya gar nicht auf, aber ihr Streit hatte die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesender erregt. Inklusive Henry, der etwas aus dem Konzept geraten ans Mikro trat. „Wie ich sehe, haben wir einen ungebetenen Gast. Guten Abend, Anya.“

Die wirbelte herum und bemerkte erst jetzt, wie alle Augen nur auf sie gerichtet waren. Wütend schimpfte sie: „Pah, kümmere dich lieber um deine Angelegenheiten, ich hab ne' Einladung.“

„Da muss ein Missverständnis vorliegen, denn die hast du garantiert nicht. Und selbst wenn du eine hättest, das Sicherheitspersonal wird dich allein für die Störung mit nach draußen begleiten.“

Sofort war sie von zwei Schränken in Schwarz umzingelt, die sie ergreifen wollten. Ihnen ausweichend, schrie sie sie an: „Pfoten weg!“

Die Ersten fingen bereits wild an zu tuscheln und zu spekulieren, was es mit Anya auf sich hatte. Jene rannte ein Stück vor und steckte den Finger aus, richtete ihn direkt auf Henry. „Ach ja? Dann schau doch in deiner Datenbank oder was auch immer nach!“

„Wie du willst.“

Zur Demonstration tippte er auf seinem Pult etwas ein und öffnete, für alle Anwesenden sichtbar, auf dem großen Bildschirm eine Liste. Er scrollte hinunter, jeder Duellant war mit gewissen Grunddaten und Profilfoto versehen. Valerie, Marc, ein blasser Junge mit hellem, langen Haar, ein brünetter junger Mann, dann Anya. Frech grinsend starrte ihr Antlitz in die Runde.

„Das kann nicht sein!“, schoss es aus Henry heraus. „Was hast du da angestellt!?“

„Mich qualifiziert, was sonst!?“

 

Erzürnt sprang Henry in seinem weißen Anzug von der Bühne und ging schnellen Schrittes auf Anya zu. „Niemals, das wäre uns aufgefallen. Hier muss ein großer Fehler vorliegen!“

Melinda eilte ihm hinterher, musste dabei den Saum ihres Kleid anheben. „Warte, ich glaube, ich weiß warum.“

Als sie bei ihm ankam, reichte sie ihm ein Blatt Papier, das sie sich nebenher vom Rednerpult geschnappt hatte. „Hier! Das ist die Liste derer, die in die engere Auswahl kamen. Sie muss irgendwie durchgerutscht sein.“

Ihr Bruder riss ihr das fragwürdige Beweismittel aus der Hand. Zornesfunkelnd sah er auf: „Sie hat Recht. Wer auch immer so dumm war, er hat dich als Teilnehmerin vorgeschlagen.“

Anya streckte ihre flache Brust vor. „Und nun? Willst du mich rausschmeißen?“

„Dieser Fehler würde einen anderen seinen Platz kosten. Sicher siehst du ein, dass das keineswegs fair wäre?“, lautete seine Antwort.

Nein, tat sie nicht. „Quatsch nicht 'rum, du würdest doch alles tun, nur um mir eins auszuwischen!“

Sich dazwischen drängend, sagte Melinda: „Na wenn das so ist, musst du dir den Platz eben verdienen. Indem du dich zum Beispiel gegen jemanden duellierst.“

„Melinda!“

Sofort hielt jene sich ertappt die Hände vor den Mund, hatte sie ihrem Bruder eben unbedacht ein Messer in den Rücken gerammt.

„Kein Problem, ich nehme Claire Rosenburg!“, schlug Anya ohne Umschweife vor. Lautes Gelächter, welches das fein gekleidete Mädchen aufstampfen ließ. „Was!?“

Henry schüttelte den Kopf. „Abgelehnt, dein Platz wird seinem rechtmäßigen Besitzer zugewiesen.“

„Den gibt’s doch gar nicht, wen wollt ihr bei dieser riesigen Liste nehmen!?“ Anya schwang den Arm aus. Sie durfte sich diese Chance, ihrem Traum ein Stück näher zu kommen, auf gar keinen Fall nehmen lassen. „Komm schon, wenn nicht die Weltmeisterin, dann ihr beide. Mit euch werde ich doch locker fertig und würde so beweisen, dass ich die Richtige für euer Turnier bin! Was sagt ihr!?“

Sie richtete sich dabei an die Gäste, traf aber auf gemischte Reaktionen. Einige nickten, andere hingegen sagten frei heraus, dass sie davon nicht viel hielten.

„Abgemacht“, grinste Melinda, „du gegen uns beide? Wenn du -so- gut bist, hast du dir den Platz wirklich verdient!“

Sie wandte sich an die beiden Männer von der Security. „Bitte holen Sie die neuen D-Pads.“

„Melinda, was soll das!?“, zischte Henry. „Du kannst doch nicht einfach-!?“

Seine Schwester aber bestand darauf. „Sie ist immerhin vorgemerkt gewesen, also hat sie diese Chance verdient.“

„... meinetwegen“, ließ der Erbe der AFC sich breitschlagen, „aber nur, weil du es bist.“

Sie fiel ihm um den Hals. „Bist der Beste.“

Sich dann an die aufgewühlte Allgemeinheit wendend, rief sie: „Auch wenn sich einige von euch auf den Schlips getreten fühlen, als Entschädigung bekommt ihr einen Vorgeschmack auf die neuen Pendelmonster! Versprochen!“

Damit konnten einige leben, andere nicht. Eine Wahl hatten sie ohnehin nicht, zum Glück für Anya.

 

So stellten die Drei sich in der Mitte des Saals auf. Anya mit dem Rücken zum Ausgang, den sie wohl oder übel nehmen musste, wenn sie verlor. Henry und Melinda ihr gegenüber. Während sie auf die D-Pads warteten, schielte Anya herüber zur Bühne, die sich hinter den Geschwistern befand.

Claire Rosenburg stand dort, regungslos mit versteinerter Miene. Und als sich die Blicke der beiden kreuzten, begann Anya zu frösteln. Ein Blick aus den grünen Augen, taxierend und erhaben. Als würde eine Göttin auf sie herabsehen. Unheimlich!

Einen Moment später bekamen die Drei ihre D-Pads, die schlicht in Rot daher kamen und sich ansonsten kaum von den alten Modellen unterschieden.

„Dann mal los!“, leitete Anya das Duell ein. Synchron riefen sie: „Duell!“

Die drei D-Pads klappten sich aus. Neben den Monsterkartenzonen befanden sich nun die Slots für die Pendelmonster.

 

[Anya: 4000LP //// Henry: 4000LP Melinda: 4000LP]

 

„Bevor wir anfangen, sollte noch eine Sache geklärt werden“ verkündete Henry und sah sich unter den Gästen beziehungsweise Zuschauern um, damit auch jeder genau zuhörte, „auch die Regeln für Tag-Duelle wurden überarbeitet. Im Gegensatz zu einem Duell einer gegen einen ist es hier die Partei in der Überzahl, die nicht in ihrem ersten Zug ziehen darf. Welcher wie gewohnt erst nach demjenigen stattfindet, der alleine kämpft. Das hat sich nicht geändert.“

Die hübsche Journalistin, die unvermittelt neben Matt auftauchte, hob den Arm. Der Erbe der AFC streckte ihr demonstrativ den seinen entgegen. „Ja?“

„Und wenn beide Gruppen aus zwei Spielern bestehen?“

„In dem Fall setzen alle ihre erste Draw Phase aus. Auch hier bleibt gleich, dass keiner in seinem ersten Zug angreifen darf.“

Derweil schnaubte Anya wütend und hielt die Arme verschränkt. „Ist ja hochinteressant. Können wir endlich anfangen, oder muss ich dir erst ein paar Knochen brechen um zu zeigen, wie ernst mir das ist, Schnöselkind?“

„Wie du willst“, murrte Henry und positionierte sich. Seine Schwester tat es ihm gleich, wobei er noch hinzufügte: „Tu dein Schlimmstes.“

„Kannste Gift drauf nehmen!“

 

Im Anschluss zogen alle drei ihr gewohntes Startblatt von fünf Karten. Und da fing das Drama schon an, denn eine dumme Angewohnheit Anyas war es, dass ihre Aufmerksamkeit bei ihrer Meinung nach uninteressanten Themen schnell abdriftete. Doch im dem Fall hätte sie besser genau zugehört, denn nun wusste sie nicht, ob sie überhaupt ziehen durfte oder nicht. Verwirrt starrte sie dieses neue, rote D-Pad an, welches angenehm leicht, dafür aber grottenhässlich war. Statt rechteckig zu sein, waren die Kanten des flachen Apparats abgerundet.

„Uh …“

„Anya, du darfst ziehen. Die Regel, dass du es nicht darfst, gilt für normale Duelle.“

Sofort erntete Melinda einen bösen Blick von ihrem Bruder, sah er es schließlich gar nicht gerne, dass sie ihr auch noch half.

„Weiß ich doch! Draw!“

Nachdem Anya nun ihre sechs Karten in der Hand hielt, schloss sie aus reinem Trotz aus, sich in Zukunft an diese neuen Regeln zu gewöhnen. Spielfeldzauberkarten waren ihr egal, aber niemand nahm ihr -ihren- ersten Zug-Zug!

„Fein, ich setze dieses Monster. Mach was, Ford, aber mach es schnell!“

In vergrößerter Form materialisierte sich die Karte vor ihr.
 

Henry machte sogleich weiter, allerdings, wie er erklärt hatte, ohne aufzuziehen. Genau wie Anya legte er ein Monster horizontal auf das D-Pad. „Ich setze auch ein Monster, da ich nicht angreifen kann. Melinda, dein Auftritt.“
 

Noch während es vor ihm mit nach oben gerichtetem Kartenrücken auftauchte, legte auch Melinda ohne vorher zu ziehen ein Monster von ihrer Hand mit dem Kartenbild nach unten zeigend auf das D-Pad. Zischend materialisierte es sich vor ihr.

„Soll das'n beschissener Scherz sein oder gibt’s jetzt auch 'ne Regel, die vorschreibt, mir alles nachmachen zu müssen!?“, brüskierte Anya sich gewohnt wenig herzlich.

Melinda zwinkerte verschwörerisch. „Nein, wir sind nur nicht so dumm, dich zu unterschätzen. Aber ganz mache ich dich nicht nach, ich setze nämlich noch eine Karte.“

Jene tauchte hinter ihrem Monster auf. „Du bist wieder dran.“

 

„Draw!“, fauchte Anya aufgewühlt und drehte das Monster auf ihrem D-Pad um, indem sie es mit dem Bild nach oben legte. „Flippbeschwörung, [Gem-Turtle]. Wird die so aufgedeckt, fliegt 'ne [Gem-Knight Fusion] direkt vom Deck in mein Blatt.“

So geschah es, dass ihre holografische Karte um die eigene Achse wirbelte und eine große Schildkröte hervorrief, deren Panzer aus einem einzigen, riesigen Smaragd bestand.

 

Gem-Turtle [ATK/0 DEF/2000 (4)]

 

Bereits kurz nachdem Anya es verkündet hatte, stand eine einzelne Karte aus ihrem Deck hervor, die sie nur noch aufzunehmen brauchte. Zugegeben, diese verbesserte Stimmenerkennung in den neueren Duel Disks und D-Pads hatte sie immer an ihrem alten Battle City-Modell vermisst. Aber niemals würde sie diese gegen eines dieser Teile eintauschen, sobald sie sie erst zurück hatte!

Das Mädchen zückte ihre neue Karte und hielt sie in die Höhe, über ihr entstand ein kunterbunter Wirbel aus den verschiedensten Edelsteinen. „Dann los, Fusionsaction! [Gem-Knight Tourmaline], du bist das Herz, [Gem-Knight Obsidian], du die Rüstung! Vereint euch!“

Ein Ritter in goldener und einer in schwarzer Rüstung wurden in den Sog über dem Mädchen gezogen. Dort entstand ein Lichtblitz und ehe das Geschwisterduo sich versah, landete vor dessen Gegnerin ein anderer Ritter, dessen wehender, schwarzer Umhang einen starken Kontrast zu seiner goldenen Rüstung darstellte. Er schwang zwei Dolche, deren Klingen aus Blitzen bestanden.

„[Gem-Knight Topaz]!“

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

Überraschenderweise tauchte neben dem noch ein Ritter auf, nämlich derjenige, der als erster in den Wirbel gezogen wurde. Von gleicher Farbe, aber ohne Umhang, ließ er zwischen seinen Handflächen regelmäßige Entladungen entstehen.

„Wenn Obsidian von der Hand auf den Friedhof wandert, ruft er von dort ein normales Monster wie Tourmaline aufs Feld! Sofern es unter Stufe 5 liegt, natürlich!“

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Anya war jedoch schon längst dabei, ihre Schildkröte von dem D-Pad zu nehmen. „Macht euch schon mal frisch! Tributbeschwörung! Mein neues Prachtstück, extra für ein ganz spezielles Monster in meinem Deck ausgewählt: [Labradorite Dragon]!“

In dunklen Funken löste sich [Gem-Turtle] daraufhin auf, welche sich zu einem schwarzen Drachen formten, der in seiner lauernden Haltung fast so groß wie Anya war. Seine Haut war besetzt von ovalen, verschieden großen Edelsteinen, die einen grünlichen Schimmer von sich gaben.

 

Labradorite Dragon [ATK/0 DEF/2400 (6)]

 

Mit einem Ruck streckte Anya den Arm in die Höhe. „Labby mag zwar ein normales Monster ohne Angriffspunkte sein, dafür ist er aber ein Empfänger. Und diesen stimme ich jetzt auf Tourmaline ein! Stufe 6 und Stufe 4!“

Plötzlich ließ sie den Arm sinken und guckte einen Moment verdutzt. „... shit, für das Ding habe ich bisher ja gar keinen Spruch.“

Sie schüttelte den Kopf. Egal, dann musste es eben ohne gehen, auch wenn die Verlockung groß war, gerade wo Levrier nicht dazwischenreden konnte. Doch auch wenn einer Anya Bauer nahezu nichts peinlich war, wollte das winzige bisschen Selbstachtung in ihr sich nicht vor diesen ganzen Profiduellanten blamieren. Also rief sie schlichtweg: „Synchro Summon! Level 10, [Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T]! Und er ist nicht nur groß, sondern bekommt für diesen Zug auch noch 500 Angriffspunkte pro Synchromaterial! Erschei- Was!?“

Als der sogenannte Titan vor ihr auftauchte, konnte von groß jedoch gar keine Rede sein. Er sah genauso aus, wie auf der Karte abgebildet: Von hellblauer Farbe, prangte auf der Brust des Robokriegers ein fettes, silbernes T. Sein Helm war mit vier kompliziert ineinander verworrenen Hörnern bespickt, die geradeaus zeigten.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 → 4000 DEF/0 (10)]

 

Aber verdammt, der ging ihr nicht mal bis zum Knie!

„Was soll das!?“, kreischte sie aufgelöst. „Als er gegen Matt gekämpft hat, muss er doch mindestens zehn Meter groß gewesen sein! Du solltest cool sein, kein beschissenes Spielzeug!“

Indes brach Zanthe am Tisch in frenetisches Gelächter aus. Matt schüttelte beschämt den Kopf, teilte Anya mit: „Denk doch mal nach. Der passt hier nicht rein, deswegen ist er … geschrumpft.“

Empört zeigte das Mädchen mit dem Finger auf den Roboter. „Aber so sehr!? Das ist nicht fair!“

„Krieg dich wieder ein“, raunte Henry.

„Krieg dich ein!?“, wiederholte Anya, ihre Lippen bebten. „Ich -stampf'- dich ein! Zauberkarte [Silent Doom]! Die reanimiert 'n normales Monster auf meinem Friedhof im Verteidigungsmodus!“

Unter den Gästen gab es neugieriges Gemurmel von allen Seiten. Wenige achteten auf [Gem-Knight Tourmaline], welcher in kniender Position vor Anya auftauchte.

 

Gem-Knight Tourmaline [ATK/1600 DEF/1800 (4)]

 

Ihr Augenmerk galt viel eher ihrem Heavy T, der zwar harmlos aussah, aber durchaus Interesse weckte. Schließlich kannte keiner dieses Monster, wie konnten sie auch, war er doch eine Hüterkarte und damit einzigartig.

„Und jetzt schicke ich ein Licht-Monster direkt von meinem Deck auf den Friedhof und simuliere damit einen Empfänger! Der Stufe 4-[Alexandrite Dragon]!“ Welchen Anya sofort in den Friedhofsschacht des D-Pads rammte. Dann streckte sie den Arm in die Höhe. „Und Tourmaline, auch Stufe 4! From the light of a different world, the herald of starlight descends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you!“

Dort, wo ihre Finger hinreichten, entstand ein großer, goldener Ring. Ihr Ritter zerplatzte in vier grüne Lichter, die jenes Gebilde durchquerten. Dabei entstand in ihm eine wässrige Oberfläche.

„Oh oh, jetzt ist sie richtig sauer“, gluckste Melinda vergnügt, „was sie wohl diesmal serviert?“

Henry runzelte die Stirn argwöhnisch. Flüsterte: „Noch so eine Karte, die garantiert -nicht- in unseren Datenbanken drin ist.“

Ein greller Lichtblitz schoss durch den Ring. „Synchro Summon! Shine forth, [Angel Wing Dragon]!“

Ein weißer Drachenkopf schoss aus der seltsam schimmernden Oberfläche nach vorne, während aus der anderen Seite sein Schweif heraus schnellte. Von dem Ring selbst begannen sich vier weiße Federschwingen zu strecken. Beide Körperhälften ergaben einen schlangenhaften Drachen, dessen goldenes Kragengestell ihm den Hauch einer Kobra verlieh.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Jemand muss jetzt bestraft werden“, schnaubte Anya und visierte bereits Henry an. Das erstaunte Getuschel der Zuschauer ob ihres Drachen nahm sie gar nicht wahr. „Und da du für diesen Kackmist verantwortlich bist, kriegst du die volle Dröhnung! Heavy T, greif sein Monster an! … wie heißt seine Attacke?“

„Gravity Reverse“, rief Matt ihr gelangweilt zu.

Anya schnippte unter der Erleuchtung unnützen Wissens den Finger. „Genau! Die! Attacke!“

Ihr Spielzeugroboter streckte seine rechte Handfläche aus, in der eine blau strahlende Kugel eingelassen war. Die begann plötzlich Henrys gesetztes Monster anzuziehen, welches aus der Karte hervortrat und sich als grünhaariger Junge in beigefarbenem Umhang samt gelbem Halstuch präsentierte.

„Das ist [Kamui, Hope Of Gusto]! Wenn er-!“

„Falsch, das ist Matschepampe! Sieh hin, Schnöselkind!“

 

Kamui, Hope Of Gusto [ATK/200 DEF/1000 (2)]

 

Henry bemerkte es. „Wie hat er die Position gewechselt!?“

„Na dank Heavy Ts Gravity Reverse! Mit dem kann er bei seinem eigenen Angriff die Position des Monsters ändern! Jetzt gibt’s auf die Fresse!“

Immer stärker wurde der Sog, der den grünhaarigen Burschen anzog, der durch Rückwärtslaufen dagegen ankämpfte. Schließlich verloren seine Füße den Halt unter dem Parkett und er flog direkt auf den Spielzeugroboter zu, welcher mit der Linken ausholte und zuschlug. Eine heftige Schockwelle entstand, die Henry erfasste und auf den Rücken warf. Erschrockenes Raunen hallte durch den Saal.

 

[Anya: 4000LP //// Henry: 4000LP → 200LP Melinda: 4000LP]

 

Vorsichtig richtete er sich unter den verwirrten Ausrufen der Gäste auf und starrte Anya perplex an.

„Wie hat sie das gemacht!?“

„Die Sicherheitseinstellungen sollten so etwas doch verhindern!“

„Was für Monster spielt sie da!?“

Anya klatschte sich gegen die Stirn. „Ups, ganz vergessen, der kann das ja …“

Die Hände beschwichtigend erhoben, erklärte Melinda hektisch: „Sorry Leute, ihr D-Pad muss spinnen. Wir benutzen noch die ersten Prototypen, da kommt so etwas vor, ahaha!“

„Ja“, murmelte Henry und stand wankend auf. „Natürlich doch.“

Heavy T, als wäre es ihm diese Aufregung zu peinlich, verschränkte die Arme vor der Brust.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/4000 DEF/0 (10)]

„Klar, wenn er kämpft, wechselt er danach die Position …“

Für Anya war Heavy T noch Neuland. Entsprechend unbeholfen drehte sie ihn auf ihrem D-Pad in die Horizontale, hatte sie daran gar nicht mehr gedacht.
 

„Interessantes Mädchen. Voller Überraschungen“, flüsterte derweil die hübsche Journalistin Matt zu, gestikulierte dabei mit einem Martiniglas, welches ein Kellner ihr serviert hatte.

Der Schwarzhaarige rümpfte die Nase. „Nicht die Sorte Überraschungen, die man sich wünscht.“

„Oh, das kommt immer auf den Blickwinkel des Betrachters an.“

„Bei Anya gibt’s nur einen, den toten Winkel“, schnarrte Zanthe gewohnt spitzzüngig.

 

„Wir können weitermachen, ist ja nichts passiert“, verkündete Henry, der zur Sicherheit seinen Anzug noch einmal von allen Seiten ansah, „und ich hoffe, dass es auch so bleibt, nachdem wir die Sicherheitseinstellungen -extern- wiederhergestellt haben.“

Jene scharfen Worte waren unmissverständlich für Anya gedacht. Die aber war zu sehr damit beschäftigt, das Monster zu betrachten, das unerhörterweise just in diesem Moment vor ihrem Widersacher erschienen war. „Wo kommt das denn her!?“

Der türkisgrüne Vogel, der mit Brustpanzerung und Stachelhelm aufwartete, flatterte auf Henrys Schulter. Jener sagte dazu: „Das wollte ich dir vor deinem Angriff erklären. Kamui ist ein Flippmonster, das einen Gusto-Empfänger beschwört, wenn es aufgedeckt wird. [Gusto Gulldo].“

 

Gusto Gulldo [ATK/500 DEF/500 (3)]

 

„Was auch immer, du bist eh gleich aus'm Rennen! Topaz, steck' ihm einen deiner Dolche dahin, wo die Sonne niemals scheint! Thunder Strike First!“

Henry hielt entspannt dagegen: „Mach ruhig, greif so oft an wie du willst, aber sei dir im Klaren darüber, dass jedes Gusto-Monster ein anderes an seiner Stelle beschwören kann. Du kommst nicht nochmal an meine Lebenspunkte.“

Schnippisch erwiderte Anya: „Beschwöre -du- doch so viel wie -du- willst. Hast wohl vergessen, dass Topaz deinen Lebenspunkten schaden kann, wenn er ein Monster zerstört. Nämlich für jeden einzelnen Angriffspunkt deines toten Monsters.“

„Oh, ich erinnere mich noch an unser erstes Duell.“ Henry grinste plötzlich. „Damals hatte ich keine Ahnung, dass du so viel Ärger bedeutest. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis und werde deshalb nicht verlieren. Melinda?“

Die nickte wie auf Knopfdruck. „Richtig. Leider muss ich deine Angriffe umlenken, ich aktiviere meine gesetzte Karte [Hippo Carnival]!“

Der Schnellzauber klappte vor ihr auf. Auf ihm waren je ein gelbes, oranges und blaues, übergewichtiges Nilpferd abgebildet, die im Outfit brasilianischer Tänzerinnen den berühmten Karneval nachtanzten. Jene entsprangen aus der Karte und begannen mit ihren gewagten Hüftschwüngen vor Henrys Monster.
 

Hippo-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Anya klappte die Kinnlade hinunter beim Anblick der geschminkten Trampeltiere. „Ihr verarscht mich doch!“

„Nicht doch. Technisch gesehen gehören sie zwar Melinda, aber im Zuge ihrer Beschwörung bist du gezwungen, sie anzugreifen.“ Henry verschränkte die Arme. „Noch Fragen?“

„Ja, eine. Wieso!? Wer hatte die Idee zu diesen Missgeburten!?“ Ohne es zu einer Antwort kommen zu lassen, streckte Anya den Arm aus. „Aber fein, massakrieren wir diese … Dinger! Topaz, Thunder Strike First und Second! Angel Wing, Seraphim Judgment!“

Ihr goldener Ritter schnellte mit gezückten Dolchen auf die Hippos zu, die sich erschraken und umdrehten, hastig weiter die dicken Hinterteile kreisen lassend, als würde dadurch irgendetwas besser werden. Gleichzeitig lud der majestätische Drache über Anya eine weiße Flamme in seinem Maul auf, die er abfeuerte. Um sie kreiste eine kleinere, goldene Spirale. So fielen zwei der fragwürdigen Gestalten Topaz' Dolchen zum Opfer, während die dritte im Bunde geröstet wurde.

Anya runzelte nur verärgert die Stirn. „Ernsthaft, welche Drogen waren da im Spiel …“

Viel wichtiger aber war: Wegen seiner Schwester hatte Anya es nicht geschafft, Henry postwendend aus dem Spiel zu werfen! Dabei hatte sie so gut vorgelegt! Wenigstens konnte Topaz zweimal pro Battle Phase angreifen, sonst wäre jetzt immer noch so ein Etwas auf dem Feld. Äußerst verstimmt verkündete die Blonde im elfenbeinfarbenen Kleid daher: „Meine letzten beiden Handkarten setze ich! Zug beendet!“

Vor ihren Füßen materialisierten sie sich unter einem leisen Zischen. Damit verlor Heavy T auch seinen Angriffsbonus, noch etwas, das Anya nicht mit einkalkuliert hatte. „Bah …“

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/4000 → 3000 DEF/0 (10)]

 

Sofort im Anschluss zog Henry auf, steckte die Karte in sein Blatt und legte dafür eine andere auf sein D-Pad. „Ich beschwöre [Winda, Priestess Of Gusto]! Damit stimme ich [Gusto Gulldo], Stufe 3, auf meine Stufe 2-Winda ein!“

Während der kleine Vogel von seiner Schulter flog, erschien vor Henry ein grünhaariges Mädchen in einem weißen Kleid, über das sie einen beigefarbenen Mantel trug.
 

Winda, Priestess Of Gusto [ATK/1000 DEF/400 (2)]

 

Der brünette Erbe der Abraham Ford Company streckte den Arm in die Höhe. „The feather of hope is blown away by divine winds! A storm embraces the lost valley!“

Anstatt in grüne Lichtringe zu zerspringen, flog der Vogel davon zur Bühne hinter Henry, machte dann eine Kehrtwende und wuchs dabei rapide. Winda sprang aus dem Stand in die Luft und in diesem Moment fegte Gulldo unter ihr hinweg und fing sie auf.

„Synchro Summon! Reverberate, [Daigusto Gulldos]!“

Kurz vor Anya stoppte der riesige Vogel samt Reiterin mit starken Flügelschlägen, sodass Anya eine grimmige Fratze zog im Anblick des Federviehs, dessen Pupillen nun rot waren, genau wie die neuen Stacheln an seinem Brustpanzer.

 

Daigusto Gulldos [ATK/2200 DEF/800 (5)]

 

Henry zeigte die Karten von [Kamui, Hope Of Gusto] und [Winda, Priestess Of Gusto] vor. „Ich aktiviere den Effekt Gulldos'! Dafür, dass ich zwei Gustos von meinem Friedhof ins Deck schicke, darf ich ein offenes Monster zerstören! [Angel Wing Dragon]!“

Das Gespann stieg auf und machte dabei einige Schrauben, ehe es unerwartet hinab stürzte und beinahe auf das Parkett knallte. Panisch flatterte der Vogel, um wieder an Höhe zu gewinnen.

Dessen Besitzer schielte zunächst abwesend an Anya vorbei, bemerkte dann aber, dass eine von Anyas verdeckten Karten aufgeklappt stand. Die erklärte: „Zu dumm, deine Winda ist besoffen. Sie hat aus dem [Forbidden Chalice] getrunken. Das negiert ihren Effekt und macht sie zeitweise um 400 Punkte stärker.“

Und tatsächlich, die grünhaarige Reiterin torkelte auf dem Rücken des Vogels mit einem goldenen Kelch in der Hand.

 

Daigusto Gulldos [ATK/2200 → 2600 DEF/800 (5)]

 

„Na gut, ich habe noch etwas anderes in der Hinterhand. Ich aktiviere die Zauberkarte [Double Summon] und kann mit ihr eine zusätzliche Normalbeschwörung durchführen!“ Henry rammte die Karte in sein D-Pad und legte danach ein Monster hinterher. „Erscheine, [Pilica, Descendant Of Gusto]!“

Das tat sie auch, ein kleines Mädchen in dunkelgrünen Shorts und hellgrünem Mantel. Ihr ebenso grünes Haar war an den Spitzen rötlich eingefärbt. Mit sich führte sie einen Zauberstab aus Holz, in dem ein Vogel eingeritzt war.

 

Pilica, Descendant Of Gusto [ATK/1000 DEF/1500 (3)]

 

Diesen schwang sie einmal zur Seite aus und ehe Anya sich versah, landete auf seiner Spitze der kleine, grüne Vogel Gulldo, völlig aus dem Nichts.

 

Gusto Gulldo [ATK/500 DEF/500 (3)]

 

„Na klasse …“, grummelte die Blonde.

„Für mich ist sie definitiv eine Offenbarung, denn sie reanimiert bei ihrer Beschwörung einen Wind-Empfänger.“ Henry schwang den Arm aus. „Mach dich bereit! Ich stimme den Stufe 3-Gulldo auf meine Stufe 3-Pilica ein!“

Der kleine Vogel hob vom Zauberstab der Zauberin ab und zersprang in drei grüne Lichtringe, die sich wie ein Schleier um Pilica legten, während sie die Arme weit ausstreckte.

„The winds gather to celebrate the descent of the mistress of cardinal directions! Synchro Summon! Walk on air, [Daigusto Sphreez]!“

Die Kleine stieg in die Höhe auf und wuchs dabei, wurde älter. Das Haargummi, welches ihren zu einem Pferdeschwanz gebundenen Schopf zusammen hielt, platze. Grelles Licht ging von Pilica aus, als sie sich schließlich als junge Erwachsene präsentierte, die in der Luft stand, gekleidet in grüner Robe mit schwarzen Stiefeln und einen neuen, dunkleren Zauberstab schwang.

 

Daigusto Sphreez [ATK/2000 DEF/1300 (6)]

 

„Bei ihrer Synchrobeschwörung erhalte ich ein Gusto-Monster von meinem Friedhof“, erklärte Henry und zeigte Pilicas Karte vor. „Damit greife ich deinen Heavy T mit Sphreez an! Calmanize!“

Seine Magierin schwang ihren Zauberstab und schoss eine grüne Energiekugel ab, um welche dutzende Windklingen rotierten.

„Effekt von Angel Wing! Ich mache ihn zum Ziel des Angriffs!“

Der schlangenhafte, weiße Drache schob sich schützend vor den kleinen Roboter und antwortete auf die Attacke mit seinem weißen Flammenstrahl, um den eine goldene Spirale rotierte. Doch statt Sphreez zu erreichen, wurde er von der Sphäre einfach zerteilt. Die schoss geradewegs durch [Angel Wing Dragon] hindurch und traf niemand Geringeres als Anya selbst, die entgeistert zurückwich. „Was zum-!?“

 

[Anya: 4000LP → 3300LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP]

 

Anya musste schon zweimal hinsehen, um zu verstehen was da gerade passiert war. Ihre Lebenspunkte waren gesunken, obwohl Angel Wing Kampfschaden verhinderte? Aber wie war das überhaupt möglich, schließlich waren Sphreez' Punkte gar nicht erst gestiegen!? Und wieso lebte die eigentlich noch!?

„Deinem dummen Gesichtsausdruck nach zu urteilen hast du nicht begriffen, dass Sphreez Kampfschaden, den ich erleiden würde, auf dich zurückwirft.“ Henry lächelte tückisch. „Das gilt für jeden Gusto, solange sie hier ist. Und das wird sie wohl sehr lange sein, denn sie kann nicht durch Kämpfe zerstört werden. Willst du noch eine Kostprobe? Los, Gulldos, greife Heavy T an! Twin Cyclone!“

Der immer noch benommene Riesenvogel stieg in die Luft auf, wobei seine Reiterin beinahe hinab fiel, und löste von seinen Schwingen zwei Wirbelstürme, die ebenfalls in Heavy Ts Richtung davon fegten. Da Angel Wing noch vor jenem verharrte, antwortete er auf Anyas Befehl hin mit seinem Feuerstrahl. „Dummkopf, das kostet dich nur dein Monster!“

Gleichzeitig schwang Sphreez ihren Zauberstab und ließ ein unheimliches Funkeln um die Wirbelstürme erscheinen, die an [Angel Wing Dragon] vorbei sausten und Anya erfassten. Dabei setzte ihr Drache den Angriff dennoch fort und traf Gulldos in der Brust, woraufhin dieser samt Reiterin explodierte.

 

[Anya: 3300LP → 3200LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP]

 

Der brünette, junge Mann streckte die Arme aus. „Wie du siehst, wirst du jetzt jedes Mal Schaden kassieren.“

„Pah, für diese lausigen 100 Punkte hast du dein Monster verschleudert? Idiot!“

„Fängt das jetzt an?“, murrte Henry und zeigte eine Zauberkarte vor. „Wenn ich mich recht entsinne, bin ich mit Duel Monsters wesentlich vertrauter als du. Demnach hatte das durchaus einen Grund! Ich aktiviere [Contact With Gusto]!“

Seine Sphreez hob ihren Zauberstab mit beiden Händen in die Luft. Um ihn begannen Blitze zu schlagen, als Henry Gulldo und Gulldos zurück ins Deck beziehungsweise Extradeck mischte. „Da ich zwei Gustos auf meinem Friedhof brauche, um diese Karte zu aktivieren, musste ich vorher etwas nachhelfen! Mit dieser Karte werde ich Angel Wing nun sofort zerstören!“

Damit schleuderte Sphreez den Blitz auf den Drachen.

„Das kannste sowas von vergessen, der bleibt! Schnellzauberkarte [Forbidden Dress] aktivieren!“ Mit einem Knopfdruck löste Anya die Karte aus, die vor ihr aufsprang. „Sie reduziert Angel Wings Angriffskraft für diesen Zug um 600, macht ihn aber immun gegen zielende Karteneffekte!“

Angel Wing machte große Augen, als zumindest der Teil vor seinem Ring plötzlich in einem nicht passenden, weißen Kleid steckte. Aber das Ganze hatte auch etwas Gutes, denn es absorbierte den elektrischen Angriff Sphreez'.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 → 2100 DEF/2000 (8)]
 

„Hmpf, hartnäckig warst du ja schon immer“, gestand Henry seiner Gegnerin zu und schob seine vorletzte Karte in sein D-Pad. „Ich setze die hier und gebe an Melinda ab.“

Seine Falle tauchte vor den Füßen ihres Besitzers auf.

Anya, die ihrerseits nun nichts mehr in der Backrow hatte, erwiderte barsch: „Damit bekommt Angel Wing seine Punkte wieder zurück!“

Und das Kleid verschwand auch, ganz zur Erleichterung seines Trägers.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2100 → 2700 DEF/2000 (8)]

 

Die hübsche Schwester des jungen Unternehmers zog schwungvoll auf und zeigte ihr schönstes Strahlen. „So Anya, bist du bereit für die neue Pendelbeschwörung?“

„Wenn's sein muss“, zischte die gallig zurück, „kann ja kaum schlimmer sein als das, was Schnöselkind vorhin gezeigt hat!“

„Da täusche dich mal nicht.“ Melinda drehte das Monster auf ihrem D-Pad in die Vertikale. „Erst wechsle ich allerdings [Performapal Sword Fish] in den Angriff!“

Ihre Karte wirbelte um die eigene Achse und ließ einen blauen, langen Fisch hervorspringen, welcher nicht nur mit Sonnenbrille und Fliege daher kam, sondern auch eine Klinge als Kammflosse besaß, die sogar über seinen Kopf hinausragte.
 

Performapal Sword Fish [ATK/600 DEF/600 (2)]

 

„Jetzt geht’s los! Ich aktiviere meine beiden Pendelmonster als Zauber! [Performapal Turn Toad] mit dem Pendelbereich 3 und [Performapal Silver Claw] mit dem Pendelbereich 5! Pendulum Scale Set!“

Links neben ihr tauchte ein kleiner, grüner Frosch in blauem Frack mit Zylinder auf dem Kopf und zu ihrer Rechten ein silbergrauer Wolf auf, der ebenso wie die Amphibie eine rote Fliege mit gelben Punkten um den Hals trug. Unter beiden brachen hellblaue Lichtsäulen aus dem Boden, die sie in die Höhe hievten. Dabei flackerte unterhalb des Frosches eine verzerrte Drei auf, bei seinem vierbeinigen Begleiter eine Fünf.

„Wunderschön“, hauchte eine Zuschauerin, als sich passend dazu der Ballsaal verdunkelte. Auch andere Gäste bestaunten die bisher unbekannte Beschwörungsweise.

 

<3> Melindas Pendelbereich <5>

 

„Und jetzt kann ich so viele Monster von meiner Hand beschwören, deren Stufe im Pendelbereich liegt, ohne dabei einen der Grenzwerte zu berühren!“ Melinda streckte die flache Hand in die Höhe. „Schwinge bis in alle Ewigkeit, Pendulum! Erscheint, meine beiden Stufe 4-Monster! [Performapal Skeeter Skimmer] und [Performapal Whip Snake]!“

Hoch oben, unter der Glaskuppel des Ballsaals zwischen den beiden Pendelmonstern, öffnete sich ein dunkles Loch, das von dutzenden Energieschleifen umgeben war, sodass es wie die Mitte eines Sterns anmutete. Im Hintergrund schwang ein riesiges Pendel aus Kristall. Aus dem Loch zwischen den beiden Monstern schossen zwei rote Blitze und schlugen direkt vor Melinda ein.

Wenig überzeugt von dieser Vorstellung fasste Anya sich an die Stirn.. „'kay? Das ist alles?“

Vor ihrer Gegnerin verharrten eine geflügelter Wasserläufer von der Größe eines Tretboots und eine violette Kobra, die einen Zylinder und mitsamt Fliege trug.

 

Performapal Sword Fish [ATK/600 → 900 DEF/600 (2)]

Performapal Skeeter Skimmer [ATK/500 → 800 DEF/1600 (4)]

Performapal Whip Snake [ATK/1700 → 2000 DEF/1000 (4)]

 

„Du wirst überrascht sein“, kicherte Melinda geheimnisvoll und zwinkerte ihrer Gegnerin zu, „auf dich wartet eine Menge Spaß.“

„Das wage ich zu bezweifeln!“

Anya schnaubte. Wenn sie mit Pippi Langstrumpf dort drüben fertig war, würde die AFC es sich zweimal überlegen, ob sie diese Dinger veröffentlichen wollten oder nicht!

 

 

Turn 56 – Godslayer

Während Anya um ihre Teilnahme am Legacy Cup kämpft, sieht sich andererorts ihre Feindin Kali einer ganz anderen Herausforderung ausgesetzt. Angegriffen von einem völlig unbekannten Wesen, versucht sie standzuhalten, doch …

Turn 56 - Godslayer

Turn 56 – Godslayer

 

 

Während in Ephemeria City ausgelassen gefeiert wurde, stampfte dutzende Kilometer entfernt ein Paar schwarzer Stiefel durch hohes Gras. Das Plätschern eines kleinen Bachs war zu vernehmen, ebenso verschiedene Geräusche wie das Heulen einer Eule, das Rascheln von Blättern, das Zirpen von Grillen. Der Wald schlief nie.

Kali trat an den Lauf des Wassers heran. Selbst im Schutze der Nacht zog sie es vor, in schwarzer Kutte samt weißer Maske aufzutreten, obschon sie nicht damit rechnete, dass jemand sie sehen würde. Es wäre töricht, um diese Uhrzeit noch im Wald unterwegs zu sein, besonders so tief.

 

Die selbsternannte Dämonengöttin sah durch ihre starre Porzellanmaske hinab in das dunkle Wasser. Die Sichel des Mondes wurde regelrecht zerteilt, es sah aus, als tanzten viele kleine Lichter auf der Oberfläche. Verschwanden und tauchten an anderer Stelle wieder auf.

Kali griff nach etwas am Gürtel ihrer Kutte. Nach ihrer Deckbox. Diese vor sich haltend, öffnete sie sie und betrachtete die Karten darin. Bei der Dunkelheit war es nahezu unmöglich etwas zu erkennen, aber die Frau wusste ohnehin, welche Karte oben auflag. Sie herausziehend, befestigte sie ihr übriges Deck wieder an seinem Platz.

„Sayonara“, murmelte sie düster und streckte den Arm mit der Karte in der Hand über den Bach aus. Gerade wollte sie loslassen, da knackte etwas im Gebüsch.

 

Alarmiert wirbelte Kali herum, vergaß kurzerhand ihren Plan, sich jener Karte zu entledigen. Das Geräusch war direkt aus dem Gebüsch ihr gegenüber gekommen, bestenfalls sieben Meter von hier entfernt. Ein Tier? Sie hatte jetzt keinen Nerv für-

 

Es passierte so schnell, dass es sie – hätte sie schlechtere Reflexe gehabt – den Kopf gekostet hätte. Aus dem Nichts war -es- direkt vor ihr erschienen, hatte mit seinem unmenschlich langen Schwert nach ihr geschlagen. Nur indem sie sich im allerletzten Moment weggeduckt hatte, war sie dem sicheren Tod entkommen. Den nächsten Hieb konnte sie mit der inaktiven V-Duel Disk an ihrem Arm blocken.

Sprachlos stand sie diesem Ding gegenüber. Eine hässliche, weiße Fratze, mit roten Markierungen im Gesicht, die der Farbe seiner Augen entsprachen. Vom ziemlich spät beginnenden Haaransatz streckte sich eine Mähne, die fast bis zum Boden reichte. Fast wie etwas aus dem japanischen Kabuki-Theater.

„Ein Dämon!?“, keuchte sie.

Jener riss sein langes Katana von ihr fort, doch statt einen erneuten Angriff zu starten, schob er dieses in die Scheide an seiner Hüfte.

Kali wich zurück, wobei sie am Rande des Bachs angelangte. „Was bist du!?“
 

Auch ihr Gegenüber nahm einige Schritte rückwärts, doch statt dabei eine Antwort zu geben, hob es den Arm. Und ließ eine grell leuchtende, rote Energie-Duel Disk ausfahren.

„Was …?“

Kali starrte gebannt auf die Duel Disk. Durch das Licht konnte sie jetzt die ebenfalls mit rötlichen Mustern versehene, schwarze Stoffhose ihres Angreifers erkennen. Die zu einem dunklen Kimono gehörte, den das Wesen trug. Seine Züge waren starr und das Licht spiegelte sich in ihnen wieder, sodass ihr bewusst wurde, dass es wie sie eine Maske trug.

War es also menschlich? Nein … dazu war die Luft zu sehr erfüllt mit einer förmlich greifbaren Spannung. Etwas, das Kali noch nie zuvor gefühlt hatte und das, obwohl es bei weitem nicht der erste Dämon war, dem sie gegenüber stand. Nämlich nichts. Es war die Umgebung, die das ausglich, an was es diesem Wesen mangelte.

Unweigerlich erinnerte sich Kali an die Worte ihrer Lehrerin. Etwas, dessen Präsenz man spürt ist harmlos im Vergleich zu dem, dessen Präsenz einem verborgen bleibt. Denn das Unsichtbare vermag außerhalb des eigenen Wahrnehmungsbereichs liegen …

 

Geduldig wartete der Dämon auf eine Reaktion.

„Du forderst mich heraus, nachdem du mich beinahe umgebracht hast!?“ Kali streckte schließlich den Arm nach vorne und ließ ihre Duel Disk zu einem langen V ausfahren. „Was immer der Sinn dahinter ist, meinetwegen. Duellieren wir uns!“

Sie war sich nicht sicher. War dieses Wesen darauf aus, sie zu töten? Nein … das hätte es längst getan. So ungern sie es sich auch eingestand, gegen so ein Schwert hätte sie auf Dauer nicht bestehen können. Und wer oder was immer auch dort drüben stand, er wusste dies ebenso gut wie sie.

„Ich werde nicht wegrennen!“, stellte Kali angriffslustig klar. Ihr Gegenüber reagierte nicht.

 

[Kali: 4000LP / ???: 4000LP]

 

Kaum hatte der unbekannte Dämon sechs Karten gezogen, legte er eine davon auf seine Energie-Duel Disk. Und sprach in diesem Sinne auch zum ersten Mal. „Monster-Set. End Phase.“

Kali verkrampfte. Die Stimme passte perfekt zum Erscheinungsbild jenes Wesens, war sie verzerrt und unmenschlich, keinem Geschlecht zuzuordnen.

Abgelenkt von jenem mechanischen Klang, achtete sie kaum darauf, dass sich eine horizontal verdeckt liegende Karte vor ihrem Gegner manifestierte.

 

„Also kannst du sogar sprechen! Gut für dich!“ Ungestüm griff die Kuttenträgerin nach ihrem Deck und zog voller Schwung die oberste Karte. Den Arm mit der V-Duel Disk vor sich ausstreckend, rief sie: „Normalbeschwörung, ich rufe [Celestial Gear – Synthetic Owl] im Angriffsmodus!“

Deren Karte auf die mittlere Monsterkartenzone schmetternd, ließ Kali über sich ein komplexes Muster aus leuchtenden Kugeln erscheinen. Jene verbanden sich via Lichtstrahlen miteinander und zeichneten den Umriss einer metergroßen, mechanischen Eule. Die sich ständig bewegenden Zahnräder in ihrem Inneren konnte man gut durch die durchsichtige, braune Energiehülle sehen, die den Vogel umgab.

 

Celestial Gear – Synthetic Owl [ATK/1000 DEF/1100 (4)]

 

Kali streckte den Arm aus. „Einmal, solange ich Owl kontrolliere, kann ich zusätzlich zu meiner regulären Normalbeschwörung ein weiteres Celestial Gear als solche von meiner Hand rufen. Erscheine, [Celestial Gear – Synthetic Albatross]!“

Noch mehr Lichtsphären erschienen über Kali und zeichneten zusammen die Umrisse eines riesigen Mechavogels mit gebogenem Schnabel, der seine Schwingen spreizte. Sein Inneres wurde von einem rötlichen Feld zusammengehalten.

 

Celestial Gear – Synthetic Albatross [ATK/500 DEF/0 (4)]

 

Mit einem hochmütigen Schnauben ließ Kali ihre Hand nach oben fahren. „Und jetzt pass mal gut auf! Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Es öffnete sich ein Schwarzes Loch auf Kalis Spielfeldseite. Ihre zwei Monster wurden als gelbe Lichtstrahlen davon absorbiert und färbten das Phänomen golden.

„Nun wirst du es sehen!“, versprach die Dämonengöttin finster.

Aus dem Wirbel heraus trat nicht etwa ein Monster, sondern vier grün leuchtende Sphären. Um den Strom legten sich vier grüne Lichtringe. Nicht die geringste Reaktion von ihrem Gegner, trotz des ungewöhnlichen Verlaufs der Dinge.

„Sieh hin“, schrie Kali zornig, „Incarnation Fork Summon! Ich stimme die für die Xyz-Beschwörung genutzten Materialien aufeinander ein! White light creates the path to supremacy! Divine arises! Xyz-Summon, Herald of Salvation, [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale]! Synchro Summon, Herald of Damnation, [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk]! Arise!“

Ein greller Blitz schoss durch den bunten Strom und ging durch die Sphären hindurch. Eine Explosion aus dem Overlay Network folgte, die drohte, die umstehenden Bäume zu entwurzeln.

Zwei Mechavögel stiegen empor, beide mit einem weißen Brustpanzer geschützt, wodurch der Blick ins Innere deutlich eingeschränkter war als bei ihren Artgenossen.

Der linke Vogel war von schlanker Figur. Eine violette Aura umhüllte ihn, wie er seine weiten Schwingen von sich spreizte, um jede von ihnen eine Lichtkugel kreisend. Der andere war wesentlich größer und kräftiger, verschleiert von orangefarbener Präsenz und erzeugte mit seinem beständigen Flügelschlag jedes Mal kleine Druckwellen, die Staub aufwirbelten.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale [ATK/2400 DEF/2600 {4} OLU: 2]

Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk [ATK/2600 DEF/2400 (8)]

 

„Mal sehen, was du so drauf hast!“, spottete Kali und hob den Arm an. „Ich hab nämlich verdammt schlechte Laune!“

 

~-~-~

 

Das wilde Getuschel der anderen Gäste machte Anya nervös. Der ganze Ballsaal war voll von diesen lästernden Biestern und es erschien ihr, als wären all deren Blicke auf sie gerichtet. Niemand von denen wollte, dass sie am Legacy Cup teilnahm! Aber diesen Mistmaden würde sie zeigen, dass es um sie kein Drumherum gab!

Ihr gegenüber standen Henry und Melinda, mit deren Niedergang sich die Sache entscheiden würde.

Letztere hatte zum ersten Mal die neue Beschwörungsart vorgestellt: Die Pendelbeschwörung. In zwei blau leuchtenden Säulen standen weit über ihr ein kleiner, grüner Frosch und ein Wolf in der Luft, beide mit gelb gepunkteter, roter Fliege am Hals.

Gleich zwei Monster auf einmal hatte die Frau im blauen Abendkleid durch diese neue Technik beschworen, drehte nun einen ihrer beiden, roten Pferdeschwänze verspielt um den Finger. Sie kontrollierte einen Fisch mit Schwertkamm, einen bootsgroßen Wasserläufer und eine violette Kobra, allesamt mit derselben Fliege am Hals. Ihr Blatt fasste immerhin noch eine Karte.

 

<3> Melindas Pendelbereich <5>

 

Performapal Sword Fish [ATK/900 DEF/600 (2)]

Performapal Skeeter Skimmer [ATK/800 DEF/1600 (4)]

Performapal Whip Snake [ATK/2000 DEF/1000 (4)]

 

Anyas Blick schwenkte herüber zu Henry, bei dem eine verdeckte Karte auf dem Feld lag. Und natürlich die Windzauberin Sphreez, die Melinda nicht ganz unähnlich sah, auch wenn ihre grünen Haare nur an den Spitzen rötlich gefärbt waren. Wie seine Schwester, hielt auch er eine Karte auf der Hand und Anya wusste auch genau, welche das war: [Pilica, Descendant Of Gusto], welche er durch Sphreez vom Friedhof erhalten hatte.

 

Daigusto Sphreez [ATK/2000 DEF/1300 (6)]

 

Und sie selbst? Sie hatte das beste Feld, wenn auch im Gegensatz dazu keine Handkarte. Über ihr flog Angel Wing, zu ihrer Rechten stand der Miniroboter Heavy T mit über der Brust gekreuzten Armen – verflucht sei er – und neben ihm lauerte noch [Gem-Knight Topaz].

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 DEF/0 (10)]

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 DEF/1800 (6)]

 

Auch was die Lebenspunkte anging, war es diesmal nicht die Blonde, die langsam den sagenumwobenen 'Kick' spürte – zumindest bis jetzt noch nicht. Anya war mehr als zufrieden damit, Henry schon so früh in eine derart brenzlige Situation gebracht zu haben. Der nächste Treffer war unweigerlich sein Ende. Und Anya würde dieses herbeiführen, koste es, was es wolle. Sie schmeckte die Genugtuung bereits förmlich auf ihrer Zunge.

 

[Anya: 3200LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP]

 

In ihrem elfenbeinfarbenen, nach hinten bis zum Boden reichenden Kleid steckend, verschränkte das Mädchen die Arme. „Nun, diese Pendelbeschwörung eben war erstaunlich … lahm.“

Henry, ganz in Weiß, schnalzte mit der Zunge. „Weil du nicht begreifst, welche Tore sie öffnet.“

Einige der Gäste stimmten ihm lauthals zu. Selbst jetzt war das Staunen um die Beschwörung nicht verstummt, einige bewunderten noch immer die blauen Lichtsäulen zu jeder von Melindas Seiten, welche Turn Toad und Silver Claw empor gehoben hatten.

„Ach ja!? 'Woohoo, ich habe gerade zwei Monster auf einmal beschworen, fallt vor mir auf die Knie!' Weil das ja auch nicht jedes zweite Deck kann! Hmpf!“ Das Mädchen rümpfte die Nase.

Belehrend hob Melinda den Zeigefinger. „Weißt du, Pendelmonster haben viele Vorteile. Sie können als Monster oder Zauberkarten gespielt werden und haben als Letztere in der Regel auch Effekte. Wie du siehst, verstärkt Silver Claw alle Performapals um 300 Punkte.“

Passend dazu heulte jener über Melinda stolz auf. „Aber auch dass sie viele Monster auf einmal rufen können ist ein Vorteil, denn ältere Themen ohne diese Möglichkeiten werden genauso davon profitieren, genauso wie zukünftige. Ich könnte jetzt zum Beispiel ein Xyz-Monster beschwören.“

Sie hätte jedoch genauso gut gegen eine Wand reden können, denn Anya erwiderte stur: „Das können Summers, der Flohzirkus, Marc und Nick, pft, sogar Redfield auch ohne diesen Shit!“

„Gib es auf Melinda“, wandte sich Henry an seine Schwester.

„Wie wollen wir sie denn-!?“ Die junge Frau seufzte mit erhobenen Armen, die sie letztlich kraftlos sinken ließ. „Schon gut. Das kommt sicher noch. Also schön, weiter im Text! Die Pendelbeschwörung hat in diesem Moment noch einen Vorteil: [Performapal Sword Fishs] Effekt! Denn der kann jetzt alle deine Monster schwächen, da ich spezialbeschworen habe!“

Schlagartig vervielfachte sich der Fisch. Die Kopien schossen auf Anyas Spielfeldseite zu und verwandelten sich in echte Schwerter, die überall rund um ihre drei Monster einschlugen und im Boden stecken blieben.

 

Gem-Knight Topaz [ATK/1800 → 1200 DEF/1800 → 1200 (6)]

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/3000 → 2400 DEF/0 → 0 (10)]

Angel Wing Dragon [ATK/2700 → 2100 DEF/2000 → 1400 (8)]
 

„Kch!“ Anya winkte ab. „Dafür brauche ich auch keine Pendel!“

„Aber ich! Und auch Turn Toad kann mit den Werten anderer Monster spielen! Ich vertausche Skeeter Skimmers aktuelle Punkte!“

Der kleine Frosch stieß ein kehliges Quaken aus, wodurch der Wasserkäfer wild mit den Flügeln zu schlagen anfing. Auch begann sein langes Stechwerkzeug undeutlich zu glimmen.

 

Performapal Skeeter Skimmer [ATK/800 → 1600 DEF/1600 → 800 (4)]

 

„Dasselbe kann auch Whip Snake, aber diesmal mit deinem Angel Wing! Sorry!“, kicherte Melinda vergnügt. Die echte Kobra wickelte sich im Anschluss um den viel größeren Look-a-like und biss diesem frech in den Nacken, ehe sie wieder zu Melinda zurückkehrte.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2100 → 1400 DEF/1400 → 2100 (8)]

 

Mit einem verheißungsvollen Schmunzeln streckte Melinda den Zeigefinger aus. „Jetzt ist es Zeit für ein wenig Action! Skeeter Skimmer, pieks' den bösen Drachen!“

Das Insekt flog voraus. Als Gegenantwort spie [Angel Wing Dragon] seinen verhängnisvollen, weißen Spiral-Odem, doch jenem wurde ausgewichen. Nach dem Kobrabiss wurde der weiße Drache nun auch noch in den Hals gestochen. Was zur Folge hatte, dass er explodierte. Etwas, das Anya ihm am liebsten gleichgetan hätte. „Hrgh, kein Kampfschaden wenn Angel Wing kämpft!“

„Umso länger dauert das Duell, ist doch auch toll“, strahlte Melinda und richtete ihren Finger auf Heavy T, „der ist der nächste, Sword Fish!“

„Das kannst du aber mal voll vergessen!“ Anya schwang ihren Arm aus. „Effekt Heavy Ts! Ich kann ein Monster opfern und ihn in Angriffsposition bringen, was ihn gleichzeitig für den restlichen Zug immun gegen Monstereffekte macht. Leider darfst du im Gegenzug ziehen.“

[Gem-Knight Topaz] löste sich in blitzenden Funken auf. Der Roboter nahm seine Arme von der Brust, damit das T in jener sie absorbieren konnte. Um ihn begann eine helle Aura zu glühen.

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/2400 DEF/0 (10)]
 

„Warum hat sie das nicht gemacht, bevor der Fisch seinen Effekt benutzt hat?“, fragte Zanthe leise, der zusammen mit Matt und der in Rot gekleideten Journalistin an einem der vielen im Saal verteilten Cocktailtischen stand.

Jener zuckte mit den Schultern. „Es ist Anya, schon vergessen? Zumal sie Heavy T kaum kennt.“

„Oh man, so wird sie doch nie Duel Queen, wenn sie sich nicht mal die Texte durchliest …“

Melinda zog auf und hielt ihre Arme anschließend über Kreuz. „Replay! Angriff abbrechen! Stop!“

„Greif mit Whip Snake an“, sagte Henry und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Vertrau mir.“

„Teamwork!“, jubelte Melinda und streckte beide Arme nach vorne aus, „Du hast es gehört, los!“

Sofort flog die violette Schlange auf Anyas einzig verbliebenes Monster zu. Die zischte gallig: „Mit euch werde ich trotzdem fertig!“

„Dein Spielzeug da aber nicht“, konterte Henry eisig, „Falle aktivieren, [Miniaturize]! Sie schwächt es um 1000 Angriffspunkte und eine Stufe!“

Anya klappte die Kinnlade herunter, als ihr Heavy T noch weiter schrumpfte und kaum mehr größer als ein Legomännchen war …

 

Gravity Impulse Titanium Guardian – Heavy T [ATK/2400 → 1400 DEF/0 (10 → 9)]

 

… und mit einem Happs verschlungen wurde. Man konnte mitverfolgen, wie er seinen Weg durch den Magen der Kobra fand. Die, geradezu höhnisch, Anya noch eins mit ihrem Schweif verpasste.

 

[Anya: 3200LP → 2600LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP]

 

Diese lief rot an. Besorgnis erregend rot, denn dieses Terrorteam raubte ihr den letzten Nerv.

„Da ich dank meiner Pendelbeschwörung noch gar nicht normalbeschwören brauchte, hole ich das jetzt nach. Ich biete Sword Fish als Tribut an und setze ein Monster.“

Der blaue Fisch löste sich auf und wurde durch einen nach oben gerichteten Kartenrand ersetzt. Melinda verkündete: „Damit werden Skeeter Skimmers Werte wieder normal.“

 

Performapal Skeeter Skimmer [ATK/1600 → 800 DEF/800 → 1600 (4)]

 

Unerwartet richtete Anya den Arm nach oben. „Und Angel Wing kehrt zurück, indem ich die Stufe 4-Monster [Gem-Turtle] und [Alexandrite Dragon] von meinem Friedhof verbanne!“

Über ihr erschien der goldene Ring, der sich drehte, dann seine Flügel ausspannte und schließlich den weißen Drachen zum Vorschein brachte. Anya entsorgte die Monster durch einen Schlitz unter dem Friedhof, den ihre alte Duel Disk nicht besaß.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

„Ich werde euch sowas von vernichten!“, fauchte Anya und griff nach ihrem Deck. „Draw!“

Sofort im Anschluss knallte sie das Monster auf ihr D-Pad. „Erscheine, [Gem-Knight Turquoise]! Dazu aktiviere ich [Gem-Knight Fusions] Effekt auf meinem Friedhof und verbanne Tourmaline, um sie auf die Hand zu bekommen!“

Ein türkisfarbener Ritter mit entsprechenden Edelsteinen an seiner Rüstung erschien vor ihr und spannte seinen Bogen.
 

Gem-Knight Turquoise [ATK/1400 DEF/2000 (4)]
 

Doch statt [Gem-Knight Fusion] aufzunehmen, erklärte sie: „Da ich sie aber jetzt abwerfe, um meinen verbannten Tourmaline zurückzurufen, kann sie gleich dort bleiben. Und noch was: Ich führe gleich mit beiden eine Xyz-Beschwörung durch!“

Es tat sich ein Galaxienwirbel inmitten von Anyas Spielfeldseite auf. Kaum erschien der goldene Ritter vor ihr, wurde er zusammen mit seinem Kumpan zu einem braunen Lichtstrahl, der von dem Schwarzen Loch absorbieren ließ. Anya verkündete feierlich. „Los, Lev … oh.“

Der lag ja im Hotelzimmer! Einen kurzen Moment aus dem Konzept gebracht, schüttelte sie den Kopf. „Los, [Kachi Kochi Dragon]!“

Aus dem Overlay Network stieg ein Drache auf, ganz aus silbernem Kristall bestehend. Um ihn kreisten seine beiden Xyz-Materialien.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 DEF/1300 {4} OLU: 2]

 

Anya überlegte kurz. Das Pennerkind anzugreifen war keine gute Idee, da bekam sie nur selbst auf die Mütze. Irgendwie würde sie sein dämliches Synchromonster loswe- oh wieso hatte sie daran nicht gleich gedacht!? Sie hatte doch [Gem-Knight Prismaura] für solche Jobs. Jetzt war es zu spät, seine Fusionsmaterialien lagen unter [Kachi Kochi Dragon] als Overlay Units!

Anya schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Heute war echt der Wurm drin!

Egal, dafür würde seine Schwester gleich ihre dämlichen Pendel einpacken können. „Los-!“

„Halt! Effekt der [Performapal Whip Snake]! Sie kann auch im Gegnerzug Werte vertauschen!“

Das letzte Wort war noch gar nicht gesprochen, da hing die Kobra schon am weißen Drachen wie ein Blutegel und biss ihm in den Hals.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 → 2000 DEF/2000 → 2700 (8)]

 

„Trotzdem greift [Kachi Kochi Dragon] jetzt deine beschissene Riesenmücke, Wasserläufer oder was auch immer an! Primo Sciopero!“

Der Drache vor Anya visierte das Insekt an und begann, nach ihm zu schlagen. Flink wie es jedoch war, wich es erst einem Hieb mit der Pranke aus, dann dem nächsten. [Kachi Kochi Dragon] verfolgte sein Ziel eine Weile, flog ihm quer durch den ganzen Saal hinterher, versagte dennoch kläglich.

Melinda grinste keck: „Dein Drache braucht dringend ein Insektenspray. Ansonsten kommt er an [Performapal Skeeter Skimmer] nicht vorbei, denn es kann den Angriff einfach negieren und die Position wechseln.“

Beide Monster kehrten zu ihren Besitzern zurück, wobei rote Äderchen aus Anyas Augäpfeln traten.

 

Performapal Skeeter Skimmer [ATK/800 DEF/1600 (4)]
 

„Kann … nicht … zweimal … angreifen …!“ Womit sie den Effekt ihres Drachen meinte, der nur dann funktionierte, wenn er ein Monster im Kampf zerstörte. Fuchsteufelswild zeigte sie auf den Wasserläufer. „Scheiß auf Insektenspray, brenn' es nieder, Angel Wing! Seraphim Judgment!“

Ihr anderer Drache spie seinen weißen Odem, den eine goldene Flammenspirale umkreiste. Da Skeeter Skimmer seinen Effekt nicht zweimal aktivieren konnte, zerfiel es augenblicklich zu Asche.

Verdammt, sie hätte Melinda besiegen können! „Zug beendet!“

 

Angel Wing Dragon [ATK/2000 → 2700 DEF/2700 → 2000 (8)]

 

„Ich bin am Zug!“, verkündete Henry und zog auf. Die Karte eine ganze Weile betrachtend, blickte er schließlich herüber zu Melinda. Die nickte ihm geheimnisvoll zu, woraufhin er es ihr gleichtat. Dabei verfinsterte sich sein Blick jedoch, als er ein Monster auf sein D-Pad legte. „Erscheine, [Pilica, Descendant Of Gusto]. Da kein Gusto-Empfänger mehr auf meinem Friedhof liegt, kann sie folglich auch keinen beschwören.“

Den Holzstab mit der Vogelfigur an der Spitze schwingend, tauchte vor ihm ein grünhaariges, kleines Mädchen auf.

 

Pilica, Descendant Of Gusto [ATK/1000 DEF/1500 (3)]

 

„Greift beide [Angel Wing Dragon] an“, befahl er erstaunlich desinteressiert, „den Kampfschaden kassierst dank Sphreez' Effekt du. Double Calmanize!“

Sowohl die ältere Version, Sphreez, als auch die junge Pilica erschufen mit ihren Zauberstäben zwei grüne Energiekugeln, um die mehrere Klingen aus purem Wind kreisten. Synchron schleuderten sie diese auf Anyas weißen Drachen, der mit seinem Flammenangriff konterte. Auf dem Weg trafen die beiden Sphären aufeinander, verschmolzen zu einer und zerteilten Angel Wings Odem wie Butter. Pilica wurde dabei von einem Blindschläger der goldenen Spirale getroffen und explodierte, aber Anya war die wirkliche Leidtragende. Sie wurde von der riesigen Kugel erfasst und wäre sicherlich in ihren Sog geraten, hätte es sich nicht um ein Hologramm gehandelt. Doch so glitt jene durch sie hindurch.

 

[Anya: 2600LP → 900LP → 200LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP]

 

„Melinda …“, gab Henry träge ab.

„Ist gebongt! Draw!“, rief die erwartungsvoll und zog.

 

Matt lehnte mit dem Ellbogen gegen den kleinen Tisch und seufzte. „Irgendwie wird’s immer schwerer, zwischen Show und Realität zu unterscheiden.“

„Was meinst du?“, fragte Zanthe.

„Henry hätte gerade gewinnen können. Wären durch [Performapal Whip Snakes] Effekt die Werte von [Daigusto Sphreez] vertauscht worden, hätte Anya zu viel Schaden eingesteckt.“

Der Werwolf gab ein nachdenkliches Geräusch von sich.

„Ich glaube nicht, dass Melinda es einfach nur vergessen hat“, überlegte Matt weiter, „bisher hat sie sich sehr geschickt mit diesen Monstern angestellt. Eher …“

Zanthe zog erstaunt die Augenbraue hoch. „Eher was?“

„Eher scheint es so, als würden sie absichtlich verlieren wollen. Oder zumindest einer der beiden“, mischte sich die blonde Journalistin an ihrem Tisch ein.

Allerdings schüttelte Matt den Kopf, als er zu ihr herüber blickte. „Nein, das glaube ich nicht. Nicht Henry. Eher will er das Duell in die Länge ziehen, damit Melinda die Pendelmonstern in ein besseres Licht rücken kann. Wenn er die Leute überzeugen will, muss da mehr kommen.“

Die Journalistin nippte kurz an dem Martini in ihrer Hand, dabei besonders Anya interessiert im Blick behaltend. „Möglich.“

 

„Ohhhh, ausgerechnet jetzt“, quengelte Melinda enttäuscht von ihrer Karte, sah dann aber entschlossen auf, „aber was soll's. Flippbeschwörung, [Performapal Kaleidoscorp]!“

Die gesetzt liegende Karte wirbelte um und offenbarte einen purpurnen Skorpion, mit zwei pinken Schilden bestückt, der nicht etwa einen Stachel, sondern einen himmelblauen Schweif aus drei zylindrischen Komponenten besaß.

Seine Besitzerin rief: „Und Turn Toad wechselt mal gleich seine Werte!“

Der Frosch in der blauen Lichtsäule links über ihr begann ein Lied aus Gequake anzustimmen.

 

Performapal Kaleidoscorp [ATK/100 → 2300 → 2600 DEF/2300 → 100 (6) PSC <4 /4>]

 

„Und wie immer der Effekt meiner Whip Snake auf deinen [Angel Wing Dragon]!“, flötete Melinda und zeigte auf diesen. „Mehr noch, Effekt von Kaleidoscorp hinterher! Er kann ein Monster bestimmen, das in diesem Zug alle spezialbeschworenen Gegner angreifen kann.“

Da der fast menschenhohe Skorpion selbst bunt aufleuchtete, hatte sie offensichtlich ihn dafür bestimmt. Derweil wurde Angel Wing nun schon zum dritten Mal gebissen.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 → 2000 DEF/2000 → 2700 (8)]

 

„Attacke auf Angel Wing!“, rief Melinda mit ihrem wie stets ausgestreckten Zeigefinger.

Der letzte Zylinder am Schweif ihres Monsters öffnete sich und schoss einen kunterbunten Energiestrahl ab, welcher den Drachen traf und ebenfalls in verschiedensten Farben auflöste.

„Pah! Ich bekomme keinen Kampfschaden, wenn [Angel Wing Dragon] kämpft!“

„Aber wenn [Kachi Kochi Dragon] dran ist, schon! Mach weiter, Kaleidoscorp!“

Unvermittelt huschte ein böses Grinsen über Anyas Lippen. „Da wäre ich mir nicht so sicher …“

Ihr Kristalldrache hatte sich zwischenzeitlich vor Anya im Untergrund verborgen und nur sein Kopf ragte aus dem Parkett. Als dieser ebenfalls von dem bunten Lichtstrahl erfasst wurde, öffnete er sein Maul und schoss einen Pfeil daraus ab.

 

Kachi Kochi Dragon [ATK/2100 → 4200 DEF/1300 {4} OLU: 2 → 0]

 

In seinem Flug zog er beide Xyz-Materialien hinter sich her und absorbierte diese, zerteilte gleichzeitig den Lichtstrahl und traf direkt in den Schweif des Skorpions, welcher daraufhin explodierte.

 

[Anya: 200LP //// Henry: 200LP Melinda: 4000LP → 2400LP]

 

„Whoops! Da ist wohl was schief gegangen“, staunte Melinda nicht schlecht.

„Und ob es das ist! [Gem-Knight Turquoise] ist ein Xyz-Material gewesen, was heißt, dass ich ihn und einen anderen Gem-Knight abhängen kann, um Kachi Kochis Angriffswert zeitweilig zu verdoppeln!“, schrie Anya förmlich. „Das war's dann wohl- huh!?“

Ein rotes Licht drang vor Melinda aus dem Parkett und schoss in die Luft. Zwischen ihrem Frosch und [Performapal Silver Claw] öffnete sich ein von unzähligen blauen Ellipsen eingeschlossenes Portal und nahm den Strahl in sich auf.

„Kann mir einer sagen, was das jetzt war!?“

„Ganz einfach“, reagierte Henry gelassen, „Pendelmonster werden auf das Extradeck gelegt, wenn sie vom Spielfeld auf den Friedhof geschickt werden würden.“

Altklug hob seine Schwester den Zeigefinger. „Das ist vielleicht der größte Vorteil der Pendel, denn sie können von dort ebenfalls als Pendelbeschwörung gerufen werden. So kommen sie wieder und wieder!“

„Was auch immer.“ Anya bohrte sich gelangweilt mit dem kleinen Finger im Ohr. „Ich denke du bist durch, denn deine falsche Schlange kommt nicht über meinen Drachen drüber.“

„Da hast du leider Recht, du bist dran.“

„Dann verbanne ich jetzt zwei Stufe 4-Monster und reanimiere Angel Wing!“ Zur Verdeutlichung zeigte Anya die Gem-Knights Turquoise und Tourmaline vor. Es materialisierte sich über ihr ein goldener Ring, von dem sich vier weiße Schwingen spreizten.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

Kachi Kochi Dragon [ATK/4200 → 2100 DEF/1300 {4} OLU: 0]

 

Und während ihr weißer, schlangenhafter Drache zurück aufs Spielfeld fand, verkündete sie in einem abwertenden Tonfall: „Eure Pendel sind doch bescheuert! Kann ja sein, dass du sie beschwören kannst, aber hast du mal die Stufe deines Skorpions angeschaut? Die ist nämlich 6, also liegt sie nicht mehr zwischen den beiden Pendelbereichen!“

„Ahahaha, da hast du allerdings auch Recht“, gestand Melinda verlegen ein und zuckte mit den Schultern. „Aber die Idee der Pendel ist doch nicht schlecht, oder?“

Nie hatten Anyas herabhängende Mundwinkel so sehr 'nein' geschrien wie jetzt. Aber sie war nicht die einzige, verfielen viele der anwesenden Gäste in zustimmendes Gemurmel. Melinda warf daraufhin Henry einen geheimnisvollen Blick aus den Augenwinkeln zu, welcher das mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.

 

Am Tisch gluckste Zanthe derweil belustigt. „Also hat sie sogar zugehört. Es gibt doch noch Wunder.“

„Vielleicht hat ihr Levrier geholfen“, überlegte Matt und sah neugierig herüber zu der blonden Frau an ihrem Tisch, die abwesend etwas in ihr Smartphone eintippte. Um ins Gespräch zu kommen, fragte er: „Ich dachte, hier herrscht striktes Verbot für Netzwerk-fähige Geräte?“

Sie sah auf und lächelte schelmisch. „Ich breche gerne hin und wieder ein paar Regeln.“

„Alles für eine gute Story, was?“

Auf seine Spitze hin wurde ihr Grinsen regelrecht diebisch. „So ist das in meinem Gewerbe.“

 

Anya legte ihre Finger aufs Deck und schloss die Augen. Sie hatte sich einen kleinen Sieg erkämpft gegen die beiden, aber wenn sie jetzt nichts Brauchbares zog, würde Henry sie mit seinem nächsten Angriff besiegen. Damit wäre ihr die größte Chance genommen, gegen Claire Rosenburg zu kämpfen, ihres Zeichens die nächste Hüterin.

Die junge Frau warf einen Blick herüber zur amtierenden Weltmeisterin, die seit Henrys Rede zusammen mit ihrem rothaarigen, bärtigen Manager auf der Bühne im hinteren Teil des Saals stand und mit teilnahmslosem Ausdruck das Duell verfolgte. Da wollte sie stehen, sagte sich Anya. Genau da, wo Claire jetzt stand.

Ihren Blick auf Henry richtend, murmelte sie: „Jetzt geht’s ums Ganze, Schnöselkind, also mach dich schon mal frisch. Draw!“

Mit mächtig Schwung zog sie von ihrem Deck. Selbst wenn Levrier jetzt hier wäre, hätte sie ihn vermutlich nicht gebeten, seine Kräfte einzusetzen. Ach wen wollte sie verarschen, natürlich hätte sie! Dazu war ihre derzeitige Lage zu ernst und sie würde sich frühestens von ihnen losreißen können, sobald all das vorbei war.

Trotzdem verspürte sie einen gewissen Stolz, ganz auf sich allein gestellt zu sein. Und Dankbarkeit für ihr Glück, welches ihr eine Karte bescherte, die sie noch nie zuvor eingesetzt hatte.

„Huh? Die hab ich doch dieser hohlen Nuss Caroline Mayfield abgetauscht“, nuschelte sie und weitete die Augen, während sie den Effekttext durchlas.

„Monstereffekt von [Performapal Whip Snake]! Sie wechselt die Werte deines Angel Wings!“

Melindas Ausruf rüttelte Anya aus ihren Gedanken wach und ließ sie aufschauen, als Zanthes ehemalige Hüterkarte wieder gebissen wurde.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 → 2000 DEF/2000 → 2700 (8)]

 

„Was auch immer! Los, [Angel Wing Dragon], greif [Daigusto Sphreez] an! Seraphim Judgment!“

Henry öffnete den Mund erstaunt. „Bist du wahnsinnig!?“

„Nein, nur scharf auf den Sieg!“

„Du weißt genau, dass Sphreez nicht durch Kämpfe zerstört werden kann!“

„Mir doch egal!“

Ihr Drache spie seine weiße Flamme, umkreist von einer goldenen Spirale. Gerade wollte die junge Windmagierin zum Gegenangriff ansetzen, dann ging eine Schockwelle durch den Saal und kehrte die Farben sämtlicher Karten auf dem Spielfeld mit Ausnahme des Angel Wings für einen kurzen Augenblick ins Negative um.

Vor Anya stand eine Schnellzauberkarte offen: „[Forbidden Scripture]! Sie negiert während des Kampfes alle aktivieren Karteneffekte und lässt die Monster mit ihren Originalwerten kämpfen!“

Die Augen weit aufgerissen, blickte Henry dem Flammenstrahl entgegen.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2000 → 2700 DEF/2700 → 2000 (8)]

 

Seine Sphreez ging in dem Flammenmeer unter, welches auf ihren Besitzer übersprang. Jener schrie erschrocken auf, auch wenn Anya die wahren Kräfte des Angel Wings nicht entfesselte. Die kleine Show zu Beginn des Duells musste sich nicht wiederholen.

 

[Anya: 200LP //// Henry: 200LP → 0LP Melinda: 2400LP]

 

Kaum war Anya mit ihm fertig, schwang sie ihren ausgestreckten Zeigefinger herüber zu Melindas violetter Schlange. „Die da ist die Nächste! [Kachi Kochi Dragon], Primo Sciopero!“

Der Drache, dessen Kopf allein aus dem Parkett ragte, brüllte einmal auf, dann schossen schon dutzende silberne Kristallspitzen aus dem Boden. [Performapal Whip Snake], die noch auf ihrem Weg zurück zu ihrer Besitzerin war, schlängelte panisch über den Boden, doch konnte ihrem Untergang nicht entkommen. Melinda seufzte traurig.

 

[Anya: 200LP / Melinda: 2400LP → 2300LP]

 

„Einer weniger“, rümpfte Anya in ihrem Kleid die Nase bis zum Anschlag, „Zug beendet!“

 

Die meisten Anwesenden waren in wildes Getuschel vertieft und Anya genoss es, zur Abwechslung nicht diejenige zu sein, die dessen Mittelpunkt darstellte.

Henry, ganz verdattert von seiner plötzlichen Niederlage, sah sich nervös um.

„Wie hatte er so unspektakulär verlieren können? Ein freches Mädchen hatte ihn besiegt! Wieso hatte er nicht, genau wie seine Schwester, Pendelmonster gespielt? Hielt er sie für zu schwach?“

Fast tat er Anya leid, wie er den sensationsgierigen Blicken ausgesetzt war. Dem Getuschel. Aber nur fast, denn das hatte er sich selbst eingebrockt. Und sie würde ihm bestimmt auch nicht leidtun, wenn sie sich erst in einem Stadion voller Menschen um ihr Leben duellierte.

 

Melinda derweil legte Mittel- und Zeigefinger auf ihr Deck und strahlte. „Jetzt gilt es! Draw!“

Ebenso schwungvoll wie ihre Widersacherin zog sie, betrachtete die Karte, bevor sie schließlich verkündete: „Ich … geb' auf.“

 

[Anya: 200LP / Melinda: 2300LP → 0LP]

 

Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Anya stand da wie bestellt und nicht abgeholt, als die Hologramme ihrer beiden Drachen verschwanden. „Eh? Ehhhhh?“

Und ihre Gegnerin rieb sich verlegen den Kopf. „Tja, was will man machen? Ich hab nur die hier.“

Sie zeigte die Karte eines pinken Nilpferds, [Performapal Hip Hippo], und eine andere, die aber hinter ihrem Monster komplett verborgen lag.

Fassungslos schüttelte Henry den Kopf. „Wieso hast du es nicht wenigstens versucht!?“

„Man muss doch so etwas nicht unnötig in die Länge ziehen“, antwortete Melinda. Damit deaktivierte sie ihr D-Pad und rannte auf Anya zu.

Die konnte ihr zweifelhaftes Glück noch gar nicht fassen, da packte die Rothaarige sie schon am Arm und riss diesen empor. „Seht her Leute, wenn das mal keine angehende Profiduellantin ist!? Obwohl wir zu zweit waren, hat sie uns gnadenlos in die Enge getrieben! Applaus für Anya Bauer!“

Allerdings kam jener eher verhalten. Die über hundert Gäste starrten die Drei an, teilweise fasziniert, andere dagegen deutlich ablehnender. Mit so etwas hatte keiner gerechnet.
 

Henry trat ebenfalls auf Anya zu und reichte ihr die Hand. „Glückwunsch. Gemäß unserer Vereinbarung bist du offiziell dabei, denn du hast dein Können bewiesen.“

Einige Proteste seitens der Gäste wurden laut, viele richteten sich weniger gegen Anya, sondern viel eher gegen Melinda, die es nicht bis zum Ende durchgezogen hatte. Letztere versuchte die Leute zu beschwichtigen, dabei den immer stärker werdenden Lärmpegel gekonnt ausblendend.

 

Anya hatte gewonnen, aber es fühlte sich so dumpf, so … falsch an. Es war ein Gefühl, das sie so noch nie verspürt hatte. Man hatte ihr das Recht genommen, für sich selbst einzustehen. Das war nicht, wie es hätte laufen sollen!

Und Anya begriff nicht einmal, wieso es sie überhaupt so verletzte, nicht selbst den letzten Schlag ausgeführt zu haben.

 

„Akzeptiere es“, hörte sie Henry sagen, „so wie ich es auch muss.“

Anya starrte nur seine Hand an. Jedes Mal, wenn er sie ihr angeboten hatte, hatte sie sie fort geschlagen. Nichts würde sie lieber tun, als ihm ihre eine ins Gesicht zu pfeffern für diese lahme Performance, die er und seine Schwester da abgeliefert hatten.

War sie so unbedeutend, dass sie es nicht einmal verdient hatte, ihr Duell aus eigener Kraft zu gewinnen!? War das die Art, wie die beiden sich in letzter Sekunde an ihr rächen wollten für ihre ungeplante Teilnahme am Turnier!?

Sie spürte, wie sich ihre Kehle immer mehr zuschnürte.

 

Bisher hatte sie seine Hand jedes Mal abgelehnt. Aber nicht dieses Mal. Diesen Sieg würde sie ihm nicht gönnen.

„Gut gespielt“, zischte sie abfällig in Henrys grimmige Visage.

In dem Moment begannen die Gäste, die Drei zu umringen. Viele wandten sich an den Ford-Spross, während Anya ein paar Schritte zurück nahm. Sie blickte herüber zur Bühne, doch Claire und ihr Manager waren nicht mehr dort.

„Tch … ihr fandet es auch lächerlich, oder?“

 

Gerade wollte sie sich nach ihren Freunden umsehen, um sich bei ihnen auszulassen, da stieß jemand seitlich gegen sie. Eine hübsche blonde Frau in einem roten Abendkleid, die es offenbar sehr eilig hatte.

„Entschuldigung!“

Wütend schrie Anya ihr hinterher: „Pass doch auf, Dumpfralle!“

Doch die Frau reagierte gar nicht, sondern eilte Richtung Ausgang davon. Anya überlegte bereits, ihr hinterher zu rennen, da trat Henry neben sie. „Kommst du bitte kurz mit?“

„Nein! Zieh Leine, ich hab keinen Bock mehr auf dich oder deine Schwester!“

Der Bitte kam er jedoch nicht nach, sondern starrte sie ernst an. „Es ist wichtig.“

Anya grunzte genervt. Was wollte er jetzt noch von ihr? Sollte er doch endlich einsehen, dass er verloren hatte und sie in Ruhe lassen! Es reichte doch wirklich schon, dass seine Schwester ihr den Sieg versaut hatte!

„Bitte“, setzte er mit Nachdruck noch einmal an und reichte ihr die Hand.

Dieses Mal schlug sie sie weg, zischte aber: „Na schön, aber wenn du dich über mich lustig machst, wirst du hier vor versammelter Mannschaft Bungeespringen. Und du möchtest wirklich -nicht- wissen, was ich mir als Seil überlegt habe!“

Damit rauschte sie an ihm vorbei.

 

Henry und Melinda führten Anya quer durch den ganzen Saal, über die Wendeltreppe hin zum Balkon, von dem man aus das riesige Gartengelände des hinteren Teils des Anwesens bestaunen konnte. Erstaunlich wenige Gäste standen ebenfalls hier oben und sahen sich dieses schiere Labyrinth aus Hecken an, in dessen Mitte sich ein Springbrunnen von der Größe eines Schuppens befand. Regelmäßig erleuchteten kleine Laternen den Weg. Einige Leute gingen dort spazieren.

„Hach, schön ist das hier“, erfreute sich Melinda daran und streckte weit beide Arme aus, als sie zum Geländer schlenderte, „das hat ja alles prima geklappt.“

„Was hat geklappt!? Dass ihr mich blamiert, indem ihr mir die Chance nehmt, mich selbst zu verteidigen!?“, fragte Anya sofort zornig. Wie sie es doch gewusst hatte!

Der brünette Henry führte sie an das Geländer und lehnte sich darüber. „Dass wir dich ins Turnier einschleusen natürlich.“

„Was?“ Anya blinzelte irritiert und trat näher an ihn heran. „Ich glaube du verwechselst da was! Nick hat sich eingehackt, um mir einen Platz zu sichern!“

Sofort hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Das war ihr einfach so herausgerutscht!

Melinda drehte sich am Geländer stehend zu ihnen um. Statt aber Alarm zu schlagen, kicherte sie verschwörerisch. „Na ja … so ganz richtig ist das nicht. Guck mal.“

Sie schob zwei Karten über das Geländer, damit Anya sie sich ansehen konnte. Völlig aus dem Konzept gebracht von dieser so gar nicht wütenden Reaktion eilte sie zum etwas abseits stehenden Rotschopf, um die Karten zu betrachten.

„[Performapal Hip Hippo] und …?“

„Jep“, gluckste Melinda, „mit den beiden hätte ich dich locker besiegen können. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie furchteinflößend Pendel sein können, wenn man nur etwas Geduld hat.“

„Und wir hatten auch vorher schon genug Gelegenheiten gehabt“, stimmte Henry seiner Schwester zu, als er sich neben Anya stellte. „Allerdings hätten wir dann gegen die Abmachung verstoßen.“

Anya fiel aus allen Wolken. „Hab ich mich grad' verhört!? Ihr habt absichtlich verloren!? Also, gewollt absichtlich? Absichtlich gewollt!? Hrg, ich wisst, was ich meine!“

Melinda strich ihr sanft über den nackten Rücken. „Nicht traurig sein, du warst wirklich gut, aber gegen uns beide hast du eben keine Chance.“

„Scheiß drauf, was sollte das!?“, fluchte Anya und stieß den Arm der jungen Frau von sich weg. „Wollt ihr mich auf diese Weise demütigen oder was!?“

 

Henry drehte sich zu ihr, sein Blick verfinsterte sich. „Nick hat sich nicht bei uns eingehackt, er hat uns um Hilfe gebeten.“

Grimmig sah Anya ihn an, verlangte still nach einer Erklärung. Melinda sagte: „Hast du es schon vergessen? Wir wissen, in welchem Schwierigkeiten du steckst, also wollten wir dir helfen.“

„Aber das war nicht so einfach wie du glaubst. Unser Vater hat die Teilnehmer des Legacy Cups eigenhändig ausgewählt. Das heißt, du wärst sofort aufgeflogen, wenn Nick versucht hätte dich digital einzuschleusen.“

Henry sah herüber zum Garten. Plötzlich fing es an zu zischen und zu donnern. Über dem Garten entfachte sich ein kunterbuntes Feuerwerk. Eine Rakete nach der anderen wurde gezündet, während immer mehr Besucher der Party den riesigen Balkon betraten, um zuzusehen.

„Nick hat uns vorgeschlagen, einen anonymen Erpresser zu mimen, der heikle Firmeninterna an die Presse weitergibt, sollten wir uns weigern, dich ins Turnier mit aufzunehmen.“

Selten genug kam es vor, doch Anya ging ein Licht auf, als sie das Puzzle zusammensetzte. Nick hatte doch beim Treffen mit diesem Aiden Irgendwer so etwas erwähnt, er wüsste da um Dinge, die der AFC sehr schaden könnten. So hatte er sie also ins Turnier geschleust!

„Wenn das, was er weiß, bekannt würde, wäre unsere Firma ruiniert“, erklärte Melinda weiter, „also hatte Paps keine Wahl. Ihm sind die Hände gebunden.“

Henry fügte an: „Natürlich mussten wir dafür sorgen, dass das in dieser Form nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Wir mussten einen Weg finden, dich so zu integrieren, dass es glaubwürdig rüber kommt. Deshalb habe ich auch lediglich von einem Fehler gesprochen, der bei deiner Einladung passiert sein muss. Und damit die Presse und das Turnier-Gremium deine Teilnahme akzeptiert, musstest du deine Stärke in Form eines besonders schweren Duells beweisen.“

Melinda kicherte: „Ich wünschte, wir hätten das anders regeln können, aber leider wurde intern bemerkt, dass dein Name plötzlich auf der Liste stand …“

„Also haben wir uns das hier einfallen lassen. Übrigens nicht ganz uneigennützig, denn etwas negative Presse schadet nie“, schloss Henry sachlich. „Und jetzt sind unserem Vater endgültig die Hände gebunden. Mit dieser öffentlichen Abmachung kann er nicht länger von hinten herum gegen dich vorgehen. Er würde es nicht wagen, das Wort der Ford-Familie zu brechen.“

 

Sprachlos stand Anya zwischen den beiden und sah sie abwechselnd entgeistert an. „I-ich dachte ihr hasst mich?“

„Tue ich auch“, gestand Henry, „ein wenig. Aber ohne dich wären Melinda und ich jetzt vielleicht nicht hier. Mir doch egal, ob die Pendelbeschwörung jetzt schlecht weg kommt bei den Profis, ich kann sie ohnehin nicht ausstehen.“

Melinda zwickte Anya glucksend in die Seite. „Weil er lieber seine eigene Mechanik an deren Stelle sehen würde. Aber die wird wohl ewig unter Verschluss bleiben.“

Die Blonde senkte den Kopf, während das Feuerwerk mit dutzenden explodierenden Raketen seinen Höhepunkt erreichte. So viel Aufwand und das nur, damit sie eine Chance erhielt, sich das nächste Artefakt zu erkämpfen? Aber …

Wie dumm sie sich plötzlich vorkam. Die beiden hatten sie nicht verspottet, sondern sich ihretwegen zurückgenommen. Damit sie als Teilnehmerin akzeptiert wurde, obwohl es den Ruf der Geschwister dank des für Außenstehende blamablen Endes gewiss schaden würde.

Es kam nicht oft vor, aber ihr fehlten glatt die Worte. Nein, eines, nur ein einziges war da. „Danke.“

„Gern geschehen“, sagte Henry, „aber mehr können wir nicht für dich tun, ohne dass unser Vater Verdacht schöpft, dass wir mit Nick unter einer Decke stecken. Der Rest liegt also bei dir.“

„Und du wirst alles Glück dieser Welt brauchen. Wir haben sogar für dich versucht anzufragen, ob man dir ein Duell mit Claire gewährt, aber ihr Management blockt gnadenlos ab.“ Melinda klang auf einmal gar nicht mehr heiter. „Tut mir leid, das macht alles viel schwieriger für dich. Und selbst wenn du das Turnier gewinnen solltest … Claire Rosenburg gilt als unbesiegbar.“

Tief durchatmend, sah Anya auf. Das Feuerwerk spiegelte sich in ihren Augen. Ihre Finger krallten sich in das Geländer. „Die werde ich so fertig machen, dass sie nie wieder Duel Monsters spielen will.“

Das war das Mindeste, was sie für die beiden als Dank für ihre Mühen tun konnte.

 

~-~-~

 

Ein kalter Wind fegte über den Bach hinweg, versetzte ihn in Wallung, ließ die Blätter rascheln.

Mit ihren beiden Mechavögeln auf dem Feld fühlte sich Kali sicher. Doch das allein genügte ihr nicht. Dieser Dämon war gefährlich, also durfte sie es nicht dazu kommen lassen, dass er überhaupt irgendeine Aktion durchführte! Sie musste ihn besiegen, noch in diesem Zug!

Sie griff nach einer Karte in ihrem Blatt und legte sie in ihre V-Duel Disk ein. „Ich aktiviere den Zauber [Celestial Gear Grinding] und hänge damit die beiden Xyz-Materialien von [Celestial Gear – Synthetic Armored Nightingale] ab!“

Die beiden Lichtkugeln, die um die Flügel der riesigen, mechanischen Nachtigall kreisten, stiegen in die Höhe und verformten sich dabei zu Zahnrädern aus purem Licht. Auf ihrem Weg nach oben näherten sie sich einander immer mehr an, bis sich ihre Zähne ineinander verkeilten.

„Die abgehangenen Monster mussten Celestial Gears sein“, erklärte Kali derweil, „denn das ist ausschlaggebend für das Folgende: Mit ihnen kann ich jetzt jede besondere Form der Spezialbeschwörung durchführen, sofern sich noch kein Vertreter dieser Art auf dem Feld befindet!“

Abrupt blieb das Lichtgetriebe in der Luft stehen und begann sich zu drehen. Dabei sendete es auf konstanter Basis Energiewellen aus, die dem ganzen Feld ein rätselhaftes Nachleuchten verlieh.

Kali reckte den Arm in die Höhe. „[Celesial Gear – Synthetic Owl] und [Celestial Gear – Synthetic Albatross]! Fusionsbeschwörung! Zeig dich!“

Ein Wirbel bunten Lichts öffnete sich hinter den sich bewegenden Zahnrädern, die daraufhin verschluckt wurden. Aus ihm schoss wenig später …

„[Celestial Gear – Synthetic Armored Finch]!“

… ein riesiger Maschinenfink, geschützt von einer weißen Panzerung. Nur seine Beine und der Mittelteil seiner Schwingen waren von einer gelben Lichtschicht überzogen, die Einblick in sein Innenleben gewährten.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Finch [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Während jener noch zwischen Hawk und Nightingale seine Schwingen schützend vor sich schob, nahm Kali bereits eine weitere Karte aus ihrem Blatt. „Und da die Overlay Units von der Stufe her auch ausreichend waren für dieses Celestial Gear, jetzt noch eine Ritualbeschwörung!“

Damit knallte sie das blau umrandete Monster auf ihre Duel Disk.

Weit über ihr tauchten die zwei miteinander verbundenen Zahnräder wieder auf und begannen erneut, leuchtende Wellen auszusenden. Gleichzeitig schossen aus dem Himmel vier lange Stäbe, an deren Enden große Kristalle in einer Metallfassung angebracht waren. In der Konstellation eines Trapez im Erdboden versinkend, begann ein Kristall nach dem anderen pink zu glühen.

„Raus mit dir, [Celestial Gear – Synthetic Armored Halcyon]!“

Der Boden zwischen den Stäben brach auf. Daraus empor schoss ein Mechavogel mit unglaublich langem Schnabel und schlankem Körperbau, der ebenso gepanzert war wie seine Kameraden auf dem Feld. Auch er gab nur an den Flügeln durch eine rosafarbene Barriere seine Mechanik preis.

 

Celestial Gear – Synthetic Armored Halcyon [ATK/1000 DEF/2200 (4)]

 

Mit nun insgesamt vier Monstern auf ihrer Seite verschränkte Kali erhobenen Hauptes die Arme. „Überrascht? Ganz recht, [Celestial Gear Grinding] kann mühelos mein Feld füllen, auch wenn die Monster in Verteidigung beschworen werden müssen.“

Sie hob belehrend den Zeigefinger. „Dumme Menschen würden sicher sagen, dass ich mir das auch sparen könnte, werden dabei doch die Effekte meiner Monster negiert. Aber …“

Langsam richtete die maskierte Kuttenträgerin jenen auf ihren Gegner. „… jedes so beschworene Monster richtet trotzdem Schaden an! Nämlich 200 Punkte pro Kopf!“

Die beiden Neuankömmlinge, die in der Mitte ihrer Monsterarmee die Flügel schützend vor sich hielten, spreizten jene nun und öffneten die Schnäbel. Zusammen schossen sie daraus zwei Blitzspiralen ab, die direkt im Körper des Dämons einschlugen. Statt aber von der Wucht des Angriffs davon geschleudert zu werden, geschweige denn auch nur die kleinste Erschütterung über sich ergehen zu lassen, verharrte jener regungslos. Als wäre das alles gar nicht geschehen.

 

[Kali: 4000LP / ???: 4000LP → 3600LP]

 

„Unmöglich …“, stammelte Kali erschüttert.

Zwar dampfte ihr Gegner an der Brust ein wenig, schien jedoch nicht einmal einen Kratzer abbekommen zu haben! Dabei benutzte sie doch ihre Kräfte! Und ihr Gegner? Von ihm ging nicht einmal der Hauch einer Präsenz aus, die ihn vor den Verletzungen wahrte.

„Hätte ich mir denken können“, zischte sie ärgerlich, „du bist niemand, mit dem man so leicht fertig wird, was?“

Keine Antwort war bekanntlich auch eine Antwort, wie sich an seinem Beispiel deutlich zeigte. Ein Wesen wie dieses schien sich allein dadurch ausdrücken zu können, indem es genau das nicht tat. So interpretierte es zumindest Kali. Was auch einen der Gründe darstellte, warum sie sich gar nicht erst widersetzt und sofort in das Duell eingewilligt hatte. Andernfalls würde diese 'Begegnung' jetzt vermutlich ganz anders laufen. Ebenso spielte jedoch auch Neugier mit.

Wer immer er war, dass er um ihre Existenz wusste, hieß, dass er genau wusste, -wer- sie war.

„Wirst du Fragen beantworten, wenn ich dich besiege?“, fragte sie, ohne darauf eine Gegenreaktion zu erhalten. Daher fügte sie an: „Spielt es eine Rolle, ob ich dich besiege?“

Nichts. Also schön …

Dass sie ihrem Gegner nicht mit ihrem üblichen Repertoire begegnen konnte, war zwar ärgerlich, jedoch kein Grund den Schwanz einzuziehen. Im Gegenteil. Kali hatte noch etwas in der Hinterhand. Eine Macht, der sich selbst jenes 'Ding' beugen musste!

Ganz langsam, geradezu in Zeitlupe zog sie eine ihrer zwei verbliebenen Handkarten hervor. Dabei sprach sie bedacht: „Im Ritual liegt das Opfer der Beschwörung.“

Hinter dem schlanken Mechavogel Halcyon öffnete sich eine Art Spalt, in die dieser hineingezogen wurde.

„Durch das Überlagern verbinden sich zwei Seelen, zwei Welten.“

Jener bunt flackernde Riss im Dimensionsgefüge weitete sich nach links aus, wo er die Nachtigall verschlang.

Und Kali zitierte weiter: „Abgestimmt aufeinander, agieren sie synchron.“

Eine zweite Öffnung tat sich auf und verschlang [Celestial Gear – Synthetic Armored Hawk].

„Und verschmelzen zu einer Einheit!“

Auch das letzte Monster, der Fink, wurde von den beiden sich verbindenden Öffnungen mitgerissen. Wie eine Narbe hing das Gebilde jetzt in der Luft. Und wuchs dabei zunehmend an.

„Die mächtigste Gottheit greift in den Kampf ein!“, schrie Kali unvermittelt und hielt besagte Karte hoch in die Luft. „Ritual, Xyz, Synchro und Fusion; verbannt; ihre Opfergabe! Vernichte, [Sophia, Goddess Of Rebirth]! Du kannst nicht entkommen!“

Da drang es aus dem Spalt. Ein lautes, unmenschliches Röhren. Riesige Hände mit langen, spitzen Fingern huschten aus dem Dimensionsriss, packten seine Ränder und schoben sie weiter auseinander.

Ein tiefer Schatten, gelblich, fiel über Kalis Gegner, der an jenem meterhohen Monster hoch sah, welches sich durch das Loch kämpfte. Zumindest seinen Torso konnte es in die hiesige Dimension zwängen. Die Haut weiß wie Schnee, flammte der lange, rote Schopf der ziegenhaften Göttin auf, als sie den Weg in die Freiheit gefunden hatte. Zu ihrer Rechten flackerte eine stilisierte, goldene Energieschwinge, zur Linken war es eine violette.

 

Sophia, Goddess Of Rebirth [ATK/3600 DEF/3400 (11)]

 

Die selbsternannte Dämonengöttin stieß ein selbstherrliches, kurzes Lachen aus und verkündete: „Das hier ist vorbei. Egal was du gedenkst zu tun, das Kommende kann nichts und niemand mehr aufhalten!“

In Sophias rechter Hand entstand eine flammende, violette Energiemasse, genauso wie es in ihrer linken eine goldene tat.

Kali streckte den Arm aus. „Die Göttin duldet nichts und niemanden! Alles, was zu diesem Zeitpunkt im Spiel ist, egal ob auf dem Feld, auf der Hand oder dem Friedhof, wird unweigerlich verbannt! Also füge dich! Genesis Waves!“

Das Paktmonster des Tores Eden hievte jene beiden Sphären in die Höhe und ließ sie in alle Richtungen Energiewellen aussenden. Es war wie ein Feuerwerk, wie die halb zwischen der einen und der anderen Dimension steckende Sophia die Zerstörung walten ließ. Eine violette Welle traf Kalis letzte Handkarte, eine andere zerteilte das gesetzte Monster ihres Gegners. Weitere fegten sogar weit über das Spielfeld hinweg, andere wiederum trafen die Duel Disks der beiden Spieler. Nachdem die letzte des Dämons Handkarten beseitigt hatte, war es nur noch Sophia, die über allem thronte.

„Vielleicht wirst du ja doch etwas redseliger, was deine Absichten angeht, sobald dieses Duell vorbei ist“, sagte Kali mit forderndem Unterton, „und genau das wird es jetzt!“

Hinter der weißen Maske ihres Gegners blitzten die sonst roten Augen für den Bruchteil einer Sekunde hellblau auf. Und noch während er in eine gebeugte Haltung ging, die Hand an den Tsuka, den Schwertgriff seines Katanas legend, befahl Kali: „Direkter Angriff! Lösche seine Lebenspunkte vollkommen aus! Two Worlds Collision!“

Sophia stieß einen unnatürlich tiefen Schrei aus und führte die beiden Lichtsphären über ihren Handflächen langsam zusammen. Gleichzeitig nahm der Dämon unerwartet Anlauf.

„Was!?“

Kali sah nur noch, wie die Klinge gezogen wurde und ihr Gegner noch weit von ihr entfernt in einer Halbmonddrehung ausholte. Ein lautes Sirren hallte durch den Wald. Der Dämon stand mit dem Rücken zu ihr gewandt und schob das Katana wieder in die Scheide.

 

[Kali: 4000LP → 0LP / ???: 3600LP]

 

Seine Gegnerin verstand es nicht. Sophia verharrte regungslos und still über ihr, die Sphären in ihren Händen nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt. Kali hob langsam ihre V-Duel Disk und sah auf das Display, das ihre Niederlage verkündet hatte.

„… wie?“

Und dann fiel im sprichwörtlichen Sinne alles auseinander. Ganze Teile der Göttin rutschten auseinander, wie ein Bild, das mit einer Schere zerschnippelt worden war. Dabei blieb es aber nicht. Weit hinter Kali geschah dasselbe mit den Bäumen. Den Steinen. Und gewissermaßen auch mit ihr selbst. Ein stechender Schmerz ließ sie aufschreien, ausgehend von ihrer Stirn. Ihre Porzellanmaske rutschte ihr vom Gesicht, in der Mitte glatt durchtrennt.

Und als sie langsam zusammensackte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass selbst Sophias Karte nicht mehr in einem Stück auf ihrer ansonsten unbeschädigten Duel Disk lag.

„Unmöglich …!“

Kali sank auf die Knie, dabei eine ihrer in schwarzen Handschuhen steckenden Hände an die Stirn pressend. Vor ihr im Gras lag ihre Maske, mit Blut benetzt, das ihren Arm entlang lief und auf das Porzellan tropfte. Das Krachen, das Prallen von Baumstamm auf Baumstamm, das ganze Chaos, das der unerwartete Angriff ihres Gegners angerichtet hatte, nahm sie kaum wahr.

Als das Hologramm der gefallenen Sophia sich auflöste, begann jener Dämon auf sie zuzugehen. Und zog dabei das lange Katana wieder aus seiner Scheide. Vor Kali angelangt, senkte diese ihr Haupt. Die Spitze der Klinge dicht an ihren Hals gelegt.

„Beende es“, zischte sie verächtlich, „das wolltest du doch von Anfang an. Wozu überhaupt das Duell!?“

„Du hast nun einen Teil meiner Kräfte erhalten.“

Völlig von dieser unerwarteten Antwort erschrocken, sah Kali auf.

Ihr Gegner sprach weiter. „Mit ihnen eine Verantwortung, derer du dich nicht entziehen kannst. Wirst du es doch, werde ich zurückkehren und zurückholen, was ich dir gegeben habe.“

Aufgebracht erwiderte sie: „Deine Kräfte!? Was für-!? Etwa durch meine C-!?“

„Du wirst den Umgang mit ihnen lernen. Und sobald du bereit bist, deiner Verantwortung nachkommen.“ Das unbekannte Wesen hob das Katana über Kalis Kopf an. „Entscheide nun. Was du tun musst ist …“

Die blauen Augen Kalis, welche zwischen ihren Fingern hindurch schauten, folgten dem Lauf der Klinge, die unweigerlich ihren Schädel spalten würde, traf sie die falsche Wahl.

 

Ein Rascheln. Schwungvoll riss der Dämon das Schwert über Kalis Haupt in einer Drehung herum und richtete es auf den Neuankömmling, welcher ihm direkt gegenüber stand.

„Du bist doch-!?“, schoss es aus der Demaskierten. „Der Diener des Sammlers!“

Womit sie zweifelsohne richtig liegen musste. Nur einer trug selbst mitten in der Nacht eine Sonnenbrille sowie einen Butleranzug. Der Mann mit dem schulterlangen, auf den Millimeter genau geschnittenen Haar stand dem Dämon gegenüber. Die Klinge des Schwertes nur eine Handbreite von seinem Hals entfernt.

„Endlich habe ich dich gefunden“, sagte er ruhig.

„Was willst du hier!?“, fauchte Kali aufgelöst. „Willst du … mir etwa helfen!?“

„Mitnichten. Deine Existenz tangiert mich nicht im Geringsten.“ Kyon legte die in einem weißen Handschuh steckende Hand auf die Schwertschneide und schob sie beiseite. „Ich bin nur gekommen, um um einen Gefallen zu bitten. Du …“

Sein Augenmerk lag allein auf dem Dämon. „… führe mich in den Limbus.“

 

 

Turn 57 – Mind Evangelion

Am nächsten Tag muss Anya zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie ihr Deck verlegt hat. Nachdem sie es nicht im Hotelzimmer finden kann, gehen sie und Levrier davon aus, dass sie es auf der Party verloren haben muss. Doch während der Suchaktion wird Anya von Zed, einer Undying angegriffen und das auf eine Weise, die sich von allen bisherigen Konfrontationen unterscheidet. Letztlich kann nur Levrier Anya beschützen und …

Turn 57 - Mind Evangelion

Turn 57 – Mind Evangelion

 

 

Zu dritt standen sie am Frühstücksbuffet an. Eins musste man diesem Schuppen lassen, so gestand sich Anya ein, seine vier Sterne standen ihm gut zu Gesicht. Dieses Hotel war wesentlich besser als das in Dice.

Allein hier, im Restaurant, konnte man den ganzen Tag verbringen. Es war riesig, hell, in ganzen Reihen standen die Tische beieinander und waren bereits gut besetzt. Direkt in der Mitte des Saals, über der Bar, führte eine mit rotem Teppich ausgelegte Treppe in ein oberes Stockwerk, wo es sogar VIP-Bereiche und einen Balkon gab, auf dem man ebenfalls speisen konnte.

Zanthe hatte sich lediglich eine Scheibe Lammkotelett, ein paar Kartoffeln und etwas Mischgemüse aufgetan. Anya neben ihm schlug sich den Teller regelrecht mit allem Möglichen voll, anders als Matt, der sich eher auf Müsli, Toast und dergleichen beschränkte. Mit einer Hähnchenkeule im Mund, weil sie natürlich nicht hatte warten können, schmatzte sie im Gehen mehr als sie redete. „Schmeckt escht gutscht hia.“

„J-ja, Anya.“ Der leicht angewiderte Ausdruck des Dämonenjägers sprach Bände.

 

Zusammen setzten sich die Drei an einen freien Tisch bei einem der im halben Dutzend vorhandenen Fenster, durch die man auf die draußen stehenden Tische und die Straße blicken konnte.

„Ist das geil, warme Küche zum Frühstück!“, freute sich Anya wie ein Schnitzel, derer auch eins auf ihrem Teller lag.

„Du hast gestern echt für Gesprächsstoff gesorgt“, meinte Matt nebenher und bestrich sich seinen Toast mit Marmelade. „Und das nicht gerade im positiven Sinne.“

„Ach“, zeigte sie sich unbeeindruckt, „lass doch diese abgehobenen Pros labern. Mir doch egal, ob einigen von ihnen nicht passt, dass ich mir meinen Platz im Turnier verdient habe.“

Matt sah sie mitleidig an. „Anya … es sind nicht nur ein paar. Vielleicht ist es dir entgangen, aber ein paar von denen haben eigene Blogs, manche sogar Kanäle auf Videoplattformen.“

„Was er damit sagen will“, sagte Zanthe, während er sein Kotelett schnitt, „die ganze Welt hasst dich jetzt. Was er dir verheimlicht: Er stalkt dich geradezu.“

„Halt die Klappe“, brummte Matt daraufhin grimmig.

„Ich sag's ja bloß.“

Scheinbar hatten die beiden ihre Streitigkeiten noch immer nicht ganz beigelegt. Was Anya aber nicht scherte, sie ballte grinsend eine Faust. „Strike! Sollen sie doch heulen, die Pissnelken.“

Ihre Freunde sahen sich nur vielsagend an und schüttelten die Köpfe.

 

Nach dem Frühstück begaben sie sich ohne Matt zurück auf ihr Zimmer, denn jener wollte ein wenig Nachforschungen in Anyas Sache betreiben und hatte scheinbar einen ersten Anhaltspunkt, dem er nachgehen wollte.

Zanthe seinerseits hatte darum gebeten, dass Anya ihm das neue D-Pad zeigte. Auf dem Weg zu ihrem Nachttisch, auf dem es lag, kam Anya am Panoramafenster vorbei und musste einen Blick auf den Wolkenkratzer werfen, auf dem Claire Rosenburgs Werbung gezeigt wurde. Da war sie wieder, perfekt auf ihrem D-Wheel. Die Göttin, die auf alles und jeden herab zu starren schien.

Zischend wandte Anya sich ab und nahm das rote D-Pad, warf es dem Werwolf zu. Der fing es mit einer Hand auf und betrachtete es. „Hmm, Monster die auch Zauberkarten sind. Die Idee ist gar nicht so dumm.“

„Mag ja sein, aber ich verzichte drauf. Meine Duel Disk hat diese Zonen nicht und ich werde 'nen Teufel tun und sie in Rente schicken, sobald ich sie erst wieder habe.“

Der Junge mit dem blauen Kopftuch warf sie ihr zurück. „Find' ich gut. Man muss nicht jedem Trend hinterher rennen. Was sagste, haste Lust auf ein Übungsduell?“

„Na klar doch! Ah! Warte kurz.“

Ihr war etwas eingefallen. Sie steckte ihre Hand in die hintere Hosentasche ihrer Jeans und zog daraus [Gem-Knight Pearls] Karte hervor.

„Stimmt, den hattest du ja hier gelassen“, erinnerte sich Zanthe an Anyas Geschichte dazu.

 

Oh, und ich dachte schon, ich würde in diesem muffigen Loch verrotten.

 

„Du kannst doch gar nicht riechen!“, brauste Anya sofort auf. „Zeig gefälligst etwas Dankbarkeit!“

Wütend wollte sie ihn in ihr Deck stecken, da fiel ihr etwas auf: Es befand sich gar nicht in seinem Schacht. „Huh?“

„Was ist los?“, fragte Zanthe.

„Mein Deck ist nicht da.“

Schulterzuckend erwiderte er: „Dann hast du es vermutlich zurück in dein anderes D-Pad gesteckt.“

Dem ging sie sofort nach und schnappte sich das schwarze Modell von Logan auf ihrem Nachttisch, aber Fehlanzeige, auch dort wurde sie nicht fündig.

„In der Schublade?“

Anya riss diese auf. „Nein.“

„Deinem Kleid?“

„Hat keine Taschen.“

„… wo hast du dann dein Deck verstaut, du hattest doch gar keine Handtasche-“

Aufgewühlt schnitt Anya ihm ins Wort: „Das ist jetzt nicht wichtig!“

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Auf den Fensterbrettern konnte es nicht liegen, denn die gab es gar nicht, schließlich reichte das Glas bis zum Fußboden. Auch auf dem Tisch lag nichts außer Zanthes 'Faust'-Exemplar. Sie eilte, nun leicht in Unruhe versetzt, an ihm vorbei ins Bad. Hatte sie es, warum auch immer, dort liegen lassen?

Auf dem Waschbecken? Nichts. Dem Abstellbrett auch nicht, ebenso wenig im Inneren des kleinen Spiegelschranks. Die Badewanne, die sie gestern nach der Party noch benutzt hatte? Leer!

Anya streckte ihren Kopf durch den Türrahmen, sah Zanthe panisch an: „Ich find's nicht.“

„Meine Güte, kannst du nicht auf deine Sachen aufpassen?“, tadelte er sie und bückte sich, sah unter seinem Bett nach, dem äußersten der drei nebeneinander aufgereihten. „Hier ist es nicht.“

Auch unter Matts in der Mitte fand er nichts, ebenso wenig unter Anyas, welches sich in der Ecke des Zimmers befand.

„Verdammt, wo ist es bloß!?“, verlor Anya langsam die Fassung, als sie aus dem Bad kam.

 

Du hast es doch nicht etwa verloren!?

 

Levrier erschien neben ihr in Pearls Form und sah sich um, während seine Karte zurück in Anyas 'muffigem Loch' verschwand.

„Warte kurz“, meinte Zanthe derweil, trat an Matts Reisetasche vor seinem Bett und durchstöberte sie seelenruhig.

Die Augenbrauen anziehend, fragte Anya: „Summers? Nie im Leben würde der es wagen!“

„Offensichtlich, denn hier ist es auch nicht.“ Er rechtfertigte sich: „War ja nur 'ne Idee, so komisch wie er manchmal drauf ist.“

 

Was das angeht, kann ich dich beruhigen. Weder Matt Summers noch Zanthe Montinari haben irgendetwas dergleichen getan. Als ewig Schlafloser weiß ich solche Dinge.

 

Anya kam gar nicht auf die Idee, dafür Mitleid zu empfinden. Jenes hatte sie gerade ausschließlich für sich selbst übrig. „Oh scheiße, scheiße, scheiße! Es ist weg!“

„Dann hast du es wohl verloren. Oder irgendwo liegen lassen? Denk nach, wann hast du es das letzte Mal gesehen?“

Das Mädchen legte beide Hände an die Stirn. „Hmm, verdammter Kackmist. Nein, beim Frühstück hatte ich es nicht mit. Ich kann mich auch nicht erinnern, es gestern nach der Party noch irgendwann in der Hand gehabt zu haben.“

„Also musst du es dort verloren haben“, schloss Zanthe daraus.

„Vielleicht ist es aus der Halterung gerutscht?“ Anya warf bereits einen hasserfüllten Blick auf das rote D-Pad, das sie zwischenzeitlich auf ihr Bett geworfen hatte, als wäre das die einzig logische Antwort. „Verdammter Prototyp! Nur Schrott stellen die bei der AFC her!“
 

Ich würde vorschlagen, wir statten Henry Ford einen kleinen Besuch ab. Dort sollten wir beginnen.

 

„Und was ist, wenn ich es auf der Rückfahrt im Taxi verloren hab? Oder irgendjemand es gefunden hat und für sich selbst behält!?“ Anya war blass wie lange nicht mehr, wie sie anfing orientierungslos durch das Zimmer zu wandern.

Zanthe zuckte mit den Schultern. „Dann kaufst du dir die Karten neu, meine Güte.“

Sofort fiel sie ihn an und schüttelte ihn regelrecht durch. „Du kapierst das nicht, Flohpelz! Das sind nicht einfach nur Karten, das sind -meine- Karten! Die habe ich seit ich angefangen habe, die kann man nicht ersetzen! Da sind so viele Karten drin, die keiner außer mir besitzt!“

Zanthe blinzelte und begriff, was sie meinte. „Angel Wing und Heavy T!“

„Und [Kuriboss], [Gem-Knight Master Diamond]. Oder auch der seltene [Gem-Knight Zirconia], den ich von Matt habe!“ Anya war den Tränen nahe. „Alle, einfach alle!“

„Wir finden sie!“, versprach Zanthe plötzlich unerwartet sanft. „Ich suche das Hotel ab, nur für den Fall. Du gehst zurück und sprichst mit Henry. Vielleicht hat einer seiner Partygäste oder Mitarbeiter das Deck ja gefunden und abgeben?“

Aufgelöst wie lange nicht mehr, nickte Anya zittrig. „Okay …“

 

~-~-~

 

Während der Taxifahrt krallte Anya sich unentwegt in ihrem Sitz fest.

„Geht das nicht schneller!?“, schrie sie den indischen Fahrer neben sich an.

„Nein“, erwiderte der in gebrochenem Englisch, „sei geduldig, Mädchen.“

Gerade fuhren sie über eine lange Brücke, unter welcher sich ein Fluss seinen Weg ins Meer am Horizont bahnte. Anya blickte aus dem Fenster und folgte seinem Lauf, dann schnaubte sie. Wieder zum Fahrer wirbelnd, presste sie zwischen den Zähnen hervor: „Wenn du nicht gleich auf die Tube drückst, spielen wir 'ne Runde GTA und danach fahre ich, Fettsack! Also dalli!“

Es war, als hätte er gar nicht bemerkt, dass sie ihn angesprochen hatte. Stattdessen begann er vergnügt ein Lied zu summen. Sein letztes, wie Anya sich mit weit aufgerissenen Augen sicher war.

 

~-~-~

 

Die Beifahrertür knallte zu und Anya stand vor dem Anwesen, in dem gestern die Party stattgefunden hatte. Mit quietschenden Reifen ergriff der Taxifahrer die Flucht. Und das Beste: Nachdem Anya mit ihm fertig gewesen war, hatte er sogar auf seine Bezahlung verzichtet!

„Tch, wäre noch lustiger gewesen, wenn er nicht die ganze Fahrt über geschrien hätte!“

 

Aber wen interessierte das überhaupt, schließlich hatte sie ganz andere Probleme. Das Bogentor des Anwesens stand nämlich verschlossen da. Anya watete herüber zur linken Seite und betätigte die Sprechanlage.

„Ja bitte?“, drang eine unbekannte, männliche Stimme aus dem weißen Apparat.

„Hey! Ich muss dringend mit dem Schnö- mit Henry sprechen. Henry Ford.“

„Mr. Ford war lediglich ein Gast unseres Hauses. Versuchen Sie es in seinem Hotelzimmer.“

Anya runzelte ärgerlich die Stirn. „Mir egal, dann gib mir denjenigen, der diese dämliche Party gestern ausgerichtet hat.“

Der Kerl am anderen Ende der Leitung gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Ich befürchte, Mr. Walton, der Eigentümer dieses Anwesens, ist leider auch nicht anzutreffen. Darf ich erfahren, was Sie überhaupt hierher führt und wer Sie sind?“

„Was geht dich das an!? Eine Anya Bauer ist niemandem Rechenschaft schuldig! Lass mich einfach rein, Idiot!“

„Bedaure, ich fürchte ich kann dieser Bitte nicht nachkommen. Guten Tag.“

Es knackte aus dem Sprecher und der Typ war weg. Und Anya puterrot im Gesicht.

 

Wirst du jemals dazulernen, Anya Bauer? Wobei, du hast dir den Begriff Rechenschaft endlich aneignen können. Wie schön.

 

„Wirst du jemals die Klappe halten, Levrier!?“

Anya stemmte wütend die Hände in die Hüften und stampfte um das Tor herum zu dem schwarzen Zaun, der sich von ihm erstreckte. Ob man da wohl drüber klettern konnte? Zugegeben, der war fast zwei Meter hoch und spitz am Ende, aber sie wäre nicht Anya Bauer, wenn sie das beeindrucken würde. Solche Dinger hatte sie doch schon tausendmal erklommen!

Schon hatte sie eine der Palisaden gepackt und stand mit einem Fuß auf der ersten Haltestange. Sie würde nicht eher abhauen, bis sie ihr Deck wieder hatte! Mit viel Schwung stieß sie sich ab und versuchte die nächst höher gelegene zu erreichen, was sich als ziemlich anstrengend entpuppte, da zwischen den Palisaden äußerst wenig Platz für einen Fuß war. Trotzdem ließ Anya sich nicht beirren und kletterte unentwegt weiter, bis sie ein Bein bereits vorsichtig über die Spitzen des Zaunes schwang.

Es schepperte. Verdattert sah Anya in ihrer unbequemen Lage nach unten und sah dort ein brandneues Smartphone liegen. -Ihr- Smartphone. Oder was jetzt noch davon übrig war.

„Oh shit, wieso passiert mir das immer!?“, fluchte das Mädchen außer sich vor Wut.

 

„Anya, was machst du da!?“

Die blinzelte überrascht in ihrer stark an einen pinkelnden Hund erinnernden Haltung und entdeckte eine junge Frau bei dem Springbrunnen im Garten vor dem Anwesen. Rotes, offenes Haar, ein weißes Sommerkleid – Melinda Ford.

„Hi“, rief Anya ihr etwas verblüfft zu und schwang sich schließlich über den Zaun, landete in der Hocke auf der anderen Seite.

Sofort kam ihr Henrys Schwester entgegen gerannt. „Ich glaub, ich seh' nicht richtig! Wieso hast du nicht geklingelt!?“

Als Anya sich vor ihr aufrichtete, zischte sie böse: „Hab ich doch, aber das Schwein hat mich nicht reingelassen! Hat gesagt, dein Bruder wäre nicht da!“

„Ist er auch nicht, weil er noch gestern wegen eines Termins die Stadt verlassen musste. Ist doch auch völlig Banane.“ Melinda seufzte tief, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Also, was ist so wichtig, dass du unbedingt wegen Hausfriedensbruchs festgenommen werden willst!?“

„Mein Deck! Es ist weg!“, beklagte Anya sich wild gestikulierend. „Ich muss es irgendwo auf der Feier gestern verloren haben.“

Melinda tippte ihren Zeigefinger gegen das Kinn. „Du bist doch bereits kurz nach dem Duell gegangen. Sicher, dass du es bei uns verlegt hast?“

„Absolut! Hilf mir, Schnöselschwester!“

Die musste belustigt glucksen. „Schnöselschwester? Das ist mal was Neues. Aber wenn du meinst, komm mit. Und versuch nie wieder, hier einzubrechen … zumindest nicht am helllichten Tag!“

 

Melinda führte Anya durch den Blumengarten am Springbrunnen vorbei ins Anwesen, bis hin in den Ballsaal. Dieser war bei Tageslicht nicht halb so beeindruckend, besonders deswegen nicht, da ein halbes dutzend Möbelpacker damit beschäftigt war, die Tische, Stühle und die Bühne wegzuräumen, wofür sie einen Seiteneingang benutzen.

„Hat jemand mein Deck vielleicht abgegeben?“, fragte Anya und sah sich um.

„Dann hätte ich mich schon bei dir gemeldet.“ Melinda schüttelte betonend den Kopf. „Wir haben zwar ein, zwei Sachen gefunden, aber das waren Ohrringe oder Mobiltelefone.“

Offenbar Grund genug für Anya, die Sache selbst anzugehen. Sie stampfte durch den Saal und steuerte direkt dessen Mitte an, wobei sie den Blick gen Boden gerichtet hielt. Weiter vorne waren zwei Techniker auf Leitern damit beschäftigt, den unter der zusammenlaufenden Wendeltreppe befindlichen Monitor zu demontieren.

„Shit! Wo ist es!?“

Melinda eilte ihr hinterher. „Na da sicher nicht, das wäre uns längst aufgefallen!“

Sofort wirbelte Anya zu ihr um. „Und wo dann, Einstein!?“

„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte die Rothaarige nun langsam an ihre Grenzen der Geduld getrieben. „Ich glaube nicht, dass du es hier überhaupt finden wirst. Vielleicht hat es ja wirklich jemand entdeckt und dann mitgenommen?“

Allein die Lippenbewegungen lösten in Anya ein klammes Gefühl aus, was sich nur umso schneller in neue Wut umwandelte. „Wenn das so ist, finde ich diese Mistmade und erwürge sie mit ihrem eigenen Magen! Gibt’s hier vielleicht Kameras!?“

Melinda zögerte bei ihrer Antwort. „Schon, aber …“

Bevor sie den Satz zu Ende brachte, unterbrach sie sich selbst mit einem schicksalsergebenen Seufzen und machte eine ausholende Handbewegung in die andere Richtung. „Komm mit!“

 

Henrys Schwester führte das Mädchen in den Keller, wo sich das 'Sicherheitszentrum' des Anwesens befand. Der Raum war dunkel, klein und roch irgendwie muffig. Vielleicht wegen dem fetten Wachmann, der ihn besetzte.

„Hallo Hank“, grüßte Melinda diesen beim Eintreten.

„Melly!“ Extra für sie stand der dickliche Mann in Dunkelblau auf, nur noch ein grau-braune, dünner Kranz war ihm von seiner Haarpracht geblieben.

Auf diversen Monitoren wurden hier in schwarz-weiß die Bilder der Überwachungskameras wiedergegeben. Am Schreibtisch befand sich zudem ein Laptop, mit dem Hank arbeitete.

„Kennt ihr euch?“, fragte Anya, als sie Melinda hinein folgte.

„Ja, unsere und Mr. Waltons Familie sind gut befreundet“, erwiderte Melinda und stellte sich zu Hank, fasste ihn auf die Schulter und strahlte Anya förmlich an, „früher, wenn wir hier zu Besuch waren, hat Hank oft mit mir und Henry gespielt.“

„Schön für euch“, gab sich Anya desinteressiert, „was ist nun!?“

„Hank“, richtete sich Melinda an den Wachmann, „kannst du uns bitte einen Moment allein lassen? Wir müssen kurz ein wenig die Aufnahmen von gestern durchgehen, es gab einen … Vorfall.“

Der bullige Mann nickte knapp. „Natürlich. Hast du wieder was angestellt, Melly?“

Die zwinkerte ihm nur verschwörerisch zu, als sie sich an den Schreibtisch setzte. Lachend verließ Hank den Sicherheitsraum.

 

Anya stellte sich hinter die rothaarige Frau und sah zu, wie sie sich am Laptop zu schaffen machte.

„Kannst du das Teil denn bedienen?“

Mit einem äußerst pikierten Blick drehte sich Melinda zu ihr um. „Machst du Witze? Seit ich acht war, hab ich hier mein Unwesen getrieben.“

„Klingt ja so, als wärst du früher 'ne ganz Wilde gewesen, Schnöselschwester.“

Jene kicherte vergnügt. „Wenn du wüsstest. Was denkst du, warum Henry sich manchmal so über dich ärgert? Er kennt das alles bereits von seiner großen Schwester.“

Dies entlockte nun Anya ein bösartiges Grinsen. „Wir sollten mal was zusammen machen.“

„Nicht, dass ich nicht wollte, aber die Zeiten sind leider vorbei“, gab sie sich wehmütig, während sie mit der Maus über einen Ordner fuhr, „tada. Das sind die Aufnahmen von gestern Abend.“

 

Es dauerte allein schon ein paar Stunden, überhaupt Mitschnitte zu finden, die nach dem Duell stattfanden. Die verschiedenen Einstellungen waren teilweise im ganzen Saal verteilt, oft war Anya gar nicht im Bild. Ihr erster Anhaltspunkt, der Aufenthalt auf dem Balkon, hatte sich als Niete entpuppt.

Bis sie schließlich einen fanden, in dem sie gerade vom oberen Bildrand in dessen Mitte stürmte.

„Das war, als du nach deinem Sieg wütend davon gebraust bist.“

Gerade stieß Anya mit der Journalistin zusammen.

„Hey!“, schrie diese plötzlich und tippte mit dem Finger gegen den Bildschirm. „Mach mal zurück und pausiere das dann!“

Und tatsächlich! Die Hand der Journalistin lag nur für einen kurzen Augenblick auf Anyas D-Pad!

„Die hat mein Deck! Wer ist das!?“

„Keine Ahnung, kann ich auf dem Bild nicht erkennen“, sagte Melinda nachdenklich. „Aber wir können gerne die Gästeliste durchgehen, da muss sie zu finden sein.“

 

Was sie dann auch am Laptop taten. Nur fanden sie zu Anyas Entsetzen niemanden, der der Frau auch nur ansatzweise ähnlich sah und das, obwohl jeder Gast eine eigene Datei samt Bild besaß.

„Sie hatte 'nen Presseausweis!“, erinnerte sich Anya. „Welche Reporter waren denn eingeladen?“

Melinda zeigte ihr die überschaubare Liste. „Nur Leute, mit denen wir gute Kontakte pflegen. Aber wie du siehst, sind das alles Männer.“

„Und wie ist sie dann reingekommen!?“

Melinda sah über den Rand des Stuhls zu ihr. „Na vielleicht bist du nicht die Einzige, die mit gefälschter Einladung hier hereingekommen ist?“

„Meine war nicht gefälscht, nur 'umgeschrieben'!“

Auf diesen Einwurf hin richtete der Rotschopf wieder sein Augenmerk auf den Laptop. „Anscheinend hatten wir einen ungebetenen Gast. Die Frage ist: Warum?“

„Na, weil sie mein Deck wollte natürlich!“ Anya schnaubte. „Hey, Schnöselschwester. Am besten schickst du das ganze Zeug an Nick, der kann sicher mehr damit anfangen als du.“

„Danke?“

„Ich muss los“, quengelte Anya, die von einer plötzlichen Eile ergriffen worden war, „muss selbst mit Nick reden. Und mit den anderen.“

 

Sie ließ Melinda Nicks E-Mail-Adresse aufschreiben. Jene war zwar der Meinung, selbst genauso gut Nachforschungen anstellen zu können, fügte sich aber Anyas gereizter Ungeduld. Und versprach, Nick sämtliches wichtiges Material zukommen zu lassen.

 

So geschah es, dass Anya schließlich wieder vor dem Tor des Anwesens stand und mit drei Erkenntnissen konfrontiert wurde. Die erste: Nach ihrer Duel Disk hatte man ihr nun auch das Deck gestohlen. Die zweite: Sie musste sich jetzt ein Taxi rufen. Woraus die dritte entstand: Sie hatte kein Geld für eins. Was nicht das Problem gewesen wäre, würde es ihr nicht auch an einem Smartphone mangeln, um jenes zu rufen. Fuck! Warum musste ihr das Scheißteil auch aus der Tasche rutschen. War das jetzt der neue Trend mit ihren Sachen oder was!?

 

Sie drehte sich zum Tor um und überlegte, noch einmal Melinda um Hilfe zu bitten. Aber da die sowieso schon sauer war, aus dem Fall unfreiwillig ausgeschieden zu sein, wollte Anya ihr nicht noch wegen so einer Lappalie zu Kreuze kriechen.

Was eines hieß: laufen. Und der Weg zum Hotel war … lang.

„Tch!“, schnaubte Anya und begann sich in Bewegung zu setzen.

Umso besser, so konnte sie wenigstens ihre Wut durch ein wenig Sport abbauen. Und sie war wütend, verdammt wütend!

 

~-~-~

 

Irgendwann war Anya so erschöpft, dass sie eine Pause einlegen musste. Inzwischen dämmerte es bereits. Sie stand am Geländer der riesigen Brücke, die etwa den Mittelpunkt ihres Weges markierte.

So vieles war ihr während dieser Zeit durch den Kopf gegangen. Steckte die Diebin mit Kali unter einer Decke? Mit den Undying, die zurückhaben wollten, was ihnen gehörte? Oder gar mit jemand anderes? Wenn nicht, hatte sie es trotzdem von Anfang an auf ihr Deck abgesehen?

Erschöpft hielt sich Anya in gebeugter Haltung mit einer Hand an dem Geländer fest. Neben ihr, getrennt von einer Leitplanke, herrschte reger Verkehr. Nicht weit entfernt ragte ein großes Tor über der Brücke.

 

Keuchend beugte sich Anya über. „Scheiße … wieso passiert so was immer mir?“

Alles ging schief, seit sie für den Sammler arbeitete. Es war nicht nur die Tatsache, dass ihr erst die Duel Disk und nun auch das Deck gestohlen worden waren. Oder dass immer neue Feinde auf den Plan traten. Nein, durch diese ganze Scheiße wurden Menschen verletzt. Nick, Redfield, Marc und schlimmer noch, wegen ihr war einer der Hüter tot.

Ihre Finger krallten sich bei dem Gedanken um das Geländer. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie den Fluss, wie sich das Abendrot in ihm spiegelte.

Sie musste einen Ausweg finden. Und Anya wurde bewusst, was der Unterschied zwischen damals und heute war. Zwischen der alten und der neuen Anya. Denn die neue wollte nicht, dass andere in Mitleidenschaft gerieten. So ein Mensch war sie nicht mehr.

 

Seine sanfte Berührung auf ihrer Schulter ließ sie auffahren. Es war schön, dass Levrier selbst jetzt ihren Gedanken folgen konnte und sie darin bestärken wollte.

Als Anya sich aufrichtete und umdrehte, musste sie jedoch erkennen, dass es nicht ihr Freund war, der seine Hand nun zurückzog. Es war Nick.

„Was machst du denn hier!?“, platzte es aus Anya heraus.

„Die Frage könnte ich dir auch stellen“, erwiderte er ruhig, „was machst du hier?“

Langsam ging er an ihr vorbei.

„Ich will ins Hotel …“ Irgendetwas stimmte nicht, das spürte Anya sofort. „Seit wann bist du hier?“

„Bist du es nicht leid?“, fragte Nick, als er neben ihr stand und sich ihr zudrehte. „Immer wieder dieselben Fehler zu begehen?“

Die Blonde geriet ins Stocken und wich zurück, stieß gegen das Geländer. „Was soll das?“

„Du hast kein Recht hier zu sein“, kam es mit einem Male hasserfüllt aus Nicks Mund, „du hättest im Turm sterben sollen. Das wäre das Mindeste für deine Sünden gewesen.“

Entgeistert schrie sie: „Hör auf damit, Harper!“

„Aber was nicht ist“, murmelte er leise und versetzte ihr einen Stoß, „kann noch werden!“

 

Anyas Welt überschlug sich, als sie über das Geländer der Brücke rutschte und in die Tiefe fiel. Eisige Kälte hüllte sie ein, als sie die Oberfläche des Flusses durchdrang und mit ausgestreckten Gliedmaßen in die Tiefe sank.

Es dauerte einen Moment, ehe sie überhaupt begriff was geschehen war.

„Lass diese Welt los, Anya. Du gehörst nicht hierher“, hörte sie Nicks Stimme klar und deutlich.

Jene war es auch, die sie zurück zu Sinnen brachte. Anya begann mit den Armen auszuholen und zu schwimmen. Sie konnte die Oberfläche des Flusses noch erahnen, sah das gold-orangene Licht dort über sich.

„Nein, du kommst nicht mehr zurück. Der Abgrund wartet auf dich. Du wolltest es so.“

Egal wie sehr sie sich bemühte, es schien, als käme sie nicht weiter. Im Gegenteil, das Licht rückte in weite Ferne. Panik stieg in ihr auf, sie wollte um Hilfe schreien, doch im Wasser hörte sie niemand. Sie versank in der Finsternis.

 

~-~-~

 

Anya Bauer, was ist mit dir los!? Antworte!

 

Levrier schwebte neben dem Mädchen, das sich in gebeugter Haltung am Geländer fest hielt und keinen Millimeter rührte. Eben hatte sie etwas sagen wollen, war jedoch mitten im Satz verstummt.
 

Geht es dir nicht gut!?

 

Er näherte sich ihr von der Seite, doch sie verharrte starr, als wäre die Zeit angehalten worden. Der als [Gem-Knight Pearl] wiedergeborene Levrier wusste nicht, was er tun sollte. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch fasste durch ihren Kopf hindurch, statt ihn zu streicheln.
 

Anya Bauer!

 

Er ahnte nicht, dass oben auf der Spitze des Tores inmitten der Brücke eine in weiß gekleidete Gestalt stand und das Ganze von oben herab beobachtete.

 

~-~-~

 

Hustend rollte sich Anya auf den Rücken. War sie irgendwie an Land gespült worden? Doch als sie die Augen öffnete, sah sie nur Finsternis. Und Nick, der auf sie herabblickte.

„Es ist zu spät.“

„Für was!?“ Sofort richtete sich das Mädchen auf und wich von ihm zurück.

„Sich zu ändern.“

Erschrocken wirbelte das Mädchen um. Abby!? Ausdruckslos starrte jene an ihr vorbei. „Du bist der Abgrund. Und ein Abgrund kann nun mal nichts anderes, als andere in die Tiefe zu ziehen.“

„Das ist nicht wahr!“ Mit ausholenden Handbewegungen beteuerte Anya verzweifelt, was sie dachte. „Wenn das so wäre, hättet ihr mich längst im Stich gelassen! Ihr glaubt doch an mich!“

„Nicht mehr.“

Von seinen Worten gelähmt, drehte sich Anya zu Nick um. Es war, als hätte man ihr einen Dolch in die Brust gerammt. So sehr schmerzte es. „Nein …!“

„Wir sind nicht mehr deine Freunde.“

Die Blonde beteuerte, panisch zwischen den beiden hin und her wechselnd: „Ich habe mich geändert!“

„Menschen können sich nicht ändern, Anya“, sagte Nick kaltherzig, „nicht wirklich. Sie können lästige Angewohnheiten abstreifen, aber ihr Kern wird immer derselbe sein.“

Abby drehte den Kopf zur Seite. „Und du bist innerlich verdorben und rücksichtslos. Das weißt du auch.“

Die plötzlich auftauchende Stimme Valeries hinter Anya ließ diese zusammenzucken. „Deswegen möchtest du gehasst werden. Weil es der einzige Weg ist, mit anderen in Kontakt zu treten.“

 

Anya keuchte und wirbelte herum. Sie breitete die Arme weit aus, als würde sie damit überzeugender wirken, auch wenn sie wusste, dass dies nicht der Fall war. „Bullshit! Ich will nicht gehasst werden!“

„Warum tust du dann alles in deiner Macht stehende, um das Gegenteil zu erreichen?“

Matt! Anya drehte sich schockiert um, jetzt auch noch ihn zwischen Nick und Valerie zu sehen.

„Du bist nicht imstande, Gefühle für deine Mitmenschen zu hegen“, sprach er monoton, „und ohne diese kannst du auch keine Gefühle für dich wecken. Deswegen erzeugst du Schmerz, dürstend nach irgendeiner Reaktion deiner Umwelt.“

„D-das stimmt nicht!“

Valerie neben ihm setzte ein. „Wie heuchlerisch du bist, Anya. Zwar willst du niemanden in dein Chaos hineinziehen, doch genau das tust du. Immer und immer wieder.“

„Wegen dir wurde ich angeschossen und wäre fast gestorben“, klagte Abby.

Nick sah sie herablassend an. „Du kannst dich nicht einmal für all das bedanken, was ich bisher für dich getan habe.“

„Deinetwegen kann ich jemanden, den ich sehr liebe, nie wieder sehen!“, tönte Matt lauter.

„Du willst die Heldin sein? Warum sind es dann wir, die leiden müssen?“ Abby trat einen Schritt auf Anya zu, was diese instinktiv zurückweichen ließ. „Die Geschichte wiederholt sich und wieder bist es du, die droht, uns alle ins Verderben zu stürzen!“

Nick tat es ihr gleich und setzte einen Fuß vor den anderen. „Du kannst nur zerstören.“

Auch Matt zog mit. „Und wenn du dieses Mal zu weit gehst, wird es kein Happy End geben.“

 

Die sonst so taffe Anya brachte es nicht fertig, sich gegen ihre Freunde aufzulehnen und wich immer weiter zurück. Bis sie gegen Valerie stieß, die geradezu hasserfüllt zu ihr herab starrte und so viel größer als gewöhnlich wirkte.

„Ohne unsere Hilfe wärst du verloren, Anya.“

„Du kannst nicht alleine existieren“, sagte Abby vorwurfsvoll, „aber alle anderen dürfen vor dir fallen, nur damit du am Ende überlebst.“

Matt lächelte bitter. „Weil dir letztlich doch unser Schicksal egal ist, solange du dich in Sicherheit wiegen kannst.“

„Wir sind deine Bauernopfer, die du bereit bist wegzuschmeißen, wenn du vor die Wahl gestellt wirst.“ Nick funkelte sie böse an. „Sieh in dich hinein und du wirst erkennen, dass das die Wahrheit ist.“

„Am Ende ist sich jeder selbst am nächsten“, stimmte Valerie zu.

Anya sank in die Knie und hielt sich die Hände über die Ohren. „Hört auf! Das stimmt alles nicht!“

„Tut es wohl.“

„Hör auf, dich selbst zu belügen.“

„Du bist niederträchtig, sieh's doch ein.“

„Falsche Schlange!“

Mit all ihrer Kraft schrie Anya: „Haltet alle euer Maul! Ich bin nicht so!“

 

Wie bist du dann? Weißt du überhaupt, wer du bist?

 

Diese verzerrte, weibliche Stimme kannte Anya gar nicht. Als sie aufsah und die Hände von den Ohren nahm, bemerkte sie, dass ihre Freunde verschwunden waren.
 

Weißt du, wer du sein möchtest?

 

Anya antwortete nicht. Plötzlich drangen sie in ihren Kopf ein. So viele Antworten, gegeben von ihr bekannten Personen, dass sie unter der Überlastung anfing qualvoll zu schreien.

 

Heldin

 

Stark

 

Monster

 

Geliebt

 

Attraktiv

 

Böse

 

Lebendig

 

Furchteinflößend

 

Ehrlich

 

Sicher
 

Duel Queen

 

alleine!

 

Nichts …

 

„So ist es richtig! Sei niemand. Denke nichts. So kannst du niemandem wehtun.“

„So werden die Stimmen verstummen.“

„Keiner wird es bemerken.“

„Wenn du weg bist. Es wird sie nicht stören.“

 

Anya trieb im Nichts vor sich her, die Augen leer. Musik spielte im Hintergrund, ein trauriges Klavierstück.

 

„Was hindert dich daran, einfach zu existieren aufzuhören?“

„Warum klammerst du dich an etwas fest, das du selbst als wertlos erachtest?“

„Bist du deine eigenen Lügen nicht leid?“

„Sehnst du dich nicht nach Frieden?“

 

Das tat sie, dachte Anya. Es sollte vorbei sein, das ewige Kämpfen. Tausend Dämonen schienen hinter ihr her zu sein, dabei wollte sie doch nur …

 

„Sterben?“

„Tu's doch einfach.“

„Du willst sowieso wissen, was danach kommt. Nach dem Leben.“

„Nicht einmal der Sammler weiß es. Willst du ihm nicht einen Strich durch die Rechnung machen und einmal die Stärkere sein?“

„Du musst dich dafür nicht schämen.“

 

Anya blinzelte, dann formten ihre Lippen einen stummen Satz.

 

Ihr könnt mich alle mal kreuzweise, ihr Wichser!

 

„Dein Wille ist schwer zu brechen“, hörte sie die fremde Frau in der Ferne des Nichts sagen, „aber in einer Welt, in der Zeit keine Rolle spielt, hast du keine Chance, Anya Bauer.“

Plötzlich vernahm jene ein Surren in ihrem Gehörgang und presste die Hände wieder auf die Ohren. Und die Stimmen kamen wieder …

„Wir sind die Boten Zeds“, war unter ihnen immer wieder klar zu verstehen, „die, die die Wahrheit spricht.“

 

~-~-~

 

Fürchterliche Erschütterungen suchten Anyas Elysion heim. Die große Schreibe in seiner Mitte, das bunte Mosaik der Erde, bekam langsam Sprünge, die sich in tiefe Risse verwandelten. Und am Rande der Plattform, zur Schwelle der endlosen Dunkelheit, stand eine Frau, gekleidet in einer weißen, ärmellosen Robe. Bis zum Boden reichte ihr schwarzes Haar.

„Hartnäckig“, murmelte sie vor sich hin.

„Das ist sie in der Tat.“

Erschrocken wirbelte Zed um. Auf der anderen Seite der Plattform stand jemand, eine Gestalt in weißer Rüstung. Ihre Augen leuchteten blau.

„Levrier. Ich habe mit dir gerechnet.“

Jener sah sein Gegenüber, welches vor dem Gesicht eine weiße Maske trug, die weit über die Stirn hinausragte und schon einem Turm glich, ausdruckslos an. „Wie gut, dass ich hierhergekommen bin und dich gefunden habe. Du versuchst ihre Gedanken zu verschmutzen und zum Selbstmord zu treiben.“

„So ist es und du kannst nichts dagegen tun. Jeder Versuch, mit ihr in Kontakt zu treten, wird sofort von mir unterbunden.“

„Ich bin nicht hier, um mit Anya Bauer zu reden“, sagte er und streckte den Arm aus. An diesem materialisierte sich eine Imitation ihrer alten Battle City-Duel Disk, „sondern das Problem bei der Wurzel zu packen.“

Zed entfuhr ein arrogantes Lachen, als sie ein paar Schritte vortrat. „Ich bin eine Undying, du kannst mir nichts anhaben. Verschwende nicht deine Zeit.“

„Dessen wäre ich mir nicht so sicher. Ich kenne nicht die Methode, mit der du dir Zugang zu Anya Bauers Elysion verschafft hast“, sagte er selbstsicher, „aber ich weiß, dass es einen Unterschied zwischen einer unsterblichen Hülle und der Manifestation des eigenen Willens gibt.“

Seine Gegnerin schürzte die roten Lippen, antwortete aber nicht. Wozu auch, als sie den Arm ausstreckte und eine silberne, sichelförmige Duel Disk an jenem erschien.

Levrier nickte. „Gut so. Zumindest bist du keine Närrin.“

„Da du dich mir in die Quere stellst, musst auch du beseitigt werden.“

„Duell!“, hallte es anschließend im Chor über das Elysion hinweg.

 

[Levrier: 4000LP / Zed: 4000LP]

 

„Da dies Anya Bauers Zuflucht ist, gebührt mir als ihr Vertreter der erste Zug“, bestimmte Levrier und zog sechsmal hintereinander.

Seine schwarzhaarige Gegnerin nickte. „Ich erlaube es.“

Die blauen Augen des [Gem-Knight Pearls], Levriers Avatar, blitzten auf. „Du befindest dich nicht in der Position, solche Zugeständnisse zu machen. Egal ob du eine Undying bist oder nicht, dieser Ort steht nicht unter deiner Herrschaft.“

Zed blieb regungslos. „Aber er wird es, sobald Anya Bauers Wille gebrochen ist.“

„Das lasse ich nicht zu!“ Wütend knallte Levrier ein Monster auf seine Duel Disk, die der originalen von Anya bis ins letzte Detail glich. „Dieses spiele ich verdeckt. Dazu setze ich eine weitere Karte als Absicherung. Führe deinen Zug durch, Undying.“

 

Jene Frau mit der hohen, weißen Maske brauchte dafür keine Aufforderung. Noch während sich die Karten vor Levrier in horizontaler beziehungsweise vertikaler Lage materialisierten, riss sie eine Karte von ihrem Deck.

Diese steckte sie in ihr Blatt und nahm stattdessen eine Zauberkarte aus jenem hervor. Die Spielfeldzauberkartenzone ihrer sichelförmigen Duel Disk fuhr automatisch aus, sodass sie die Karte nur noch einzulegen brauchte.

„Ich aktiviere [Aura Dominion].“

Das Mosaik der Erde unter ihren Füßen löste sich mitsamt der es umgebenden Dunkelheit auf. Stattdessen befanden die beiden Duellanten sich nun auf einer grell leuchtenden Ebene, umgeben von riesigen Säulen aus purem Licht. In der Ferne ging in jeder der vier Himmelsrichtungen eine Sonne am rosafarbenen Horizont auf. Dazu umhüllte ein seichter Nebel das Spielfeld. Jenes wurde als offener Tempel dargestellt, in dessen Mitte sich eine Vertiefung befand, die von jeder Seite durch drei Stufen aus sandfarbenem Gestein erreicht werden konnte.

Zed erklärte: „Einmal pro Zug erlaubt diese Spielfeldmagie es mir, eine Karte von meinem Deck auf den Friedhof zu schicken. Danach erschafft sie mir drei Spielmarken, die mir für diesen Zug frei zur Verfügung stehen.“

Sie nahm die oberste Karte ihres Decks und schob jene in den Friedhofsschlitz der Duel Disk. Vor ihr bildeten sich drei gleißende Kugeln aus weißem Feuer, die in einer Reihe vor ihr schwebten.

 

„Soul Aura“-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Zwei von ihnen lösten sich im Anschluss sofort wieder auf.

„Ich führe eine Tributbeschwörung durch. Erscheine, [Demigod Of Purging Fire, Efreet]!“

Unter lautem Getöse schoss eine meterhohe Feuersäule vor Zed aus dem Boden. Aus ihr ragten erst vier lange, klauenbesetzte Arme, ehe die Kreatur aus dem lodernden Inferno sprang. Von bestialischer Gestalt, stand sie auf zwei Beinen und sah einer Mischung aus Eber und Humanoid noch am ähnlichsten. Von weißem, leuchtenden Fell und dementsprechend erhabener Natur, verschränkte sie zwei ihrer Arme. Die schwarzen Hörner ragten in die Höhe, in der Schweinenase hing ein goldener Ring. Stolz brüllte Efreet seinen überraschten Gegner an.

 

Demigod Of Purging Fire, Efreet [ATK/2900 DEF/2300 (10)]

 

Zed streckte den Arm aus. „Da alle geopferten Monster für Efreets Beschwörung Spielmarken waren, aktiviert sich sein Effekt: Er fügt meinem Gegner umgehend 1500 Punkte Schaden zu! Aura Meteor!“

Über den gen Himmel ausgestreckten, flachen Händen der Bestie entstanden zwei lodernde, goldene Flammenkugeln, die Efreet ohne zu zögern auf Levrier schleuderte. Der hielt schützend den Arm mit seiner Duel Disk vor den Oberkörper und Kopf, doch als die Geschosse ihn erreichten, explodierten sie vorzeitig.

 

[Levrier: 4000LP → 2500LP / Zed: 4000LP]

 

Statt am Boden zu liegen, stand Levrier unbekümmert da.

Derweil schwang Zed ihren ausgestreckten Arm zur Seite. „Danach aktiviere ich den zweiten Effekt Efreets. Indem ich eine Spielmarke opfere, kann keines meiner Monster bis zur End Phase des Feindes als Ziel eines Zauber- oder Fallenkarteneffekts werden! Pillars of Protection!“

Sogleich streckte Efreet einen seiner Arme nach rechts und schnappte sich damit die verbliebene Feuerkugel, zerquetschte sie mühelos. Unter ihm schoss augenblicklich eine goldene Flammensäule empor, die ihn komplett einhüllte.

„Und jetzt befehle ich dir anzugreifen!“, rief Zed mit ausgestrecktem Arm.

Der dämonische Lichtgott öffnete, umgeben von dem goldenen Feuer, sein Maul und spie eine Stichflamme in Richtung von Levriers verdecktem Monster. Dessen Karte wirbelte herum und präsentierte einen maskierten Krieger in grünem Mantel, der eine gezackte Klinge mit sich führte. Er konnte dem Angriff nicht im Geringsten standhalten und verwandelte sich umgehend in Asche.

 

??? [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Die eigene Überraschung unterdrückend, murmelte Zed: „Kein Gem-Knight?“

Levrier musste auflachen. „Anya Bauer duelliert sich regelmäßig mit ihnen. Es ist ihr Deck und auch wenn ich die Form eines ihrer Monster annehme, so bestehe ich doch darauf, dass auf meine eigene Identität Rücksicht genommen wird.“

„Und was sollen diese Monster sein? Söldner, gar Helden?“, fragte Zed abfällig. „Anscheinend fühlst du dich selbst wie einer. Narr, du hättest dich nicht einmischen sollen.“

„Aber es kommt doch so selten jemand hierher, wie könnte ich nicht?“, fragte Levrier gespielt kleinkindhaft.

„Ich setze diese Karte“, verkündete Zed erhaben und schob jene in ihre Duel Disk, „damit beende-“

Noch während jene sich vor ihren weißen Stiefeln materialisierte, hob Levrier die Hand. „Halt! Bevor du das tust, aktiviere ich meine Falle [Limit Reverse]. Sie reanimiert ein Monster mit höchstens 1000 Angriffspunkten von meinem Friedhof in Angriffsposition.“

Ein dunkler Runenzirkel öffnete sich vor Levrier. Aus diesem entstieg sein etwas kleinwüchsiger Krieger, dessen grüner Mantel unruhig vor sich her flatterte. Die gezackte Klinge hielt er hinter dem Rücken versteckt.

„[Heroic Challenger – Ambush Soldier]“, benannte Levrier ihn, „willkommen zurück.“

 

Heroic Challenger – Ambush Soldier [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

„Wie du meinst“, zeigte sich Zed gleichgültig, „es ist nun dein Zug.“

 

Nachdem Levrier aufgezogen hatte, begann sein Krieger plötzlich geheimnisvoll zu kichern. Dann pfiff er plötzlich und warf eine Rauchbombe, die binnen eines Herzschlages Levriers komplettes Feld in schwarzen Rauch einhüllte.

„Was sollen diese Tricks!?“, fauchte Zed ärgerlich.

„Keine Tricks, nur ein Effekt“, hallte es aus dem Qualm.

Jener löste sich auf und statt des Soldaten, standen zwei neue Monster vor Levrier. Zum einen war da ein dunkelblau gepanzerter Krieger, der einen mächtigen Eisenhammer schwang. Neben ihm dagegen ein weißer, an dessen rechten Arm eine ausklappbare Schwertklinge befestigt war.

„In der Standby Phase hat sich lediglich [Heroic Challenger – Ambush Soldiers] Effekt aktiviert: Er bietet sich als Tribut an und beschwört im Gegenzug zwei seiner Kameraden von meiner Hand, namentlich [Heroic Challenger – War Hammer] und [Heroic Challenger – Clasp Sword].“

 

Heroic Challenger – War Hammer [ATK/2100 DEF/1300 (6)]

Heroic Challenger – Clasp Sword [ATK/300 DEF/100 (1)]

 

Letzterer streckte seine Armklinge in die Höhe. Levrier zeigte seine Duel Disk vor. „Dies löst Clasp Swords Effekt aus, denn sobald er durch ein Heroic-Monster gerufen wird, schickt er ein solches von meinem Deck aufs Blatt. Und dieses beschwöre ich sogleich als Normalbeschwörung, [Heroic Challenger – Extra Sword]!“

Levrier knallte die Karte auf seine Duel Disk und ließ zwischen seinen anderen beiden einen Krieger in grün-weißer Rüstung erscheinen, welcher zwei Schwerter mit sich führte.

 

Heroic Challenger – Extra Sword [ATK/1000 DEF/1000 (4)]

 

Zed schnalzte mit der Zunge, als ihr Gegner eine Zauberkarte vorzeigte. „Wie du sehen kannst, verfügt keines meiner Monster über eine identische Stufe, um eine Xyz-Beschwörung durchzuführen. Es fehlt sozusagen die Harmonie unter ihnen, aber das wird diese Karte ändern: [Harmonic Waves]! Mache Clasp Sword zu einem Stufe 4-Monster.“

Jener, welcher neben Extra Sword stand, strecke die Klinge an seinem Arm in die Höhe, was sein Kamerad ihm gleich tat, sodass ihre Schwerter sich in der Luft kreuzten.

 

Heroic Challenger – Clasp Sword [ATK/300 DEF/100 (1 → 4)]

 

Levrier streckte den Arm nach vorne. Vor ihm öffnete sich ein schwarzer Wirbel. „Ich errichte das Overlay Network! Nun werden meine Stufe 4-Krieger zu einem Rang 4-Monster!“

Jene verwandelten sich in braune Energiestrahlen, welche in jenes Loch gezogen wurden, aus welchem daraufhin eine Explosion folgte. „Xyz Summon! Kämpfe für mich, [Heroic Champion – Gandiva]!“

Aus dem Überlagerungsnetzwerk kam ein Rappe gesprungen, geschützt durch eine rote Körperpanzerung. Sein Reiter war ein blauer Krieger mit zweigehörntem Helm, welcher einen Bogen spann. Jener wurde von zwei Lichtkugeln umkreist.

 

Heroic Champion – Gandiva [ATK/2100 → 3100 DEF/1800 {4} OLU: 2]

 

Zed keuchte erschrocken. „Seine Punkte steigen!“

„In der Tat. [Heroic Challenger – Extra Swords] Effekt ist dafür verantwortlich, denn wird jener für eine Xyz-Beschwörung als Material benutzt, erhält dieses Xyz-Monster 1000 Angriffspunkte.“ Im gleichen Zuge rammte Levrier eine Zauberkarte in die Duel Disk, die Anyas nachempfunden war. „Und Gandiva ist nicht der Einzige, dessen Punkte steigen werden! Zauberkarte [Heroic Chance]! Sie verdoppelt War Hammers Wert für einen Zug!“

Seine Gegnerin schrie regelrecht auf, als der Hammer des riesigen Kriegers neben dem Reiter Gandiva derart grell zu leuchten begann, dass es den Anschein erweckte, er würde lediglich aus roter Energie bestehen.
 

Heroic Challenger – War Hammer [ATK/2100 → 4200 DEF/1300 (6)]

 

Levrier streckte den Arm aus. „Ich sage es nur noch einmal, Undying! Deine Anwesenheit hier wird nicht geduldet. Gehe jetzt in Frieden und ich werde davon absehen, dir irreparablen Schaden zuzufügen.“

Seinem Angebot zum Trotz schnalzte Zed selbstgefällig mit der Zunge. „Du überschätzt deine Fähigkeiten, Abkömmling.“

„Dann habe ich dir nichts mehr zu sagen“, erwiderte Levrier gleichgültig. „Greife ihr Monster an, War Hammer!“

Jener ließ seine Waffe scheinbar mühelos über dem Kopf kreisen, stürmte dann auf den weißen, wildschweinartigen Halbgott in seiner Feuersäule zu und zertrümmerte diesen mit einem einzigen Hieb. Eine Schockwelle wurde dabei losgelassen, als die Waffe mit Efreets Kopf unter sich auf den Boden knallte. Zed wurde erfasst und meterweit fort geschleudert, über die kleine Insel hinweg in das hellrosa-farbene Feld. Dabei entfuhr ihr ein greller Schrei.

 

[Levrier: 2500LP / Zed: 4000LP → 2700LP]

 

Heroic Challenger – War Hammer [ATK/4200 → 7100 DEF/1300 (6)]

 

Plötzlich wuchsen Efreets Hörner aus dem Kopf des Hammers. Levrier erklärte: „Wie du sehen kannst, lernt War Hammer dazu und verleibt sich wortwörtlich die Kraft deines Monsters ein. Aber die wird er nicht länger brauchen, denn dieses Duell ist vorbei.“

Dabei streckte er den Arm in die Höhe. „Greife sie direkt an, Gandiva!“

Gnadenlos, genau wie sein Herr, spannte der Reiter seinen Bogen und ließ einen Pfeil von der Sehne.

Zed, die auf dem Rücken lag, richtete sich keuchend auf. „Niemals! Falle aktivieren, [Dekagon Gate]!“

Plötzlich wurde die Zeit wie von Zauberhand verlangsamt, sodass Gandivas Pfeil in Zeitlupe durch die Luft schoss. Aus der aufgeklappten Karte der Schwarzhaarigen schossen zehn Sterne, wie sie auf den Duel Monsters-Karten abgebildet waren und bildeten zwischen einander Energielinien, welche alle zusammen ein Tor formten.

„[Dekagon Gate] erlaubt es mir, ein Stufe 10-Monster als Spezialbeschwörung zu beschwören! Erscheine, [Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm]!“

Die Sterne schossen auseinander und machten das Portal somit zunehmend größer. Aus ihm heraus trat schließlich eine gut fünf Meter große Kreatur. Weiß war ihr bis zum Boden reichender Bart, aus Eis die doppelköpfige Axt in ihren Händen. Der Riese, welcher in seiner kriegerischen Aufmachung nicht zuletzt wegen der Hörner an seinem Helm wie ein Wikinger anmutete, ging vor Zed in die Knie …

 

Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm [ATK/3000 DEF/2500 (10)]

 

… und wurde anschließend, als die Zeit wieder ihrem alten Fluss folgte, von Gandivas Pfeil durchbohrt. Er explodierte.

 

[Levrier: 2500LP / Zed: 2700LP → 5200LP]

 

Unvermittelt stand Zed dort, wo sie gestanden hatte, bevor Levriers Angriff sie erfasst hatte. Sie zeigte Northgrimms Karte vor. „Ein durch [Dekagon Gate] beschworenes Monster kehrt unabhängig davon, ob es zerstört wurde oder nicht, letztlich auf mein Blatt zurück. Da du aber so töricht warst es anzugreifen, habe ich Leben in Höhe seiner Verteidigung erhalten.“

„Du verzögerst nur das Unausweichliche. Zug beendet“, verkündete Levrier unbeirrt. „Damit schwindet der [Heroic Chance]-Effekt.“

 

Heroic Challenger – War Hammer [ATK/7100 → 5000 DEF/1300 (6)]

 

Zed neigte den Kopf ein wenig nach unten und obwohl sie eine Maske trug, wirkte es, als würde sie Levrier hasserfüllt anstarren. „Ich kann jemanden, den ich als Feind betrachte, unmöglich um etwas bitten. Aber dennoch … verfolgt den Pfad nicht weiter, der euch vorgegeben wurde.“

„Der Pfad, der zum Narthex führt?“

Hörte er da Zweifel, fragte sich Levrier insgeheim.

„Nein, das ist mir gleich. Mir geht es nur um ihn.“

Der als [Gem-Knight Pearl] verkörperte Levrier gab ein nachdenkliches Geräusch von sich.

„Um Ricther. Ich will nicht, dass er sich noch länger mit diesem Mädchen beschäftigt. Es hat bereits angefangen.“ Zeds Stimme wurde leiser. „Sie verdirbt ihn, er handelt nicht wie er sollte.“

Levrier lachte leise. „Was könnte verdorbener sein als ein Mädchen in den Wahnsinn treiben zu wollen? Du hast Recht, Undying, als Feindin steht es dir nicht frei, uns um etwas zu bitten.“

Zed reckte das Kinn nach vorne. „Als Feindin nicht. Aber ich bin eine Undying und besitze das Recht, meinen Willen mit meiner gottgegebenen Macht durchzusetzen! Draw!“

 

Schwungvoll zog sie, nur um dann mit der Karte zwischen den Fingern ihre Hand nach vorne zu stoßen. „Ich erschaffe mit dem Effekt von [Aura Dominion] drei Spielmarken!“

Nachdem sie die Karte in ihr Blatt gesteckt hatte, nahm sie die oberste von ihrem Deck und führte sie ihrem Friedhof zu. Vor ihr begannen drei weiße Flammen aufzulodern, die eine nach der anderen durch einen Pfeil zum Verpuffen gebracht wurden. Abgeschossen von Gandiva.

 

Heroic Champion – Gandiva [ATK/3100 DEF/1800 {4} OLU: 2 → 1]

 

„Deine Absichten sind vorhersehbar“, sagte Levrier mit verschränkten Armen, „deshalb habe ich mich für Gandiva entschieden. Einmal pro Zug kann er für ein Xyz-Material alle Monster mit Höchststufe 4 zerstören, die durch ein und denselben Effekt spezialbeschworen wurden.“

Zed stöhnte leise auf, gab sich aber weiterhin hochmütig. „Du denkst, indem du mir die Spielmarken nimmst, kannst du mich übertrumpfen? Klug, aber auf so etwas bin ich vorbereitet! Für die Hälfte meines Lebens aktiviere ich [Divine Sacrifice]!“

Die Schwarzhaarige in weißer Robe streckte die Arme weit aus. Von ihrem Rücken erstreckten sich weiße Lichtschwingen, von denen sie sich in die Höhe hieven ließ.

 

[Levrier: 2500LP / Zed: 5200LP → 2600LP]

 

Während sie aufstieg, legte sie ihre Hand auf die Mitte ihrer Brust. „Mit dieser Karte kann ich den Effekt von [Aura Dominion] ein zusätzliches Mal aktivieren! Dieses Mal kannst du es nicht stoppen! Ha!“

Sie schwang ihren Arm nach unten gerichtet aus und schoss daraus drei Lichtkugeln ab, die auf ihrer Spielfeldseite zu den weißen, lodernden Seelenflammen wurden.

 

„Soul Aura“-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

„Ein kostspieliges Vergnügen“, kommentierte Levrier dies ungerührt.

„Jeden Lebenspunkt wert“, hielt Zed dagegen und schnippte mit dem Finger, „Tributbeschwörung! Bringe die Kälte, [Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm]!“

Hinter Zed schoss eine riesige Säule aus massivem Eis hervor, in welche zwei der flackernden Flammen verschwanden. Dies brachte das Gebilde zum Zerbersten und offenbarte den darin eingeschlossenen, bärtigen Riesen mit seiner Eisaxt. Sein himmelblauer Umhang war von einem leichten Nebel umgeben. Zed flog rückwärts zu ihm und ließ sich sitzend auf seiner Schulter nieder.

 

Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm [ATK/3000 DEF/2500 (10)]

 

Von ihrer hohen Position aus zeigte sie auf Levrier. „Waren seine Tribute Spielmarken, friert Northgrimm alle Karten meines Gegners ein und annulliert ihre Effekte. Dies betrifft auch Wertveränderungen! Aura Freeze!“

Der mächtige Wikinger öffnete seinen Mund und hauchte daraus einen nebligen Odem, welcher das gesamte Spielfeld mit Eis überzog und Levriers Monster darin einschloss. Jener nahm es gelassen und erwiderte geradezu schnippisch: „Hätte ich das gewusst, hätte ich einen Schal mitgenommen.“

 

Heroic Champion – Gandiva [ATK/3100 → 2100 DEF/1800 {4} OLU: 1]

Heroic Challenger – War Hammer [ATK/5000 → 2100 DEF/1300 (6)]

 

Wie sie da auf der Schulter des Riesen saß und auf Levrier herabsah, wirkte Zed wahrlich wie eine Göttin. Einer solchen gleich, ließ sie ihre Hand sinken, als wolle sie sie ihrem Gegner reichen. Doch ihre Worte spiegelten das genaue Gegenteil wider. „Northgrimms zweiter Effekt: Ich biete eine Spielmarke an und darf dafür in diesem Zug ohne Tribut beschwören.“

„Dann heißt das bestimmt, dass gleich eine Karte folgen wird, die dich noch ein Monster rufen lässt, Undying“, mutmaßte Levrier.

Aber ihr scharfer, hochmütiger Tonfall sollte ihn eines Besseren belehren. „Falsch, jene Karte wurde längst gespielt. [Divine Sacrifice] erlaubt eine zusätzliche Normalbeschwörung. Und nun erscheine, [Demigod Of Rising Currents, Albion]!“

Northgrimm streckte seine Hand nach der einzelnen Seelenflamme aus und ließ sie über seiner Handfläche verharren. Er verleibte ihr seinen eisigen Hauch inne und ließ sie aufsteigen. In der Luft begann sie regelrecht zu gleißen, je zwei Flügelpaare zu jeder Seite wuchsen aus ihr, während sie sich verformte und einen länglichen Körper bildete. Aus diesem wuchsen zwei Adlerköpfe, deren pupillenlose Augen in die Ferne starrten.

 

Demigod Of Rising Currents, Albion [ATK/2600 DEF/2900 (10)]

 

„Nun greift an!“, befahl Zed und zeigte erbarmungslos mit dem Finger auf die gefrorenen Monster ihres Gegners.

Northgrimm holte mit seiner Axt aus und zerschmetterte War Hammer. Zeitgleich spreizte Albion seine Schwingen und schoss von ihnen hunderte spitze, weiße Federn ab, die Gandiva und sein Ross durchbohrten. Eissplitter und verstreute Federn schlugen Levrier entgegen und beim ersten Kontakt wurde dieser von einer heftigen Explosion heimgesucht.

 

[Levrier: 2500LP → 1100LP / Zed: 2600LP]

 

Doch als der Rauch verflog, stand Anyas Freund noch immer völlig unbeschadet da. Zed zischte ärgerlich ob ihres scheinbar erfolglosen Angriffs. „Wie kann das sein …?“

„Du wirst dir etwas anderes ausdenken müssen, fürchte ich.“

„Dazu besteht kein Anlass, schließlich bist du es, der mit dem Rücken zur Wand steht!“ Energisch nahm sie ihre letzte Handkarte und legte sie in ihre sichelförmige Duel Disk ein. „Zug beendet.“

Vor den Füßen Northgrimms materialisierte sich jene Karte.

 

Als hätte er alle Zeit der Welt, zog Levrier seelenruhig seine nächste Karte und studierte sie eingehend. Eines hatte er inzwischen erkannt: Er konnte nicht länger einen direkten Konfrontationskurs mit seinen Monstern fahren. Zwar waren diese Experten, was Kämpfe anging, doch gegen die schiere Masse an hochstufigen Monstern, die Zed zu beschwören imstande war, konnten sie auf Dauer nichts ausrichten. Eine andere Strategie musste her.

„Ich beschwöre [Heroic Challenger – Chakram Master]“, verkündete er daher.

Die Karte, die er auf seine Duel Disk legte, offenbarte sich vor ihm als orientalisch angehauchter Krieger in dünnem, rotem Stoff. Nicht nur verhüllte ein Schleier seinen Mund, auch befanden sich auf seinem Rücken zwei klingenbesetzte Ringe.

 

Heroic Challenger – Chakram Master [ATK/1800 DEF/500 (4)]

 

Nach jenen griff er schließlich auch und zückte sie. Ganz Levriers Befehl entsprechend. „Greife [Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm] an!“

Zed erschrak lauthals, als das Monster ihres Gegners wie ein Diskuswerfer ausholte und seine Klingen nach ihr und ihrem Halbgott warf.

„Ganz egal, was du vorhast, ich lasse es nicht zu!“, rief sie aufgeregt und schnippte mit dem Finger, woraufhin die gesetzte Karte weit unter ihr aufsprang. „[Chains Of Immortality]! Sie verhindert einmal pro Zug, dass das ausgerüstete Monster, sofern es mindestens Stufe 10 erreicht hat, zerstört wird!“

Die auf der Falle abgebildete, goldene Kette schoss aus der Karte und richtete sich steil nach oben, wobei sie sich immer wieder um den Oberkörper Northgrimms wand, ehe sie bei Zed ankam, die ihrerseits den rechten Arm ausstreckte und jenen ebenfalls umwickeln ließ.

„Mir schwebt nichts dergleichen vor“, kommentierte Levrier die Befürchtungen seiner Gegnerin.

Wie kreisende Sägeblätter flogen Chakram Masters Ringe auf ihr Ziel zu. Eine schlitzte eine tiefe Wunde in den Arm des Riesen, die zweite zischte knapp an Zeds Wange vorbei ins Leere.

 

[Levrier: 1100LP / Zed: 2600LP → 1400LP]

 

„Ich habe Schaden genommen!?“, schoss es aus jener, nachdem sie dies bemerkte. „Was für ein Trick ist das!?“

„Das solltest du doch längst erkannt haben. Wenn Chakram Master angreift, wird er nicht zerstört und mein Feind trägt den Kampfschaden.“ Mit der Duel Disk an seinem Arm vor sich gerichtet, sagte Levrier: „Wenn ich deine Monster nicht besiegen kann, richte ich ihre Stärke gegen dich. Und nun sieh zu, wie du dagegen vorgehen willst. Zug beendet.“

 

Einen selbstgefälligen Zischlaut von sich gebend, riss Zed eine Karte von ihrem Deck. „Simpel! Ich werde dein Monster angreifen, dann kann es seinen Effekt nicht aktivieren! Battle Phase! Dies wird dein Ende!“

Wütend schwang sie den Arm aus, zeigte auf [Gem-Knight Pearl]. „Angriff! Löscht sein Monster und seine restlichen Lebenspunkte aus!“

Der zweiköpfige Vogel Albion spreizte seine Schwingen, während Northgrimm mit der Axt ausholte. Beide wurden zeitgleich von etwas in den Rücken getroffen und stockten, wobei Zed beinahe von der Schulter des Riesen geworfen wurde. Laut surrend kehrten die Chakrams zu ihrem Besitzer zurück, welcher jene auffing und wieder hinter seinem Rücken verstaute.

„Ich fürchte, das war die falsche Herangehensweise“, tadelte Levrier sie mit erhobenem Zeigefinger, „sobald [Heroic Challenger – Chakram Master] durch seinen Effekt Schaden zufügt, können sämtliche zu diesem Zeitpunkt anwesende Monster meines Gegners in dessen nächstem Zug nicht angreifen. Du hättest nicht so voreilig sein dürfen, Undying.“

„Wenn du denkst, mich überlistet zu haben, irrst du dich“, zischte die und streckte den Arm mit der goldenen Kette um ihr Handgelenk hervor, welche auch um Northgrimm gewickelt war. „Ich benutze den Effekt von [Chains Of Immortality]. Damit kann ich einen Wert des ausgerüsteten Monsters auf 0 setzen und die Hälfte davon meinem Leben hinzufügen.“

Der riesige, weiße Wikinger schrie kurz darauf schmerzerfüllt auf, als violette Entladungen von der Kette ausgehend ihn zu peinigen begannen. Jene krochen hoch hin bis zu Zed, in welche die Stromstöße ohne Schaden anzurichten verschwanden.

 

Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm [ATK/3000 DEF/2500 → 0 (10)]

 

[Levrier: 1100LP / Zed: 1400LP → 2650LP]

 

„So macht man sich keine Freunde“, bemängelte Levrier.

Zed hingegen zeigte ihre weißen Zähne, bevor sie den Arm zur Seite ausschwang. „Ich brauche nichts dergleichen! Undying haben zu funktionieren, mehr nicht! Effekt von [Aura Dominion] aktivieren! Ich beschwöre drei Spielmarken, indem ich die oberste Deckkarte ablege.“

Sie zog jene und schob sie in ihren Friedhofsschlitz. Über ihr und dem Riesen flammten drei weiße Kugeln auf.

 

„Soul Aura“-Spielmarke x3 [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Zwei davon lösten sich aber augenblicklich auf. So rief Zed: „Nun die Effekte von [Demigod Of Rising Currents, Albion] und [Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm]!“

Als Erstes kam der zweiköpfige, weiße Riesenvogel zum Zug. Seine goldenen Schnäbel öffneten sich und zusammen sangen sie im Chor eine helle Melodie, die die gesamte Umgebung scheinbar zum Vibrieren brachte.

„Albions Effekt, Aura Disharmonia, wird dafür sorgen, dass das nächste Monster, das du beschwörst, automatisch zerstört wird. Bedingung hierfür ist, dass ich zuvor ein sich auf dem Feld befindendes zerstöre und das neue Monster dieselbe Stufe besitzt.“ Damit schnippte Zed mit dem Finger. „Und Northgrimms Effekt kennst du bereits.“

Levrier verschränkte die Arme. „Monster ohne Tribut zu beschwören.“

„Korrekt! Daher lasse ich jetzt ihn erscheinen“, schrie Zed und knallte das Monster auf ihre Duel Disk, „[Demigod Of Ravaging Sea, Bismarck]!“

Unter lautem Geheul formte sich neben Albion eine gut anderthalb dutzend Meter lange Kreatur, von relativ flacher Gestalt. Einem Pottwal nicht unähnlich, schwebte die weiße Gottheit ohne erkenntliche Gesichtsmerkmale mit ihren dutzenden Flossen in der Luft. In ihrem Rücken waren riesige, blaue Edelsteine eingelassen, die zusammen ein kreisförmiges Muster ergaben.

 

Demigod Of Ravaging Sea, Bismarck [ATK/2800 DEF/2200 (10)]

 

Zed streckte den Finger aus. „Ich benutze sofort seinen Effekt! Durch das Opfern einer Spielmarke kann ich eine zweite Battle Phase durchführen, wenn auch ohne die Möglichkeit direkter Angriffe. Aura Dominance!“

Der Riesenwal gab ein regelmäßiges Klickgeräusch von sich, welches sich optisch als Schallwellen widerspiegelte. Als jene die Flamme über Zed erreichten, lösten sie sich mit ihr auf.

„Greife [Heroic Challenger – Chakram Master] an!“, befahl jene aufgebracht.

Da nur Bismarck nicht von dessen Effekt betroffen war, konnte auch nur er agieren. Was er auch tat, denn plötzlich riss die gesamte vordere Front seines Körpers auf und offenbarte einen Schlund, der bis zur Hälfte seines Torsos reichte. Aus diesem ließ er einen ganzen Wasserfall auf Levriers Monster los, welches in der reißenden Strömung, die dabei entstand, weggerissen wurde.

 

[Levrier: 1100LP → 100LP / Zed: 2650LP]

 

„Effekt Bismarcks!“, verkündete Zed. „Wird in der zusätzlichen Battle Phase ein Monster zerstört, muss sein Besitzer entsprechend seiner Stufe eine Anzahl von Deckkarten ablegen! In der Hoffnung, es mögen deine besten sein, Feind der ewigen Ordnung!“

Als die Flut verebbte, stand Levrier einmal mehr unberührt auf demselben Fleck und hob die obersten vier Karten seines Decks ab. Es waren [Reinforcement Of The Army], [Heroic Challenger – Spartan], [Heroic Gift] und [The Warrior Returning Alive]. Er sagte: „Keine Einzelkarte kann je besser sein als eine andere, wenn die Situation es nicht zulässt. Genau wie ein Lebewesen nie über einem anderen stehen sollte.“

Damit führte er die Karten seinem Friedhof zu.

„Sind das tatsächlich die Worte desjenigen, der sein Gefäß opfern wollte, um Eden zu werden?“ Zed reckte das Kinn nach oben. „Heuchelei. Und Naivität noch dazu. Eine Rangfolge bedeutet Struktur, Ordnung.“

Levrier sah in seiner ausdruckslosen Form zu ihr hinauf. „Auch ich glaubte das einst, ehe meine Zeit mit Anya Bauer mich eines Besseren belehrte. Es sind nicht die, die in der Hierarchie ganz oben stehen, die Großes vollbringen. Es sind die in den unteren Kasten. Und warum? Weil sie nicht alleine sind.“

„Wieso erzählst du mir das?“, wollte Zed skeptisch wissen.

„Weil du als Teil der obersten Kaste außer Arroganz keine nennenswerten Eigenschaften besitzt“, erwiderte Levrier scharf, „weil du alleine bist. Das Wort Undying allein löst in mir keine Furcht aus und weil das so ist, bist du machtlos.“

Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Zusammenhangslose Gedankengänge! Urteile nicht über das, was du nicht verstehst. Kümmere dich lieber um deinen Zug, denn der meine ist beendet!“

 

Levrier zog. Es stimmte, es waren zusammenhangslose Gedankengänge. Was wohl daran lag, dass es so vieles gab, was er Zed mitteilen wollte. Sie begriff nicht, in welcher Lage sie sich befand und versteifte sich darauf, eine Undying und damit automatisch unantastbar zu sein. Über allen anderen zu stehen und das Recht zu besitzen, Anya Bauer zu töten. Wie falsch sie damit lag. Und wie naiv sie war zu glauben, dass es so leicht werden würde. Wie blind sie war, nicht die Armee hinter Anya Bauer zu sehen. Ihre Freunde, die im Falle des Falles nicht mit Gegenwehr zögern würden. Und von all jenen ist Zed an den schlimmsten von allen geraten, ohne es zu ahnen.

 

„Draw“, verkündete Levrier besonnen und überlegte noch einmal.

Sie fühlte sich überlegen, dabei hatte sie den Zenit ihres Potentials unwissentlich überschritten. Doch noch konnte Levrier ihr dies nicht beweisen. An ihre Worte zurückdenkend, bezüglich Albions Effekt, wusste Anyas ehemaliger Paktpartner, dass das Vogelwesen ein Problem darstellen würde. Chakram Master war Stufe 4 gewesen, was bedeutete, dass sein nächstes Stufe 4-Monster unweigerlich verenden würde. Und da Zed den Zeitraum des Effekts nicht eingegrenzt hatte, galt jener vermutlich solange, bis er ausgelöst wurde. Er stand also unter Zugzwang.

„Glücklicherweise habe ich dieses Monster. Ich beschwöre [Heroic Challenger – Night Watchman].“ Jenen legte Levrier auf seine Duel Disk und ließ gleich die Hand über der Karte verharren.

Denn sofort als der dunkle, in violettem Mantel gehüllte Krieger erschien und seine Laterne anhob, schwang Zed den Arm aus.

 

Heroic Challenger – Night Watchman [ATK/1200 DEF/300 (4)]

 

„Damit hast du den Effekt von [Demigod Of Rising Currents, Albion] ausgelöst! Aura Disharmonia!“

Die beiden Augenpaare des Vogels begannen blau aufzuleuchten, als jener sich zu krümmen begann. Es war, als würde ein Krampf seinen ganzen Körper heimsuchen. Dann zuckte er zusammen und für einen Sekundenbruchteil schoss jenes Glühen regelrecht aus seinen Augen heraus. Im selben Augenblick zerplatzte Levriers Monster in tausende blauer Funken.

„Gut, damit setze ich meine letzte Karte und gebe an dich ab“, sagte Levrier und ließ die Falle vor sich erscheinen.

 

Zed zog umgehend auf und betrachtete ihre einzige Handkarte. Dann keuchte sie ärgerlich.

„Das war zu erwarten gewesen.“

Levriers Worte ließen sie aufhorchen.

„Nun, da du drei Monster kontrollierst, sind nicht mehr genug Zonen frei, um neue Spielmarken zum Opfern zu beschwören“, führte der seinen Gedanken fort. „Natürlich könntest du jetzt zwei deiner Monster als Tribut für die Beschwörung anbieten, doch dies löst den Primäreffekt deines Monsters nicht aus, da sie keine Spielmarken sind.“

Während sie das hörte, drückte sie die Karte zwischen ihren Fingern zusammen. Levrier wusste, dass sie einen weiteren Demigod nachgezogen hatte. „Du hast dein Potential ausgeschöpft, Undying.“

„Und es ist mehr als genug, dich endgültig loszuwerden!“, fauchte sie aufgebracht und schwang den Arm aus. „Ich befehle dir, ihn direkt anzugreifen, [Demigod Of Ravaging Sea, Bismarck]!“

Der fliegende, weiße Riesenwal öffnete erneut sein Maul und ließ einen ganzen Wasserfall von dort auf Levriers Spielfeld niederregnen. Jener verschwand in der Flut.

„[Pinpoint Guard].“

Mitten in der ihn überragenden Strömung stehend, ließ er seinen Arm über die Falle fahren, die daraufhin aufsprang. Und aus ihr kam ein kleinwüchsiger Krieger in grünem Mantel gesprungen, der sich schützend vor seinen Besitzer positionierte.

 

Heroic Challenger – Ambush Soldier [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Wie ein Fels in der Brandung ließ dieser sich nicht fortspülen, was zur Folge hatte, dass Bismarck seinen Angriff schließlich unverrichteter Dinge beendete.

„Hartnäckig!“, zischte Zed. „Genau wie das Mädchen!“

„Wie bereits erwähnt, hast du dir die falschen Gegner ausgesucht. Und auch mein wiedergeborener Ambush Soldier wird dir nicht viel Freude bereiten, denn in diesem Zug ist er unzerstörbar.“

Zed erhob sich aus ihrer sitzenden Position und stand nun auf Northgrimms rechter Schulter. Dessen Karte drehte sie wortlos auf ihrer Duel Disk in die Horizontale. Dann schnippte sie mit dem Finger, woraufhin abermals violette, elektrische Ladungen die goldene Kette entlang fuhren, welche sie mit ihrem Riesen verband. Jener stöhnte und knurrte, als er langsam in die Knie sackte. Die Stromstöße indes schossen zurück zu ihrer Auslöserin und verschwanden in ihrem Handgelenk.

 

Demigod Of Eternal Winter, Northgrimm [ATK/3000 → 0 DEF/0 (10)]

 

[Levrier: 100LP / Zed: 2650LP → 4150LP]

 

„Du schwächst dein Monster weiter mit [Chains Of Immortality], nur um ein paar Lebenspunkte zu erhalten?“, erkundigte sich Levrier.

Seine Gegnerin rümpfte die Nase, hielt Northgrimm an der goldenen Leine wie einen Hund. „Seine Dienste als Krieger werden nicht länger von mir benötigt. Dementsprechend nützen mir seine Punkte am meisten, wenn ich sie meinem Leben hinzufüge. Außerdem ist er immer noch einmal pro Zug unzerstörbar.“

Levrier nickte knapp. „Damit hast du ihn aber all seiner Kraft beraubt. Aber du wirst wissen, was das Richtige für dich ist, Undying.“

„Ich weiß, was das Richtige ist und bin unlängst im Begriff, es in die Tat umzusetzen. Zugende!“

 

Levrier schloss die Augen, als er die Finger an sein Deck legte. Der nächste Zug könnte womöglich alles entscheiden. Als er zog, riss er sie weit auf und betrachtete die Karte in seiner Hand. Dann sah er herüber zu Zed und ihren Monstern. Dabei trafen sich sein und Northgrimms Blick. Die weißen, ausdruckslosen Augen zogen Levrier ungewollt in ihren Bann. Sie starrten einander an, als würden sie ein stummes Gespräch miteinander führen. Levriers blaue Augen, die nicht weniger leblos anmuteten, begannen sich in ein helles Rot zu verfärben. Aus den Augenwinkeln begann er erst Bismarck, dann Albion zu betrachten.

Und kam unerwartet zu einem Schluss, während er mit der Hand seines herabhängenden, rechten Armes eine Faust bildete. „… unverzeihlich.“

Mit für ihn ungewohntem Eifer schwang er den Arm aus und brüllte förmlich: „Ich aktiviere [Heroic Challenger – Ambush Soliders] Effekt und beschwöre zwei Heroic-Monster von meinem Friedhof als Spezialbeschwörung, indem ich ihn als Tribut anbiete!“

Jener warf eine Rauchbombe vor sich auf den Boden und verschwand darin. Aus ihr tauchten der dunkle Krieger mit der Laterne in der Hand und ein Kämpfer, wie man ihn am ehesten in einem Kolosseum erwarten würde: Bewaffnet mit Rundschild und Speer, lag ein roter Umhang um seine Schultern.

 

Heroic Challenger – Night Watchman [ATK/1200 DEF/300 (4)]

Heroic Challenger – Spartan [ATK/1600 DEF/1000 (4)]

 

Levrier hob die geballte Faust. „Das ist also deine wahre Natur, Undying!? Dafür werde ich dich nicht gehen lassen können, Zed!“

Die schwarzhaarige Frau, wie sie auf der Schulter ihres Monsters stand und es wie einen Hund an der Leine hielt, sah geradezu abfällig auf ihren Gegner herab und schwieg.

Dies provozierte Levrier nur umso mehr, sodass er den Arm wutentbrannt nach oben riss. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

Jenes entstand auch über ihm als Schwarzes Loch, während dunkle Wolken über den pinken Traum aus einer anderen Welt zogen und die vier Sonnen zu verdecken begannen.

„Aus meinen Stufe 4-Kriegern wird ein Rang 4-Krieger!“

Spartan und Night Watchman verwandelten sich in braune Energiestrahlen, die über Levrier in die Höhe schossen und vom Überlagerungsnetzwerk absorbiert wurden. Sowohl aus diesem, als auch aus den Wolken am Himmel begannen Blitze niederzugehen.

„Xyz Summon! Schlage sie nieder, [Heroic Champion – Excalibur]!“

Einer der Blitze aus dem schwarzen Strom schlug direkt vor Levrier ein. Im Hintergrund donnerte es, das Feld wurde für einen Sekundenbruchteil in nahezu vollständige Dunkelheit gehüllt. Ein Schatten stand vor Levrier, viel größer als er selbst. Selbst jetzt konnte man die Silhouette des langen, breiten Schwertes erspähen, das Excalibur in der rechten Hand hielt. Dann schwand das Dunkel und erlaubte es Zed, einen Blick auf Levriers letzte Hoffnung zu werfen.

 

Heroic Champion - Excalibur [ATK/2000 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Zwei Energiekugeln umkreisten jene. Silberschwarz war die Rüstung an Bauch und Beinen des Kriegers, überall sonst metallisch-rot. Spitz wie sie waren, ragten die Schulterplatten in die Höhe, genau wie ein goldener Stern am Helm des Kriegers.

„Das ist das Ende!“, rief Levrier und streckte dabei den Arm nach seiner Kreatur aus. „Ich benutze Excaliburs Effekt und verdopple seine Angriffspunkte im Gegenzug für sein Xyz-Material!“

Sein Ritter streckte die legendäre Waffe und seinen Namensgeber in die Höhe und ließ unter tosendem Donner einen Blitz und die beiden Lichtsphären in sie einschlagen.

 

Heroic Champion - Excalibur [ATK/2000 → 4000 DEF/2000 {4} OLU: 2 → 0]

 

„Das wird nicht reichen!“, widersprach Zed herrisch.

„Leider irrst du dich, Undying!“ Levrier rammte seine letzte Karte in die Duel Disk. „Denn ich aktiviere [Heroic Chance] und verdopple Excaliburs Wert ein weiteres Mal!“

Das Abbild der Karte, die Levrier schon einmal während des Duells benutzt hatte, sprang vor ihm auf. Sein Krieger streckte den anderen Arm ebenfalls in die Höhe und ließ in seiner Hand ein rötliches Abbild seines Schwertes erscheinen.

 

Heroic Champion - Excalibur [ATK/4000 → 8000 DEF/2000 {4} OLU: 0]

 

Levrier richtete den Zeigefinger auf Zed. „Vernichte sie! Double Shock Sword Slash!“

Wie ein Pfeil schoss sein Monster quer durch die Luft, den drei riesigen Halbgöttern entgegen. Dabei schwang er seine Schwerter mehrere Male vor sich aus und schleuderte damit auf alle drei von ihnen blitzende, kreuzförmige Schockwellen.

Zed keuchte erschrocken, als sie die Attacken auf sich zukommen sah. Zuerst wurde Albion zerfetzt, anschließend der fliegende Wal Bismarck. Und zuletzt wurde Northgrimm getroffen. Die Kette, welche ihn mit Zed verband, brach dabei auseinander. Die Explosion direkt unter ihren Füßen schleuderte die schreiende Undying fort.

 

[Levrier: 100LP / Zed: 4150LP → 0LP]

 

Im hohen Bogen flog sie durch die Luft, während sich das Spielfeld drastisch veränderte. Das rosafarbene Nebelfeld löste sich auf und transformierte sich zurück zu Anyas innerer Zuflucht, dem Mosaik der Erde. Auf diesem schlug Zed auf und rutschte über es hinweg weiter bis an den Rand des von Dunkelheit umgebenen Elysions. Stöhnend blieb sie liegen.

Derweil ertönte das klackende Geräusch von Stiefeln über dem Mosaik. Zed richtete sich schließlich auf, erhob sich aus der Hocke, doch schwankte nur einen Moment, ehe sie wieder in die Knie sank. Erschöpft keuchte sie: „Wie kann das sein!? Ich bin eine Undying!“

Sie schrie auf, als Levrier direkt vor ihr erschien und mit seiner rechten Hand ihren Kopf packte. Mühelos riss er sie vom Boden, hielt sie in die Höhe.

„Vielmehr bist du eine Närrin“, flüsterte er, „lass mich dir erklären, dass in diesem Übergang zwischen materieller und immaterieller Welt andere Gesetze gelten, in welcher die Macht des Körpers keine Rolle spielt. Darauf habe ich dich mehr als einmal hingewiesen.“

Sie zappelte wild und versuchte sich zu befreien, doch war sie Levrier nicht gewachsen.

„Die Unsterblichkeit des Körpers ist nicht gleichzusetzen mit der des Geistes. Allein jener befindet sich in diesem Moment in Anya Bauers Elysion.“

„Was willst du mir damit mitteilen!?“, presste Zed angestrengt hervor.

Plötzlich begann Levriers Hand, die ihren Kopf festhielt, hellviolett aufzuleuchten. „Dass ich diesen nur zerstören muss, um Anya Bauer zu retten.“

Wie Elektrizität in einem Stromkabel zischten bunte Energien von Levriers Körper direkt in den Kopf der Undying, die schmerzerfüllt aufschrie. Immer wilder strampelte sie, ohne aber etwas damit zu erreichen.

„Du hast den größten Fehler begannen, den jemand wie du begehen kann“, setzte der weiße Ritter seine Ansprache inzwischen seelenruhig fort, „du hast die sichere Wiege der materiellen Welt verlassen und bist hierher gekommen, wo ich am stärksten bin.“

„Ahhhhhh!“

„Und dafür wird deine Seele ausgelöscht werden!“

 

Levriers ganzer Körper begann aufzuleuchten, überall aus dem zersplitterten Elysion kamen kleine Partikel geflogen, die er absorbierte. Er wusste, dass das, was er gerade tat, nur aus einem Grund möglich war. Etwas, das er erst jetzt begriff: Anya Bauer. Es waren ihre Kräfte, derer er sich bediente. Die Conqueror's Soul, welche es ihm immer öfter ermöglichte, das Schicksal für sie zu manipulieren, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. Etwas wuchs in Anya heran, verlieh ihr ungeheure Machte und sie selbst ahnte es nicht einmal.

Zeds Gegenwehr wurde schwächer, ebenso ihr Schrei. Sobald ihr Bewusstsein ausgelöscht war, war ihr Körper nur noch eine leere Hülle. Und dann …

 

Er spürte es. Ein eisiger Windhauch und etwas, das nur wenige Millimeter von seinem Nacken entfernt war. Die Spitze einer Klinge.

„Wie es aussieht, haben wir einen weiteren Gast“, sagte Levrier unbesorgt und sah über seine Schulter.

Dort stand er, hielt sein Breitschwert mit einer Hand, jener zwei Meter große Hüne in seiner gold-silbernen Plattenrüstung und dem roten Umhang – Ricther. Der aus roten Federn bestehende Kamm an seinem maskenbesetzten Helm wippte leicht hin und her.

„Ich bin gekommen, um Zed zu holen.“

Jene rührte sich mittlerweile nicht mehr, war verstummt.

„Im letzten Moment. Vorbildlich.“

Damit wirbelte er um und schleuderte ihren leblosen Körper in Ricthers Richtung. Jener ließ sein Schwert fallen und fing die Schwarzhaarige mit beiden Händen auf, sackte in die Knie.

Levrier drehte sich vollends zu den beiden Undying um. „Und? Suchst du auch den Kampf?“

„Nein, nicht heute. Beide Parteien sollten sich um ihre Verwundeten kümmern.“

„Weise Worte“, lobte Levrier, „ich bin damit einverstanden.“

Sich erhebend, drehte sich Ricther mit Zed in seinen Armen um. „Missverstehe dies nicht für Feigheit. Sicherlich spürst du, dass ich eine weitaus größere Herausforderung darstelle als sie.“

[Gem-Knight Pearl] verschränkte die Arme. „Keine, vor der ich mich fürchte. Nicht hier.“

Der Undying schritt vorwärts. In der Mitte des Elysions öffnete sich ein Portal aus schwarzer Energie, in der sich die Umgebung verzerrt widerspiegelte. Kurz vor ihm blieb Ricther stehen. „Was sie getan hat, war entgegen meiner Order. Sie hat ihre gerechte Strafe dafür erhalten und nur deshalb verzichte ich darauf, diesen Kampf fortzusetzen. Ich kann nur betonen, was ich bereits Anya Bauer ans Herz gelegt habe.“

„Und das ist alles?“, fragte Levrier skeptisch. „Jetzt, wo es ein Leichtes für dich gewesen wäre, sie in der materiellen Welt hinzurichten, während ich mit Zed beschäftigt war?“

„Es hätte ihre Seele zerstört.“

„Wäre es das nicht wert gewesen?“

Ricther zögerte. „Nein.“

Dann trat er durch das Portal, verschwand. Levrier sah ihm ausdruckslos hinterher.

 

~-~-~

 

Als er selbst Anyas Elysion verließ und sich an ihrer Seite materialisierte, sah er sie inzwischen halb zusammengesackt am Geländer der Brücke hängen. Erschöpft keuchte sie und starrte ins Leere, aber zumindest befand sie sich auf der richtigen Seite und atmete noch.

 

Kannst du mich hören, Anya Bauer?

 

„Mir geht’s gut“, nuschelte sie entgegen ihrer erschreckenden Blässe. „Endlich sind diese beschissenen Stimmen weg …“

 

Es tut mir leid, dass ich nicht mehr tun konnte. Wäre Ricther nicht aufgetaucht, dann …

 

Langsam zog Anya sich an dem Geländer hoch. Dabei erwiderte sie teilnahmslos: „Ist jetzt eh nicht mehr zu ändern. Danke für deine Hilfe … ich hab alles mit angesehen, sie wollte mir … zeigen, wie sie dich vernichtet … Bist du okay?“

Levrier nickte. Damit drehte sie sich um und blickte in die Ferne, über den Fluss hinweg in das Abendrot.
 

Eine Weile schwiegen sie. Jene Stille wurde erst durchbrochen, als Anya schwer seufzte. „Glaubst du, die Undying haben mein Deck?“
 

Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war das der Grund, warum Zed in dein Elysion eindringen konnte? Die emotionalen Schwankungen durch deinen Verlust haben dich angreifbar gemacht.

 

Betrübt fragte Anya: „Aber du glaubst nicht, dass sie es wirklich waren, nicht wahr? Dass dieses Zed-Miststück sich als Reporterin getarnt hat.“
 

Die Möglichkeit besteht und ergibt sogar Sinn, denn so hätten sie die Artefakte wieder in ihrer Hand. Aber mein … Bauchgefühl sagt mir, dass sie unschuldig ist und nur zur rechten Zeit am rechten Ort war.

 

Anya ließ ihre Arme auf dem Geländer niedersinken und legte dann den Kopf auf sie. „Was auch immer. Wenn sie mir nochmal über den Weg läuft, kriegt sie ein paar aufs Maul.“

Wie sie es so sagte, träge, lustlos, konnte man schwerlich glauben, dass es Anya war, die diese Worte gesprochen hatte.

 

Ich verspreche dir, du wirst dein Deck zurückbekommen.

 

„Yeah …“

Levrier betrachtete das Mädchen still, wie es sich nicht mehr rührte und in die Ferne starrte. Hinter ihr schossen die Autos nur so über die Brücke. Schließlich löste Levriers Avatar sich auf.

 

Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, wie ich dieses Versprechen einlösen soll. Wie so vieles, das ich gerne für dich tun würde, aber nicht kann.

 

Das Mädchen richtete sich auf. „Wovon redest du?“

 

Anya Bauer, ich … ich …

 

Ihre halb geöffneten Augen hoben die Lider bis zum Anschlag. Sie hatte Levrier noch nie so zögerlich erlebt, was allein Grund genug war, sich Sorgen zu machen. „Was?“

 

Ich sehne mich nach einer eigenen Identität. Einem Körper.

 

Das Mädchen öffnete langsam den Mund. Er dauerte zunächst einen Moment, bis sie diese Information aufgenommen und verarbeitet hatte. Was das nächste Problem mit sich brachte: Was zur Hölle sollte sie darauf erwidern?

„'kay …?“

 

Nachdem Zed geschlagen war, habe ich nicht versucht, sie zu versiegeln. So, wie wir es ursprünglich besprochen hatten. Ich wollte ihre Seele auslöschen und ihren Körper als Gefäß benutzen. Das war von Anfang an mein Plan für die Undying.

 

Anya wirbelte mit dem Rücken zum Geländer. Da [Gem-Knight Pearl] nicht mehr da war, sah sie automatisch nach oben, wie sie es immer tat, wenn Levrier keine sichtbare Form angenommen hatte. „Du wolltest was!?“

 

Es tut mir leid, dass ich dir das verschwiegen habe. Es ist … mir unangenehm. Aber auch wenn Ricthers Eingriff mich unterbrochen hat, so fürchte ich, wären meine Bemühungen vermutlich vergebens gewesen. Ich denke nicht, dass es eine Möglichkeit für mich gibt … ein Mensch zu sein.

 

Anya schüttelte nur den Kopf und fasste sich dabei an die Stirn. Was hatte dieser Idiot bloß für verrückte Ideen? Einer Undying den Körper stehlen? Das war so verrückt, dafür verdiente er eigentlich einen Orden! Auch wenn Anya verstand, warum es ihm unangenehm war, denn für dieses Vorhaben müsste er ein anderes Leben auslöschen. Und auch wenn er, als er noch unbedingt Eden werden wollte, notfalls nicht davor zurückgeschreckt wäre, war es doch nicht seine Art. So vermutete sie, dass das der Grund war, warum er es nicht konnte – weil sein Gewissen ihn daran hindern würde.

Sie ließ den Kopf hängen und strich sich mit der Hand über die linke Gesichtshälfte. „Du bist wirklich bescheuert, Levrier. Aber …“

Sie sah auf, während die Finger ihr Auge verdeckten. „... wenn du einen Körper willst, wirst du auch einen kriegen. Dafür sorge ich schon, irgendwie, irgendwann.“

 

ich befürchte, Zeds Angriff hat deinem Verstand doch ernsthaften Schaden zugefügt. Du machst mir Angst, Anya Bauer. Was du gerade gesagt hast, war geradezu liebenswürdig.

 

„Tch, ich will nur, dass du einen eigenen Körper hast, damit du auch mal anderen auf den Sack gehen kannst! Mehr nicht!“

Doch ihr schelmisches Grinsen verriet sie und zu Anyas eigener Überraschung störte sie das auch gar nicht.

„Und mach dir keine Sorgen um mein Deck! Ich werde einfach Nick auf diese Schlampe hetzen, egal ob sie nun diese Zed war oder jemand anderes“, verkündete sie mit neugewonnenem Mut, „und wenn er sie gefunden hat, werde ich ihr erst Angel Wing in den Arsch rammen und dann solange mit Heavy T auf sie einkloppen, bis wir'n Schnitzel aus ihr machen können!“

 

Klingt vielversprechend.

 

„Darauf kannst du wetten!“ Damit drehte Anya sich zum Gehweg um. „Und jetzt ab zum Hotel, wir haben noch viel zu tun!“

Was Anya in ihrer Euphorie verdrängt hatte: Bis zum Hotel war es ein ganzes Stück und sie nach wie vor pleite. Dies begreifend, begann sie loszurennen. Und zu schimpfen.

 

Völlig unbemerkt von den beiden standen zwei Personen auf dem Torbogen der Brücke, nicht weit von Anya entfernt und verfolgten das Gespräch.

Der riesige Ricther stützte die kleinere Zed, indem er seinen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte und sie an sich geschmiegt hielt.

„Es tut mir leid“, murmelte jene reumütig, „ich weiß, ich habe gegen meine Anweisungen gehandelt. Aber ich musste. Wenn das so weiter geht …“

Ricther aber schenkte ihr keine Antwort. Stattdessen öffnete sich hinter ihm ein ovales, spiegelndes Schattenportal, in das er mit Zed im Schlepptau verschwand.

 

~-~-~

 

Das Knarzen des Chefsessels wurde von dem Knarren der sich öffnenden Tür übertönt. Nick, gekleidet in einem förmlichen Businessanzug hatte die Beine übereinander auf seinem gläsernen Schreibtisch gelegt und starrte Aiden an, welcher gerade das Büro seines neuen Mitarbeiters betrat.

„Wie ich sehe, hast du dich bereits eingelebt“, kommentierte der brünette CEO von Micron Electronics den Anblick schelmisch.

Nick winkte ab. „Ach, so schlimm ist es hier gar nicht. Das Essen in der Kantine ist besser als alles, was meine Mutter mir jemals vorgesetzt hat, die Sekretärinnen sind heiß, die Einrichtung und das Equipment kann sich auch sehen lassen.“

Er ließ den Arm ausschweifen, als würde er Aiden das Büro präsentieren, welches eine moderne Glasoptik aufwies. Was zu der riesigen Fensterfront passte, die Nicks Schreibtisch direkt gegenüber lag.

„Zumindest würde ich das gerne sagen, aber leider hasse ich dich und damit auch alles, was dir gehört“, fügte Nick geradezu beiläufig an.

Was Größe anging, machte es dem seines Vorgesetztem durchaus Konkurrenz, schließlich gab es eine ganze Sitzecke mit Sofa und Tisch auf der gegenüberliegenden Seite.

„Ich denke, du wirst deine Meinung diesbezüglich früher oder später ändern“, erwiderte Aiden zuversichtlich, aber ebenso förmlich wie er es immer war.

Nicks Ton wurde deutlich härter. „Wenn du nicht hier bist, um mir meine Kündigung auf den Tisch zu legen, dann habe ich dir nichts zu sagen.“

Er machte eine verscheuchende Geste unter einem ebenso eindeutigen: „Und jetzt shoo!“

„Ich muss dich leider enttäuschen. Als mein Angestellter hast du auch Pflichten und die nennen sich Arbeit“, blieb Aiden im Türrahmen stehen, „in einer halben Stunde ist ein Meeting angesetzt. Dort wirst du unseren Auftraggeber kennenlernen. Sei pünktlich. Für Anya.“

Damit schloss er die Tür hinter sich und ließ einen Nick zurück, welcher verärgert die Stirn runzelte. In kindischer Manier rief er Aiden hinterher: „Aber ich bin doch immer so vergesslich!“

 

Eine halbe Stunde später allerdings stellte sich heraus, dass Nicks Gedächtnis doch zu funktionieren schien. Der junge Mann musste zugeben, doch ein wenig neugierig zu sein. Solange er nicht wusste, was Aidens Pläne für ihn waren, konnte er zumindest jedes bisschen Information nutzen, um seine eigenen zu entwickeln.

 

Nick saß daher bereits im ansonsten leeren Konferenzsaal, als Aiden schließlich mit dem angekündigten Gast hereintrat. Es war niemand Geringeres als Henry Ford, der einen dicken Aktenordner in den Händen hielt.

„Du?“, staunte Henry irritiert. „Du bist … ?“

„Ihr kennt euch?“, wunderte sich Aiden.

„Ja“, sagte Nick schnarrend, ohne die beiden anzusehen, „man kann sagen, wir haben viel zusammen erlebt.“

„Die Geschichte musst du mir erzählen“, bat Aiden interessiert und geleitete Henry herein.

„Träum' weiter“, kam es als gelangweilte Antwort. „Also, worum geht’s?“

Henry trat zu Nick vor und warf ihm den Aktenordner hin. „Darin ist das Grundkonzept des Spiels, das ich entwickelt habe. Es handelt sich um ein TCG, das den Begriff Virtual Reality neu definieren wird.“

„Du sollst eine tragbare Apparatur entwickeln, mit der man es jederzeit an jedem Ort spielen kann“, fügte Aiden noch hinzu.

Nick beugte sich vor, öffnete den Ordner und lachte gehässig. „Oh Gott, du hast nicht gelogen, als du sagtest, du willst einen Duel Monsters-Klon entwerfen.“

„Ein innovatives Konkurrenz-Produkt, das waren meine exakten Worte“, korrigierte Aiden ihn bestimmend, den Brünetten flankierend.

 

Nick überflog die Akten einen Moment, dann stieß er den Ordner genervt von sich. Henry derweil stand da wie auf einem Begräbnis, angespannt und bemüht, seine Beherrschung zu wahren.

„Das ist Schrott“, beurteilte Nick den Versuch des Ford-Sprosses, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, „viel zu kompliziert. Ich bitte dich, zwei zusätzliche Ressourcen-Systeme für ein Kartenspiel? Versuchs noch einmal. Am besten, du fragst deinen Daddy um Rat.“

„Nein, ich denke, die Idee ist vom Prinzip her sehr gut“, stand Aiden seinem Geschäftspartner bei.

„Dann wirst du mir sicher erklären, wie ich all das in ein Gerät packen soll, das in die Hosentasche passt?“, konterte Nick und sah seinem ehemaligen Geliebten dabei über Henrys Schulter hinweg bestimmend in die Augen. „Die Käufer werden mit den ganzen Regeln Schwierigkeiten bekommen. Duel Monsters ist schon keine leichte Angelegenheit. Etwas noch Komplizierteres hat auf dem Markt keine Chance.“

Henry drehte sich unsicher zu Aiden. Dieser stichelte: „Nun, ich wusste nicht, dass unser Chefentwickler auch Ahnung von Wirtschaft hat. Vielleicht sollten Sie das Konzept in der Art etwas ausarbeiten, um es zugänglicher zu machen, Mr. Ford. Was meinen Sie?“

„Ich kann es versuchen“, antwortete Henry merkbar zerknirscht und nahm den Aktenordner wieder an sich. „Aber vorher will ich es den anderen Vorstandsmitgliedern und Sponsoren vorstellen, wenn Sie gestatten.“

Aiden legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Natürlich, wenn Sie darauf bestehen. Aller Anfang ist schwer. Sie werden Ihrem Vater beweisen, dass Sie ein würdiger Erbe für seine Firma sind. Das versichere ich Ihnen.“

„Danke“, murmelte Henry ohne ihm dabei in die Augen zu sehen.

„Nun denn, ich bin nochmal kurz weg. Nick, bitte hilf Mr. Ford in Zukunft dabei, das Spiel anzupassen. Wenn jemand das kann, dann du.“ Aiden nickte den beiden zu und verschwand dann aus dem Konferenzsaal.

 

Nick sah Henry abwartend an, der still vor sich her grübelte. Dann ergriff der Ford-Spross das Wort, doch was er sagte, überraschte seinen Geschäftspartner.

„Dein Chef ist ein Blender.“

„Wie meinst du das?“, hakte Nick nach.

Henry lehnte sich neben ihn an den ovalen Tisch. „Seine Konditionen für eine Zusammenarbeit waren derart gut, dass mein Vater alles daran gesetzt hat, mit Micron Electronics zusammenzuarbeiten. Obwohl wir bereits mit einem europäischen Handelspartner Verträge geplant hatten.“

„Ich erinnere mich. Bulgarien?“

„Hat Abby dir davon erzählt?“

Nick schüttelte den Kopf. Tatsächlich wusste er schon seit geraumer Zeit davon, wie sonst hätte er versuchen können, Aiden zu erpressen, bevor der ihm Monochrome unter die Nase hielt? „Nein, Aiden hatte mal so etwas erwähnt. Aber wenn die Konditionen für euch so günstig sind, ist das doch gut.“

Doch der Blick des brünetten jungen Mannes verdunkelte sich. „Ganz sicher nicht. Mit den Zahlen macht eure Firma herbe Verluste. Es entbehrt jeglicher Logik.“

„Aiden hat sicher einen Plan, wie er das Geld wieder reinholt.“

„Oh ja, das befürchte ich auch“, erwiderte Henry gallig, „wenn es nach mir ginge, hätten wir diese Verträge nicht geschlossen. Es ist eine Farce. Einerseits soll ich selber ein Projekt übernehmen, andererseits bestimmt mein Vater, mit welchen Leuten ich dabei zusammenarbeite. Tch …“

 

Nick indes hörte kaum noch zu.

Ihm war sofort klar, warum Aiden alles daran gesetzt hatte, diesen Auftrag zu bekommen. Monochrome. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er plante, das kleine Killerprogramm in jede der neuen Apparaturen einzuschleusen. Sozusagen Monochrome massentauglich zu machen. Denn niemand würde es je durchschauen, wenn er nicht genau wusste, wonach er im Programmierungscode suchen musste. Das war Monochromes größte Stärke – die Diskretion.

Mit Monochrome konnte sich Aiden Zugriff auf alle netzwerkfähigen Geräte im Haushalt des Besitzers machen. Ein kleiner Spion als Haustier. Und darüber hinaus wäre er in der Lage, jeden auszuschalten, der ihm in die Quere kommt. Völlig unbemerkt.

Mit diesem Programm war es Aiden möglich, eine geheime Weltherrschaft aufzubauen. Vorausgesetzt, sein Produkt verkaufte sich gut genug …

 

„Keine Sorge“, wandte sich Nick freundlich lächelnd an Henry, „ich kann mich voll für Aiden verbürgen. Also, dann lass uns mal darüber reden, wie wir dein Spiel möglichst nahe an der Ursprungsidee umsetzen können. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir dein Ressourcen-System. Überlass' die Sesselpupser nur mir.“

 

 

Turn 58 – Paradigms

Um ihr gestohlenes Deck zurückzubekommen, schaltet Anya Nick ein. Obwohl sie mit den Aufnahmen der Überwachungskameras einen Anhaltspunkt haben, gelingt es Nick nicht, die Diebin zu finden. Die Tage vergehen, sodass Anya gezwungen ist, sich ein Ersatzdeck zu beschaffen. Und da fangen die Probleme erst richtig an. Da sie Anya aufheitern will, geht Valerie mit ihr auf ein Fest in der Altstadt. Dort treffen sie auf Marc, der sich mit einem jungen Mann im Rollstuhl duelliert und …

Turn 58 - Paradigms

Turn 58 – Paradigms

 

 

In Dubio pro Reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Etwas, wovon Anya nicht viel hielt, als sie völlig erschöpft in ihrem Hotelzimmer ankam. Der lange Fußmarsch hatte selbst sie ziemlich ausgezehrt, zumindest den Teil ihrer Kraft, der nach der unfreiwilligen Begegnung mit Zed noch übrig gewesen war.

„Wo warst du so lange!?“, klagte Zanthe, der von seinem Bett direkt neben der Tür aufsprang. „Hast du dein Deck gefunden? Hier ist es definitiv nicht, ich habe alles abgesucht.“

„Ich weiß wer mein Deck hat“, zischte sie und stieß ihn beiseite, als er ihr entgegen kam, „es wurde gestohlen.“

Verdutzt wurde er zurückgelassen. „Gestohlen? Von wem?“

„Keinen Blassen, wie das Miststück heißt, aber ich werde sie finden. Wo ist der Laptop, den Matt gekauft hat?“

Unter einem wütenden Schnaufen setzte sich Anya an den kleinen Tisch vor dem Panoramafenster und ließ sich von Zanthe den Apparat vor die Nase setzen.

„Was hast du vor?“, fragte er neugierig.

 

Während sie ihn aufklappte und anschaltete, erzählte sie Zanthe, was ihr alles widerfahren war. Dass sie und Melinda herausgefunden haben, dass die junge Frau im roten Kleid keine Journalistin sein konnte, da nur männliche Vertreter der Fachpresse eingeladen waren. Und demnach ihre Einladung gefälscht gewesen sein musste, sie sich als jemand anderes ausgegeben hatte. Dazu gesellte sich dann noch etwas Undying-Spaß.

„Jetzt gibt es also schon drei von denen“, kommentierte Zanthe, „aber cool. Jetzt wissen wir, wie wir sie fertig machen können.

„Ich glaube, die Masche funktioniert kein zweites Mal.“

Schließlich öffnete Anya ihr Postfach und zeigte Zanthe die E-Mail von Melinda mit den Kameraaufnahmen. „Egal, die sind jetzt nebensächlich. Sieh dir das an.“

„Jap, die war doch an unserem Tisch“, erkannte der sie wieder. „Hat nicht viel geredet, sondern viel lieber mit ihrem Smartphone gespielt. Ich glaube, sie hat auch Fotos gemacht, wenn keiner hinsah.“

„Ich schicke das Zeug jetzt Nick, soll der sich darum kümmern.“ Anya öffnete ihr Skype-Programm und sah nach, ob in ihrer sehr 'übersichtlichen' Freundesliste Nicks Name grün unterlegt war. Was er war, im Gegensatz zu Abbys. Sofort schrieb Anya ihn an und schickte die Datei.

 

Fünf Minuten später hatte sie einen Anruf, den sie prompt entgegen nahm.

Sie sah Nicks übergroßes Gesicht, wie er in die Kamera starrte, hinter ihm ein Schrank voller Akten.

„Hallo Darling“, flirtete er sie sofort an, „vermisst du mich jetzt schon so sehr, dass du mich auf Arbeit anschreibst?“

Anya runzelte verärgert die Stirn. Obwohl es hier bereits Abend war, musste Nick wohl dank Zeitverschiebung noch im Büro hocken. „Nein, aber viel zu tun kannst du ja nicht haben, wenn du skypen kannst. Ich hab ein Problem.“

Nick machte mit der Schulter eine Bewegung, vermutlich benutzte er gerade seine Maus. Nachdenklich sah er an der Kamera vorbei, dann gewannen seine Züge eine leichte Boshaftigkeit. „Ah, ich seh' schon, sie ist hübsch. Eifersüchtig?“

„Nicht diese Sorte von Problem“, sagte Zanthe und beugte sich über Anyas Schulter, „die Gute ist ein Langfinger und hat Anyas Deck gestohlen.“

Sofort schreckte Nick auf, wurde ernst. „Sag das nochmal.“

„Die Tante war nicht auf der Party eingeladen, auf der wir gestern waren. Sie hat sich unter falscher Identität reingeschmuggelt“, erklärte Anya, „der Flohpelz sagt, sie habe während meines Duells mit den Schnösel-Geschwistern Fotos gemacht.“

„Davon habe ich bereits gelesen. Mein Plan hat wunderbar funktioniert, nicht wahr?“, lobte sich Nick selbstherrlich. „Du bist drin, ohne dass es jemand wagen wird, das ändern zu wollen.“

„Ja ja, gut gemacht“, überging Anya den Punkt mit der Dankbarkeit wie gewohnt, „jedenfalls, nach dem Duell ist sie mit mir zusammengestoßen. Da muss es passiert sein.“

Er hakte nach: „Und du bist dir da völlig sicher?“

„Seitdem ist es verschwunden. Eine andere Erklärung gibt es dafür nicht.“ Anya schlug auf den Tisch. „Nick, finde diese Ratte für mich. Egal wie!“

Der legte seine Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. „Nur mit diesen unscharfen Aufnahmen? Das wird nicht leicht, selbst für mich nicht.“

„Wenn es dir weiterhilft: Außer mir scheint keiner etwas besonders Wertvolles zu vermissen. Melinda wird mich aber informieren, falls noch jemand sein Deck verloren hat.“

„Du meinst also, man kann einen Massendiebstahl ausschließen?“ Nick schloss die Augen. „Also bist nur du das Opfer. Zumindest etwas.“
 

Zanthe fiel dazu noch etwas ein: „Vielleicht Kali?“

„Nee, die ist kleiner gewesen als diese Dumpfralle. Außerdem würde diese Schnepfe das nicht hinter meinem Rücken tun, denk an die Male zuvor“, schloss Anya jene sofort aus. „Die hat mich immer wissen lassen, dass sie es war.“

Was Nick mit einem Kopfschütteln quittierte. „Ich würde sie nicht gleich von der Liste streichen, aber du hast nicht Unrecht. Es wäre untypisch für sie, jetzt wo sie sich dir offenbart hat. Anya, beantworte mir eine Frage.“

„Ja?“

Nick öffnete seine Lider. „Hast du Karten benutzt, von denen nicht jeder weiß?“

Da das Mädchen ihn nur fragend ansah und nicht verstand, übernahm Zanthe die Antwort. „Hat sie und das nicht zu knapp. [Angel Wing Dragon] und Heavy T, die beiden Artefakte.“

Anya ging ein Licht auf. „Ach so! Und [Gem-Knight Turquoise], die Karte vom Jinn.“

„Vielleicht handelt es sich hierbei gar nicht um ein gezieltes Verbrechen, sondern eine Affekttat. Du sagtest, sie hat Fotos gemacht? Nur von dir?“

Der schwarzhaarige Werwolf nickte. „Definitiv. Melindas Pendelmonster haben sie kalt gelassen, das hat man ihr angemerkt. Sie hat aber keine Fragen gestellt.“

„Natürlich nicht, das wäre dann doch zu auffällig“, überlegte Nick, „nun gut, sie ist unsere Hauptverdächtige. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“

Anya sah ihn eindringlich, aber gleichwohl gebieterisch an. „Beeil' dich! Bis zum Turnierauftakt sind es nur noch sechs Tage.“

„Könnte knapp werden. Anya, du solltest dir ein Deck besorgen, falls du deins nicht rechtzeitig wiederbekommst“, riet ihr Sandkastenfreund.

„Ich krieg' es doch wieder, oder?“

Nick nickte. „Natürlich wirst du. Das verspreche ich dir. Ich würde gerne noch länger mit dir reden, aber mein 'Arbeitgeber' steht in der Tür und da er mich mit seinen Rehaugen so herzzerreißend ansieht, kann ich gar nicht anders als ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.“

Seine Worte trieften nur so vor Zynismus. Anya stöhnte. „Kann der sich nicht einfach verpissen? Tch! Aber okay, danke für deine Hilfe. Mal wieder …“

„Stets zu Diensten. Bis später.“

 

Damit beendete er die Konversation, Anya schloss den Chat und das Skype-Programm.

„Also eins muss man ihm lassen“, sagte Zanthe und es klang, als fielen ihm seine Worte schwer, „wenn du ihn brauchst, kümmert er sich um dich.“

Die Blonde starrte auf das Display des Laptops. „Yeah …“

Plötzlich spürte sie, wie die Hand des Werwolfs auf ihrer Schulter lag. „Zerbrich' dir nicht deinen Hohlkopf. Wenn einer es schaffen kann, dann Mr. Neurotisch. Eigentlich wäret ihr ein richtig süßes Paar, wenn man's recht bedenkt.“

„Huh!? Spinnst du!? Wie kommst du denn jetzt da-“ Anya gähnte mitten im Satz. „-rauf.“

Anstatt ihr eine Antwort zu geben, grinste Zanthe lediglich schelmisch. „Ist doch egal. Kümmere dich lieber um wichtigere Sachen. Du stinkst nämlich schon genauso wie er. Geh duschen.“

„Hmpf!“

Anya stand auf und schubste den schwarzhaarigen Kopftuchträger beiseite. Zugegeben, er hatte schon fiesere Kommentare vom Stapel gelassen, aber nichtsdestotrotz gehörte er allein für den Gedanken, dass sie und Nick … oh Gott, er gehörte wirklich …!

„Ich geh duschen und leg mich dann pennen. Ich bin stundenlang gelaufen!“ Sie steuerte das Badezimmer an. „Wenn Summers kommt, erzähl ihm ruhig alles. Aber wenn eine von euch Pappnasen mich dabei weckt …“

Vor der Tür ins Bad drehte sie sich noch einmal zu Zanthe um und fuhr sich vielsagend mit dem Finger über die Kehle.

„Ja ja“, winkte er ab, „hab's kapiert. Wir lassen dir deinen Schönheitsschlaf. Auch wenn's für den längst zu spät ist.“

Wofür er die an diesem Abend letzte Aussage Anyas vor den Bug geknallt bekam: Ihren Lieblingsfinger. Zu interessanteren Reaktionen war sie in diesem Moment einfach zu müde gewesen.

 

~-~-~

 

„… und wieso fragen wir nicht gleich den Sammler?“, wollte Zanthe in einem engstirnigen Tonfall wissen.

Matt erwiderte genervt: „Er war es, durch den wir überhaupt die Adresse haben. Wüsste er mehr, hätte er uns das längst mitgeteilt.“

Während Anya träge mit ihrem Frühstückstablett in den Händen auf den gemeinsamen Tisch zusteuerte, nicht wissend, wieso die beiden schon wieder im Begriff waren, sich in die Wolle zu kriegen, drehten sich schon die ersten anderen Gäste des Hotels zu ihnen um.

„Was bringt dich dazu, das zu glauben? Vielleicht spielt er nur ein Spiel mit uns?“

„Weil es in seinem Interesse wäre, wenn wir schnell an die nächste Karte kommen.“ Matt funkelte Zanthe an. „Das ist doch wirklich nicht so schwer zu verstehen.“

 

Als Anya sich an den Tisch setzte, demselben wie gestern, welcher durch die gläserne Fassade zu ihrer Rechten den Blick auf die Straße gewährte, gab sie ein langgezogenes Stöhnen von sich. „Will ich überhaupt wissen, worum es hier geht?“

„Deine nächste Zielperson“, antwortete Matt ihr direkt und biss in sein Marmeladenbrötchen.

Zanthe fügte bissig hinzu: „Unsere hübsche Hälfte des Deppenduos hat ein bisschen was herausgefunden. Wer der Kerl ist, den du suchst. Oder war. Oder was auch immer.“

„Und?“ Anya schnitt nebenbei unter quietschendem Teller ihr Steak. Generell widmete sie ihrem Frühstück den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit, so schien es.

„Ich habe den Namen herausgefunden. James Carrington, 71, niederem Adels, stammt ursprünglich aus Großbritannien, ist aber vor einigen Jahren übergesiedelt“, zählte Matt die Fakten auf.

„Okay?“ Die Blonde sah mit einem Stück Fleisch im Mund auf. „Dann schnapp' dir das Artefakt?“

„Erstens: Wieso ich?“

„Na du kümmerst dich doch schon drum, oder?“ So wie Anya es formulierte, klang es wie eine Selbstverständlichkeit.

„Nach dem letzten Mal verzichte ich darauf, nochmal deine Duelle auszutragen.“
 

Die Kälte, mit der Matt dies gesagt hatte, lockerte glatt Anyas Lippen, sodass ihr Steakhappen auf den Teller fiel. Unangenehmes Schweigen machte sich breit.

Anya ließ den Kopf hängen. Drazen … musste sie ausgerechnet jetzt daran erinnert werden?

„... war nicht so gemeint“, lenkte Matt versöhnlich ein, als er sie so sah, „ich habe nur Angst, dass wieder etwas passieren könnte. Der ist immerhin auch nicht mehr der Jüngste.“

Zanthe indes hielt sich lieber aus dem Gespräch heraus, so schien es. Er sah lediglich abwechselnd die beiden anderen an, wobei er seinen Ellbogen auf die Tischkante gestemmt hatte und sein Kinn auf der Faust abstützte.

„Ich auch“, gestand Anya leise, „aber ...“

„Ich weiß. Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen.“ Matt legte sein Brötchen auf den Teller zurück. „Lass mich das machen, solange du dein Deck nicht wieder hast. Zanthe hat es mir vorhin erzählt.“

„D-danke.“

„Es gibt nur ein Problem“, fand der Schwarzhaarige schließlich die Überleitung zum Streit zwischen ihm und dem Werwolf, „Mr. Carrington wurde seit Jahren nicht mehr gesehen. Es gehen Gerüchte herum, er sei erkrankt und würde das Haus nicht verlassen, aber …“

Jetzt setzte Zanthe doch ein: „Matt hat mit einigen Mitarbeitern gesprochen, aber die wissen auch nichts darüber. Nur dass vor einigen Jahren alle mit einem Schlag entlassen wurden.“

„Ungefähr zu der Zeit, als man Mr. Carrington das letzte Mal gesehen hat“, fügte Matt hinzu.

Der Werwolf schnalzte mit der Zunge. „Also -ich- finde, wir sollten den Sammler dazu befragen. Irgendetwas wird er uns sicher sagen können, immerhin wird er eine Menge an Nachforschung betrieben haben, um uns überhaupt die Infos zu diesem Typen zu beschaffen.“

Sofort schnellte Anya auf, klatschte die Hände auf den runden Tisch. „Nie im Leben! Dem krieche ich nicht in den Arsch! Wir kriegen das auch ohne ihn hin!“

„Du meinst, Matt kriegt das hin. Du hast bisher erstaunlich wenig dafür getan, einen der Hüter zu finden“, versetzte Zanthe ihr sofort einen Seitenhieb.

Anyas Finger krallten sich in die Tischdecke, doch die harten Fakten, welche auf die Namen Nick, Matt und Alastair hörten, vielleicht auch mit der ein oder anderen Zanthe-Silbe dazwischen, verhinderten unmittelbare Kollateralschäden. Stattdessen ließ sich Anya wieder in den Stuhl fallen und funkelte den Kopftuchträger zornig an.

„Was denn, ist doch so!“, blieb der ebenso stur wie sie.
 

„Ich werde für ein paar Tage wegfahren“, erklärte Matt, nachdem abzusehen war, dass Anya wieder Notiz von ihrer Umwelt nahm.

Die beiden drehten sich zu ihn um.

„Zwei Leute habe ich noch, mit denen ich gerne vorher sprechen würde.“ Der Ex-Dämonenjäger griff nach der Kaffeetasse neben seinem Teller. „Der Gärtner meinte, dass die Carringtons sich plötzlich über Nacht eigenartig verhielten, besonders Mr. Carrington. Wenig später sind sie hierher umgezogen, wie gesagt ohne ihre Angestellten.“

Anya schnaubte. „Der Gärtner war's! Nur falls der Alte bereits tot sein sollte.“

„Wie lange willst du denn wegbleiben?“, hakte Zanthe nach.

„Nur ein paar Tage, vielleicht eine Woche, länger nicht.“

Anya verschlang nebenbei den Rest ihres Steaks mit einem Happs. Noch beim Kauen sagte sie: „Bisch schum Start desch Turniers sind esch noch ein paar Tage. Wäre cool, wenn ich bisch dahin mein Deck schamt der dritten Wäschterkarte hätte.“

Die beiden sahen sie nur stumm mit einem leichten Anflug von Ekel an, nicht zuletzt weil ihr der Speichel beim Sprechen nur so um die Ohren flog.

„Ich hab die Handschuhe noch, die du mir gegeben hattest. Wenn es also zu einem Duell kommen sollte, bin ich vorbereitet.“ Matt sah auf sein halbes Brötchen, das etwas von Anyas 'Manieren' abbekommen hatte. Mit Fingerspitzen schob er den Teller von sich weg. „Ich, ähm, bin dann mal oben, meinen Rucksack packen.“

Kaum war er aufgestanden, rückte auch Zanthe seinen Stuhl nach hinten. „Dann gehe ich an dieser Stelle auch mal.“

Als die Blonde mehr als irritiert zu ihm aufschaute, erwiderte er glucksend: „Den Hundeblick kannste dir sparen, du kommst nicht mit. Ich will die Stadt alleine unsicher machen! Bye bye!“

Sprachs, hob die Hand noch zum Gruß und huschte dann eiligen Schrittes aus dem Restaurant des Hotels.

„Und was mach ich jetzt!?“, rief Anya ihm sauer hinterher.

Beantwortete sich die Frage aber selbst, indem sie sich Matts angefangenes Brötchen schnappte.

 

~-~-~

 

Ganz zu Anyas Ärgernis blieb Matt länger weg als erwartet und gab auch keine Rückmeldung, wie denn der aktuelle Stand bezüglich des Hüters war. Und auch Zanthe schien lieber alleine unterwegs zu sein und nahm Anya nur gelegentlich zu seinen Ausflügen mit. Die entweder in Klamottenläden, Buchhandlungen oder irgendwelche Clubs führten, die Anya entweder gar nicht erst reinließen – nicht, dass sie eine Wahl gehabt hätten – oder spätestens nach fünf Minuten rausschmissen.

Das Mädchen war ja froh, dass der Flohpelz sich derart schnell in das alltägliche Leben einfügte und aus sich und dem Hotelzimmer herausging, aber irgendwie blieb sie dabei mächtig auf der Strecke. Was Anya tierisch ärgerte, da -ihr- dadurch verdammt langweilig war.

Was sicher anders wäre, wenn sich Nick, dieser Trottel, mal bei ihr melden würde. Aber wie Matt schien der es mit Kontakt halten neuerdings nicht allzu genau zu nehmen.

 

Als Anya auch drei Tage nach ihrem Kriegsrat immer noch keine Rückmeldung von Nick erhalten hatte, entschied sie sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. So saß sie am späten Nachmittag von Zanthe flankiert am runden Tisch in ihrem Hotelzimmer, den Laptop vor der Nase.

Es dauerte eine Weile, bis Nick auf ihre Videoanrufe reagierte, aber schließlich schaltete sich seine Webcam ein und Anya konnte sein Gesicht auf dem Bildschirm betrachten.

„Hallo Schatz, vermisst du mich so sehr, dass du mir gleich 57 Anfragen schickst?“, fragte Nick um Humor bemüht.

„Harper, wo ist mein-“

„Pro Minute!“, fügte er gleich weitaus weniger beherrscht hinzu.

Anya saß mit offenem Mund da. „... Deck?“

„Autsch, da ist jemand zur Abwechslung mal gar nicht in Flirtstimmung“, hörte sie Zanthe hinter sich sticheln. „Sag bloß, er hat jemand Neues kennengelernt?“

Nick schnalzte auf den Kommentar hin genervt mit der Zunge. „Nein, es gibt nur Menschen, die müssen für ihr Geld schwerer arbeiten als andere und haben deswegen wenig Zeit.“

Die Blonde klackerte ungeduldig mit ihren Fingerspitzen auf dem Mouse Pad. „Sehr interessant, Harper, wirklich. Wir finden es toll, dass du endlich einen Job hast. Aber das ist jetzt nicht das Thema!“

Nick blinzelte genau einmal. Nein wirklich, es war erstaunlich, wie lange er die Augen offen halten konnte, ohne die Lider auch nur minimal zu bewegen. So sehr, dass selbst Anya mulmig zumute wurde.

„Und?“, fragte sie herrisch. „Hast du es? Ist es schon unterwegs hierher?“

„Anya“, murmelte er und faltete die Hände vor der Kamera ineinander, „ich habe dein Deck noch nicht ausfindig machen können.“

 

Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören können.

„Sag was!“, forderte Zanthe den jungen Mann auf. „Irgendwas! Ich glaube, ihre Festplatte ist schon wieder abgestürzt!“

Einen tiefen Seufzer von sich gebend, griff Nick nach seiner Maus. „Es ist nicht so, dass ich völlig erfolglos war. Seht euch das an.“

Vor den beiden öffnete sich ein kleines Fenster. In ihm wurde ein Video abgespielt, genauer gesagt Aufnahmen von der Feier. Zu sehen war ein großes Bogentor, dahinter schien ein Taxi zu parken.

„Kannst du uns verraten, was wir da sehen?“

Doch die Frage Zanthes erübrigte sich, als eine undeutlich zu sehende Gestalt in einem Abendkleid auf das Taxi zu kam und in der Beifahrerseite verschwand. Genau als das Taxi losfuhr, stoppte Nick das Video.

„Was ihr da seht“, antwortete Nick, „ist unsere diebische Elster, wie sie die Party verlässt. Schaut euch das Taxi an.“

„Ja, und?“, fragte Anya nun grimmig. „Mein Deck wird wohl kaum noch da drin sein!“

„Nein, aber man kann das Nummernschild lesen. Darüber konnte ich das Taxiunternehmen ausfindig machen, zu dem es gehört.“ Nick lehnte sich zurück und schlug die Beine über den Tisch übereinander, direkt in die Kamera gerichtet. „Und damit konnte ich wiederum per GPS die Route des Taxis verfolgen. Sie ist zum Hotel Adversary gefahren und hat dort zweifelsohne genächtigt.“

Zanthe beugte sich über Anyas Schulter. „Ich hab's! Von dort kannst du sie weiterverfolgen, da sie mit Kreditkarte gezahlt hat und du jetzt ihre Transaktionen überwachen kannst.“

„Gar nicht dumm. Richtig. Wenn sie wieder mit jener etwas bezahlt, werde ich sofort wissen, wo sie sich befindet. Und entsprechende Gegenaktionen einleiten.“

Ein böses Schnauben drang aus Anyas Nase. „Und wo ist dann das Problem?“

„Das Problem“, wiederholte Nick besonders stark betont, „ist, dass sie seitdem nicht mehr mit Karte gezahlt hat. Und solange sie das nicht tut, wird es schwer bis unmöglich für mich, sie zu finden.“

Er nahm die Füße wieder vom Tisch und beugte sich nach vorn. „Anya, ich sage es nur ungern, aber du solltest dich langsam um eine Alternative bemühen.“

„Eine was?“ Das Wort gab es in ihrem Wortschatz nicht!

„Du brauchst ein Ersatzdeck, solange dein altes MIA ist.“ Nick zeigte mit dem Finger direkt über den Bildschirm auf Anya. „Also wirst -du- dir heute neue Karten kaufen. Lass dir von Levrier und Zanthe beim Deckbau helfen.“

Bei diesen Worten entglitt die Miene des schwarzhaarigen Werwolfs glatt. „Oh bitte nicht! Alles nur das nicht!“

Auch das durchsichtige Abbild [Gem-Knight Pearls] schaltete sich ein, welches Nick weder hören noch sehen konnte.

 

Irgendeiner von uns wird dabei sterben. Ich weiß es!

 

Zu ihrer beider Glück kämpfte Anya noch mit der Einsicht, dass Nick vielleicht Recht haben könnte. Was, wenn sie ihr Deck nicht rechtzeitig zurückbekam? Dann …

Nein, sicher würde diese dumme Schnepfe sich bald irgendein Handtäschchen mit extra viel Platz für Diebesgut kaufen! Und dann würde Nick sie finden! Es musste so sein!

 

~-~-~

 

Zwei Tage später, Matt war inzwischen mit keinerlei hilfreichen Hinweisen zurückgekehrt, musste Anya sich der Erkenntnis stellen: Die diebische Elster war anscheinend nebenbei Stripperin, so viel Bargeld musste die haben, um ihren Lebensstandard oder was auch immer aufrecht zu erhalten.

Nichts, gar nichts! Keine Spur von ihr. Die war bestimmt schon irgendwo in Mexiko untergetaucht, mit -ihrem- Deck!

Da die Vorrunde des Turniers morgen beginnen würde, blieb Anya keine Wahl mehr. Sie musste sich von irgendwoher Karten beschaffen. Anstatt aber Nicks Ratschlag zu befolgen und sich welche zu kaufen, hatte Anya eine weitaus effektivere Methode im Sinn, um konkurrenzfähig zu bleiben …

 

So fand sie sich auf der Dachterrasse eines Nobelhotels wieder, auf welcher dank des schönen Wetters und des Pools hier oben reger Betrieb herrschte.

Valerie blickte von ihrer Liege auf, nahm die Sonnenbrille ab. „Ich soll dir mein Deck leihen?“

„Nur solange ich meines nicht zurückhabe“, erwiderte Anya verloren, wie sie da vor ihr stand.

Ja, dachte sie sich nebenher, reck deine dicken Euter doch noch mehr in mein Blickfeld in diesem engen, weißen Badeanzug, der so viel verhüllte und doch kaum Raum für Spekulationen zuließ. Als ginge es ihr nicht schon dreckig genug! Dämliche Schnepfe!

„Ich find's schön, dass du hierher zu uns gekommen bist, aber …“, zögerte Valerie, nach den richtigen Worten suchend.

Um Himmels Willen, die dumme Kuh sollte endlich nein sagen, dann war das Ding gegessen. Wäre ja auch schlimm genug, ausgerechnet in ihrer Schuld zu stehen. Fast schon hoffte Anya daher auf jene Antwort.

„Ich meine, da wir uns schon das ein oder andere Mal duelliert haben, weißt du ja, wie meine Gishkis funktionieren. Zumindest, wenn du es nicht längst wieder vergessen hast … Aber das geht leider nicht, ich nehme auch am Turnier teil, wie du weißt“, erlöste Valerie sie kurz darauf, „tut mir wirklich leid, Anya.“

Marc, in seiner roten Badeshorts und mit einem Strohhut auf dem Kopf, neben ihr auf einer zweiten Liege sitzend hob die Hand. „Dasselbe gilt auch für mich, fürchte ich.“

„Großartig“, brummte Anya und wandte sich von ihnen ab. „Eure Decks könnten meins sowieso nie ersetzen …“

Betrübt sah Valerie der Blonden nach, wie sie frustriert von dannen schlürfte.

 

„Unmöglich!“, weigerte sich Matt etwa eine Stunde später, als sie zusammen auf ihrem Hotelzimmer waren und nebeneinander auf Matts Bett in der Mitte saßen. „Die Evilswarm sind von dunkler Macht erfüllt, schon vergessen? Die kann ich nicht in fremde Hände geben.“

„Wäre doch genau das Richtige für mich!“, protestierte Anya wütend und legte ihren Arm um seine Schulter. „Komm schon, Kumpel, tu's für die gute alte Anya.“

„In deinen Händen will ich sie am allerwenigsten wissen!“, ließ der sich aber nicht beirren und sprang auf. „Das ist für dich das Beste, glaub mir!“

„Ui, Mommy und Daddy streiten sich!“, stichelte Zanthe amüsiert, während er am kleinen Tisch im Zimmer saß und seinen Faust Band 1 weiterlas.

Anya schnaufte. „Dann leih du mir eben mein Deck, Flohzirkus. Etwas anderes außer viele Monster zu beschwören tun deine Sternenritter eh nicht, das kann selbst ich mir merken!“

Der Kopftuchträger legte das Buch beiseite und sah sie altklug an. „Deine Selbsteinschätzung in allen Ehren, aber diese Karten kriegt niemand in die Hände. Sie haben einen genauso persönlichen Wert wie deine Gem-Knights, wenn nicht sogar einen noch größeren. Ich hoffe, du verstehst das.“

Tat das Mädchen nicht. Stattdessen blinzelte sie verdutzt ob der für Zanthes Verhältnisse ziemlich eisigen, statt der erwarteten frechen Absage. Wenn er so verbissen reagierte, musste da wohl etwas dran sein. Also konnte sie ihn auch vergessen.

 

Als Nicks Gesicht über den Bildschirm flimmerte, machte Anyas Herz aus Stein einen ungewollten Hüpfer. Er, ihr Mann für alles, würde sie auch diesmal nicht im Stich lassen. Bestimmt!

„Was gibt’s denn? Ich habe gleich ein Meeting“, sagte er ungewohnt nervös.

„Nur eine Bitte, Harper! Ich brauch dein Deck!“

Er sah sie verständnislos an. „Anya, ich habe dir genug Geld zukommen lassen, damit du einen ganzen Kartenladen leerkaufen könntest. Kauf dir deine Gem-Knights einfach neu, dann hast du sogar dein Deck.“

Anya schüttelte aber vehement den Kopf. „Nein, das wäre nicht dasselbe. Ich brauch dein Deck. Es ist extrem stark, du hast mich damals mühelos plattgewalzt.“

„Anya, dieses Deck ist zu kompliziert für dich. Bitte, wenn du Karten brauchst, besorg' sie dir selbst.“

„Aber-!“

„Ich muss jetzt los. Wir hören uns später. Bye.“

Und ehe Anya sich versah, wurde das Skype-Gespräch beendet.

Zanthe, der ihr gegenüber am Tisch saß, klappte demonstrativ vor ihrer Nase das Buch zu und zog wortlos, aber breit grinsend von dannen.

 

„Oh? Aber natürlich helfe ich dir!“, kam da schließlich von Abby die Erlösung.

Anya streichelte überglücklich den Hörer in ihrer Hand, als sie wenig später in einer Nische der Hotellobby vor dem alten, schwarzen Münztelefon stand. „Danke. Wenigstens eine, auf die man sich verlassen kann.“

„Ich schicke meine Karten gleich mit der Post los. Aber werden sie auch rechtzeitig zum Turnierbeginn ankommen?“

Plötzlich machte Anya große Augen. „Uhm … wie lange dauert das denn?“

„Naja, also, von London nach Ephemeria City …“

Kurzum: Nein, das Paket würde es vermutlich nicht rechtzeitig schaffen.

 

„Mein Deck?“, fragte Melinda wenige Minuten später etwas verdutzt am anderen Ende der Leitung. „Dann hast du deines wohl nicht mehr gefunden, huh?“

„Noch nicht, aber das kommt noch. Aber da das Turnier bald beginnt, brauche ich zumindest vorübergehend Ersatz.“

Melinda lachte betreten. „Naja, ich würde dir gerne meine Performapals leihen, aber als Turnierorganisatorin gäbe es da nur Probleme.“

„Muss doch keiner wissen, dass es ausgerechnet deine sind.“

„Doch. Vater wird es sofort merken. Im Moment sind sie noch Einzelexemplare.“

Vorsichtig fragte sie: „Meinst du, dass Henry …?“

„Der ist zurzeit in Livington und kommt erst zum ersten Spiel der Hauptrunde wieder. Tut mir leid, Anya.“

Wütend zischend beendete die das Gespräch kurz darauf. Wieder zwei Personen weniger! Langsam gingen ihr die Optionen aus!

 

Selbst ihr eigenes Elysion suchte Anya in ihrer Verzweiflung auf. So stand sie Levrier in Form [Gem-Knight Pearls] auf dem Mosaik der Erde gegenüber und sah ihn flehend an.

„Kannst du deine Heroics für eine Weile verborgen?“

„Schön, dass du endlich auf die Idee kommst, mich zu fragen, Anya Bauer“, erwiderte er eine Spur gekränkt und verschränkte die Arme.

Anyas Miene hellte sich hoffnungsfroh auf. „Kannst du?“

„… nein. Außer natürlich Nick Harper erfindet einen Elysion-kompatiblen 3D-Drucker.“

Doch schon mitten im Satz war Anya in einer dichten Rauchwolke verschwunden, so schnell hatte sie ihre innere Zuflucht wieder verlassen.

 

Ihre Faust neben das Münztelefon gegen die Wand schlagend, stieß Anya einen unmenschlichen Wutschrei aus.

„Verdammte Scheiße, das gibt’s doch nicht!“

Sich von dem Apparat abwendend, rauschte sie wie ein Sommergewitter an der Rezeption vorbei, auf den Ausgang zu. Tolle Freunde waren das!

 

Wo willst du hin?

 

Levrier erschien an ihrer Seite und folgte dem Mädchen.

„Muss-zerstören! Irgendwas!“

 

Zu schade, dass Zed uns schon angegriffen hat. Ich bin mir sicher, du würdest ihr das Un aus dem Undying prügeln, Anya Bauer. Habe ich Recht?

 

„Mrgh!“

Anya nahm den Aufheiterungsversuch ihres Freundes gar nicht wahr.

Gerade als die große Tür des Hotels sich öffnete und sie wütend heraus stampfen wollte, kam ihr jemand entgegen und stieß beinahe mit dem Mädchen zusammen. Das zischte aber einfach weiter, an jener in einem weißen Kleid gekleideten Person vorbei, auf deren Haupt ein gleichfarbiger Sommerhut thronte. Mit sich trug sie zwei Einkaufstüten.

„Anya!“

Die Gerufene erkannte die Stimme sofort, flüchtete am Pagen vorbei in die nächstbeste Richtung, doch die junge Frau rannte der Blonden bereits hinterher.

„Warte doch!“

„Halt die Klappe, Redfield! Ich will allein sein. Geh jemand anderem mit deinem Schicki-Micki-Scheiß auf die Nerven!“

Während Valerie ihr trotzdem folgte, nahm sie ihre Sonnenbrille ab. „Bist du noch sauer wegen vorhin? Hör mal-!“

Doch Anya hörte nicht mehr. Sie rannte förmlich davon, sodass Valerie es schließlich unter lautem Seufzen aufgab, ihre Freundin zu verfolgen.

Levrier drehte sich zu ihr um und zuckte in einer um Entschuldigung bittenden Geste mit den Schultern.

Die Schwarzhaarige seufzte. „Dabei wollte ich doch nur …“

Sie warf resignierend einen Blick in die Tüte, die voller Duel Monsters-Produkte war.

 

~-~-~

 

Als Anya am frühen Abend in ihr Hotelzimmer zurückkehrte, durfte sie feststellen, dass Valerie an dem runden Tisch in der Ecke saß und scheinbar auf sie wartete. Von Matt und Zanthe dagegen war keine Spur zu sehen.

„Na endlich!“, sprang die junge Frau ungeduldig auf.

Und erschrak mitten auf ihrem Weg zu Anya, dass deren rechtes Auge geschwollen war. Als die Blonde das bemerkte, drehte sie ab, rauschte an Valerie vorbei.

„Was hast du gemacht!?“, fragte die ihr hinterher.

„Geht dich nichts an, Redfield! Geh nachhause!“ Anya stellte sich vor das Panoramafenster mit dem Blick auf die Stadt. Wütend funkelte sie den Wolkenkratzer gegenüber an, der wieder einmal Claires Werbung für Motorräder zeigte.

„Eigentlich wollte ich mit dir zusammen ein neues Deck bauen, aber da du nicht zurückgekommen bist, habe ich die Sachen, die ich dafür eingekauft habe, wieder zurückgebracht“, stellte Valerie erbost klar.

Anya schnalzte mit der Zunge. „Schön für dich …“

„Du verhältst dich verdammt undankbar, Anya! Keiner von uns kann etwas dafür, dass dir dein Deck gestohlen wurde!“ Valerie wurde lauter. „Und du kannst nicht von uns erwarten, dass wir dir unsere geben.“

Als ihre Freundin daraufhin nichts erwiderte, näherte sich Valerie ihr vorsichtig. „Hör zu. Ich bin hier, weil ich etwas mit dir unternehmen möchte. Vielleicht weißt du es bereits, aber heute findet in der Altstadt ein kleines Fest statt, um den Start des Turniers zu feiern.“

Mit abweisendem Blick drehte sich Anya zu ihr um. „Und?“

„Ich will, dass du mich begleitest“, forderte Valerie sie auf, „dort gibt es auch Stände, die Duel Monsters-Karten verkaufen. Es ist deine letzte Chance, jetzt noch ein Deck zu bekommen.“

„Nie im-!“

„Wenn du nicht mitkommen willst, schön“, unterbrach Valerie sie scharf und verschränkte die Arme, „ich zwinge dich nicht. Aber anstatt dich hier zu verkriechen und dich über deinen Verlust selbst zu bemitleiden, solltest du vorwärts blicken. Spaß haben.“

Die beiden schauten einander tief in die Augen, was in einen regelrechten Anstarr-Wettbewerb ausartete. Den Valerie schließlich gewann, als Anya sich wegdrehte. „Tch. Meinetwegen …“

„Sehr gut. Vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken.“

 

~-~-~

 

Als Anya zusammen mit Valerie aus dem Taxi stieg, musste sie insgeheim staunen. Vor ihr offenbarte sich eine schmale Straße. Zwischen den Häusern hingen bunte Girlanden, Lichterketten, sogar Planen mit verschiedenen Aufschriften die die Leute zum Spaß haben aufforderten. Und dutzende Leute, die sich an den kleinen Ständen erfreuten, die vor den Häusern aufgebaut waren.

 

Nachdem Valerie den, aus ihr völlig unverständlichen Gründen, leicht verängstigten Taxifahrer bezahlt hatte und dieser umdrehte, zeigte sie geradeaus.

„Das hier ist nur der Anfang. Dort hinten gibt es noch viel mehr.“

„Hmpf!“

Zwar zog Anya mit, als ihre Erzrivalin voraus ging, doch Lust hatte sie auf dieses dämliche Fest keine. Hin und wieder sahen sie sich kurz an, was so verkauft wurde. Schmuck, Andenken, der übliche Kram halt.

Sie liefen die Straße entlang mit dem Ziel, den Hauptplatz der Altstadt zu erreichen. Normalerweise war es ein riesiger Markt mit Springbrunnen, so erzählte Valerie, der sich gleich neben einer Kirche befand. Aber heute war er das Zentrum der Festivitäten.

„Ich lade dich nachher auf einen kleinen Besuch bei einem der Imbisse ein“, bot die Schwarzhaarige in ihrem weißen Sommerkleid gut gelaunt an.

Anya nickte nur knapp. All die Leute, die an ihnen vorbeizogen … welche von denen würden ihre Gegner sein, so ging es ihr durch den Kopf. Unterwegs kamen sie auch an ein paar Kartenhändlern vorbei. Sie alle boten neben dem regulären Zeug auch besondere Promokarten an, wenn man bei ihnen kaufte. Extra erschaffen für diesen Tag. Anya zeigte kein Interesse und lief jedes Mal stur weiter, wenn Valerie vor einem dieser Stände halt machte.

 

Die beiden gingen schließlich eine ganze Weile nebeneinander her, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Mittlerweile hatte Valerie anscheinend ihr Ziel geändert, denn sie schlurften nun zusammen durch einen grünen Park, der ebenfalls bunt erstrahlte durch aufgehängten Lampions zwischen den Laternen und all den anderen Attraktionen wie Hüpfburgen für Kinder, Lotterieständen und anderen Attraktionen.

Sie beobachteten die vielen verschiedenen Stände, die die Straße füllten und die Besucher, die für das Fest vor dem eigentlichen Turnierbeginn angereist waren. Es wurden zunehmend mehr.

„Ob die hier Hot Dogs haben?“, wunderte sich Anya nach einer Weile, weil sie bisher keinen solchen Stand entdeckt hatte.

Valerie sah zu ihr herüber. „Bestimmt. Aber bevor wir danach suchen, habe ich eine Bitte.“

Erstaunt wirbelte Anya herum. „Egal was es ist, die Antwort lautet nein.“

„Wie gut dass ich dich darum bitten wollte, unbedingt -kein- Foto mit mir hier zu machen.“

Ohne dass die Blonde ihre Zustimmung gegeben hatte, hakte sich ihre Erzrivalin vergnügt bei ihr ein und zerrte sie mit sich.

„Was soll das!?“

„Wie schade, dass du nein gesagt hast“, gluckste Valerie, „nun kommen wir nicht drum herum.“

Mit sanfter Gewalt, die Anya mit einem erfolglosen Tritt nach dem Fuß der Schwarzhaarigen vergelten wollte, schleifte Letztere das Gespann zu einer kurzen Schlange, die sich vor einer Leinwand aufgebaut hatte.

Dort wurden von einem Fotografen Bilder geschossen, mit dem Panorama von Ephemeria City als Hintergrund. In seiner Mitte die riesige Arena, in welcher das Turnier stattfinden würde.

„Ich dachte, das wäre ein schönes Andenken für uns“, meinte Valerie. Da bemerkte sie, dass Anya den Kopf hängen ließ. „Dass du keine Lust hast ist mir klar, aber danach fragt jetzt keiner.“

„Du musst dir keine Mühe geben, Redfield …“

„Natürlich muss ich das. Wir sind Freundinnen, auch wenn dir das hin und wieder entfällt. Da ist es nur natürlich, dass ich dich aufheitern möchte.“ Valerie hielt Anya am Arm fest und stellte sich vor sie. „Ersetzen wird es dein Deck nicht. Aber das Wichtigste hast du noch nicht verloren.“

Trotzig sah die Kleinere auf. „Und das wäre!?“

„Uns! Uns alle. Mich, Matt, Zanthe, Nick, natürlich auch Marc, Abby sowieso … und selbst Levrier ist noch da.“

Plötzlich riss Anya sich von ihr los. „Ach ja!? Und wieso helft ihr mir dann nicht!? Keiner von euch will mir sein Deck leihen! Und die, die es wollen, schaffen es nicht rechtzeitig. Abgesehen davon waren zwei der Artefakte in meinem Deck und die sind jetzt weg! Ohne sie werde ich sterben!“

Irritiert von dem Ausbruch, begannen andere Leute hinter ihnen zu tuscheln.

 

Statt darauf einzugehen, wiederholte Valerie ihren Griff und zerrte Anya mit sich. Sie waren mittlerweile die Nächsten in der Schlange. Ehe Anya widersprechen konnte, legte Valerie an dem kleinen Kassentresen eine 5-Dollar-Note hin und nahm die Blonde mit zur Leinwand.

„Seit wann bist du eine Dramaqueen, Anya?“, fragte sie dabei ernst.

„Gar nicht!“

„Dann verhalte dich nicht wie eine. Wir werden dein Deck zurückbekommen, da bin ich mir absolut sicher. Nick arbeitet dran“, sagte sie und bekam einen grimmigen Unterton, „und wenn er will, kann er ziemlich … verbissen sein.“

„Schon, aber-!“

Valerie schnitt ihr ins Wort. „Und wir anderen helfen dir auch, jeder auf seine Weise. Dass es nicht immer so laufen kann, wie du es willst, musst du akzeptieren. Ohne Melinda hättest du jetzt nicht mal einen Anhaltspunkt. Wo wärst du jetzt, wenn Matt und Zanthe dir nicht dauernd beistehen würden? Hat Abbys Rat dir jemals geschadet? Will Levrier nicht immer nur dein Bestes?“

Kleinlaut gab Anya zu: „N-nein, also, ich weiß nicht …“

„Dann sag nie wieder, wir würden dich im Stich lassen.“

Mit einem Stoß ins Kreuz sorgte Valerie dafür, dass Anya gerade neben ihr stand. Dann legte sie ihren Arm um die Hüften des Mädchens und lächelte glücklich in die Kamera. „Also lächle.“

„Tch, meinetwegen …“

Es blitzte schließlich.

 

Die beiden warteten einen Augenblick und holten sich dann das Foto am Kassenstand ab. Natürlich war es Anya nur mäßig gelungen, ein Lächeln aufzusetzen. Ihre grimmige Art konnte eben nichts und niemand so leicht in die Schranken verweisen, auch eine strahlende und mit den Fingern ein V formende Valerie nicht.

„Sieht doch gut aus“, meinte die dennoch zufrieden. „Beim nächsten Mal wird’s bestimmt noch besser.“

Anya, die ihr Bild in den Händen hielt, schnaufte. „Wenn's eins gibt …“

„Wird es“, versicherte ihr Valerie fest.

 

Die beiden zogen weiter, sahen sich die Stände etwas genauer an. Valerie kaufte ein Souvenir für ihren Vater und noch einigen anderen Kram für Bekannte. Davon in Versuchung geführt, überlegte auch Anya langsam, ihrer Mutter ebenfalls etwas mitzubringen. Aber was?

Der Stand, vor dem sie gerade standen, verkaufte neben Postkarten, Mützen und einigen Duel Monsters-Figuren nichts wirklich Interessantes. Gerade wollte sie nach einer „Red Eyes Black Dragon“-Figurine greifen, da stieß ihr Valerie in die Seite.

„Guck mal.“

„Lass das, Redfield“, fauchte Anya, folgte aber der Aufforderung.

Sie drehte sich zur Seite und bemerkte, dass ein Vorankommen mittlerweile kaum noch möglich war, da lauter Leute mitten auf und um den Gehweg standen und irgendetwas beobachteten. Die Mädchen lösten sich von dem Verkaufsstand und gesellten sich zu den Leuten.

„Das ist ja Marc!“, staunte Valerie nicht schlecht. „Ich hab mich schon gewundert wo er bleibt!“

 

Tatsächlich, ihr inoffizieller Ehemann stand mit aktivierter Duel Disk inmitten eines kleinen Platzes und schien mitten in einem Duell zu stecken. Neben ihnen befand sich ein großer Springbrunnen, der selbst um diese Uhrzeit noch hohe Fontänen aus den dutzenden Fischmäulern schoss, die gen Himmel gestreckt waren.

„Wer ist sein Gegner?“, fragte Anya, die aufgrund ihrer Körpergröße Schwierigkeiten hatte, etwas zu sehen.

„Ich glaube … oh! Das ist doch …!“

„Ach warte, lass mich mal!“

Ein paar Stöße, Fußtritte und Beleidigungen später hatte Anya den beiden einen Platz in der ersten Reihe verschafft. Nun sahen sie deutlich, wer sich da duellierte.

 

In einer blauen Sportjacke stand der schwarzhaarige Marc einem jungen, strohblonden Jungen gegenüber. Dieser, zum Erstaunen Anyas, saß im Rollstuhl und wurde von einer ebenso blonden Frau begleitet, die in einem schwarzen Kostüm steckte. Er selbst hatte Krankenhauskleidung an, mehr noch, wurde er zusätzlich mit einem Beatmungsgerät durch die Nase am Leben gehalten. An seinem Rollstuhl war eine Duel Disk befestigt, die er vor sich ausgebreitet hatte.

„Wer ist das denn?“

„Othello Nikoloudis. Er hat auch eine Einladung zum Turnier erhalten“, antwortete Valerie plötzlich mit belegter Stimme. „Er war auf der Feier nicht dabei gewesen. Keiner wusste bisher, ob er wirklich teilnehmen wird.“

Anya runzelte die Stirn. „Pah, von der Intensivstation aufs Siegertreppchen, huh?“

Darauf erwiderte Valerie nichts.
 

„Du bist dran“, meinte Marc derweil und nickte seinem Gegner freundlich zu.

Vor ihm befand sich ein Monster, das Anya schon lange nicht mehr gesehen hatte – [Lavalval Ignis], seine alte Paktkarte von Isfanel. Es war ein düsterer Krieger, dessen Kopf nichts anderes als eine lodernde Flamme war. Da keine Lichtkugeln um ihn kreisten ging Anya davon aus, dass er sein Xyz-Material bereits verbraucht hatte.

Zu Marcs Füßen befanden sich zudem zwei gesetzte Karten. Sein Blatt war leer.

 

Lavalval Ignis [ATK/1800 DEF/1400 {3} OLU: 0]

 

[Marc: 3500LP / Othello: 3800LP]

 

„Wie lange geht das Duell schon?“, fragte Valerie neugierig.

„Schon eine ganze Weile. Die beiden machen es sich ziemlich schwer“, antwortete ein Zuschauer ihr beiläufig.

Anya verschränkte abwartend die Arme. „Aber dein Lover ist im Vorteil.“

Damit spielte sie auf Othellos Feld an, das leer war. Dieser zog in jenem Moment auf eine fünfte Handkarte auf. Seine Begleiterin flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch er schüttelte so vehement den Kopf, dass sein schulterlanges, glattes Haar hin und her wippte.

„Hey, helfen ist unfair!“, fauchte Anya wütend.

 

Sie wollte ihm nicht helfen, sondern hat ihn gebeten aufzuhören.

 

Als Levriers Stimme in Anyas Kopf erklang, zuckte diese ungewollt zusammen, hatte sie überhaupt nicht mit ihm gerechnet. „Huh? Warum?“
 

Sieht so jemand aus, der um diese Uhrzeit draußen sein sollte?

 

Anya warf einen skeptischen Blick auf den jungen Mann. Er zeigte gerade zwei Karten vor und verkündete mit kratzender, schwacher Stimme. „Ich aktiviere zwei Pendelkarten. Den Magier, der die Sterne liest: [Stargazer Magician] mit dem Pendelbereich 1! Und den Magier, der die Zeit versteht: [Timegazer Magician] mit dem Pendelbereich 8!“

Zwei menschliche Gestalten tauchten links und rechtens neben ihm auf. Der eine Magier war ganz in Weiß gekleidet, trug einen Hut und verhüllte seinen Mund. In der Hand hielt er einen langen Stab, den er in der Mitte festhielt. An seinen Enden befanden sich kurze Auswüchse. Der rechte Magier kam dagegen komplett in Schwarz daher, trug ebenfalls einen Hut und verdeckte seinen Mund durch ein rotes Halstuch. An seinem rechten Arm befand sich ein Klingenblatt, das einmal um ihn herum führte und fast einen perfekten Kreis schloss.

 

<1> Othellos Pendelbereich <8>

 

Beide wurden von blauem Licht erfasst, das unter ihnen in die Höhe schoss und sie mit sich trug.

„Moment, das kenne ich doch!“, murmelte Anya. „Der will-!“

Als die beiden Magier weit über Othello schwebten, erklärte der: „Pendulum Scale set! Pendulum Summon! Erwache, Odd-Eyes!“

Ein regelrechtes Effektfeuerwerk begann. Ein Loch bildete sich zwischen den Magiern, um welches dutzende Energieellipsen leuchteten. Aus ihm schoss ein roter Blitz, der vor Othello einschlug und die Form eines gleichfarbigen Drachen annahm. Dieser war nicht nur größer als ein Mensch, nein, er besaß auch keine Schwingen, sondern lediglich metallische Auswüchse, die jenen ähnelten. An ihnen befand sich auf jeder Seite eine Kugel. Die linke rot, die rechte grün, waren sie spiegelverkehrt zur heterochromen Augenfarbe des Monstrums.

 

„Odd-Eyes“ [ATK/2500 DEF/2000 (7)]

 

Valerie tat es Anya gleich und verschränkte die Arme, auch wenn ihre Körperhaltung viel eleganter ausfiel. „Da die Stufe im Pendelbereich liegt, war die Beschwörung rechtens. Wer hätte gedacht, dass schon jetzt jemand diese neuen Karten wirklich nutzen würde. Besonders nach der Vorstellung neulich …“

„Soll er doch. Marc macht ihn trotzdem platt!“

„Du hast Recht“, nickte die Schwarzhaarige und streckte die Faust in die Höhe, „los Marc, davon lässt du dich doch nicht beeindrucken, oder?“

 

Der bemerkte die beiden daraufhin und zeigte ihnen mit erhobenem Daumen, dass er guter Dinge war. Was Valerie dazu brachte, ihn noch mehr anzufeuern.

Derweil verkündete Othello leise. „Odd-Eyes greift [Lavalval Ignis] an. Spiral Strike Burst!“

Augenblicklich begann der Drache in seinem Maul rote Energie aufzuladen, peitschte wild mit seinem dornigen Schweif.

„Nicht so hastig, Freundchen!“ Marc schwang den Arm über eine seiner gesetzten Karten aus, die sich erhob. „Dein Drache hat heute noch nicht in den Spiegel geschaut! Sonst wäre ihm nämlich aufgefallen, dass ihm ein paar Angriffspunkte fehlen. Ich aktiviere [Mirror Wall] und-!“

Zu Marcs Erstaunen tauchte unerwartet der schwarze [Timegazer Magician] vor Othello auf. Dieser streckte sein Klingenblatt nach vorn, wodurch für einen kurzen Moment der Eindruck entstand, das Ziffernblatt einer Uhr würde in ihm aufflackern.

„Du kannst keine Fallenkarten aktivieren, solange [Timegazer Magician] in meiner Pendelzone liegt und ein Pendelmonster gerade angreift“, lautete Othellos Erklärung dazu.

Marc aber grinste nur neckisch, als die Falle sich postwendend wieder selbst verdeckte. „Dann liegt er dort eben nicht mehr. Ich aktiviere meine zweite verdeckte Karte, [Twister]!“

Vor dem schwarzen Magier erschien plötzlich der weiße und drehte in hoher Geschwindigkeit seinen Stab gegen den Uhrzeigersinn. Die Karten vor Marcs Füßen rührten sich keinen Millimeter.

„Auch das geht nicht, denn [Stargazer Magician] verhindert unter derselben Bedingung Zauberkartenaktivierungen.“

Dementsprechend wich Marc einen Schritt zurück. „Mist, der geht dann wohl durch!“

Und das tat er. Der Drache feuerte einen roten Energiestrahl, umhüllt von schwarzen Flammen auf den von Anya getauften 'Ghostrider' [Lavalval Ignis] ab.

Othello rief kehlig: „Reaction Force!“

Die Kugeln an den metallischen Auswüchsen seines Drachen begannen zu leuchten und ehe Marc sich versah, wurde der Angriff durch eine goldene Flamme verstärkt. Ignis wurde zerfetzt.

Schützend hielt sich der schwarzhaarige Kinnbartträger den Arm vors Gesicht, als er anschließend zum Ziel des Angriffs wurde.

 

[Marc: 3500LP → 2100LP / Othello: 3800LP]

 

Als dieser dann auf seine Duel Disk starrte, traf ihn der Schlag. „Unmöglich! Ich habe viel zu viele Lebenspunkte durch diesen Angriff verloren!“

„Nein. Odd-Eyes fügt im Kampf mit Monstern doppelten Schaden zu.“

„Doppelten!?“, fiel Marc aus allen Wolken.

Der junge Mann im Rollstuhl nickte knapp. „So ist es, das ist Reaction Force. Ich setze meine vorletzte Handkarte und beende diesen Zug.“

Jene schob er in seine vor ihm befindliche Duel Disk, welche sich vor seinen Füßen materialisierte.

 

Plötzlich begann er unkontrolliert zu husten, sodass seine Begleiterin ihm eindringlich zuredete. Doch mit erhobener Hand wies er ihre Einwände ab. „Es geht schon.“

„Ich will dich ja nicht zum Aufgeben animieren, aber vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn wir an dieser Stelle aufhören“, schlug auch Marc besorgt vor.

Othello schüttelte den Kopf. Freundlich, aber mit Nachdruck antwortete er: „Danke, aber die letzten paar Züge schaffe ich auch noch.“

„Was hat er denn?“, fragte Anya derweil Valerie.

Die überlegte kurz. „Ein Unfall, soweit ich mich recht entsinne. Vor einigen Jahren, aber ich kenne keine Details. Seitdem sitzt er im Rollstuhl.“

„Aha“, erwiderte die Blonde mäßig beeindruckt. „Wen juckt's, soll er froh sein, dass er noch lebt.“

 

Marc derweil zog seine nächste Karte und betrachtete sie überrascht. Dann sah er herüber zu den beiden Mädchen und zeigte ihnen den erhobenen Daumen. Valerie winkte strahlend zurück.

Dagegen verstand Anya erst, warum er ausgerechnet sie dabei angesehen hatte, als der Schwarzhaarige die Karte auf sein D-Pad legte. „Seht alle her! Da genau fünf Feuer-Monster auf meinem Friedhof liegen, kann ich ihn beschwören: [Pyrorex The Elemental Lord]!“

Eine wahre Feuerexplosion ereignete sich hinter Marc, tauchte den gesamten Brunnenplatz in rotes Licht. Hinter ihm erhob sich eine gar furchteinflößende Kreatur, über drei Meter groß. Vom Kopf an über den Rücken hin bis zum Schweif stand der gepanzerte T-Rex in Flammen.

 

Pyrorex The Elemental Lord [ATK/2800 DEF/2200 (8)]

 

Valerie staunte nicht schlecht. „Die Karte kenne ich gar nicht! Moment! Sag bloß, die hast du ihm zu unserer Hochzeit geschenkt?“

„Ja … du hast die Wasser-Version, Abby das Erd-Pendant“, nuschelte Anya verlegen. Mussten die beiden das jetzt noch hinausposaunen?

Umso schlimmer noch, als Redfield ihre Hand um Anyas Schulter legte. „Wer hätte gedacht, dass du auch eine derart großzügige Seite an dir haben kannst?“

„Klappe, Redfield!“

Während sich Anya versuchte loszureißen, begann die Zuschauermeute zu tuscheln. Grund dafür war, dass Marc plötzlich regungslos verharrte und seinen Zug nicht fortsetze. Auch Valerie fiel dies schließlich auf, nachdem Anya sie unsanft von sich geschubst hatte.

„Marc? Was ist los?“, rief sie ihm zu.

Der reagierte im ersten Moment gar nicht, schüttelte dann aber den Kopf und sah fragend zu ihr herüber. „Hm?“

„Dein Zug“, erinnerte sie ihn.

„Oh! Ja, natürlich!“ Marc wandte sich an seinen an den Rollstuhl gebundenen Gegner. „Tut mir leid, ich war gerade mit den Gedanken woanders. Da ich Pyrorex beschworen habe, aktiviert sich jetzt sein Effekt!“

Die Bestie hinter ihm streckte ihre Klaue aus und ließ darüber einen Feuerball erscheinen. Zu diesem erklärte Marc: „Er zerstört sofort ein Monster auf dem Feld und teilt dessen Angriffspunkte auf uns als Schaden auf! Los!“

Unter einem tiefen Ausruf schleuderte Pyrorex den Feuerball auf seinen Feind, den roten, flügellosen Drachen. Im Flug wuchs die Flamme auf die Besorgnis erregende Größe eines Medizinballes an und löste bei Kontakt eine donnernde Explosion aus, die sich bis zu Marcs Spielfeldseite ausweitete.

 

[Marc: 2100LP → 850LP / Othello: 3800LP → 2550LP]

 

„Damit kann ich dich jetzt direkt angreifen!“, hallte es durch den Rauch. „Gut gespielt, Kleiner, aber das war's! Direkter Angriff, Pyrorex!“

Noch während den Zuschauern der Blick auf das Spielfeld durch den Rauch verwehrt blieb, sahen sie auf Marcs Seite etwas Rotes, Großes leuchten. Es waren die Flammen an Pyrorex' Körper, welcher über Marc hinweg sprang und die andere Seite anzielte. Mitten im Lauf machte er offenbar eine 180°-Drehung und schlug mit seinem Schweif nach Othello.

In jenem Moment lichtete sich der Rauch durch den entstandenen Luftzug. Der Schweif des Dinosauriers prallte an einer blauen Energiekuppel um den jungen Mann ab, initiiert von drei Priesterinnen in ebenso blauer Robe, die leise eine Formel immer und immer wieder wiederholten.

„[Waboku]“, benannte Othello die vor ihm aufrecht stehende Falle, „sie verhindert, dass ich diesen Zug über Kampfschaden erleide.“

„Da war ich dann wohl etwas zu vorlaut, was?“, grinste Marc und rieb sich verlegen den Hinterkopf. Derweil kehrte sein Monster zu ihm zurück. „Gut abgewehrt. Du bist gleich am Zug. Aber erst aktiviere ich meine verdeckte Karte [Twister]!“

Die links vor ihm liegende Karte sprang auf, offenbarte sich als Schnellzauberkarte, aus der ein Wirbelsturm geschossen kam. „Für 500 Lebenspunkte zerstöre ich eine offene Zauberkarte.“

Sofort wurden verwirrte Ausrufe aus dem Publikum laut, während der Wirbel über das Spielfeld fegte. Othello besaß gar keine offenen Zauberkarten. Doch sie wurden eines besseren belehrt, als der Sturm plötzlich in die Höhe schoss und den in der rechten Energiesäule befindlichen [Timegazer Magician] anvisierte. Der in Schwarz gekleidete Magier wurde mitgerissen, das blaue Licht um ihn herum schwand augenblicklich.

„Keine Pendelbeschwörungen mehr für dich“, schloss Marc letztlich zufrieden.

 

[Marc: 850LP → 350LP / Othello: 2550LP]

 

Einige der Zuschauer gaben erstaunte Laute von sich, hatten sie nicht begriffen, dass [Timegazer Magician] in Othellos Pendelzone ebenfalls als Zauberkarte behandelt wurde.

 

Der junge Mann im Rollstuhl zog im Anschluss mit abwesendem Blick eine zweite Handkarte auf und betrachtete sie nachdenklich. Dann zeigte er sie vor. „Ich beschwöre den [Doomstar Magician].“

Damit legte er dessen Karte auf die Monsterkartenzone vor sich. Dementsprechend erschien vor ihm ein Magier, komplett in schwarzem Ledermantel samt dazu passender Hose und Hemd gekleidet.

 

Doomstar Magician [ATK/1800 DEF/300 (4)]

 

Jener hob auf Befehl Othellos hin den langen Zauberstab in die Höhe, welcher in einem blauen Kristall mündete. So erklärte der junge Mann: „Sein Effekt lässt mich durch das Abwerfen einer Karte von meinem Blatt ein Monster in den Pendelzonen zerstören.“

Er entledigte sich seiner letzten Handkarte, indem er sie in den Friedhofsschlitz auf der linken Seite der vor ihm liegenden Duel Disk schob. Gleichzeitig stieg von der anderen Hand des Magiers rötlicher Nebel auf, welcher vom Kristall an seinem Zauberstab absorbiert wurde.

„Aber …?“ Marc sah irritiert auf.

Es gab nur ein Pendelmonster auf dem Feld, den [Stargazer Magician]. Und jeder wurde schließlich auch wie ein Vogel vom Himmel geschossen, als der [Doomstar Magician] eine Lichtkugel aus der Spitze des Stabs auf ihn abfeuerte. Der weiße Hexer zersprang in tausend Stücke, die blaue Lichtsäule um ihn schwand.

Othello sagte dazu: „Als Nebeneffekt darf ich eine Karte ziehen.“

 

Gleichzeitig dazu murrte Anya: „Pah! Zu mehr sind diese Pendeldinger echt nicht gut, huh?“

Es kam selten genug vor, aber Valerie stimmte ihrer Freundin nachdenklich zu. „Ich muss zugeben, dass sie mir neulich auch der Party auch etwas … schwach erschienen. Aber …“

Ihre Miene gewann etwas Nachdenkliches und es geschah, was geschehen musste. Sie widersprach Anya doch in gewisser Hinsicht. „Das Potential ist da. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles ist.“

Dafür erntete sie von Anya nur ein skeptisches Schnaufen.

 

Alldieweil hatte Othello wie angekündigt eine Karte gezogen und zeigte diese vor. „Sehr gut. Ich aktiviere die Zauberkarte [Pendulum Restoration].“

Sein Magier begann bläulich aufzuleuchten und stieg ebenfalls in einer Säule aus Licht auf. Anstatt aber seinen nicht existierenden Pendelbereich preiszugeben, löste er sich in weißen Funken auf. Die Zuschauer staunten lautstark.

„Ich muss ein Monster opfern, um zwei 'zerstörte' Pendelmonster mit demselben Attribut zurückzuerhalten. Dafür darf ich in diesem Zug nur sie in den Pendelzonen aktivieren.“

Marc verkrampfte sich. „Moment … das heißt-!“

„Oh nein!“, stieß auch Valerie besorgt hervor.

Der junge Mann im Rollstuhl zeigte, was die beiden und vermutlich ein Großteil der Anwesenden sans Anya längst erkannt hatten. Er hielt [Stargazer Magician] und [Timegazer Magician] in den Händen und legte beide auf die Zonen am äußersten Rand seiner Duel Disk aufs Feld.

„Richtig … sie kehren wieder! Pendulum Scale set!“, rief Othello und anhand seiner leisen, leicht zittrigen Stimme merkte man, wie erschöpft er zu sein schien.

In blauen Lichtsäulen stiegen der weiße und der schwarze Hexer in die Höhe, stellten damit die Ausgangssituation wieder her.

 

<1> Othellos Pendelbereich <8>

 

„Wo ist da der Sinn!?“, beschwerte sich Anya derweil, die all die Aufregung nicht verstand. „Er hat keine Monster mehr auf der Hand, wie will er da noch welche beschwören!?“

„Oh Anya …“, murmelte Valerie neben ihr mitleidig. „Du hast es wirklich schon vergessen, oder?“

Die Blonde blickte sie grimmig von der Seite an. „Was?“

„Hast du denn nicht darauf geachtet, -woher- er die beiden Magier genommen hat?“

„Na vom Friedhof!“

Valerie schüttelte den Kopf. „Nein … nicht von da …“

 

Der junge Mann im Rollstuhl streckte den Arm in die Höhe, während die Hand der Frau an seiner Seite auf seiner Schulter lag. Auch wenn sie stolz lächelte, brachten ihre ins Leere starrenden Augen doch nur Trauer zum Ausdruck.

„Pendulum Summon! Kehre von meinem Extradeck zurück, Odd-Eyes!“

Großes Staunen unter den Zuschauern. Zwischen den beiden Magiern begann ein riesiges, blaues Kristallpendel zu schwingen. Über seinem Ursprung öffnete sich ein schwarzes Loch, das von aberdutzenden Energieellipsen umrandet war, die einander überlagerten.

Selbst Anya stand der Mund weit offen. „Was macht der da!? Seit wann kann man etwas, das weder Fusions-, Synchro- oder Xyz-Monster ist, im Extradeck verstauen!? Geschweige denn von dort beschwören, ohne-!?“

Valerie seufzte. „Anya, du hast nicht gut aufgepasst bei dem, was Henry erklärt hatte. Pendelmonster werden ins Extradeck geschickt, wenn sie das Spielfeld verlassen. Und können von dort per Pendelbeschwörung zurückgerufen werden. Auch seine beiden Magier waren dort, bevor er sie sich zurückgeholt hat.“

Daraufhin erinnerte sich Anya daran, dass Melinda auch irgendetwas in der Art erwähnt hatte. „'kay, das ist dann wohl kacke für Marc.“

Aus dem geöffneten Loch schoss ein einzelner, roter Blitz, der vor Othello einschlug und zu dem roten Drachen wurde, an dessen hornartigen Auswüchsen auf dem Rücken die unterschiedlich gefärbten Kugeln befestigt waren.

 

„Odd-Eyes“ [ATK/2500 DEF/2000 (7)]

 

Othello hob seine Handfläche über den Spielplan vor ihm.

„Spiral Strike Bur … st!“, befahl er, wobei ihm die Stimme versagte.

Sein Drache lud einen roten Energiestrahl in seinem Maul auf.

„Das reicht nicht, um den Badass-Dino zu besiegen!“, protestierte Anya. „Das Ding ist zu schwach!“

Der allgemeine Konsens der Zuschauer war derselbe. Sie alle sahen voller Verwunderung dabei zu, wie der Drache in seinem Maul Energie auflud. Anstatt auf ihre Einwürfe einzugehen, hielt der junge Mann mit dem dunkelblonden, schulterlangen Haar seine Hand über den Friedhofsschlitz. Eine einzelne Karte schoss daraus hervor, die er aufnahm und vorzeigte. Es gab erstaunte Ausrufe aus dem Publikum.

Sich noch einmal zusammenreißend, brach Othello hervor: „Ich verbanne … [Dreamgazer Magician] … von meinem Friedhof. Erhöhe den Angriff eines pendelbeschworenen Monsters um … 500.“

Wie aus dem Nichts tauchte hinter seinem Drachen ein transparenter, weiblicher Magier auf, gekleidet in einer himmelblauen Robe, an dessen Saum in regelmäßigen Abständen weiße Bänder hingen. An seiner gleichfarbigen Haube war ein weißer Schleier angebracht, welcher seinen Mund verdeckte.

 

„Warte!?“, keuchte Anya und zeigte auf das Monster, während sie Valerie ansah. „Ist das nicht auch ein Pendelmonster!? Eben sagst du noch, die gehen statt auf den Friedhof ins Extradeck und nun das!?“

Valerie schlug die Hand vors Gesicht. „Anya … Das gilt nur, wenn Pendel vom Feld auf den Friedhof geschickt werden. Der ist aber durch [Doomstar Magicians] Effekt abgeworfen worden ...“

 

Die Traumseherin streckte derweil ihre Hände aus, zwischen denen eine Glaskugel schwebte. Auf ihr befand sich ein rot leuchtendes, quer liegendes Auge, von dem sich in alle Richtungen Schlangenlinien ausbreiteten.

Gleichzeitig dazu begann auf der blauen Kugel in Odd-Eyes Stirn besagtes Auge ebenfalls zu leuchten. In dem Moment stieß dieser seine rot-schwarze Energieattacke aus und feuerte sie auf Pyrorex.

 

„Odd-Eyes“ [ATK/2500 → 3000 DEF/2000 (7)]

 

Anya breitete wütend die Arme aus. „Trotzdem wird das nicht reichen, um Marc zu besiegen!“

Valerie aber wusste es besser. Erstickt entgegnete sie: „Doch, wird es …“

Der Strahl schlug in die Brust des Flammendinosauriers ein und löste eine dunkle Explosion aus, wobei die Begleiterin Othellos erklärte: „Der Effekt von Odd-Eyes wirkt! Es wird doppelter Kampfschaden ausgeteilt, genannt Reaction Force!“

Aus der Explosion schoss eine dunkle Schockwelle, die Marc erfasste und im wahrsten Sinne des Wortes durchflutete.

 

[Marc: 350LP → 0LP / Othello: 2050LP]

 

Während die Zuschauer zu applaudieren begannen und die Hologramme sich auflösten, stand besonders Anya mit offenem Mund da. „Alter Falter, diese Pendelviecher sind ja doch zu was nütze!“

„Melinda hat eben nur die Light-Variante präsentiert. Mit genug von ihnen kannst du jede Runde eine ganze Armee beschwören.“ Valerie schien sich gefangen zu haben und klatschte ebenfalls. „Ich bin gespannt, wie sich das noch entwickeln wird.“

 

Zeitgleich war Marc auf den jungen Othello zugegangen und reichte ihm lächelnd die Hand. „Gut gespielt, Kleiner. Da hab' ich mich wohl etwas überschätzt.“

Wortlos nickte der Strohblonde und schüttelte sie kurz und schwächlich, ehe seine Managerin sich einmischte. „Danke, aber er sollte sich jetzt wirklich ausruhen.“

Othello senkte sein Haupt, als seine Begleiterin den Rollstuhl wendete und mit ihm abzog.

 

Während Marc noch ein paar Worte des Abschieds loswurde, kamen Anya und Valerie ihm entgegen. Letztere fiel ihrem Liebsten schließlich um den Hals, was Anya mit einem genervten Augenrollen quittierte.

„Das war doch nicht schlecht“, lobte seine Verlobte den Schwarzhaarigen, als sie ihn losließ. „Aber wie kommst du dazu, dich ausgerechnet mit ihm zu duellieren?“

Marc strich sich über die Stirn. „Ach, das war seine Idee, er hat mich angesprochen. Konnte ihm das nicht abschlagen.“

Neckisch erwiderte Valerie: „Deswegen musst du aber nicht gleich absichtlich verlieren!“

„Habe ich nicht! … Tut mir Leid, Valval, ich habe mich echt blamiert, kann das sein?“

„Quatsch!“, schalt diese ihn harsch. „Du hast dein Bestes gegeben.“

„Wenn das mein Bestes ist, komme ich im Turnier nur nicht sehr weit, fürcht' ich. Stimmt doch, oder Anya?“

Die Blonde wirbelte zu ihnen um, da sie sich zwischenzeitlich mit den Händen in den Hosentaschen abgewandt hatte. „Huh? Nee, so überstehst du nicht mal die Vorrunden.“

Marc grinste bestätigt. „Da hast du's.“

Anders als Valerie, die ihre Freundin tadelnd ansah. „Sagt genau die Richtige. Die, die nicht mal ein Deck hat.“

 

Jene ließ den Kopf hängen. „Immer noch Salz in die Wunde, huh, Redfield?“

Sofort hatte sie wieder den unliebsamen Arm der Größeren um ihre Schultern liegen. Jene piekste sie dazu noch mit dem Zeigefinger in die Seite. „Kopf hoch. Deswegen bin ich doch überhaupt erst mit dir hierher gekommen, schon vergessen? Wir kaufen dir jetzt eins!“

„Will keins …“, brummte Anya.

„Sollen wir uns lieber nach einem Sarg umschauen?“, wurde Valerie nun deutlicher. „Glaub mir, Anya, du willst eins. Und du brauchst eins, wenn du Claire herausfordern willst.“

Mit einem Schritt zur Seite löste Anya sich, drehte sich ihrer Erzrivalin zu. „Weiß ich selbst. Aber ich hasse es! Etwas, das ich nicht kenne …Aber ich kann nicht einfach das Deck von einem von euch nachbauen. Das wäre … falsch. Und ihr wusstet das.“

Valerie begann auf den kreisrunden Springbrunnen in der Mitte zuzulaufen. In alle vier Himmelsrichtungen gingen schmale Wege von ihm ab, die zu kleinen Marktständen führten. Damit war er sozusagen das Zentrum des Parks und des Festes. „Schön, dass du das einsiehst. Ich kann mir vorstellen, dass du kein Freund von Veränderungen bist. Aber es muss sein.“

Anya zuckte mit den Schultern, als sie und Marc ihr folgten. „Ja ja … Meinst du, ich könnte es mit Pendelviechern probieren?“

Zu dritt setzten sie sich an den Rand des Brunnens, während Valerie sich bereits mit ausgestrecktem Hals nach einem Kartenstand umsah. „Davon würde ich dir abraten. Sie sind ziemlich kompliziert und auch wenn ich nicht bezweifle, dass du das Konzept -irgendwann- verstehst, ist -irgendwann- doch ein bisschen zu spät.“

„... war das gerade eine Beleidigung?“, fragte Anya trocken.

„So ähnlich“, zwinkerte Valerie ihr zu, „aber im Ernst, du brauchst doch etwas Einfaches, in dem du aufgehen kannst.“

 

Einfach, begann das Mädchen nachzudenken, während Valerie ihre Gedankengänge erklärte. Hieß das, sie war zu dumm für umfangreichere Strategien? Zugegeben, mit den Ritualmonstern ihrer Erzrivalin würde sie vermutlich selbst jetzt nicht klarkommen, obwohl sie sie bereits mehrfach in Aktion erlebt hat. Die Laval-Monster von Marc erschienen da auf den ersten Blick einfacher, doch wenn Anya ehrlich war, musste sie zugeben, dass das täuschte. Marc musste genau drauf achten, wann er welche Monster auf den Friedhof schickte.

So rekapitulierte sie die Decks ihrer Freunde der Reihe nach und kam zu der Erkenntnis, dass tatsächlich hinter jedem mehr steckte, als die reinen Effekte vermuten ließen. Bei Matt war entscheidend, welchem seiner Xyz-Monster er Vorrang geben sollte, Nicks Deck verstand sie sowieso nicht so recht und selbst Henrys erschien ihr auf einmal viel komplizierter.

Zwar bereute sie nicht, die anderen um Hilfe gebeten zu haben, aber es stimmte schon. Sie brauchte etwas Eigenes, etwas, das ihren Stärken entsprach. Wenn sie nur wüsste, welche das überhaupt waren …

 

„… magst du Dinos?“, fragte Marc sie nebenbei. „Wenn ja, hätte ich da eine Idee.“

„Ich glaub, das könnte zu ihr passen“, stieg Valerie in die Überlegung mit ein.

In dem Moment stach Anya etwas ins Auge. Unter den vielen Leute, die an den Ständen warteten, fiel eine Person besonders auf. Und es war, als wäre dieser Moment von Gott selbst geplant gewesen, denn genau in diesem Moment drehte jene sich zu Anya um. Kleiner als die meisten anderen dort, war er es, der Zwerg. Logan. Mit einem Schaschlik-Spieß in der Hand, am Mund angesetzt.

Ihre Blicke trafen aufeinander. Anya wurde eiskalt, kamen doch sofort die Erinnerungen an ihren Streit hoch. Seitdem hatten sie nichts mehr voneinander gehört.

„Ich muss mal kurz wohin“, stotterte sie benommen und erhob sich.

Valerie und Marc, die nebeneinander auf dem Brunnen saßen und Händchen hielten, blickten verdutzt zu ihr hoch. Letzterer fragte: „Haben wir was Falsches gesagt?“

„Wir sagen immer was Falsches“, stichelte Valerie, „aber ich glaub, ich versteh schon.“

Anya aber hörte gar nicht mehr hin, sondern steuerte bereits immer schneller werdenden Schrittes auf Logan zu, der sie beobachtete und sich nicht von der Stelle rührte. Dass Anya auf ihrem Weg ein paar Besucher aus dem Weg stoßen musste war ihr nur recht. Denn in dieser Zeit hatte sie die Gelegenheit, all ihren angestauten Frust wieder hochkochen zu lassen und, und-!

 

Als sie direkt vor ihm stand, der er mit seinen knapp einem Meter fünfundsechzig Körpergröße nur wenige Zentimeter größer als Anya war, blieben dem Mädchen die Worte im Halse stecken. Einzig ein klammes „Hi“ brachte sie hervor. Was natürlich ausschließlich an dem leckeren Geruch gebratenen Fleisches lag!

„Hi“, erwiderte er von genauso mangelndem, diplomatischem Geschick. „Machst'n du hier?“

Als wäre nichts gewesen! Anya traute ihren Ohren kaum! Wie konnte der Zwerg es wagen, sie völlig gleichmütig, absolut nicht nachtragend, einfach zu fragen-

„Sicher, dass du dich nicht verlaufen hast, Kleine? Bist'n bisschen weit weg von Zuhause.“

„Kleine!?“, überschlug Anya sich völlig.

Es war nur eine Eingebung, ein Reflex, nein, ein gottgewollter Impuls, aber Anyas Fuß krachte derart fest in den Grillstand neben den beiden, dass der Holztresen vor ihnen einfach nachgeben musste. Noch während der Verkäufer das Unheil erfasste und seine Stimme zu heben begann, übertönte Anya ihn mühelos.

„Alter, was läuft in deiner Liliputanerwelt nicht rund!? Erst haust du ab und stellst mich als Lügnerin hin, dann meldest du dich nicht und jetzt fragst du mich, was -ich- hier zu suchen habe!?“

„Junges Fräu-“

Anyas Genick knackte, als sie den Kopf zum Verkäufer herum ruckte und ihn mit gefährlich weit geöffneten Augen anvisierte. „Was!?“

„Sie-!“

„Ich habe jetzt keine Zeit für deinen Fraß, Spatzenhirn! Such dir jemand anderes, den du mit dem Zeug vergiften willst!“ Anya packte ganz nebenbei Logan am Arm. Dabei zog sie noch den bereits liebevoll angestauten Rotz in der Nase hoch und spuckte ihn vor den Stand. „Arrivederci, Schweinebacke!“

 

Ihr unfreiwilliger Begleiter wurde abrupt fortgerissen, als sie begann, ihn über den halben Marktplatz zu zerren. Dabei natürlich lauthals fluchend, schimpfend, klagend. Willenlos ließ Logan es über sich ergehen, auch wenn der Schweiß auf seiner Stirn davon zeugte, dass die erstaunten Blicke seiner Mitmenschen ihm dennoch unangenehm waren.

Irgendwann blieb Anya kurz vor dem Eingangstor des Parks stehen und atmete tief durch, da ihr zwischenzeitlich sogar die Stimme weggeblieben war. So viel gezetert hatte sie schon lange nicht mehr, verdammt, sie kam wirklich aus der Übung.

„Fertig?“, hakte Logan nach.

Anya sah ihn über die Schulter böse funkelnd an. „Nein! Scheiße, was willst -du- hier!?“

„Was denkst du wohl? Dem Legacy Cup beiwohnen. Hab' eine Freikarte für alle Spiele geschenkt bekommen.“ Zur Demonstration zog er diese aus seiner braunen Lederjacke.

Anya riss sie ihm aus der Hand, betrachtete sie kurz, ehe sie ihm postwendend unsanft gegen die Brust stieß. „Schön für dich!“

„Nachtragend wegen neulich, was?“

„Du bist einfach abgehauen!“

Er erwiderte trocken: „Und du hast den Porsche in seine Einzelteile zerlegt.“

„Was hat das damit zu tun? Nick hat das längst bezahlt, oder nicht?“, beklagte Anya sich nun in einem erstaunlich humaneren, gar verletzten Tonfall. „Ich hatte … ich hatte keine Ahnung, was ich danach machen sollte.“

„Einfach keine Lügen mehr erzählen, in Ordnung? Mach das mit Kindern, aber nicht mit Erwachsenen.“ Trotzdem reichte er ihr die Hand. „Frieden?“

Anya aber hatte bereits den Mund geöffnet, um alles andere als Worte der Versöhnung loszuwerden. Jedoch hielt Levriers Stimme in ihrem Kopf sie glücklicherweise zunächst davon ab.

 

Denk an das, was ich dir gesagt habe. Er ist unschuldig. Du kannst ihn nicht in deine Welt hineinziehen. Nutze lieber die Chance, die sich ohne diese Wahrheiten bietet, Anya Bauer.

 

Die stieß die angesammelte Luft durch ihren Mund aus. Der Typ sah sie nicht gerade lächelnd an, aber dieses leicht Grimmige war bei Logan eben Standard. Man, sie musste ja doch zugeben, seine buschigen Koteletten vermisst zu haben. Ein wenig. Unbedeutend wenig, natürlich.

Aber Anya wusste darüber hinaus nicht, ob sie ihrer oder Levriers Eingebung folgen sollte. So ließ sie die Zeit verstreichen, bis Logan seine Hand wegzog.

„Wie du meinst“, murmelte er in einem nicht zu deutenden Tonfall.

„Es ist nur“, begann Anya wieder leicht ins Stottern zu geraten, als ihre viel höher als sonst klingende Stimme sich zu überschlagen drohte, „ich wollte cool sein.“

Ich wollte cool sein, wiederholte Anya in ihren Gedanken und hätte in diesem Moment am liebsten ihren Kopf auf eine der Steinplatten unter ihnen geschlagen.

„Du bist cooler, wenn du bei der Realität bleibst“, sagte Logan, „und deine ist auch so ungewöhnlich genug. Denk nicht, dass der Typ eben das mit seinem Stand auf sich sitzen lässt.“

„Pah, soll er doch!“ Stolz reckte Anya ihre mangelhaft ausgeprägte Brust vor. „Eine Anya Bauer wird doch wohl noch mit so einem Loser fertig!“

 

Und wie sie da standen, voreinander auf dem Gehweg, im Licht der Laternen, fühlte Anya sich seltsam befreit. Logan hatte ihr verziehen, ohne zu ahnen, dass es nichts zu verzeihen gab. Doch Levrier hatte wohl Recht: Die Wahrheit war zu viel für ihn.

Zumindest ein Teil davon, denn eins musste Anya schließlich schelmisch grinsend loswerden: „Ach ja, nur damit du's weißt, ich bin für den Legacy Cup qualifiziert.“

„Weiß ich. Hat deine Freundin mir erzählt.“

„Welche Freundin!?“, fiel Anya aus allen Wolken.

„Abby hieß sie. Sie hat mich vorgestern angerufen und gebeten, ein Auge auf dich zu werfen, da sie befürchtet, du könntest in diesem ganzen Rummel etwas untergehen. Von ihr habe ich auch das Ticket.“

 

Die Blonde traute ihren Ohren kaum. Abby hat das alles arrangiert? Völlig unmöglich! Das hieß, natürlich war das möglich, denn Abby war genau die Sorte Mensch, die hinter ihrem Rücken solche Dinge ausheckte. Bestimmt hatte sie auch auf Logan eingeredet und ihn besänftigt. Natürlich, jetzt ergab das alles einen Sinn!

Aber woher hatte Abby so ein Ticket? Und woher wusste sie überhaupt von Logan!?

 

„Kann echt nicht glauben, dass du dich für den Legacy Cup qualifiziert hast“, gluckste jener derweil, „wenn deine Freundin nicht so derart penetrant gewesen wäre, hätte ich das für eine weitere Spinnerei gehalten.“

Anya war aber in diesem Moment meilenweit weg. Nicht zuletzt, weil Levrier längst den Gedanken aussprach, der noch mühevoll ihren eigenen Gehirnwindungen entschwinden musste.

 

Abigail Masters hat sicherlich keinen Zugang zu so einer Karte. Eine solche kostet über 1.000$, wie du vor der Abreise in der „Weekly Duel“ gelesen haben dürftest, die ihr in eurem Kartenladen verkauft. … tu nicht so, ich weiß, dass du dich an ihnen vergreifst, wenn Mr. Nico Palmer dich alleine lässt.

 

Mal wieder hatte Anya nicht mit derart viel Input von Levrier gerechnet, besonders hinsichtlich ihrer Freizeitgestaltung auf der Arbeit. Aber er traf den Nagel auf den Kopf, denn so viel Geld hatte Abby nicht mal eben in der Tasche, auch wenn kein Zweifel bestand, dass sie es in der Not für Anya ausgeben würde.

„Das ist Warenkunde!“, nuschelte Anya leise und wandte sich von Logan ab, „Irgendwo muss ich doch den ganzen Scheiß auswendig lernen, den ich verkaufe!“

Sich kurz zu ihrem Begleiter umdrehend, rief sie: „Muss mal kurz telefonieren.“

„Dann geh ich kurz noch etwas erledigen.“

Während er ebenfalls abdrehte, wirbelte Anya wieder herum.

 

Und wieso lernst du dann nichts dazu? Wie auch immer, worauf ich hinaus will ist, dass jemand anderes die Karte gekauft haben muss.
 

„Jemand wie Nick“, sprudelte es aus Anya heraus. „Na logo, er kennt den Zwerg. Aber wieso, er hasst ihn doch!?“

 

Dich hasst er nicht. Zumal ich den Eindruck habe, als wolle er neben Zanthe Montinari und Matthew Summers noch jemanden um dich wissen, der Acht auf dich gibt. Wissend, dass Abigail Masters geschickter darin ist, Menschen zueinander zu führen, hat er ihr diese Aufgabe überlassen.

 

Anya sah herüber zu Logan, der derweil an den ersten Stand am Rand des Weges gegangen war und dort scheinbar etwas kaufte, während er an seinem Schaschlik-Spieß nagte.

„Diese beiden …“
 

Manchmal frage ich mich, was du getan hast, um ihre Freundschaft zu gewinnen. Bevor du minimal erträglich wurdest.

 

Unerwarteterweise zuckte Anya nur mit den Schultern und gluckste. „Weiß ich auch nicht so genau.“

Schließlich entschied sie sich zu Logan zurückzukehren. Jener kam ihr mit etwas in seiner Hand entgegen, als sie zu den Ständen herüber schlendern wollte.

„Hab 'ne Bitte. Sag deiner Freundin nicht, was ich dir eben erzählt habe“, meinte er, „sollte eigentlich unter uns bleiben.“

„Tch! Typisch Abby. Spielt Friedenstaube und will nicht mal Lob dafür.“ Als Anya bemerkte, dass Logan sie streng anstarrte, da damit seine Frage nicht beantwortet war, raunte sie: „Fein, meinetwegen, wenn's euch glücklich macht!““

Für einen kurzen Moment zierte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen. Dann reichte er Anya jenes Etwas – eine Deckbox. „Für dich. Von deiner misslichen Lage hat sie mir nämlich auch erzählt.“

Völlig verdattert gaffte Anya ihr Gegenüber zunächst wortlos an, ehe sie die rote Box entgegennahm und öffnete. Dort drin war ein Deck! Und dazu noch eines, das sie bereits kannte, war doch die oberste Karte dort drinnen [Battlin' Boxer Lead Yoke].

„Das ist deins!“ Für jemand wie Anya, die sonst Besitztümer ausschließlich mit 'meins' angab, war jener überraschte Ausruf praktisch unvorstellbar. Und sie setzte sogar noch einen drauf, dass selbst Levrier sprachlos blieb. „Das kann ich nicht annehmen!“

„Du sollst es ja nicht behalten. Ich leihe es dir nur aus, solange du dein altes Deck nicht zurück hast.“ Seine Mundwinkel zuckten, während er die Blonde betrachtete. „Kommt mir vor, als hätte ich das schon mal gesagt.“

Anya senkte den Kopf und betrachtete die Deckbox in ihrer Hand. Ihre Finger drückten sich fest in das Plastikgehäuse. „… danke.“

 

 

Turn 59 – Glory

Der große Tag ist gekommen. Das Turnier beginnt und die Teilnehmer finden sich in der größten der Arenen von Ephemeria City ein. Anyas Vorrunden zeigen einen unerwarteten Verlauf und darüber hinaus erwartet sie noch eine alles andere als willkommene Überraschung in Form eines Kontrahenten, mit dem sie nicht gerechnet hätte. Derweil begegnet Zanthe …

Turn 59 - Glory

Turn 59 – Glory

 

 

Der nächste Morgen kam für Anya viel zu früh. Völlig zerzaust stieg sie in Shirt und Boxershorts aus dem Bett, während Matt und Zanthe längst zum Frühstück runter ins Restaurant gegangen waren.

Ihr Blick fiel auf die rote Deckbox auf ihrem Nachttisch. Sie griff sie sich und musste dem Drang widerstehen, unwillkürlich zu lächeln. Dieser Depp Logan. Hatte er doch gestern wirklich noch versucht, die Sache mit dem Anya-bedingten, ruinierten Imbissstand zu regeln. Ihre Finger schlossen sich fester um die Box.

Eigentlich war sie davon abgekommen, das Deck eines anderen zu benutzen. Aber warum auch immer, fühlte sie sich den Battlin' Boxern gewachsen. Mit ihnen konnte sie kämpfen. Und sie würde das Turnier gewinnen, das hatte sie dem Zwerg versprechen müssen.

 

Nachdem Anya zum Frühstück dazugestoßen war, hatte die kleine Gruppe nicht mehr viel Zeit. Matt bestellte ein Taxi, das sie direkt zu der Arena bringen würde, in der die Vorrunden stattfinden würden.

Während der Fahrt warnte Zanthe das Mädchen, dass jene den ganzen Tag überdauern würden und sie damit für einen langen Zeitraum konzentriert sein müsse. Etwas, das der Werwolf ihr anscheinend nicht zutraute.

Nach etwa zwanzig Minuten Fahrt und einer seltsam unruhigen Taxifahrerin waren sie endlich da.

 

Anya stieg als Erste aus dem Taxi. Der Anblick, der sich ihr bot, raubte selbst einer so egozentrischen und ewig grimmigen Person wie ihr den Atem. Das ovale Stadion, gebaut im Zentrum der Stadt, mitten im Wasser, übertraf in seiner Größe spielend leicht das Einkaufszentrum in Livington. Sie hatte gelesen, dass die Fläche im Inneren etwa dem anderthalbfachen eines Footballfeldes entsprach. Und auch von der Höhe her machte das moderne Gebäude seinem Status als Touristenattraktion alle Ehre, überragte es alles andere in der näheren Umgebung. In dem silbrig metallischen Stadion hatten über 50.000 Zuschauer Platz. Die Duelle wurden im Freien abgehalten, auf insgesamt 72 Feldern. Sollte es regnen, fuhren über der Tribüne gläserne Platten aus, die dem Wetter trotzten.

„Man, deine Augen funkeln ja richtig“, kicherte Zanthe vergnügt.

Die Blonde zuckte zusammen, hatte sie gar nicht mehr gemerkt, dass die anderen auch ausgestiegen waren und die Taxifahrerin bereits bezahlt hatten.

Ungewöhnlich freundschaftlich legte der Werwolf seine Hand auf Anyas Schulter. „Das ist der erste Schritt zur Verwirklichung deines Traums. Da darfste schon mal etwas glotzen.“

„Ja“, nickte auch Matt zu ihrer Linken, „genieße den Anblick ruhig einen Moment.“

Was Anya auch tat.

 

Von ihrer Position aus hatten sie den perfekten Blick auf die Front. Eine extra angelegte Brücke führte herüber zum Eingang, über den in leuchtenden, blauen Lettern „Ephemeria Bridge Stadium“ stand. Das Metall spiegelte das Licht der Sonne, sodass es wirkte, als würde es strahlen. Hunderte Leute warteten bereits vor dem Stadion auf den Einlass.

„'kay, genug geglotzt.“

Anya lief geradeaus über die Straße und wurde dabei noch fast angefahren, weil sie nicht auf den Verkehr achtete. Dem Beinahe-Unfallbauer zeigte sie abwesend ihren besten Mittelfinger, während ihre beiden Begleiter sich lauthals mit peinlich berührter Mimik entschuldigen und hinterher eilten. Denn Anya zog das Tempo immer mehr an, bis sie die Spannung auf das Kommende nicht mehr aushielt und zu rennen begann.

Während sie so über die Brücke stürmte, sah sie herüber zu einer anderen zu ihrer Linken, die weiter am Ende der Stadt die beiden Bezirke verband. Dort drüben war es gewesen, wo sie von Zed angegriffen worden war. Ob die Undying wohl heute auftauchen würden? Anya konnte es nicht beschreiben, aber der Gedanke ließ sie kein bisschen erschaudern. Denn heute konnte sie jeden besiegen, das spürte sie einfach.

 

Schließlich hatten sie den Eingangsbereich erreicht, das Stadion war umgeben von Grünflächen mit Bänken. Hier und da boten kleine Stände Snacks an, um die Wartezeit vor dem Einlass zu verkürzen.

Ein paar Stufen führten hinauf zum Platz vor dem Haupteingang, an dem sich unzählige Leute tummelten. Sie alle gingen einen, durch regelmäßige Abgrenzungen gekennzeichneten, Weg entlang durch eine Schlange, welche sie direkt zu den Ordnern am Eingang führte. Dort wurden die Tickets überprüft.

„Ich fürchte, hier trennen sich unsere Wege“, meinte Matt und stellte sich an das Ende der Schlange, „du musst da lang.“

Er zeigte zu einem Extrabereich etwas abseits, der ebenfalls von mehreren, in blauen Uniformen steckenden, Mitarbeitern des Stadions bewacht wurde. Auch hier tummelten sich ein paar Zuschauer, da sie hofften, den ein oder anderen Blick auf die Teilnehmer zu erhaschen.

„'kay, wir sehen uns später“, murmelte Anya und peilte den rechten Fronteingang des Gebäudes an.

„Viel Erfolg!“, rief Matt ihr hinterher.

Zanthe dagegen flötete: „Blamier' mich nicht!“
 

Anya zeigte ihm im Weggehen ihren heute besonders nach Aufmerksamkeit haschenden Mittelfinger. Kurz darauf drängte sie sich an irgendwelchen hyperaktiven Fangirls irgendwelcher Wannabe-Pros vorbei und baute sich vor den Ordnern auf. Nachdem sie Turnier- und Personalausweis vorgezeigt hatte, wurde sie hineingelassen und staunte noch einmal Bauklötze.

Sie war weniger in einem Stadion, denn mehr einer Art Einkaufsstraße gelandet. Zu ihrer Linken befand sich eine Wand mit Postern diverser Berühmtheiten der Szene. Dahinter lag der Zuschauereingang samt Ticketschalter und vermutlich auch diversen Shops, die Fanartikel en masse verkauften. Zumindest wenn sich dort genau wie hier die Läden nur so aneinander reihten. Deckboxen, Kartenhüllen, für alles gab es praktisch einen, ach was, drei verschiedene Läden. Der in einer leichten Kurve verlaufende Gang wurde zudem durch regelmäßige Rolltreppen in seiner Mitte unterbrochen, die in die oberen Stockwerke führten.

Zu Anyas Erleichterung war hier nicht so viel los, nur vereinzelt fanden sich vor den Läden ein paar Spieler ein. Andere gingen den scheinbar gar nicht enden wollenden, in allen nur erdenklichen Farben leuchtenden Konsumtunnel entlang. Die Blonde folgte ihnen mangels fehlender Eingebung, wo sie denn hin musste. Andererseits, was gab es schon für Optionen? Raus ins Innere natürlich!

 

Schnell stellte sich allerdings heraus, dass die Dinge doch nicht so einfach waren. Bevor Anya offiziell teilnehmen konnte, musste sie sich zunächst noch einmal einschreiben, was an einer Rezeption in einem Vorbereitungsraum geschah. Dort saßen einige Duellanten und bearbeiteten ihr Deck, denn jede Karte musste in einem Formular angegeben werden.

So setzte sich auch Anya mit dem Bogen in der Hand in einen der bequemen, weißen Ledersessel innerhalb des mit marinefarbenen Marmorplatten ausgelegten Raumes. Sie musste sich Logans Deck genau ansehen und führte nebenbei noch einige Änderungen durch, bevor sie krakelig die Karten aufschrieb und das Dokument am Tresen abgab. Auch ihr rotes D-Pad wurde mit einem Scanner registriert, sodass sie sich wie an der Kasse eines Supermarkts vorkam.

Schließlich durfte sie auf Handschwenk der Mitarbeiterin den Raum Richtung einer einfachen Tür zu ihrer Rechten verlassen.

 

~-~-~

 

„So früh schon auf Arbeit?“, staunte Aiden nicht schlecht, als er Nicks Büro betrat.

Der junge Mann in buntem Hawaiihemd saß an seinem gläsernen Schreibtisch und war anscheinend eifrig dabei, etwas zu programmieren.

Er sah nicht auf, als er erwiderte: „Dir auch keinen guten Morgen.“

„In etwa einer Stunde gehen die Vorrunden des Legacy Cups los. Willst du nicht zusammen mit den anderen im Pausenraum zusehen?“

Nick richtete sich mit angezogener Augenbraue auf. „Welchen Teufelspakt mussten die armen Dinger dafür eingehen, dass sie, statt zu arbeiten, die Übertragung ansehen dürfen?“

Der immer im Anzug gekleidete Geschäftsmann ließ sich zu einem verschmitzten Lächeln hinreißen, als er um den Schreibtisch herumging. Wie eine Hyäne, so kam es Nick vor, schlich Aiden hinter ihn, tat aber nichts Unüberlegtes.

„Solltest du nicht auch zusehen? Ich meine, deine Schwester feiert dort sozusagen ihr Debüt und das ganz ohne meine Unterstützung.“ Er beugte sich über Nicks Schulter, flüsterte in sein Ohr. „Das ist eine außergewöhnliche Leistung für jemanden wie sie. Wie hast du es angestellt?“

„Ich bin mir sicher, dass Anya auch zurecht kommt, wenn ich nicht zusehe und ihren Namen in regelmäßigen Intervallen schreie.“

Aiden richtete sich auf. „Wollen wir es hoffen.“
 

Sich nun vom Bildschirm abwendend, drehte sich Nick auf seinem Stuhl zu Aiden. Mit dem Ausdruck maßloser Genugtuung sagte er: „Und ich hoffe, du weinst dich nicht in den Schlaf, weil du sie nicht unter deine kleinen, erzbösen Fittiche bekommen hast.“

Sein Beinahe-Verlobter winkte ab. „Nicht doch. Ich habe rechtzeitig Ersatz gefunden.“

Nick drehte sich wieder um. „Um den wird sich schon jemand aus Team VAM kümmern, wenn einer von ihnen die Gelegenheit bekommt.“

„Willst du gar nicht wissen, wen ich ins Rennen geschickt habe?“

Wenn sein Chef das so formulierte, war Nick sich sicher, dass er es tatsächlich nicht wissen wollte. Was wiederum bedeutete, dass er es wissen musste, weil es nichts Gutes bedeutete.

„Du wirst nicht gerade glücklich sein, aber …“ Aiden unterbrach sich selbst. „Nein. Ich bin mir sicher, Team 'VAM' wird schon damit klar kommen. Wofür steht das eigentlich?“

Damit zog er an Nick vorbei, aber nicht, ohne ihm vorher ein letztes Lächeln zu schenken, obwohl seine Nachfrage unbeantwortet blieb.

 

Als er die Tür hinter sich schloss, stöhnte Nick: „Ich habe keine Zeit, mich auch noch um deine Spielchen zu kümmern …“

Trotzdem wäre es wohl das Beste, wenn er sich die Teilnehmerliste etwas genauer ansah.

 

~-~-~

 

Als Anya das Tor zum Inneren des Stadions durchquerte, hatte sie vieles erwartet. Eine riesige Halle unter freiem Himmel. Zugegeben, die hatte sie auch bekommen, schließlich waren nur die Zuschauerränge der ovalen Arena überdacht – auch wenn deren Dach bei Bedarf komplett sogar komplett über das Spielfeld geschlossen werden konnte. Aber so wie es aussah, an diesem schönen Sommertag, brauchten sich die Zuschauer keine Sorgen um Regen machten. Was weniger an dem Wetter selbst, sondern an relativ leeren Sitzreihen lag. Denn dies war das erste, was dem Mädchen beim Eintritt ins Innere auffiel.

 

Von beiden Seiten der Arena fluteten die Duellanten in dessen Mitte. Anya lag goldrichtig, die Veranstaltungsfläche war wesentlich größer als ein Footballfeld. Aufgeteilt in sechs mal zwölf kleinere Felder, die abwechselnd in den Farben blau, gelb, grün, rot, orange und violett sowie durch eine Nummer gekennzeichnet waren. Bereits jetzt huschten überall Kameramänner und Assistenten herum, auf den dutzenden Bildschirmen oberhalb der Tribünen sah man Animatoren, die das Publikum anheizten, welches gerade einmal etwas mehr als ein Drittel der vorhandenen Plätze ausfüllte.

 

Anya begriff, dass die Vorrunden nicht so interessant zu sein schienen. Dennoch würden einige ausgewählte Duelle auch im Fernsehen übertragen werden. Es war ein fremdartiges Gefühl, wie sie mit dutzenden anderen ins Innere strömte, ohne zu wissen, was auf sie zukam. Bisher hatte sie es noch nie mit so vielen Feinden gleichzeitig zu tun gehabt, wie Anya die anderen Teilnehmer insgeheim titulierte. Viele von denen sahen so harmlos, herkömmlich aus.

Vermutlich war sie aber einfach nur Schlimmeres gewöhnt. Big Al, Isfanel, Another, Urila, Kyon, der Sammler, die Undying. Gegen die waren das hier doch alles Napfsülzen!

 

Und doch! Jetzt, wo sie sich einigermaßen Überblick verschafft hatte, musste Anya insgeheim schlucken. Das mussten trotzdem über hundert Duellanten sein, die sich unter dem freien Himmel der Arena zum ultimativen Stelldichein versammelt hatten. Wie viele von denen waren wohl so gut wie Redfield? Oder besser?
 

Nervös?

 

Levrier erschien an ihrer Seite, hielt die Arme verschränkt.

„Yep“, antwortete Anya ungewohnt ehrlich. Fügte flüsternd hinzu, aus Angst, dass jemand mithörte: „Denk dran, wie ich mich qualifiziert hab und wie das bei den anderen Pfeifen der Fall war.“

 

Das ist wahr. Du solltest jedoch nicht an dir zweifeln. Zwar hast du dir nicht mit rechten Mitteln einen Platz erkämpft, aber du bist nicht mehr das Mädchen, das ich vor etwa einem Jahr kennengelernt habe.

 

Er schwebte vor Anya. Und Anya war sich sicher, könnte er unter seinem Helm lächeln, würde er dies jetzt ganz gewiss tun. Was sie zum Grinsen brachte.

„Yeah …“

Doch sofort bohrte sich etwas Spitzes in ihr Herz. Zweifel. War sie wirklich so stark wie Levrier glaubte? Wenn sie doch nach wie vor nicht aus eigener Kraft gegen die Schnöselgeschwister gewinnen konnte? Wenn Ricther mit ihr den Boden gewischt hätte, wäre Levrier nicht inkarniert?

Sie ließ den Kopf hängen. Wie wollte sie in diesem Haifischbecken überleben, wenn sie nicht mal ihr eigenes Deck besaß?

 

Das Mädchen schreckte auf, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

Marc war zu ihr gestoßen. „Kinn nach oben richten. Sonst denken die Leute am Ende noch, Anya Bauer wäre nicht selbstbewusst.“

Er war offensichtlich alleine, denn von Valerie fehlte jede Spur.

„Vor den Leuten hier musst du keine Angst haben. Wenn solche wie ich hier mitspielen dürfen, kann es nicht so schwer für dich sein, die Hauptrunde zu erreichen.“

Anya pfiff durch die Zähne. „Als ob ich Schiss hätte, Butcher! Anders als Redfield, wie's aussieht. Wo ist sie?“

„Tummelt sicher auch irgendwo hier herum. Eben war sie noch bei mir“, antwortete er und nahm die Hand von Anyas Schulter, „aber sie hat irgendjemanden gesehen, den sie kennt und-“

 

In dem Moment flackerten die dutzenden Monitore auf, die am äußeren Rand der nach innen verlaufenden Tribünenüberdachung angebracht waren. Zu sehen war dort eine rothaarige Frau, die eine lavendelfarbene Schleife im Haar trug. Melinda!

„Es fängt an!“, stellte Anya richtigerweise fest.

 

Gib dein Bestes! Und schone mich bitte!

 

Mit diesen Worten verschwand Levrier.

Gleichzeitig beobachtete Anya, wie Melinda, dabei ein Mikrofon in der Hand haltend, in die Kamera starrte. Da hinter ihr bunte Animationen von Duel-Monsters-Karten durch das Bild huschten, konnte man nur vermuten, dass sie sich vor einem Greenscreen in einer gläsernen Lounge am oberen Ende der Tribünen befand, wie es sie dort in mehrfacher Ausführung gab. In einer von ihnen trieb während großer Turniere auch der Kommentator Mr. C sein Unwesen, wie Anya wusste.

 

„Hallo Leute!“, begrüßte Henrys Schwester die Duellanten und das Publikum locker. „Vielen Dank, dass ihr so zahlreich zu diesem besonderen Tag erschienen seid.“

Sie lächelte geradezu hinreißend, sodass man ihr ihre Worte ohne Zweifel abnahm.

„Die Teilnehmer kennen den Ablauf des heutigen Tages bereits, doch für euch da draußen erkläre ich es noch einmal kurz.“
 

„Huh? Ich weiß von gar nichts!“, klagte Anya an Marc gewandt.

Der zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es auch nur von Valval.“

 

„Wie ihr wisst, werden die Vorrunden heute in einem Rutsch ausgetragen“, erklärte derweil Melinda, wobei ihr Antlitz zur rechten Seite des Bildschirms verschoben wurde, „und zwar in acht Runden, bestehend aus einem Einzelduell, für das die Teilnehmer 40 Minuten Zeit haben. Jedem Duellant wird per Zufallsverfahren ein Gegner zugewiesen. Die Duelle werden zu jeder vollen Stunde stattfinden, beginnend um 10 Uhr. Die Channel DL 2 bis 10 werden übrigens verschiedene Featured Duels übertragen. Hier, auf Channel 1, folgt im Anschluss eine Vorstellung der Teilnehmer.“

Das von ihr Gesagte wurde noch mal in Form eines sich zunehmend vervollständigenden Zeitplans in der linken Hälfte des Bildschirms dargestellt.

 

Marc sah auf seine Armbanduhr. „Also haben wir noch eine halbe Stunde Zeit.“

Neben ihm mahlte Anya mit dem Kiefer. „Ich will, dass es -jetzt- losgeht!“

 

„Um 14 Uhr wird es eine Pause von einer Stunde geben, in der sich die Spieler innerhalb des Stadions frei bewegen können und bestimmt auch das ein oder andere Autogramm verteilen.“ Melinda zwinkerte verschmitzt. „Liebe Duellanten, denkt aber bitte daran, es nicht zu verlassen, denn in diesem Fall werdet ihr disqualifiziert.“

Ein kleines Männchen erschien neben Melinda, das von einem roten Kreuz regelrecht erschlagen wurde.

„Die Duelle werden mit Punkten bewertet. Für einen Sieg gibt es drei, für ein Unentschieden einen und letztlich für Niederlagen null Punkte.“ Der Rotschopf grinste plötzlich bereit. „Aber es gibt noch einen Faktor, der ebenfalls Punkte verleiht: Lebenspunkte. Hat ein Spieler während des Duells nicht einen Punkt verloren, gibt es einen Extrapunkt.“

Es gab nicht nur im Publikum erstaunte Aufrufe. Auch einige der Teilnehmer sahen sich verwirrt an, als wäre ihnen das völlig neu.

Melinda fuhr fort: „Aber es gibt auch Punkte für zugefügten Schaden. Kann jemand mit einem einzigen Angriff mindestens 3000 Punkte austeilen, gibt es einen Bonuspunkt. Das ist unabhängig davon, ob er am Ende gewinnt oder verliert.“

 

„Hey, das ist gut für dich, Anya.“

Die Blonde wirbelte um. Valerie trottete auf die beiden zu, bestens gelaunt mit einem frechen Grinsen auf den Lippen. Missbilligend musste Anya feststellen, dass ihre Erzrivalin sich heute besonders in Schale geworfen hatte. Denn ihre marineblaue Hose passte perfekt zu ihrem weißen Shirt, über das sie eine graue Weste trug. Garniert mit einem Pferdeschwanz, der in Volumen und Länge den Anyas bei weitem übertraf.

„Dann wirst du für's Draufkloppen sogar belohnt“, gluckste Valerie neckisch.

„Oh, wie ich hoffe, dir heute das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, Redfield!“, zischte Anya bitterböse und drehte sich ruckartig um.

„Vorher wisch' ich dich vom Platz, meine Liebe“, konterte Valerie selbstbewusst.

 

„Die 16 Duellanten mit der höchsten Punktzahl ziehen in die Endrunden ein“, erklärte Melinda derweil. „Sollte am Ende ein Gleichstand herrschen, kommen der oder diejenige weiter, die die größte Differenz zwischen zugefügtem und erlittenem Schaden aufweisen.“

Plötzlich hielt sie das rote D-Pad in die Kamera, in seinem ausgefahrenen Zustand, wo es aus einem Bildschirm und den Kartenzonen bestand.

„Wie bereits erwähnt, haben die Spieler 40 Minuten für ein Duell. Jedes, das danach nicht beendet wurde, wird nach dem Lebenspunktestand bewertet. Im Anschluss gibt es eine kurze Verschnaufpause.“

Plötzlich flackerte auf dem Bildschirm des Apparats eine Ziffer auf, die 17.

„In dieser wird auf den D-Pads die Nummer des Feldes angezeigt, auf dem die Spieler sich als Nächstes duellieren. Sollte jemand nicht pünktlich zum Stundenwechsel dort warten, wird das als Niederlage ohne Zusatzpunkte gewertet, also behaltet stets die Uhr im Auge, Duellanten!“ Sie ließ den Arm sinken. „Jeder Teilnehmer dürfte jetzt bereits eine Nummer zugeteilt bekommen haben. Die Übertragungen der Spiele werden pünktlich um 10 Uhr beginnen.“

 

Anya aktivierte das hässliche, rote Ding an ihrem Arm. Es dauerte einen Moment, dann flackerte eine weiße 19 auf dem Bildschirm.

„2“, sagte Marc mit Blick auf den Apparat an seinem Arm.

„Feld 65“, stimmte Valerie mit ein, „mal sehen, wem ich als Erstes die Laune verderben muss.“

Marc lachte auf. „Was ist los mit dir, den Spruch hätte ich eher von Anya erwartet?“

Die drehte sich noch weiter ab. Bah, das wollte sie gar nicht miterleben, wie die sich da gegenseitig beweihräucherten. Hatte Redfield sich vorher einen angetrunken, oder wieso war sie so gut drauf!?

„Tch. Ich geh schon mal vor!“, raunte Anya missmutig und zog an den beiden vorbei.
 

Ihr Duellfeld lag genau auf der anderen Seite der riesigen Arena, im letzten Drittel. Genau wie Redfields, die ihr folgte. Vor ihnen lagen die Felder 1 bis 6 nebeneinander, danach folgte die nächste Reihe mit 7 bis 12 und so weiter. So war es selbst für sie ein Leichtes, ihren Bestimmungsort zu finden.

„Dann mache ich das mal auch. Viel Erfolg, Liebling!“, rief Valerie Marc zu.

„Dir auch, Valval“, entgegnete ihr Verlobter, wobei er praktischerweise schon vor seinem Feld stand.

Bei dem ganzen Süßholzgeraspel wurde Anya regelrecht schlecht. Grässlich, nichts wie weg!

Sie zog eilig an anderen Duellanten vorbei, von denen einige ebenfalls ihr Feld zu suchen begannen. Feld 19 befand sich am Rand, zu ihrer Linken, wie Anya anhand der fortlaufenden Nummerierungen der Felder wusste.

„Denkst du, du wirst das packen mit dem Deck?“, fragte Valerie neugierig.

„Klar!“, antwortete Anya, ohne sich umzudrehen. Stattdessen zeigte sie weiter geradeaus, als sie gerade Fuß auf Feld 8 setzte und anhielt. „Du musst in diese Richtung, ich mehr nach links.“

Hoffentlich würden sich ihre Wege hier trennen! Anya wollte jetzt allein sein. Was Valerie zu bemerken schien. „Okay, dann wünsche ich dir viel Glück. Du schaffst das schon.“

Als die beiden Mädchen nebeneinander standen, sah Anya zu ihrer Erzrivalin und gelangte zu der Einsicht, dass sie ihre schlechte Laune nicht an ihr auslassen durfte. Zumindest nicht immer, nur manchmal. Und Redfield meinte es immerhin gut mit ihr, kämpfte sie doch für ihre Sache.

„Natürlich, eine Anya Bauer wird durch Rückschläge nur stärker. Du gib dir auch Mühe, verstanden? Wehe, ich sehe dich nur einmal verlieren!“

„Wirst du nicht“, zwinkerte Valerie zuversichtlich. „Bis später.“
 

So bewegten sie sich in unterschiedliche Richtungen weiter. Anya steuerte auf ihren Ausgangspunkt zu. Es war ein rechteckiges Feld, bei dem – wie auch bei allen anderen – sämtliche Monster- und Backrowzonen markiert waren mit weißen Linien. Selbst für die Pendelkarten gab es spezielle Felder.

Anya musste grinsen. Sie hatte eines der blauen Felder erwischt. Ihre Lieblingsfarbe, also hoffentlich ein gutes Omen. Wenn sie an so etwas glauben würde, verstand sich.

In dessen Mitte befand sich ein Kreis, in dem in beide Richtungen die Ziffer 19 eingelassen war.

 

Sie stellte sich an den Rand der unteren Seite und verschränkte die Arme. Aber kaum hatte sie überhaupt angefangen zu warten, trat von der anderen ein junger Mann auf das Feld. Etwa in ihrem Alter, war sein braunes Haar am Pony spitz nach oben geformt.

„Hi“, sagte er, „du bist meine Gegnerin?“

„Siehst du doch“, erwiderte Anya sofort ranzig und musterte ihn kritisch.

Der gewann jedenfalls keine Modenschau, so wie er in einer simplen Jeans und einem hellblauen T-Shirt mit dem Aufdruck „Genuine“ auftrat.

„Ich bin Kakyo. Kakyo Sangon. Und du heißt …?“, blieb er trotz der schroffen Begrüßung höflich.

Er bekam ein Knurren als Antwort. „Anya Bauer.“

„Der Name kommt mir bekannt vor.“

Oh Gott, dachte das Mädchen erschrocken. Hoffentlich hatte der Typ nicht auf irgendeinem dieser Blogs etwas über sie gelesen! Um ihn gar nicht erst zu animieren, darüber genauer nachzudenken, erwiderte sie gar nichts. Obwohl sie verlockt war, einen abfälligen Kommentar über Kakyos seltsamen Namen zu machen.

Der sah nebenbei auf sein D-Pad. „Hmm, wir haben noch ein paar Minuten. Erzähl doch etwas über dich.“

„Warum sollte ich!?“, pflaumte Anya ihn an. „Wir sind Gegner, schon vergessen?“

Der Brünette seufzte resignierend. „Ich meinte ja bloß. Etwas Smalltalk ist immer ganz gut, um das Eis zu brechen. Du tust ja so, als müssten wir uns gegenseitig in dem Duell umbringen.“

Wenn der wüsste, wie oft sie schon in solchen Situationen war, dachte sich Anya dabei. Sie löste die Arme aus ihrer Verschränkung. „Was erwartest du denn, huh? Das hier ist ein Wettstreit, kein Kaffeekränzchen.“

Kakyo gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Du bist wohl -die- Sorte, was? Na ja, dann eben nicht.“
 

Und tatsächlich schaffte Anya es im Anschluss, ihn bis zum Start der ersten Runde komplett zu ignorieren. Als jene dann begann, gab ihr D-Pad ein penetrantes Piepen von sich. Auch hörten sie Melinda noch etwas sagen, doch das Mädchen rief bereits: „Duell!“

 

[Anya: 4000LP / Kakyo: 4000LP]

 

„Ich beginne!“, entschied sie und zog ihr Startblatt.

 

~-~-~

 

Es war Nick schwer gefallen, sich von seiner 'Arbeit' zu lösen, doch die Neugier hatte ihn letztlich übermannt. Gemächlich schlenderte er in den gemütlichen Pausenraum von Micron Electronics, nur um die halbe Belegschaft dort anzutreffen.

Der mit Sofa und Sesseln ausgestattete, orangefarbene Raum war zum Brechen voll. Maya von der Rechtsabteilung, O'Donell und Wellington aus der Buchhaltung und diverse andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, deren Namen Nick sich nicht merken wollte, saßen oder standen vor dem Flachbildfernseher an der Wand und sahen dabei zu, wie Melinda den Ablauf erklärte. Im Anschluss würde eine Vorstellung der Duellanten folgen.

 

In einer Ecke bemerkte Nick zu seinem Ärgernis, dass auch Aiden und seine persönliche Assistentin Chrystina – eine dunkelhäutige, stets mit Klemmbrett in der Hand herum wuselnde, überambitionierte Mittzwanzigerin – mit von der Partie waren. Ohne Zweifel hoffte Ersterer seinen Schützling in Aktion zu sehen. Der brünette CEO bemerkte Nick und winkte ihn zu sich herüber.

Widerwillig schloss der die Tür und leistete der Einladung Folge. In der voller tropischen Topfpflanzen stehenden Ecke bei den Fenstern angelangt, steckte der zerzauste Kerl im Hawaii-Hemd die Hände in die Taschen.

„Du kommst ja doch“, strahlte Aiden.

„Nun ja, wir alle brauchen hin und wieder etwas Zerstreuung, nicht wahr, Mr. Reid?“, fragte Nick mit trügerischer Zunge. Er vermied es in Anwesenheit anderer ihn beim Vornamen zu nennen.

„Ich hoffe, wir werden deine Freundin und unseren Vertreter zu sehen bekommen.“ Aiden gab nebenbei seiner PA mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sie alleine lassen sollte.

Während jene kommentarlos gehorchte und davon stakste, sah Nick ihr mit Blick auf das pralle Hinterteil, das sich unter dem grauen Kostüm hervor wölbte, interessiert hinterher.

„Sie ist verheiratet“, erinnerte Aiden ihn freundlich.

„Oh, ist da jemand eifersüchtig?“ Nick wandte sich ihm wieder zu und lächelte falsch. „Wenn ja, muss ich dir leider sagen, dass ich auch verheiratet bin.“

„Mit wem denn?“

„Mit meiner Hand. Und wir sind einander seit über 20 Jahren treu. Du hast leider keine Chance“, hauchte Nick zuckersüß und blinzelte dazu passend. „Aber ich kann dich gerne verkuppeln. Ich kenne da nämlich einen notgeilen Italiener.“

Aiden musste aufrichtig amüsiert auflachen.

„Okay, sag mir eins“, wurde Nick schlagartig ernst und rückte Aiden so nah auf die Pelle, dass der seinen Atem riechen konnte. „Wen hast du da eingeschleust?“

 

Entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben hatte Nick sich die Teilnehmerliste nicht näher angesehen. Es war ohnehin zu spät, noch etwas zu unternehmen. Stattdessen hatte er seine Energien drauf verwendet, den Verbleib von Anyas Deck und dessen Diebin ausfindig zu machen. Allerdings ohne nennenswerte Erfolge. Langsam stieg die Sorge in ihm an, dass jenes vielleicht schon außerhalb seiner Reichweite lag.
 

Statt direkt auf Nicks Frage zu antworten, forderte sein Chef ihn mit dem Wackeln seines rechten Zeigefingers dazu auf, sich herab zu beugen. Was der Größere auch tat.

Und als Nick weit genug war, um etwas ins Ohr geflüstert zu bekommen, murmelte Aiden den erfragten Namen. Was dazu führte, dass der hochgewachsene Bursche erschrocken zurückwich.

„Du bist widerlich!“, zischte er hasserfüllt. „Hast du eine Ahnung, was du da getan hast!?“

Die ganze Belegschaft drehte sich erschrocken von dem Ausruf um.

 

~-~-~

 

Mittlerweile war das Duell zwischen Anya und ihrem Gegner auf dem Höhepunkt angelangt.

„Dein Zug!“, verkündete Anya mit einer gebieterischen Handbewegung. So wie die Dinge standen, würde sie gewinnen.

 

[Anya: 2000LP / Kakyo: 200LP]

 

Und was noch besser war: Dank ihres Hünen [Battlin' Boxer Lead Yoke], welcher vor ihr in seiner befreiten Form verharrte, hatte sie sich einen Extrapunkt für hohen Schaden verdient!

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3800 DEF/2000 {4} OLU: 0]

 

Hoffnungsfroh griff Kakyo nach seiner Duel Disk und zog mit Schwung auf. „Das hier ist noch nicht vorbei, Draw!“

„Natürlich ist es das!“

Weder er, noch sie besaßen auch nur eine einzige verdeckte Karte. Und mit der aufgezogenen hielt er auch nur zwei auf seiner Hand, Anya hatte noch eine über.

Doch als ihr Gegner hoffnungsfroh zu strahlen begann, schwante Anya Böses. Umso mehr, als er die gezogene Karte vorzeigte. „Endlich! Ich aktiviere [Dark Magic Curtain]. Er halbiert meine Lebenspunkte.“

Was der Blonden natürlich sofort einen garstigen Spruch entlockte, „Oh wie toll, hilfste mir noch beim Gewinnen, ja?“

Sie bereute den Spruch jedoch, als ihr auffiel, dass ein Kameramann hinter Kakyo auftauchte und sich auf sie fokussierte. Keine Sekunde später konnte sie sich auf mehreren Bildschirmen sehen, wie sie perplex ins Bild starrte, im Hintergrund fanden andere Duelle statt.

„Shit …“, murmelte sie leise.

Gleichzeitig tauchte vor Kakyo ein dunkler Vorhang auf, an der Oberseite festgehalten von einem Skelett. Jenes zog den Stoff langsam beiseite.

 

[Anya: 2000LP / Kakyo: 200LP → 100LP]

 

Anya mahnte sich, nicht auf den Kameramann zu achten. Doch irgendwie war es cool, mal im Rampenlicht zu stehen. So wurde ihr Blick immer wieder von der Linse angezogen, statt etwa von dem Monster, das langsam hinter dem Vorhang zum Vorschein kam.

„Da das ein Preis ist, den ich zahlen muss, bekomme ich auch etwas als Ausgleich.“ Kakyo verstummte. Leicht genervt fragte er: „Hey, hörst du mir überhaupt zu!?“

„Ja ja!“

Die Stirn runzelnd, schien er dies nicht recht zu glauben. Eine einzelne Karte schob sich aus seinem Deck, die er zwischen die Finger nahm und vorzeigte. „[Dark Magic Curtain] kann mühelos mein Assmonster vom Deck rufen, auch wenn es für diesen Zug meine letzte Beschwörung war. Komm hervor …“

Mit einem Ruck zog das Skelett das letzte Stück des Vorhangs weg. Und da war er, in violetter Robe, mit Zauberstab bewaffnet. Der Hexer, der gerne seine Hand auf den spitz zulaufenden Hut hielt.

„[Dark Magician]!“

Jener wirbelte mit seiner grünen Waffe in der Hand und nahm vor Kakyo eine kämpferische Haltung ein.

 

Dark Magician [ATK/2500 DEF/2100 (7)]

 

Nun gelang es selbst Anya, ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Duell zu lenken. Was sie jedoch mit gewohnt wenig liebenswürdigen Worten abtat. „Was ist das!? Haste den in der Mottenkiste deiner Oma gefunden!?“

„Hey, das ist ein ganz besonderes Monster!“, erwiderte Kakyo ärgerlich und strich liebevoll über die gelb umrahmte Karte auf seinem D-Pad. „Das ist die erste Duel Monsters-Karte, die je gedruckt wurde.“

„Du meinst ein Nachdruck, das Original vergammelt in einem Museum!“

Selbst Anya wusste darum. [Dark Magician] wurde vor vielen, vielen Jahren als erste Karte in Japan gedruckt. Seitdem hatte er viele Inkarnationen erlebt, mit diversen Artworks. Anhand ihres Bildschirms am D-Pad konnte Anya sehen, dass Kakyos Version tatsächlich eine mit der allerersten Illustration war, der 'Hutpose'. Es gab noch mindestens fünf weitere. Jede davon besaß einen gewissen Seltenheitswert.

„Was du nicht sagst?“ Kakyo klang zunehmend gereizter. „So oder so, mein Magier ist imstande, deinen Boxer endlich unschädlich zu machen.“

Anya zischte selbstsicher: „Das will ich sehen!“

Tatsächlich gefiel ihr das gar nicht. Lead Yoke besaß keine Overlay Units mehr, konnte sich ergo nicht mehr schützen. Hoffentlich ging das nicht ins Auge. Musste der beschissene Kamerafuzzi sie ausgerechnet jetzt filmen!?

„Hau ab!“, fauchte sie an ihn gerichtet, doch der schien sie gar nicht zu hören.

Kakyo war es jedoch, der reagierte, hatte er sie ganz offensichtlich missverstanden und ihre Worte auf sich bezogen. „Das Duell ist sowieso gleich vorbei, reg dich ab! Meine letzte Karte: [Thousand Knives]!“

Noch während er sie in sein D-Pad einlegte, schnippte sein Magier mit dem Finger. Um ihn herum materialisierten sich dutzende Messer, die in der Luft schwebten. Der unscheinbare, junge Mann richtete Zeige- und Mittelfinger auf Anyas Boxer. „Mit dieser Karte kann [Dark Magician] jeden Feind zerstören. Instant Kill!“

 

Anya Bauer, konzentriere dich!

 

Entgegen Levriers Mahnung war die jedoch wie gelähmt und starrte das Objektiv der Kamera an, welche hinter Kakyo auf sie gerichtet war. Der Hexer schwang den Zauberstab in seiner anderen Hand nach vorn. Die Messer flogen. Und dort, wo sich bereits abgefeuerte befunden hatten, tauchten neue auf.

„Klasse, das haben wir drin!“, rief der Kameramann. Scheinbar kommunizierte er per Headset mit der Produktionsleitung. Anya war so perplex und abgelenkt, dass sie nicht auf ihre letzte Handkarte achtete. Was fatal endete: [Battlin' Boxer Lead Yoke] wurde binnen Sekunden in einen überdimensionalen Messerblock verwandelt und zersprang in tausend Teile.

Kakyo gab dem Mädchen gar keine Zeit für eine Reaktion. „Direkter Angriff mit Black Magic!“

An der Spitze seines Stabes lud der dunkle Magier eine violette Energiekugel auf, die er mit Schwung auf Anya schleuderte. Die ging, einen erschrockenen Schrei ausstoßend, darin unter.

 

[Anya: 2000LP → 0LP / Kakyo: 100LP]

 

Als der Rauch verpuffte und das Hologramm des Hexers verschwand, stand Anya da wie bestellt und nicht abgeholt. Der Kameramann zog derweil ab.

„Warte-! Meine-!“ Hilflos starrte sie auf ihre Handkarte. Die hätte es doch wenden können!

Kakyo indes deaktivierte sein D-Pad und schritt auf Anya zu.

„Das ist nicht fair!“, platzte die plötzlich, sodass er auf halbem Wege stehen blieb. „Verdammte Scheiße, ich wurde abgelenkt!“

„Wenn du Profi werden willst, wirst du mit so etwas klarkommen müssen“, sagte Kakyo mit unterschwelliger Gereiztheit. „Schieb' deine eigene Unkonzentriertheit nicht auf andere!“

Anya wollte sofort etwas darauf erwidern, doch verharrte im Luftholen. Er hatte Recht. Sie musste schleunigst lernen, ihre Emotionen zu kontrollieren und sich zu sortieren, sonst würde sie hier nicht weit kommen.

„... sorry“, murmelte sie daher kleinlaut und sah zur Seite. „Bin keine gute Verliererin.“

„Einsicht und so“, meinte er schulterzuckend und setzte nun seinen Weg fort. Als er ihr gegenüber stand, reichte der einen halben Kopf Größere ihr die Hand. „Trotzdem, gutes Spiel.“

Anya schlug ein, auch wenn sie innerlich selten so aufgewühlt war. Sie hatte diesen sicheren Sieg in den Sand gesetzt! Verdammt nochmal! Wenn sie noch einmal verlor, würde sie es vermutlich nicht in die Endrunde schaffen! Dabei war das gerade einmal das erste Spiel gewesen!

„Dann wünsche ich dir noch viel Erfolg. Vielleicht sieht man sich ja nochmal“, meinte ihr Gegner und wandte sich ab. „Cya.“

„Bye“, murmelte Anya deprimiert. Das fing ja toll an!

 

~-~-~

 

Oben in den Zuschauerrängen war nicht allzu viel von der Euphorie zu spüren, die Melinda über die Bildschirme verbreitet hatte. Neben Zanthe und Matt waren die Plätze frei, nur hinter ihnen wohnte eine Großfamilie dem Spektakel bei.

„Großartig, sie hat verloren“, zeigte sich Zanthe mittelschwer erschüttert und zog nebenbei den Finger über den Bildschirm des an einem dünnen Kabel hängende Tablet in seiner Hand, „meinst du, es gibt Trostpreise? Einen Sarg zum Beispiel?“

Sofort schwanden die letzten Bilder von Anyas Niederlage, die Szene wechselte zu einem Duell Valeries, welche gerade einen Angriff befahl. Tablets wie diese fand man unter jedem Sitzplatz, um die Spiele besser verfolgen zu können.

Matt verschränkte die Arme und sah dem Werwolf interessiert über die Schulter. „Entspann dich. Das Turnier hat doch gerade erst angefangen. Noch kann sie es reißen.“

„Erde an Matt, das da ist Anya!“ Zur Verdeutlichung seines Unglaubens ließ der Werwolf den Finger um die Schläfe kreisen. „Das hier wird nicht mehr besser. Eher schlimmer!“

„Du immer und dein Pessimismus …“

Zanthe schürzte die Lippen, als er seinen Sitznachbarn kritisch ansah. „Als ob deine Naivität besser wäre. In so einem Turnier gibt es immer genug Spieler, die ohne Niederlage durchwandern. Sie hat schon die erste. Spätestens bei der zweiten ist Schluss und es sind noch sieben Spiele bis dahin.“

„Dann geh du doch runter und-“
 

Weiter kam Matt nicht, denn ein leises Bimmeln unterbrach ihn. Seinen Ursprung fand es in der Innentasche des schwarzen Mantels, aus welcher Matt sich sein Handy fischte.

„Ja?“, fragte er beim Abnehmen.

„Seid ihr im Stadion?“

Nick. Und er klang nervös.

„Sind wir“, bestätigte ihm Matt tonlos. Ihm lag nicht besonders viel daran, ausgerechnet jetzt mit diesem Psychopathen zu sprechen. Und auch sonst nicht. „Was ist?“

„Ihr müsst sofort zu Anya und sie warnen!“

Zanthe machte spitze Ohren, denn selbst ohne jene selbst an das Handy zu legen, verstand er jedes Wort. „Wovor denn? Matts schlechter Laune? Der Zug ist längst abgefahren. Ach und sag ihm, sie hat ihr erstes Duell mit Bravour verloren!“

Matt drehte sich böse funkelnd zu dem Kopftuchträger. Und fragte Nick: „Ist es etwas Ernstes?“

„Würde ich dich sonst anrufen? Natürlich ist es ernst! Unter den Teilnehmern da unten ist jemand, der ihr schaden will!“

Mit einem Schlag verflog Matts Abneigung gegenüber Nick. „Ein Undying!?“

„Nein. Je nach Betrachtungswinkel könnte man sagen, dass es schlimmer ist als das.“

„Will dieser jemand ihr etwas antun!?“

„Lass mich ausreden!“, verlangte Nick zornig. „Was er will, das weiß ich nicht genau, sicher nichts Gutes. Hör zu-!“

„Wir können da jetzt nicht runter!“, widersprach derweil Zanthe mit ausgestreckten Händen. „Nicht, ohne unsere Doof-Queen in Schwierigkeiten zu bringen.“

Nicks Stimme überschlug sich förmlich vor Wut. „Dort unten ist …!“

 

~-~-~

 

Anya ahnte nicht, wovor Nick sie überhaupt warnen wollte. Noch weniger ahnte sie, dass Matt und Zanthe die Hände gebunden waren, bedeutete ihr Einmischen schließlich, den Turnierablauf zu stören und damit ihre Disqualifikation zu riskieren.

Nichtsdestotrotz verliefen die nächsten Runden ohne größere Vorkommnisse. Mit ein wenig Schützenhilfe von Levrier gewann sie ihre nächsten drei Duelle in Folge, mehr noch, bei jedem staubte sie den Extrapunkt für maximalen Schaden ab, dank [Battlin' Boxer Lead Yoke]. Einmal gelang es ihr sogar, keinen Lebenspunkt einzubüßen, wodurch sie noch einen Extrapunkt gewann und somit nun bei 14 stand. Kein schlechtes Ergebnis, wenn man sich den Start des Turniers vor Augen hielt.

 

Dies schlug sich erstaunlich effektiv in ihrer Laune wieder, als sie während der Pause in einem der Cafés des Stadions saß, zusammen mit Valerie und Marc. Sie hatten einen Tisch direkt an der gläsernen Fassade neben dem großen Gang, der an den Geschäften entlang führte.

„14!“, grinste Anya über beide Backen und biss in ihr Sandwich.

„Hmm, ich habe nur 13“, gestand Marc ihr gegenüber.

„Ach ihr zählt?“, staunte Valerie neben ihm. Dann nahm sie einem Schluck aus ihrer Tasse Kaffee und starrte aus dem Fenster.

Die Blonde beugte sich bedrohlich zu ihr herüber. „Wie viele, Redfield?“

„... 16.“

„Sehr gut!“, lobte Marc und streichelte ihr die Schulter. „Wenn du so weiter machst, bist du garantiert in der Hauptrunde.“

Als Anya mit ihrem Sandwich im Mund den Todesblick aufsetzte, fügte er noch hinzu: „Und du natürlich auch!“

Die Blonde riss förmlich den Bissen fort, als sie im Kopf nachrechnete. Wenn Redfield 16 Punkte hatte, musste sie nicht nur jedes Duell gewonnen, sondern auch in jedem einen Bonuspunkt gesammelt haben. Garr, wie machte Misses Überflieger das bloß!?

„Pah!“, raunte sie aus Trotz. „Hätte ich Angel Wing oder Heavy T, wäre ich garantiert noch besser!“

Was dazu führte, dass Marc und Valerie verschwörerische Blicke miteinander austauschten.

 

Während Anya über die wirklich wichtigen Dinge im Leben grübelte, eilte weiter draußen im ringförmigen Gang Zanthe an den zuhauf vorhandenen Besuchern und Teilnehmern vorbei und sah sich in alle Richtungen um.

An den Geschäften vorbeirauschend, ließ er das Geschehene Revue passieren. Um Anya nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hatten er und Matt bis zur Pause gewartet, bevor sie sich auf die Suche nach ihr begaben. Da das Stadion riesig war, hatten sie sich aufgeteilt. Er war von Matt für den Haupteingang eingeteilt worden. Dummerweise konnte Zanthe Anya nicht wittern, dazu überlagerten sich einfach zu viele Gerüche.

Nicks Warnung hatte sich zwar ernst angehört, aber wieso sollte ausgerechnet-!?

 

Er blieb stehen. Da war sie!

Durch die Glasscheibe eines kleinen Cafés konnte er die Blonde sehen, wie sie mit dem Rücken zu ihm gewandt am Tisch saß und sich mit Valerie und deren Verlobten unterhielt.

„Da bist du ja“, murmelte er und war im Begriff einen Schritt nach vorne zu machen, da bemerkte er etwas aus den Augenwinkeln. Eine Silhouette. Aber ihr Geruch war vertraut. Zanthe drehte sich in der Bewegung zur Seite, wo er durch die Fenster hinaus über den Fluss und die Brücke sehen konnte.

Er sah ihn, aus dem Augenwinkel, hinter einem älteren Mann stehen. Keine zwei Meter von sich entfernt. Nur für einen kurzen Moment, eine Millisekunde. Aber bevor er diese eine, ihm wichtige Person ins Visier nehmen konnte, lief eine Gruppe von Besuchern zwischen ihnen durch – und der Mann war verschwunden. Aber sein Geruch war noch da, wenn auch schwächer werdend.

 

Irritiert wirbelte Zanthe herum, sah in die Fensterscheibe des Cafés. Er musste Anya warnen, aber wenn er jetzt lange zögerte, würde er entwischen. Der Diener des Sammlers, sein-!

Aufgeregt schaute der junge Mann wieder zurück, nur um seine Richtung erneut zu ändern. Anya oder Kyon!? Viel Wind um nichts oder Antworten!? Niemand würde sie stören …

„Sorry Anya“, nuschelte er, da die Entscheidung doch so nahe lag.

 

Ohne noch einen Gedanken an seine Freundin zu verschwenden, sprintete er los. Den Gang entlang, immer dem schwindenden Geruch nach. Dabei stieß er gegen verschiedene Leute, ignorierte ihre wütenden Rufe und entschuldigte sich nicht einmal.

Es führte ihn zum Haupteingang, durch den er und Matt vorhin gekommen waren. Anstatt sich an den mit Absperrungen vorgegebenen Weg aufzuhalten, schwang er sich einfach darüber hinweg, stieß dabei noch fast jemanden von der Security um und rannte durch eine der offen stehenden Türen.

 

Das Sonnenlicht blendete ihn, aber er musste nur seiner Nase folgen. Es führte ihn nach rechts, einen asphaltierten Weg entlang, der um das riesige Gebäude herum führte. Am äußeren Rand war eine Rasenfläche angelegt, wo man sich unter großen Bäumen auf eine der Bänke setzen konnte. Dort zog es ihn hin.

Hinter einer dieser Bänke angelangt, blieb Zanthe stehen. Von hier konnte man herüber zu Ephemeria City sehen, ihre Riding Duel-Strecken und Wolkenkratzer bewundern. Aber Zanthe hatte keinen Blick dafür. Sein Herz pochte aufgeregt. Weiter vorne führte ein Hang zur unteren Ebene der künstlichen Insel. Und dort, unter dem Schatten der Brücke sah er eine Gestalt verschwinden.
 

Mit einem Satz landete er gebeugt auf dem gepflasterten Weg, direkt vor dem Geländer. Das Rauschen des nahen Wassers sowie seines Blutes in den Ohren, sprintete er aus der Hocke los.

Doch als er unter der Brücke angelangte, war dort nichts und niemand. Nur der Geruch.

 

„Macht es dir Spaß, mir wie ein verliebtes Mädchen überall hin zu folgen?“, fragte eine helle, klare Männerstimme amüsiert.

Zanthe spürte einen leichten Windzug. Etwas wurde gegen seinen Hals gehalten. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass es sich um eine Klinge mit Sägezähnen an einer Seite handelte, wobei die andere von einer dicken, weißen Abdeckung umgeben war.

„Ich dachte, du wärst jemand, den ich kenne“, sagte der Kopftuchträger mit unterdrückter Enttäuschung. „Du kannst das Ding wegnehmen, ich tue dir nichts. Außer du legst es drauf an.“

„Pass lieber auf, dass ich dir nichts tue.“

Trotzdem ließ der Fremde seine Waffe sinken, sodass Zanthe sich vorsichtig zu ihm umdrehte. Zwar standen sie im Schatten der Brücke, doch er konnte ihn gut erkennen. So sah er dem Butler des Sammlers von der Größe und Kopfform her ähnlich, doch Zanthe begriff, dass seine Fantasie ihm einen Streich gespielt hatte. Allein diese strahlend blauen Augen, sie passten nicht zu Kyons braunen. Der Geruch hatte ihm einen Streich gespielt …

„Eine Verwechslung also?“, fragte der einen halben Kopf Größere und legte ebenjenen in den Nacken. Um seinen Hals lag ein Paar beeindruckender Kopfhörer, die über ein Kabel mit einem kleinen Apparat an seinem Gürtel verbunden waren.

Der Werwolf musterte ihn, während er die Frage mit einem Laut bejahte. Wer färbte denn bitte seinen Pony blond, den man darüber hinaus zu kleinen Zöpfen geflochten hatte und band diese zu einem langen Pferdeschwanz zusammen, während die Seiten kurz rasiert und dunkel waren?

„Du kannst nicht -er- sein“, stellte Zanthe ärgerlich fest, „so wie du rumläufst.“

Damit spielte er auf die für den Sommer unnötig dicke, ärmellose Weste über dem T-Shirt des anderen Mannes an.

„Und du bist wohl kaum ein normaler Mensch, wenn du mir bis hierher folgen konntest und das, obwohl ich – ach egal“, erwiderte der genauso schnippisch und hielt Zanthe seine Waffe unter die Nase. „Also, dann erzähl mal.“

 

Jetzt konnte Zanthe es sehen, dieses seltsame Schwert. Von einer blau-weißen Metallfassung umgeben, war nur eine Seite mit dem gezackten Klingenblatt bestückt. Dafür war es massiver und länger, als Zanthe es sich vorgestellt hätte. Und dieser Kerl hielt es mit nur einer Hand.

„Du hast einen Geruch an dir, den ich kenne“, meinte er, „daher habe ich dich verfolgt. So einfach ist das.“

„Du … riechst mich?“ Zur Verdeutlichung schnüffelte der Typ unter seinen Armen und zuckte mit den Schultern. „Also ich riech' nichts. Zum Glück!“

„Ich bin ein Werwolf, natürlich rieche ich so etwas. Also, kennst du einen Kyon? So heißt der Typ, von dem ich rede.“

Der Fremde blinzelte verdutzt. „Ein was bist du?“

„Werwolf.“

Der Blondschopf sah sich zu allen Seiten um, ehe er sich vorbeugte und mit vor den Mund gehaltener Hand fragte: „Und was ist das? Trifft man solche hier häufiger?“

Zanthe traute seinen Ohren kaum. „Werwölfe!? Klingelt es da nicht bei dir? Oder hast du wirklich noch nie von uns gehört!?“

Das aufrichtig ahnungslose Gesicht seines Gegenüber verriet ihm prompt die Antwort, wodurch der Kopftuchträger abwinkte. „Ach, vergiss es und antworte mir einfach.“

„Ich kenne keinen Kü-ohn.“

Zanthe ballte eine Faust. Wären hier nicht noch andere Leute und hätte dieser Lügner nicht diese seltsame Waffe in der Hand, wäre er ihm schon längst an die Kehle gesprungen. Denn er irrte sich nicht, das war definitiv -sein- Geruch an ihm!
 

Es schien, als würde der junge Mann Zanthes Anspannung bemerken, denn er legte einen Zeigefinger ans Kinn und schien nachzudenken. „Nun, von deinem Freund habe ich noch nie gehört. Der, den du riechst, heißt vielleicht Kakyo. Hilft dir das weiter?“

„Kakyo!?“, wiederholte Zanthe ungläubig. „Bist du dir sicher?“

„Ja, Kakyo hieß er. Hat mir … aus der Patsche geholfen, neulich. Mit anderen Menschen hatte ich seitdem keinen Kontakt.“

Auch wenn er dabei unbekümmert klang, verfinsterte sich der Blick des Blonden für einen Augenblick. Schließlich ließ er die Waffe in seiner Hand einfach verschwinden, indem sie sich in weißes Licht auflöste.

„Nun“, sagte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, „sonst noch Fragen?“

„Wann war das?“, wollte Zanthe wissen.

„Vor zwei Tagen.“

„Und er hieß wirklich Kakyo, nicht Kyon?“

Sein Gegenüber nickte stumm. Seufzend ließ Zanthe den Kopf hängen. Er verstand es nicht. Dieser Name sagte ihm irgendetwas, aber wie konnte es sein, dass dieser jemand genauso roch wie Kyon?

Als er aufblickte, hatte sich der andere längst umgedreht. „Was bist du eigentlich für einer? Schwingst dieses komische Teil am helllichten Tag herum …“

Der Fremde sah über seine Schulter zu ihm herüber. „Ist das ungewöhnlich? Ich wollte mich nur verteidigen. Aber wenn du meinst, dann lasse ich das in Zukunft besser.“

„Was ist das überhaupt für eine Waffe? Wer bist du!?“

Grinsend drehte er sich wieder um. „Schön, dass du endlich mal danach fragst. Dachte schon, wir stellen einander gar nicht mehr vor! Ich bin Exa und meine Waffe war … meine Waffe eben.“

„Bist du so eine Art Dämonenjäger?“, hakte Zanthe skeptisch nach und verschränkte die Arme.

Als Antwort formte Exa mit den Fingern eine Pistole. „Bingo! Ich bin hier, um ein paar Übeltäter zu stellen!“

„Aber nicht mich, oder?“

„Bist du denn einer?“

„Ich bin Zanthe Montinari. Ein vegetarischer Werwolf, wenn du es wissen willst! Ich tue keiner Fliege etwas zuleide … solange sie mir nichts tut zumindest.“ Zanthe nahm Exa scharf ins Visier. „Sind hier denn hier irgendwelche Dämonen aufgetaucht?“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Sieht nicht so aus. Also dann, Zanthe, viel Spaß noch mit diesem komischen Kartenturnier. Vielleicht läuft man sich ja mal wieder über den Weg.“

Exa wirbelte herum, winkte zum Abschied mit der Hand, setzte seine Kopfhörer auf und begann zu laufen. Der Werwolf sah ihm ungläubig hinterher. Wie eilig dieser Kerl es mit einem Mal hatte! Der war ganz sicher nicht hier, weil er nach Dämonen Ausschau hielt! Dazu müsste er erstmal wissen, was Dämonen überhaupt sind, so weltfremd wie er offensichtlich war …

Aber Zanthe beschäftigte dies weniger als die Frage, wer dieser Kakyo war. Er hatte den Namen doch schon mal gehört oder sogar gelesen, irgendwo, vor gar nicht allzu- natürlich! Einer der Teilnehmer des Turniers hieß doch so!

 

~-~-~

 

Typisch für Anya, ahnte sie nichts von den Irrungen und Wirrungen, in die sie verwoben war. Stattdessen absolvierte sie nach der Pause die nächsten drei Duelle. Welche sie allesamt für sich entscheiden konnte. Die Hoffnungen auf eine Platzierung unter den sechzehn Besten stiegen dementsprechend.

 

Anderenorts saß Matt alleine im Publikum und wippte nervös mit dem Fuß, mit einem Tablet in der Hand, das Nicks Warnung mit Bildern bestätigte.

Wo blieb Zanthe bloß? Hatte er Anya Bescheid gegeben? Denn er selbst hatte das Mädchen nicht rechtzeitig ausfindig machen können.

Der schwarzhaarige Dämonenjäger beobachtete, wie sich die Duellanten nach und nach auf die Suche nach ihrem letzten Duellpartner machten. Inzwischen war es bereits kurz vor 18 Uhr, ein Ende war langsam in Sicht. Auch Matt war guter Dinge, dass Anya in die Hauptrunde einziehen würde – vorausgesetzt sie gewann das letzte Duell. Ansonsten könnte es knapp werden.

 

~-~-~

 

„Warum bist du vorhin zurückgekommen?“, fragte Zanthe neugierig und beugte sich nach vorne.

Er und Exa saßen auf einer der Bänke vor dem Stadion und beobachteten die Stadt, die sich hinter dem Wasser erstreckte.

„Um ehrlich zu sein brauche ich etwas Geld. Du hast nicht zufällig welches? Immerhin hast du mir da vorhin die Tour vermasselt.“

Der Werwolf drehte sich zu seinem größeren Sitznachbarn und funkelte ihn missmutig an: „Du wolltest den Mann bestehlen? Tss. Also war dieses ganze seltsame Gespräch über Duel Monsters, Politik und so weiter nur, weil du dir was von mir pumpen willst?“

Sein blonder Banknachbar grinste verlegen. „Jap.“

„Seh' ich so aus als hätte ich Geld? Ich komme nicht mal mehr ins Stadion, weil meine Karte durch dessen Verlassen ungültig geworden ist, schon vergessen?“

„Das stresst.“

„Und wie.“

Die beiden begannen zu lachen. Dann tat es Exa Zanthe gleich und beugte sich vor. „Hier ist es wirklich schön. Auf gewisse Weise. Alles ist so friedlich.“

Mit angezogenen Augenbrauen wurde er von der Seite angesehen, wie er die Hände ineinander faltete und sich mit dem Kinn auf ihnen abstützte. Einfach in die Ferne blickend.

„Wenn du nicht gerade aus dem Nahen Osten kommst, ist das Standard.“

„Naher was? Was ist da?“ Exa richtete sich auf.

„Oh mein Gott …“ Zanthe klatschte sich die Hand gegen die Stirn. „Dass ich jemals jemanden treffen würde, der noch weltfremder ist als -sie-!“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Na und? Kann man ja ändern. Auf Freunde kann man sich immer verlassen, oder? Selbst wenn man Fehler macht, richtig?“

Mit ungläubigem Blick ließ Zanthe den Zeigefinger zwischen sich und Exa hin und her schwenken. „Du, ich, Freunde? Sind wir das?“

„Ab heute schon.“

Obwohl Zanthe zunächst ein flotter Spruch auf den Lippen lag, verzichtete er darauf, ihn auf Exa loszulassen. Denn der Gedanke, einen Freund gefunden zu haben, der nicht zu Anyas Gruppe gehörte, erfüllt ihn mit Stolz. Und Wärme.

„Cool. Aber Geld habe ich trotzdem keins.“

„Macht nichts, ich komme schon klar“, grinste sein blond-schwarzhaariger Freund zuversichtlich.

 

~-~-~

 

Mittlerweile hatte das letzte Vorrunden-Duell begonnen. Und Anya wusste nicht, ob sie glücklich über ihren Gegner sein sollte. Denn bereits seit einigen Zügen stand sie dem schwarzhaarigen, jungen Mann mit Kinnbart gegenüber, der ihr bei ihrem letzten gemeinsamen Duell mächtig an die Gurgel gehen wollte – Marc.

„Mein Zug!“, rief dieser und riss die oberste Karte von seinem Deck. Vor ihm hatte sich ein großer Krieger positioniert, dessen Körper aus rotem und dunkelblauem Magmagestein bestand. Von seinen Armen gingen klingenartige Auswüchse ab, die lichterloh brannten.

 

Laval Dual Slasher [ATK/2400 DEF/200 (5)]

 

Anya ihrerseits kontrollierte ein Monster, den mit einem Stahlpfeiler auf dem Rücken gefesselten Hünen, [Battlin' Boxer Lead Yoke], dessen verbliebenes Xyz-Material sich noch in jenem Pfeiler befand, welcher ihn so schwer belastete.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

Die Life Points beider waren bereits recht angeschlagen.

 

[Anya: 1500LP / Marc: 900LP]

 

„Was jetzt?“, fragte Anya herausfordernd. Auch wenn die Anspannung sie seither nicht losgelassen hatte, genoss sie dieses Duell doch. „Willste mich wieder ankokeln, so wie damals?“

Marc blickte im ersten Moment pikiert drein, dann lachte er heiser. Scheinbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen, nämlich den seiner Schuldgefühle. „Nein, nichts dergleichen diesmal.“

„Sei mal locker, Butcher! Ist doch Schnee von gestern!“

Er nickte. „Natürlich, tut mir leid. Mir behagt es nur nicht, dass du gleich sehr böse auf mich sein wirst. Denn ich verbanne [Kayenn, The Master Magma Blacksmith] von meinem Friedhof, um die Angriffskraft aller Lavals um 400 zu erhöhen.“

Anya runzelte die Stirn, als die Konturen der Klingen an den Armen des Dual Slashers rötlich zu glühen begannen und im Hintergrund das Klirren von Hammer auf Stahl erklang.

 

Laval Dual Slasher [ATK/2400 → 2800 DEF/200 (5)]

 

„Trotzdem zu schwach“, rümpfte Anya unbeeindruckt die Nase.

Marc aber zeigte eine Zauberkarte vor, seine einzige Handkarte. „Nicht unbedingt! Denn ich rüste dein Monster mit [Spirit Burner] aus, mit dem ich sofort seine Position wechseln kann.“

Gar nicht mehr gelassen stand Anyas Mund offen, als ihr Hüne kurzerhand in die Knie ging, sich den Kopf mit einer Hand festhielt, um den dunkler Nebel entstanden war.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

„Und jetzt Angriff!“, befahl Marc mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Cross Slash!“

Wie ein Pfeil schoss der Krieger auf den Boxer zu und holte von unten mit den Klingen aus, die er aufwärts über Kreuz schlug. Sein Feind wandte ihm rechtzeitig den Rücken zu, sodass stattdessen der Pfeiler zerstört wurde, der ihn niederdrückte.

 

[Anya: 1500LP → 700LP / Marc: 900LP]

 

Die Blondine schnaubte. „Tch, Durchschlagschaden!?“

„Ja. Drei verschiedene Laval-Monster müssen auf meinem Friedhof liegen, damit das klappt.“

„Was auch immer, ich habe das letzte Xyz-Material von Lead Yoke abgehangen, um seine Zerstörung zu verhindern. Damit wird er um 800 Rachepunkte stärker!“

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 → 3800 DEF/2000 {4} OLU: 1 → 0]

 

Verschmitzt grinste Marc und straffte sich. „So? Vermutlich um mich im Anschluss zu besiegen?“

„Genau so ist es, Butcher!“

„Aber du hast die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zwei Laval-Monster auf meinem Friedhof lösen seinen anderen Effekt aus!“ Der Schwarzhaarige mit dem Kinnbart schlug mit der Faust in die Handfläche. „Da [Laval Dual Slasher] ein Monster in Verteidigung angegriffen hat, schlägt er nochmal zu! Double Cross Slash!“

Seiner Gegnerin entglitten die Gesichtszüge. „Huh!?“

Panisch hob sie beide Hände. „H-hey, Butcher, du willst mir doch helfen, oder!? Können wir nicht-!?“

Konnten sie nicht. Sein Monster, welches sich noch vor Anyas Boxer befand, wirbelte um die eigene Achse und schlug dutzende Male in schneller Abfolge mit seinen Klingen zu und trieb Lead Yoke damit in die Richtung des Mädchens, bis deren Monster zersprang und sie den letzten Hieb abbekam.

„Nein“, lautete Marcs trockene, verspätete Antwort. „Das war dafür, dass du mich mal umgebracht hast.“

 

[Anya: 700LP → 0LP / Marc: 900LP]

 

Fassungslos stand Anya auf ihrer Seite des Feldes und begriff, dass sie nun schon zum zweiten Mal verloren hatte. Verdammter Kackmist! Was würde jetzt aus den Finalrunden werden!?

Sie spürte, wie die liebgewonnene Wärme des Zorns in ihre Wangen stieg und stampfte umgehend auf Marc zu, gewillt, jene Wut an ihm auszulassen. „Scheiße, Butcher, was sollte das!? Wenn du Rache wegen damals willst, dann ein anderes Mal!“

Marc zeigte sich unbeeindruckt, als sie sich vor ihm mit ihren knapp 160 Zentimetern Körpergröße aufbaute. Besänftigend gestikulierend sagte er: „Das war nur ein Spaß gewesen. Aber vergiss nicht, wir sind hier eigentlich Gegner und ich für meinen Teil werde dich nicht gewinnen lassen.“

„Du willst also weiter machen, wie Redfield es vorgesehen hat, huh!?“, raunte Anya missbilligend. „Statt mich um meine Angelegenheiten selbst kümmern zu lassen, wollt ihr unbedingt was von der ollen Rosenburg auf die Nase.“

Er nickte. „Genau so ist es. Gutes Spiel übrigens.“

Trotzig nahm sie schließlich die Hand, die ihr angeboten wurde und schüttelte sie, ohne jedoch Marcs Phrase zu wiederholen. Stattdessen murmelte sie: „Mit Angel Wing wäre mir das nicht passiert …“

„Angel Wing?“, fragte Marc. „Dein Drache, von dem du schon den ganzen Tag redest?“

„Mein Assmonster!“, korrigierte Anya ihn, was ihr Gegenüber mit einem Stirnrunzeln quittierte.

„Ich dachte, das wäre [Gem-Knight Pearl]?“ Die beiden begannen sich vom Spielfeld zu entfernen.

Anya winkte ab. „Der? Pft. Der ist bestenfalls Begleitwerk.“

„Und was ist mit [Gem-Knight Master Diamond]?“

„Der ist nur für die Trottel reserviert, die der Meinung sind, mir eins aufs Maul geben zu wollen.“

Marc stieß einen mitleidsvollen Seufzer aus. „Oh Junge, Valerie hat echt nicht übertrieben.“

„Womit?“, fragte Anya scharf und ruckte ihren Kopf in seine Richtung.

Ihr Begleiter zuckte mit den Schultern. „Dass dir deine neuen Karten wichtiger geworden sind als deine alten.“

„Das stimmt doch gar nicht!“, stritt Anya dies sofort ab. „Wann hat sie das gesagt!?“

„Als wir das Café verlassen haben und du vorgegangen bist.“

Wütend fragte die Blonde: „Wie kommt sie überhaupt auf so etwas Bescheuertes!? Ich vermisse mein Deck genauso sehr wie meine Duel Disk!“

„Frag sie das lieber selbst.“

„Tch, wie du willst. Das klären wir jetzt auf der Stelle!“, entschied Anya schnaubend. „Ich habe keinen Bock auf solchen Quatsch, bring mich zu Redfield!“

Marc rollte genervt mit den Augen, war ihm anscheinend nur allzu bewusst, dass das Mädchen sehr wohl 'Bock auf diesen Quatsch' hatte. „Wenn's sein muss. Sie ist da hinten, Feld 7.“

 

Zusammen zogen sie an anderen Spielfeldern vorbei, manche bereits verlassen, auf anderen dagegen war noch die Hölle los. So explodierte direkt neben Anya beispielsweise ein goldener Riesenvogel namens [Simorg, Bird Of Ancestry].

Das Mädchen dachte derweil weniger über Valeries Aussage, sondern mehr über ihren Punktestand nach. Dank Butcher hatte sie jetzt zwei von acht Duellen und damit wichtige Punkte verloren! Der kann sich frisch machen, wenn sie wegen ihm die Finalrunden verpasste! Andererseits hatte sie so gut vorgelegt, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, trotzdem knapp reinzurutschen. Wie vielen hier gelang es schon, permanent Bonuspunkte zu sammeln!?

Mittlerweile waren die Tribünen noch leerer als zum Beginn der Vorrunden, wie Anya nebenbei beim Umsehen bemerkte. Ob das wohl auch so sein würde, wenn es erst richtig losging?

 

Inzwischen hatten sie es an den anderen Feldern vorbei geschafft und ihr Ziel erreicht. Sie hielten am Rand von Feld 7 an und wohnten dem Schauspiel bei, das sich ihnen bot.

Auch Marcs Verlobte war noch mit ihrem Gegner beschäftigt, der kein Geringerer war als der junge Mann im Rollstuhl, gegen den Marc während des Festes angetreten war. Othello. Welcher dieses Mal nicht von seiner Mutter beziehungsweise Managerin begleitet wurde.

Vals Situation sah nicht so gut aus, sie kontrollierte nur eine gesetzte Karte und hielt dazu eine auf ihrer Hand. Ganz im Gegensatz zu Othellos Feld, welches von seinem T-Rex-ähnlichen, roten Drachen dominiert wurde – Odd-Eyes. Zu beiden Seiten standen zudem blau leuchtende Lichtsäulen in der Luft, in denen sich der weiße [Stargazer Magician] und der schwarze [Timegazer Magician] befanden.

 

„Odd-Eyes“ [ATK/2500 DEF/2000 (7)]

 

Auch die Lebenspunkte der beiden waren bereits ziemlich weit von Ausgangswert entfernt, besonders in Valeries Fall. Es erschien offensichtlich, dass Othello sie ziemlich unter Druck gesetzt haben musste.

 

[Valerie: 1100LP / Othello: 1600LP]

 

„Hey, Redfield“, rief Anya ihr zu, „mach hinne, wir haben etwas zu klären!“

Die Schwarzhaarige warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren Gegner. „Jetzt nicht, Anya!“

Den jungen Mann im Rollstuhl adressierend, schwang sie den Arm über ihre gesetzte Karte aus. „Also gut, ich aktiviere meine Falle [Aquamirror Illusion], welche mich ohne Umschweife ein Gishki-Ritualmonster rufen lässt und das ohne Kosten, aber dafür darf es nicht angreifen und kehrt am Ende des Zuges auf meine Hand zurück.“

Die Falle klappte auf und begann Schwingungen auszusenden, die aussahen wie die Oberfläche eines Sees, in den ein Stein geworfen wurde. Immer weiter breiteten sie sich aus und ehe sich die Anwesenden versahen, stand an ihrer Statt ein riesiges, schwarzes Monster, das die Wellen von dem roten Stein in seiner Brust auslöste. Vier Arme besaß es, das Horn auf seinem Haupt und die Schwingen auf seinem Rücken verliehen ihm etwas Dämonisches, gleichwohl auch Insektoides aufgrund der Tatsache, dass seine Vorlage der Herkuleskäfer war.

„Das ist doch [Gishki Zielgigas]!“, staunte Anya nicht schlecht.

 

Gishki Zielgigas [ATK/3200 DEF/0 (10)]

 

Den hatte Redfield damals eingesetzt, als sie sich zusammen mit der falschen Joan of Arc in Anyas Elysion gegen Anya und der Schattengeist-Pornozwiebel des Sammlers, Orion, duelliert hatte. Seitdem hatte man ihn nie wieder gesehen, was Anya auch unter vorgehaltener Hand Marc zuflüsterte. „Sie zieht wohl auch alle Register, um weiterzukommen, huh!? Ich dachte, den hat sie eingemottet.“

„Anya, das hier ist immer noch ein Wettbewerb“, belehrte Marc in einem fragenden, ungläubigen Tonfall, „es wäre seltsam, wenn sie auf ihre stärksten Karten verzichten würde, findest du nicht?“

Das Mädchen verschränkte die Arme und ruckte den Kopf zur Seite. „Hab's ja kapiert, pft!“

Valerie, die das gar nicht mitbekommen hatte, streckte ihren Arm aus. „Ich aktiviere [Gishki Zielgigas'] Effekt! Für 1000 Lebenspunkte ziehe ich eine Karte und wenn es ein Gishki-Monster ist, gebe ich eine Karte von deinem Feld in dein Deck zurück!“

Ihr Gegner mit dem hellblonden, schulterlangen Haar starrte regelrecht abwesend an ihr vorbei und reagierte nicht. Valerie legte die Finger an ihr Deck und schloss die Augen. Murmelte: „Bitte ein Monster!“

 

[Valerie: 1100LP → 100LP / Othello: 1600LP]

 

Dann riss sie die Karte von ihrem Deck und zeigte sie vor. Eine Zauberkarte namens [Forbidden Arts Of The Gishki]. Da nichts passierte, sah sich Valerie die Karte selbst an und seufzte. „Das war's dann. Zug beendet.“

„Wie jetzt!?“ Anya machte große Augen. „Sag bloß-!?“

Das Ritualmonster ihrer Erzrivalin verschwand.
 

Schon zog Othello eine Karte von seinem auf dem Spielplan vor ihm liegenden Deck. Sie gar nicht erst ansehend, murmelte er schwächlich: „Direkter Angriff, Odd-Eyes! Spiral Strike Burst!“

Sein Drache feuerte aus seinem Maul einen rot-schwarzen Feuerstrahl, der die schutzlose Valerie erfasste. Eine im Anschluss erfolgende Explosion verkündete das Ende des Duells.

 

[Valerie: 100LP → 0LP / Othello: 1600LP]

 

Odd-Eyes Hologramm dematerialisierte sich. Valerie trat aus dem Rauch hervor an den Rollstuhl und reichte ihrem Gegner lächelnd die Hand. „Gut gespielt.“

„Du auch“, erwiderte Othello lächelnd, als er annahm.

„Unglaublich, wie schnell du die Pendelbeschwörung zu beherrschen gelernt hast.“

Auf das Lob des Mädchens hin strahlte der Junge förmlich. „Das ist doch nichts Besonderes. Du hast doch genauso schnell verstanden, wie man sie unschädlich machen kann.“

„Seid ihr bald fertig!?“, hallte es zu ihnen herüber.

Valerie ließ Othellos Hand los. „Ich wünsche dir, dass du die Finalrunden erreichst und irgendwie deinen Traum erfüllst, auch wenn ich ihn eigentlich zerstören muss.“

„Du musst dich nicht schuldig fühlen.“ Der Junge hustete mehrmals. „Dir auch viel Erfolg im Turnier.“

 

Während sich die beiden verabschiedeten, stemmte Anya die Hände in die Hüften. Othello verließ sein Feld dank elektronischen Rollstuhls in die entgegengesetzte Richtung von Valerie, welche auf ihren Verlobten und dessen Anhängsel zu schritt.

„Tut mir leid für dich“, sagte der Schwarzhaarige sofort.

„Macht nichts, man kann nicht immer nur gewinnen. Und du bist ja schließlich auch nicht mit ihm fertig geworden. Ganz schön ehrgeizig, der Gute.“ Valerie strahlte neckisch. „Aber halb so schlimm. Wie lief es bei euch?“

„Bevor dein Stecher aufgetaucht ist? Gut!“

Anya mahlte wütend mit dem Kiefer, besonders als Marc hinzufügte: „Wir wurden in der letzten Runde gegeneinander gepaart. Sie hat verloren.“

Da Valerie bereits Anyas Körperfarbe rapide ins Rote überwechseln sah, verzichtete sie auf eine Stichelei und versuchte stattdessen sie zu beschwichtigen. „Und wenn schon, wir Drei sind trotzdem weiter.“

Allerdings war das nicht das Thema, das Anya geklärt haben wollte. „Redfield, was soll das heißen, mir wären die Hüterkarten neuerdings wichtiger als meine Gem-Knights!?“

„So habe ich das nicht gesagt“, verteidigte sich Valerie mit erhobenen Händen und wandte sich an ihren Verlobten. „Marc!“

„Du hast das genau so gesagt“, zischte der zwischen den Zähnen gereizt aufgrund des empörten Tonfalls.

„Das war aber nicht für ihre Ohren bestimmt, da waren wir uns einig!“, kam es in gleicher Manier zurück.

Anya stampfte auf. „Mir doch egal! Das ist totaler, geistiger Dünnschiss, Redfield! Schreib dir das hinter deine operierten Ohren!“

 

Im Affekt wirbelte sie um und rauschte davon. Kurz Marc ansehend, schüttelte Valerie enttäuscht über das lose Mundwerk des Schwarzhaarigen den Kopf, nur um Anya dann hinterher zu rennen.

„Warte doch, Anya! Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen!“

„Ich brech' dir gleich was!“, ignorierte Anya die Bitte und stieß jeden um, der nicht rechtzeitig auswich. Hinter ihr entschuldigte sich Valerie kleinlaut bei den am Boden liegenden Duellanten.

Auch Marc hatte die Verfolgung aufgenommen. „Wo willst du denn hin? Die geben jeden Moment die Platzierungen bekannt!“

Wie könnte es auch anders sein, war Anya in ihrem Wutschub taub für jegliche Form von Versöhnung. Erst als Valerie sie eingeholt und umrundet hatte, kam die Blonde zum Stehen.

„Stell dich nicht so an!“, tadelte ihre Erzrivalin sie und packte ihre Schultern. „Wenn du hier bestehen willst, musst du dich langsam mal an Kritik gewöhnen!“

„Also gibst du zu, dass-!“

„… nun der Effekt von [Artorigus, King Of The Noble Knights]! Für jede seiner Noble Arms zerstört er eine Zauber- oder Fallenkarte auf dem Feld!“

Anya verstummte mitten im Satz. Diese Stimme! Mechanisch drehte sie ihren Kopf nach rechts. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie nur noch, wie ein Blitz auf dem Spielfeld neben ihr gleich dreimal einschlug. Und sie sah jemanden, der ihr sehr bekannt vorkam: Der brünette junge Mann, ihr Gegner aus der ersten Runde. Kakyo. Wie er völlig schutzlos da stand und in kämpferischer Haltung das D-Pad vor sich hielt.

„Anya, das ist doch-!“, hörte sie Valerie sagen.

Die Blonde wusste, wer derjenige war, welcher das Xyz-Monster auf der anderen Seite kontrollierte. Den sagenumwobenen König Artus, der je in der linken und rechten Hand ein Schwert hielt. Und über ihm schwebte ein weiteres, bestehend aus zwei zusammenlaufenden Klingen, einmal in rot, einmal in blau. Plötzlich sackte der Ritter für einen kurzen Moment in die Knie.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/3500 → 2500 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

„Du denkst also, du kannst mithilfe von [Shrink] das Unausweichliche verhindern?“, fragte der blonde Zachariah mit schnarrender Stimme. „Tut mir leid, die Grundangriffspunkte meines Monsters für diesen Zug zu halbieren reicht nicht.“

Kakyo erwiderte: „Es reicht, um den Zug zu überstehen!“

 

[Zachariah: 5500LP / Kakyo: 3100LP]

 

Anya gefror förmlich das Blut in den Adern, wie sie ihren Bruder sah, der sich bereits von dem Duell abwandte. Fein gekleidet in einen roten Anzug, samt Goldkette um den Hals und hochgegelter Mähne.

„Denk lieber nochmal darüber nach“, meinte Zach und schnippte im Weggehen mit dem Finger. „Artorigus greift direkt an. Das war's.“

Mit gewaltigem Tempo sprintete der Ritterkönig voran. Das Schwert über seinem Haupt folgte ihm dabei. Kakyo hielt schützend die Arme übereinander und bekam erst eine links-rechts-Hiebkombination mit den Schwertern in Artus Händen ab, ehe jener nach oben griff und die riesige Klinge schwang. Eine gewaltige Energieexplosion entstand, als jene den jungen Duellanten berührte.

 

[Zachariah: 5500LP / Kakyo: 3100LP → 0LP]

 

Mit einem leisen Surren verschwanden die Hologramme und Kakyo stand da wie ein begossener Pudel, betrachtete im Anschluss den Bildschirm an seinem roten D-Pad, sich den Effekt der von Zach benutzen Karten durchlesend.

„Was ist da passiert!?“, staunte Marc, der die Mädchen inzwischen eingeholt hatte.

„Dasselbe wollte er mit mir machen!“, erinnerte sich Anya, die nur dank Logans Eingreifen damals nicht gegen ihren verräterischen Bruder verloren hatte.

Jener hatte sie offenbar gehört, denn er drehte sich zu Anya, Marc und Valerie um. Und begann siegessicher zu lächeln. „Na wenn das mal nicht mein 'Schwesterherz' ist. Hast du es tatsächlich bis hierher geschafft?“

Lässig mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er auf die Gruppe zu. „Ich hoffe, du machst deiner hübschen Freundin da keinen Ärger.“

„Was machst du hier!?“, fauchte Anya.

Zach antwortete im Laufen unbekümmert: „Wonach sieht es denn für dich aus?“

„Du weißt genau was ich meine, Arschfresse!“ Derweil war ihr Bruder bei den Dreien angelangt. „Wie hast du dich qualifiziert?“

„Über einen Sponsor. Wie so ziemlich jeder hier, der nicht gerade ein albernes Schulturnier gewinnen muss. Nicht wahr?“ Mit einem chauvinistischen Lächeln auf den Lippen, nickte er Valerie zu, die jedoch ihre Lippen fest zusammenpresste und nicht reagierte.

„Gut gemacht“, zischte Anya hasserfüllt.

„Sehr gut“, verbesserte Zachariah sie arrogant. „Ich habe noch kein Duell bisher verloren. Wie sieht's bei dir aus, 'Schwesterherz'?“

Sie blieb ihm die Antwort schuldig und forderte stattdessen eine eigene ein. „Warum zum Teufel bist du hier!? Ich kapiere es nicht!“

Der blonde Mann zuckte mit den Schultern. „Ich sagte doch, ich bin hier, weil ich gesponsort werde.“

„Von wem!?“

Langsam zog er an Anya vorbei, lächelte tückisch. „Von dem Mann, dessen Angebot -du- ja abgelehnt hast. Aiden Reid. Eine ganze Million bekomme ich, wenn ich gewinne. Doppelt so viel wie das Preisgeld, das von offizieller Seite verliehen wird.“

„Aiden Reid? Das ist doch der CEO von Micron Electronics!“ Valerie hatte ihre Stimme nun doch wiedergefunden.

„... dieser Scheißkerl, Nick hatte Recht!“ Sofort kamen all die warnenden Worte in Anya hoch, die ihr bester Freund gesprochen hatte. „Verräterschwein!“

Im Kontrast zu Anya, die verkrampft da stand und in die Leere starrte, neigte sich Zachariah schon regelrecht nach vorne, als sie auf derselben Höhe standen. „Was ist daran verräterisch, die Interessen seiner Firma zu verfolgen? Denkst du, du bist die Einzige, die man fragen darf, ob sie für einen antritt?“

Anya erwiderte nichts.

„Aber tröste dich, die Million ist mir eigentlich scheißegal“, sagte er und flüsterte seine letzten Worte mit besonderer Boshaftigkeit, „in Wirklichkeit bin ich nur hier, weil ich dir die Tour vermasseln will. Also bete, dass ich nicht so bald dein Gegner werde.“

 

Zufrieden vor sich hin pfeifend, zog er an der Gruppe vorbei. Vergessen war der Streit mit Redfield. Anya zitterte leicht, konnte sich nicht rühren. Ihr Bruder, hier, in diesem Turnier!? Dieser Mistkerl, der mit Kali unter einer Decke steckte!?

„Geht es dir gut?“, fragte Valerie sie von der Seite besorgt.

„Wie kommt dieser Arsch dazu, einfach hier aufzutauchen!?“

Kurz davor, vor Wut zu platzen, wirbelte Anya herum. Heute verlief ja mal wieder alles nach Plan!

„Habe ich das richtig verstanden?“, fragte Marc verwirrt. „Er hat gesagt, er würde von Aiden Reid gesponsort werden, nachdem du abgesprungen bist? Wie kommt der dazu, dich anheuern zu wollen?“

„Das würde ich auch gerne wissen“, pflichtete Valerie ihrem Verlobten bei.

Die genaue Antwort konnte Anya ihnen nicht geben, da sie selbst kaum schlauer war als die beiden. Aber sie begriff langsam, dass Nick vielleicht Recht haben und Reid gefährlich sein könnte. Wieso sonst sollte er ausgerechnet ihren Bruder für sich ins Turnier schicken, wo es mit Sicherheit wesentlich bessere Kandidaten gab?

„Ihr wart halt schon vergeben und er wollte jemanden aus Livington“, log Anya, „aber fragt mich nicht, wieso es jetzt ausgerechnet diese Kackratte sein muss!“

Valerie legte einen Zeigefinger an die Wange. „Hmm. Ich denke, du solltest vorsichtig sein. Da ist vermutlich etwas Persönliches im Spiel.“

„Ich hab davon gehört, dass ihr beide euch nicht versteht“, sagte Marc, „aber was hätte jemand wie Reid davon, das auszunutzen?“

 

Während die beiden ihre Vermutungen anstellten, welche Anya aufgrund ihrer eigenen kaum wahrnahm, endeten immer mehr Duelle. Die Teilnehmer des Legacy Cups verstreuten sich in der riesigen, offenen Halle, da sie jene bis zur Verkündung der Finalisten nicht verlassen durften.

Und schließlich war es soweit: Melindas Haupt flackerte auf jedem der riesigen Bildschirme oberhalb der Tribünen auf. Es befand sich in der rechten Hälfte, in der linken war stattdessen eine leere Tabelle zu sehen. Sie bestand aus sechzehn Zeilen und zwei Spalten, Name und Punktzahl.

„Hallo Leute!“, grüßte das älteste Kind der Ford-Sippe fröhlich in die Kamera. Doch anders als noch während der Begrüßung wirkte es falsch, denn ihr Mund mochte zwar lächeln, ihre Augen jedoch nicht. „Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch an euch alle! Ihr habt euch fantastisch geschlagen!“

Allgemeines Gemurmel füllte das Stadion. Anya, Marc und Valerie standen nebeneinander und betrachteten einen der Bildschirme.

„Viele Schlachten sind heute geschlagen worden. Doch leider konnten sich nur die besten Spieler durchsetzen, um in die Hauptrunde des Legacy Cups zu gelangen.“ Melinda zeigte mit ausgestreckter Hand zur Tabelle. „Ohne lange drum herum zu reden, werden jetzt ihre Namen erscheinen.“

Kaum hatte die Rothaarige dies gesagt, tauchte der erste Name in der Liste auf. Dann der zweite. Und während Anya mitlas, wusste sie nicht, ob ihr heiß oder kalt war.

 

Bauer, Zachariah – 40

Montinari, Alessandro – 40

Yu-liang, Jiang – 38

Leonhart Jr., Jack – 37

Nikoloudis, Othello – 35

Mitchell, Sandy – 32

Kingston, William – 30

Slater, Allison – 28

Sangon, Kakyo – 28

Walker, Justin – 28

O'Donell, Samantha – 27

Redfield, Valerie – 26

Guerri, Valmiro – 25

Butcher, Marc – 24

Morisaki, Saeko – 24

 

Anya bekam Panik. Sie hatte 23 Punkte! Sie hatte doch 23, oder nicht? Demnach müsste sie auf der Liste erscheinen, sofern …

 

Powell, Elaine – 24

 

Dem Mädchen gefror das Blut in den Adern. Sie hatte es nicht geschafft. Ihr fehlte der entscheidende Punkt!

„Herzlichen Glückwunsch“, hörte sie am Rande Melindas Stimme, „ihr seid mit dabei.“

 

 

Turn 60 – Path Of Most Resistance

Ganz zu Anyas Entsetzen entwickeln sich die Dinge in eine Richtung, die ihr gar nicht schmecken will …

Turn 60 - Path Of Most Resistance

Turn 60 – Path Of Most Resistance

 

 

Der Regen prasselte auf sie herab. Mitten auf einer leblosen Straße standen sie sich gegenüber – Anya und Zanthe. Die Blonde hielt in beiden Händen Angel Wing in seiner Speerform. Doch er sah anders aus als beim Kampf gegen Stoltz. Die Spitze gehörte nicht mehr direkt zum Speer selbst, sondern ragte aus einer simplen Öffnung hervor, nicht etwa aus einem Drachenmaul.

Dagegen war Zanthe mit zwei Eisenstangen bewaffnet, herausgerissen aus einem nahen Geländer, das Straße von Bürgersteig trennte.

„Ich habe dir vertraut!“, zischte Anya. „Ich dachte wir wären Freunde!“

„Wir waren nie Freunde“, erwiderte Zanthe bösartig.

Einen letzten feindseligen Blick austauschend, begannen beide aufeinander zu zu rennen.

 

Kaum trafen sie aufeinander, stach Anya, den Speer in der rechten Hand, nach Zanthe. Der wich mit einem Rechtsschritt mühelos aus. Die Blonde drehte den Schaft in ihrer Hand und ließ den Speer im Anschluss über ihren Kopf wirbeln, doch ein Schlag mit einer der Stangen brachte den Angriff aus seinem Konzept, sodass Zanthe ihr spielend leicht mit der anderen einen Hieb ins Gesicht verpassen konnte.

Der Treffer war so hart, dass es Anya fast umriss, doch sie nutze den Schwung zu ihren Gunsten, drehte sich um die eigene Achse und schmetterte den Speer gegen Zanthes Nieren. Dem durchnässten Kopftuchträger entfuhr ein schmerzerfüllter Schrei. Anya nutze diese Sekunde der Unachtsamkeit und ließ einen Tritt folgen, der nur aufgrund ihrer geringen Körpergröße nicht sein Gesicht, sondern nur Zanthes Oberkörper traf.

Schnell stellte sie fest, dass sie sich bei dieser Aktion jedoch verkalkuliert hatte, denn der Werwolf nahm nun die Stange in seiner linken Hand und zog ihr derart eins über, dass es sie diesmal von den Füßen riss. Sie rutschte über die nasse Straße bis zum Bürgersteig, welcher direkt in eine Seitengasse voller kleiner Geschäfte führte. Beide Seiten ihres Schädels bluteten.

Zanthe stand mit erhabenem Blick bestenfalls drei Meter von ihr entfernt und ließ seine Waffen in den Händen rotieren. Dann stürmte er auf sie zu.

 

~-~-~

 

48 Stunden zuvor …

 

„Nein …“, brachte Anya bitter beim Anblick der Tabelle hervor, in der ihr Name nicht auftauchte.

Valerie und Marc standen links neben ihr inmitten der riesigen Arena und starrten genau wie sie gebannt auf den Bildschirm, der neben dem Ergebnis der Vorrunde auch Melindas Antlitz zeigte.

„Großartige Leistungen, mit so etwas haben wir nicht gerechnet“, lobte diese gerade strahlend.

„Alles … ich dachte, ich wäre-!“

Die Schwarzhaarige packte ihre Freundin bei den Schultern und zog sie zu sich herum. „Beruhige dich! Wir sind schließlich auch noch da!“

„Genau. Überlass' das uns, wir besiegen Claire für dich“, pflichtete Marc ihr optimistisch bei.

Entgegen ihrer aufmunternden Worte jedoch wuchs die Panik in Anya nur noch. Sie konnte es nicht begreifen. Sie hatte so hart gekämpft, sie war so gut gewesen, obwohl sie nicht einmal ihr eigenes Deck benutzte.

„Ich hatte 23 Punkte! Das ist nur ein Punkt weniger, als wenn man jedes Duell ohne Bonuspunkte gewinnt!“, steigerte sie sich immer mehr in ihre Verzweiflung herein. „Wie kann das sein!?“

Valerie weitete bei dem Anblick der Blonden die Augen, denn aus den ihren liefen Tränen. „Anya?“

„Das ist nicht fair!“, schrie die und stieß das Mädchen ruckartig von sich.

Aufgelöst rannte Anya an jenem vorbei.
 

„Was ist denn mit ihr, so habe ich sie ja noch nie gesehen!?“ Marc wollte bereits Anstalten machen, ihr zu folgen, doch Valerie hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück.

„Nicht. Sie muss jetzt allein sein“, sagte sie streng.

Fragend sah er seine Verlobte an. „Bist du dir sicher? Das endet garantiert in Sachbeschädigung.“

Valerie nickte knapp. „Sie hat sich völlig überschätzt. Hier werden die besten Duellanten gesucht. Jene, die der Profiliga würdig sind. Einfach nur jedes Duell zu gewinnen heißt, im unteren Drittel zu spielen …“

Dies sagte sie mit einer derartigen Kälte, dass es Marc glatt die Sprache verschlug. Täuschte er sich, oder war selbst Valerie erschrocken von der allgemeinen Leistung der Teilnehmer?

„Das hat sie nicht begriffen. Aber ihr das jetzt zu erklären würde nichts ändern, sie wird jetzt niemanden an sich heran lassen.“ Valerie seufzte. „Wir müssen das jetzt aussitzen.“

 

~-~-~

 

Gegenwart …

 

Funken flogen. Es fiel Anya zunehmend schwerer, Zanthes Hiebe zu parieren. Immer weiter wurde sie durch die Seitengasse gedrängt, an Tischen und Stühlen kleiner Cafés vorbei. Wie ein Sturm wirbelte der Werwolf und hämmerte seine Waffen gegen Anyas Speer.

Sie musste eine Schwachstelle finden, aber wie sollte sie das anstellen!? Er war ein Werwolf, viel schneller und stärker als sie. Und dazu noch nicht einmal verwandelt!

Der nächste Schlag erwischte das Mädchen unvorbereitet, sodass es mitsamt seinem Speer über einen der Tische flog. Nein! So durfte es nicht enden!

Mitten im Fall streckte Anya die Arme über sich hinaus, legte sie bei der Landung auf den gepflasterten Boden auf und machte einen Handstützüberschlag rückwärts. Dabei hob sie noch in der Bewegung ihren Speer auf. Sie sah Zanthe, wie er auf der anderen Seite stand und einen Moment vor Überraschung zögerte. Anya holte aus, verlagerte ihr Gewicht nach vorne und warf Angel Wing mit all ihrer Kraft in seine Richtung.

Im Flug zog sich seine Spitze in den Schaft zurück, kurz bevor die Waffe in Zanthes Brust einschlug, nur wenige Zentimeter über der Stelle, die er mit seinen Armen zu schützen versucht hatte. Es gab einen heftigen Knall und eine Explosion, die den Werwolf schreiend nach hinten katapultierte. Der Speer federte seinerseits ab und flog im hohen Bogen nach oben.

 

In seinem Rückwärtsfall sah Zanthe, dass Anya aus dem Nichts auftauchte. In der Luft, die Hand an den Speer gelegt. Er schlug mit dem Rücken auf den Boden auf, folgte mit seinem Blick den Lauf des Speers, aus dem schlagartig wieder die Spitze schoss.

Anya stürzte mit einem Kampfschrei nach unten, doch kurz bevor sie ihren Gegner aufspießte, rollte der sich zur Seite weg und verpasste dem aufschlagenden Mädchen in der Bewegung einen Tritt, der sie glatt durch die Schaufensterscheibe eines Modegeschäfts schleuderte.

 

Der junge Mann erhob sich und versuchte in dem Dunkel des Geschäfts etwas zu erkennen. Er nahm eine Bewegung bei den Mannequins wahr. Und dann kleine Flächen in der Luft, die funkelten. Dann surrte es. Schnell schaltete Zanthe und machte einen Sprung nach hinten auf einen der Tische, um sich von dort weiter zu einem Balkon zu katapultieren. Dutzende Glasscherben flogen durch die Luft in alle möglichen Richtungen.

In gehockter Position wartete Zanthe, der seine Waffen beim Fall verloren hatte, auf dem steinernen Geländer besagten Balkons. Bis Anya schließlich aus dem Geschäft trat. Ihre Hände steckten zu seiner Überraschung in metallisch anmutenden, dünnen Handschuhen. Mit Angel Wing im Schlepptau, schwang sie ihre leere Hand in seine Richtung aus.

Zanthe stieß sich vom Geländer ab und sah die verschiedensten Körperteile der Puppen über sich fliegen. Mit einem Satz landete er wieder in der Seitengasse, wo Anya ihn bereits erwartete. Sie zielte mit ihrem Speer auf ihn und schoss eine Ladung Schrot aus dem Schaft. Er rollte sich darunter hinweg. Sie schoss erneut, dabei einen Schritt zurück nehmend.

„Wie du willst!“, schrie Zanthe im selben Moment. Die Haut um sein Gesicht verfärbte sich schwarz, seine grünlichen Pupillen verengten sich zu Schlitzen.

Mühelos sprang er über den nächsten Schuss hinweg, doch Anya grinste dreckig. „Reingefallen.“

Sie schwang den Speer aus, welcher sich in der Luft in dutzende kleiner Segmente an einer Kette zerteilte, ähnlich einem Nunchaku. Die neue, peitschenartige Waffe schleuderte Zanthe im Sprung entgegen und schmetterte ihn mit derartiger Kraft zurück, dass er über die ganze Seitengasse flog.

Spielerisch zog Anya Angel Wing zurück, welcher sich in Sekundenschnelle wieder in seine Speerform zurückverwandelte. Zanthe schlug in einer Pfütze auf, rollte rückwärts und gelangte wieder auf die Beine.

Sich über den blutenden Mundwinkel wischend, meinte er: „Gar nicht schlecht.“

„Ich habe gerade erst angefangen“, verkündete Anya düster.

„Glaub mir: Ich auch.“

In atemberaubender Geschwindigkeit stürmte er wieder auf sie zu.

 

~-~-~

 

Anya biss sich auf die Lippen, wie sie an den anderen Teilnehmern vorbei rannte. Jetzt hatte sie den ultimativen Beweis: Sie war schwach. Wenn solche Überflieger wie Redfield und Marc gerade einmal so durch die Vorrunde gerutscht sind, wie hatte sie sich da überhaupt Chancen ausrechnen können!?

Das Mädchen spürte einen schrecklichen Schmerz in der Brust. Einen, den sie nur sehr vage in Erinnerung hatte: Selbstzweifel.

„Mein Traum … mein Traum ist damit …!“

Sie hielt an. Im Hintergrund hörte sie Melindas Stimme über die Lautsprecher irgendetwas über eine Überraschung erzählen. Levrier tauchte neben dem Mädchen auf.

 

Du wirst noch mehr Gelegenheiten haben, die Duel Queen zu werden.

 

Eine Faust ballend, ließ Anya den Kopf hängen. „Warum? Warum sind die alle so gut?“
 

Nur weil sie gut sind, heißt das nicht, dass du deswegen schlecht bist. Anya Bauer, dies bedeutet noch lange nicht das Ende.

 

Wütend wirbelte sie zu [Gem-Knight Pearls] durchsichtigem Ebenbild herum, breitete die Arme so weit es ging aus. „Kapierst du es nicht!? Wenn das hier nur die Aufwärmrunde ist und ich hier schon verkacke, wie soll ich dann-!?“

Sie konnte gar nicht so schnell reagieren, da rauschte Levriers Hand durch ihr Gesicht. Sie verstummte augenblicklich.

 

Du bist nicht du selbst, Anya Bauer! Seit wann lässt du dich von Niederlagen entmutigen!?

 

Anya fasste sich an die Wange, wo Levriers Hand sie hätte berühren müssen, würde er über einen realen Körper verfügen. „Weil ich … schwach bin …“

 

Nein. Du bist nicht stark genug. Das ist ein Unterschied, den du bisher immer ausgleichen konntest.

 

Mit geröteten Augen sah Anya ihren Freund an. Er spürte es nicht, den Schmerz in ihrer Brust, dieses Gefühl des Versagens. Es war nicht nur, dass sie ein paar Duelle verloren hatte. Sie hatte unter Beweis gestellt, dass sie ohne fremde Hilfe aufgeschmissen war. Wären Marc und Valerie nicht hier, gäbe es keine Chance, um an Claire heranzukommen. Sie würde sterben, weil sie zu schwach war, sich selbst zu helfen! Wieso begriff er das nicht!?

 

„... ich habe gerade den Namen des Teilnehmers erfahren, der freiwillig ausgestiegen ist.“ Melindas Stimme klang ganz aufgeregt, zitterte förmlich. Selbst Anya bemerkte dies und sah nach oben zu den Bildschirmen auf.

„Es ist Alessandro Montinari“, verkündete der Rotschopf von jedem der über den Tribünen angebrachten Bildschirme, „das heißt, jemand muss für ihn nachrücken.“

Plötzlich erschien noch jemand im rechten Bildschirmrand. Es war eine junge Frau mit Headset, die Melinda etwas ins Ohr flüsterte. Die drehte sich zu ihr um. „Was!? Können wir das überhaupt machen!?“

Auf die Frage hin zuckte die Assistentin nur mit den Schultern.

Daraufhin atmete die Repräsentantin der Ford-Familie tief durch und wandte sich wieder den Zuschauern zu. „Nun, anscheinend gibt es mehrere potentielle Kandidaten für diese Stelle.“

Anya war zu benebelt, um ihr folgen zu können.

„Da es keinen weiteren Teilnehmer mit 24 Punkten gibt, muss jemand mit 23 Punkten nachrücken.“

Langsam dämmerte dem Mädchen, dass damit sie gemeint war. Sie hatte 23 Punkte!

„Dafür kommen insgesamt sieben Teilnehmer infrage“, zerstörte Melinda sogleich ihre Hoffnung, „für diesen Fall haben wir ein System entwickelt, das den geeignetsten Kandidaten ermittelt.“

 

Wer ist Alessandro Montinari!? Das ist doch die zweite Namenshälfte von-!

 

Jedoch hörte Anya ihn gar nicht. Sie war so fixiert auf Melinda, die plötzlich ziemlich verunsichert wirkte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, als sie verkündete: „Hierbei wird es sich jedoch nicht um ein Duell handeln. Stattdessen wird bei diesen Sieben, wie zu Beginn angekündigt, das Verhältnis aus zugefügtem und erlittenem Kampfschaden während des Turniers entscheiden. Der oder diejenige mit dem höchsten Wert ist dabei.“

Melinda senkte ihren Kopf. Man konnte sehen, wie sie ihre Arme bewegte, anscheinend tippte sie etwas vor sich ein. Plötzlich schreckte sie auf und sah in die Kamera. „Unglaublich! Mit großem Abstand gewonnen hat …!“

Und Anya sah auf der linken Seite des Bildschirms nur noch ihren Namen und ihr Portrait darunter.

 

Mir fehlen die Worte. Du hast dich mit stupidem Draufgekloppe nachträglich ins Finale gekämpft!

 

~-~-~

 

Statt Anya direkt anzugreifen, machte Zanthe auf halbem Wege Halt und holte mit seinem Fuß aus. In einer schnellen Abfolge trat er zu seiner Rechten stehende Stühle in ihre Richtung, die das Mädchen jedoch mit diversen Bewegungen ihrer freien Hand mitten in der Luft abfing und gegen die Wände krachen ließ. Parallel dazu feuerte sie mit ihrem Speer auf Zanthe, sodass dieser bei seinen Tritten gleichzeitig tänzelnd ausweichen musste.

Immer mehr Möbel flogen auf Anya zu, doch die blieb selbstbewusst stehen und schwang ihre Hand hin und her. Als Zanthe die Munition aus ging, stieß er sich von einer Wand zur anderen ab, um an Höhe zu gewinnen.

„Nicht mit mir!“, schrie Anya und machte ihren Speer wurfbereit. Dabei richtete sie ihn so aus, dass er letztlich mitten in Zanthes Sprung über diesen hinweg schoss.

Ein grelles Licht schoss von Anya zu Angel Wing, bis ebenjene plötzlich mit der Waffe in der Hand direkt über Zanthe auftauchte.

 

Der drehte sich in der Luft und holte zum Tritt aus. Gleichzeitig griff Anya ihren Speer mit beiden Händen und stieß ihn Richtung des Werwolfs unter ihr, den unvermeidlichen Treffer in Kauf nehmend.

Es klirrte. Zanthes Fuß war an einer riesigen, rosafarbenen Perle abgeprallt. Anyas Speer verfehlte sein Ziel um wenige Zentimeter. Die Schwerkraft setzte ein, beide fielen.

Anya spürte ihn. Levrier, direkt hinter ihr. Jener, in seiner allseits bekannten Pearl-Form, streckte die Hand aus. Drei der sechs um ihn schwebenden Perlen lösten sich aus der Gruppe und bombardierten Zanthe förmlich, der weggeschleudert wurde. Mehrmals prallte er auf dem Boden auf, flog wieder in die Luft, nur um wieder aufzuschlagen.

„Levrier!?“, stieß Anya mehr als geschockt in ihrem Fall hervor. „Wie-!? Egal, gut gem-“

„Wer hat je behauptet“, sagte er und drehte sich zu ihr um. Seine blauen Augen blitzten rot, „dass ich dein Verbündeter bin, Anya Bauer?“

Mit einem Schwenk seiner Hand schossen die übrigen Perlen auf das Mädchen zu und pfefferten es in das Obergeschoss eines Ateliers. Es polterte, um das Mädchen herum flogen Gemälde und leere Leinwände.

 

Gleichzeitig machte Zanthe, bevor er wieder aufschlug, einen Rückwärtssalto und grub seine Klauen tief in die Pflastersteine, um sich abzubremsen.

„Du!“, fauchte er. „Wie bist du-!?“

Sich mit den Hinterbeinen abstoßend, stürmte er im Anschluss auf den in der Luft schwebenden Levrier zu. Mit seinen Klauen versuchte er ihn im Sprung zu erfassen, doch Levrier teleportierte sich nach rechts, dann links, dann hinter ihn, als Zanthe es mit den Füßen probierte.

Es knallte, doch Levrier war verschwunden, ehe Anya vom Fenster aus weitere Schüsse mit Angel Wing abfeuern konnte. Er tauchte hinter ihr auf, doch das Mädchen hatte damit gerechnet und sprang aus dem zweiten Stock, allerdings nicht ohne sich dabei umzudrehen. Was auch nur richtig war, denn Levrier hatte seine Perlen wieder um sich vereint und feuerte sie allesamt auf sie ab.

Zwar konnte Anya die Geschosse mit dem Speer abwehren und wegschlagen, doch hatte sie Zanthe völlig vergessen, der unter ihr lauerte und bereits nach oben mit seiner Klaue ausholte.

Anya warf den Speer zu seiner Linken in den Boden und erschien kurzerhand neben dem Werwolf, dem sie in duckender Position ein Bein mit dem eigenen weg zog und zu Fall brachte.

„Verdammtes Miststück! Dafür bring ich dich um“, keifte er, als Anya sich mit ein paar Rückwärtssprüngen aus seiner Reichweite brachte.

Levrier schwebte herab, etwa in die Mitte der beiden und verschränkte die Arme.

Der Werwolf und Anya funkelten sich gegenseitig böse an, dann stürmten sie beide auf Levrier zu. Unter wütenden Schreien holten sie mit ihren Fäusten aus, die den Helm des immateriellen, weißen Ritters anzielten. Der schüttelte den Kopf.

Kurz bevor er getroffen wurde, teleportierte er sich davon, sodass sich Zanthe und Anya gegenseitig mit aller Kraft ins Gesicht schlugen und von der Wucht weggeschleudert wurden.

 

Zanthe krachte in einen Eisstand kurz vor dem Ausgang der Seitenstraße, während Anya durch eine Pfütze schlitterte.

Oben in der Luft verharrte Levrier. „Das reicht. Können wir jetzt aufhören, so zu tun, als wären wir Filmstars?“

„Ich bitte darum“, raunte Zanthe und hielt sich die Wange.

„Du warst gar nicht im Drehbuch vorgesehen!“ Anya schnaubte. „Fein!“

Und kurzerhand flackerte Ephemeria City wie ein defektes Hologramm auf und ließ nichts als Dunkelheit zurück. Und die Mosaikplattform, auf der die Erde stilisiert war. Anya und Zanthe befanden sich am jeweils anderen Ende von Anyas Elysion.

 

„Das hat Spaß gemacht“, sagte Levrier, der in der Mitte verharrte. „Ihr wart gar nicht schlecht.“

„Meinst du, dass Angel Wing und Heavy T wirklich so funktionieren werden, wenn ich sie erst zurückhabe?“

Das Schwarze wich aus Zanthes Gesicht, als er sich erhob und den Nacken rieb. „Hoffentlich nicht, das war ja furchtbar!“

„Hey!“, fauchte die blutende Anya und sprang auf. „Das war doch voll genial, was ich aus ihnen gemacht habe! Viel besser als ein langweiliger Speer! Also, ist es möglich oder nicht!?“

Zanthe zuckte mit den Schultern. „Das hängt davon ab, ob diese Hüterarktefakte sich wirklich dem Willen ihres Besitzers beugen und verformen lassen. Ich dachte, darin wären wir uns längst einig?“

„Niemand kann mit Gewissheit sagen, ob diese Simulation den Originalen in ihren Möglichkeiten gleich kommt“, stimmte Levrier dem zu, „alles was wir durch Stoltz wissen ist, dass du ihr wahres Potential nicht für dich entdeckt hast, Anya Bauer.“

„Ich muss schleunigst mein Deck zurückbekommen und es ausprobieren! Ansonsten muss ich mir jemanden suchen, der mir diese Badass-Waffen baut!“ Anya rümpfte die Nase und schloss die Augen. „Aber jetzt muss ich los, sonst komme ich zu spät zu meinem Duell!“

 

~-~-~

 

24 Stunden zuvor …

 

Zusammen mit Zanthe sah Anya dabei zu, wie Matt seinen Koffer packte.

„Wie lange wirst du wegbleiben?“, fragte sie schließlich, was ihr schon eine Weile auf der Zunge lag.

„Höchstens eine Woche“, antwortete er, ohne dabei davon abzulassen, seine nicht ganz akkurat zusammengelegten Hemden zu verstauen.

Anya, die an der Fensterfassade lehnte, drehte den Kopf zu Zanthe, der am Tisch saß. „Also? Was wolltest du uns vorhin beim Frühstück so Dringendes sagen, bevor du den Kellner erfolglos angebaggert und uns vergessen hast?“

„Ich war nicht erfolglos“, erwiderte der und zupfte aus seiner Hosentasche eine Serviette mit einer Handynummer darauf. „Es geht um Kakyo Sangon und des Sammlers Speichellecker, Kyon.“

 

Kurz darauf erzählte er den beiden von seiner Begegnung mit einem mysteriösen, jungen Mann und was dieser über Kyon gesagt hatte. Dass er Kyons Geruch an sich getragen, aber steif und fest behauptet hatte, nur jemanden namens Kakyo zu kennen. Exas Namen ließ er dabei nicht fallen, denn er wollte seinen neugewonnenen Freund nicht in Schwierigkeiten namens Anyas bringen.
 

„Das ist doch mein erster Gegner gewesen, diese freche Napfsülze!“, stellte die empört fest, nachdem Zanthe geendet hatte. „Was hat der mit diesem Kyon zu schaffen!?“

„Wer weiß. Ich werde mich an seine Fersen heften und ihn beobachten.“ Zanthe sah sich die Serviette genauer an und grinste schelmisch.

Matt drehte sich zu ihnen um. „Ja, lass Zanthe das machen. Du solltest dich voll und ganz auf das Turnier konzentrieren, das du um ein Haar verpasst hättest.“

„Nur noch mehr Salz in die Wunde, Summers!“

„Ist doch wahr“, stimmte Zanthe dem Dämonenjäger zu. „Hmm. Meint ihr, ich soll ihn noch etwas zappeln lassen, bevor ich ihn anrufe?“

Anya überhörte ihn. Kakyo und der Diener des Sammlers … in welcher Beziehung standen ausgerechnet diese beiden? Oder hatte dieser Fremde, von dem Zanthe erzählt hatte, gelogen?

So selten Anya an andere Menschen glaubte, so unwirklich erschien es ihr, dass dieser Kakyo in irgendeiner Form gefährlich war. Besonders nach dem, was er ihr gesagt hatte, nachdem die erste Paarung des Achtelfinales bekannt gegeben worden war …

 

Anya zitterte am ganzen Leibe. Sie war nie ein Mensch gewesen, der an Wunder geglaubt hatte, doch ein solches war heute geschehen. Die Hauptrunde würde mit ihr stattfinden.

Und trotzdem … sie stand seit gut zehn Minuten hier wie versteinert. Sie hörte die Rufe von Valerie und Marc, die ihr entgegen liefen. Aber sie freute sich nicht. Das Strahlen der beiden steckte nicht an. Da waren keine frechen Sprüche wie 'Fuck yeah, bitches, diese Scheiße steigt entweder mit mir oder gar nicht'. Wieso sollte ihr auch nach Feiern zumute sein, wenn dieser Triumph nicht ihrem eigenen Tun entsprungen war?

„Glückwunsch!“, fiel ihr Valerie um den Hals.

Marc grinste über beide Backen. „Welchen armen Kerl hast du verprügelt, um das möglich zu machen?“

Ja. Glückwunsch auch von mir.“

Die drei drehten sich um. Da stand Kakyo Sangon, der unscheinbare brünette Kerl, dem Anya vorhin am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Diese Rachegedanken waren jedoch im Angesicht des eigenen Versagens erloschen.

Danke“, brachte Anya mit Mühe mechanisch hervor.

Da. Jetzt geben sie die Paarungen für die erste Runde bekannt.“ Kakyo zeigte nach oben.

 

Die Hauptrunde, ausgetragen im KO-Format, wurde als nach oben verlaufendes Diagramm dargestellt. Die sechzehn Namen tauchten der Reihe nach nebeneinander auf, wurden durchgemischt und schließlich an je eine der Linien gesetzt. Valerie ließ Anya daraufhin los.

Der klappte schließlich der Mund auf. Da war ihr Name, gleich als erster. Und gepaart wurde sie mit …!

„Zach!“, nannte Valerie ihn beim Namen. Sie wirbelte zu Anya herum. „Dein Bruder!“

Bruder gegen Schwester? Das ist ja unheimlich“, staunte Kakyo hinter ihnen und schlenderte schließlich an Anya vorbei. Als er direkt neben ihr war, sagte er leise, „kleiner Tipp für dich: Werd' das Schwert los, mit dem er mich besiegt hat. Dadurch kannst du es drehen.“

Damit zog er von dannen.

„Oh, ich bin Spalte D“, stellte Valerie fest, „also treffe ich erst im Halbfinale auf Anya, wenn alles glatt läuft.“

Marc gluckste. „Ich bin Paarung G. Steht für Gewinner.“

Zach … das kann doch kein Zufall sein!“, platzte es schließlich aus Anya heraus, die in einen regelrechten Schreianfall verfiel. „Du verdammter Scheißkerl von Bruder!“

 

Unbewusst ballte Anya eine Faust. Irgendwie hatten ihre Freunde es hinbekommen, sie einigermaßen aufzuheitern. Allen voran Zanthe, der sich geradezu unheimlich fürsorglich verhalten und ihr gut zugeredet hatte.

 

Matt indes verengte die Augen zu Schlitzen und nahm den Werwolf ins Visier. „Bevor du zu deiner Tagesgestaltung kommst, schuldest du uns noch eine Erklärung.“

„Er war halt süß“, rechtfertigte sich der Kopftuchträger schulterzuckend.

Anya klatschte sich die Hand ins Gesicht. „Doch nicht das, Flohpelz! Ich hab's dir doch gestern schon gesagt. Der Typ, der freiwillig ausgestiegen ist, trug deinen Familiennamen.“

„Komischerweise musstest du, als Anya das erwähnte, plötzlich auf Toilette“, fügte Matt noch hinzu und verschränkte die Arme, „für vier Stunden …“

Zanthe winkte unbekümmert ab. „Zufall. Und Durchfall, falls ihr's wissen wollt.“

„Sicher nicht. Ich bezweifle, dass es viele Montinaris in den Staaten gibt.“

„Vielleicht ein entfernter Cousin?“

Matt stöhnte, genervt davon, wie leichtfertig sich der Werwolf gab. Der sprang mit einem Male ruckartig auf, sodass der Stuhl lautstark umkippte. „Hey! Wieso werde ich jetzt verhört!?“

„Weil du uns etwas verschweigst“, brachte der Schwarzhaarige es auf den Punkt.

„Das musst du gerade sagen!“ Zanthe zeigte mit dem Finger auf den Dämonenjäger. „Du, dessen Wunden schneller heilen als Anyas Gehirnzellen absterben!“

Die Blonde blinzelte dämlich. „Hey!“

„Ich habe keine Lust darauf, mich mit euch zu streiten!“, schnappte Zanthe beleidigt.

Wie ein Sommergewitter zischte er an dem Mädchen und Matt vorbei, doch bevor Letzterer ihn mit seinen Worten aufhalten konnte, knallte schon die Tür ins Schloss.

Anya drehte sich zu Matt. „Gut gemacht, Summers.“

„Der kommt schon wieder“, meinte jener miesepetrig, „aber das ist doch der beste Beweis, dass ich Recht habe, oder nicht?“

 

Das Mädchen drehte sich herum und starrte aus dem Fenster. Es war ein trüber Tag. Und sie war wieder da, Claire Rosenburg, deren Werbung auf dem riesigen Wolkenkratzer flackerte.

„Sag bloß, du glaubst ihm etwa!?“, hörte sie, wie Matt sich hinter ihr empörte.

„Weiß nicht, was ich glauben soll und was nicht. Aber ohne seinen Pseudo-Cousin wäre ich jetzt nicht im Turnier.“ Anya senkte den Kopf. „Ich glaube, ich halte mich da raus. Der Flohpelz ist älter als wir beide zusammen. Er wird schon wissen, was das Richtige ist.“

„Älter vielleicht, aber nicht reifer“, widersprach Matt engstirnig. „Es ist nicht so, dass ich ihm nicht vertraue. Wenn er jedoch nicht ehrlich mit uns ist, könnte uns das später auf die Füße fallen.“

„Wenn wir ihm vertrauen“, murmelte Anya und richtete ihr Haupt wieder auf, „müssen wir auch akzeptieren, dass es Dinge gibt, die er ohne uns angehen möchte.“

Sie drehte sich zu Matt um, der sie erstaunt ansah. „Genau wie wir beide auch Probleme haben, mit denen wir uns alleine auseinandersetzen müssen.“

 

Am liebsten hätte sie sich sofort den Mund zugehalten. Was hatte sie denn da plötzlich für einen Quatsch von sich gegeben!? Es war nur ein Gedanke gewesen, weil sie damals auch versucht hatte, Nick und Abby aus der Eden-Geschichte herauszuhalten. Andererseits, wie gut das im Endeffekt geklappt hatte, hatte sie ja damals in der Zelle gesehen, als Abby angeschossen wurde. War es das, was Matt meinte?

 

Matt sah sie nachdenklich an. Dann wandte er sich wieder seinem Koffer zu. „Ich weiß nicht …“

„Was ist los mit dir, Summers?“, platzte es plötzlich aus Anya heraus, die einen Schritt nach vorne ging. „Wieso bist du neuerdings so … anders?“

„Ich … weiß es nicht.“ Er machte eine Kunstpause. „Bitte … gib mir etwas Zeit, okay?“

Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz auf der Schulter, welche Opfer von Anyas nicht selten schmerzhaften Aufmunterungsversuchen geworden war. Die klatschte gleich noch einmal drauf. „Kopf hoch, Summers. Dich kriegen wir schon wieder hin.“

Vor Selbstmitleid seufzend erwiderte er nur: „Ja.“

Anya reckte neben ihm den Kopf hervor und sah ihn von unten herauf an. „Sag mal, kann ich dich um einen Gefallen bitten, sobald du wieder zurück bist?“

„Schieß los.“ Ein wenig überrascht blinzelte er sie an.

„Kannst du mir beibringen wie man kämpft? Also so richtig?“

Im ersten Moment wusste Matt darauf nichts zu entgegnen. Anya vor ihm stemmte die Hände in die Hüften und verzog ihre Augen zu Schlitzen. Ein Hinweis, dass sie alles andere als ein 'Ja' nicht akzeptieren würde.

„K-kann ich machen. Aber wozu?“

„Hör mal, Summers.“ Belehrend hob sie den Zeigefinger. „Bisher haben wir unsere Konflikte immer mit Duellen gelöst. Was, wenn das irgendwann mal nicht geht? Du und der Flohpelz, ihr könnt euch wehren.“

Noch immer überrumpelt, entgegnete Matt: „Du bist doch auch nicht gerade ohne …“

„Ich will auf die nächste Stufe, verdammt!“, maulte Anya und stampfte mit dem Fuß auf. „Wenn ich schon diese scheiß Artefakte sammeln muss, dann kann ich auch mit ihnen kämpfen, oder!?“

Zögerlich nickte der Dämonenjäger. „Schätze schon, aber … wieso dieser Sinneswandel?“

Anya stöhnte genervt. „Hast du denn nie drüber nachgedacht? Was passiert, wenn wir jemandem gegenüber stehen, der sich nicht duellieren will? Was machen wir dann?“

„Ich glaube-!“

„Und ist es nicht seltsam“, plötzlich gewann ihr Tonfall eine dunkle Nuance, „dass bisher alles so glatt gelaufen ist? Dass immer ein Duell entschieden hat, statt eines direkten Kampfes auf Leben und Tod?“

Ehe Matt wieder etwas sagen konnte, fuhr Anya in gehobener Lautstärke fort. „Das stinkt doch. Glaubst du, dass das bloßer Zufall ist?“

Verloren stand Matt ihr gegenüber und wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

„Du kannst Bannkreise erschaffen“, ließ die Blonde ihn daher an ihren Gedankengängen unfreiwillig teilhaben, „damit können wir ungestört trainieren. Und der Flohpelz war immerhin mal ein Hüter, sicher kann er-!“
 

Darf ich mich kurz einmischen?

 

Levrier materialisierte sich neben den beiden. Der weiße Ritter Pearl legte eine zur Faust geballte Hand an den nicht existierenden Mund und räusperte sich.

 

Zanthe Montinari war ein Hüter, korrekt. Doch ist den Aussagen des Undying Stoltz zu trauen, dann ist selbst ihm das wahre Potential der Artefakte nicht bewusst gewesen. Was deine Theorie angeht, Anya Bauer, so hat mir dies auch schon Einiges an Kopfzerbrechen bereitet.

 

Die beiden sahen ihn fragend an.

 

Ob dies nun Zufälle sind oder nicht, es kann durchaus nicht schaden, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

 

„Und wie soll das aussehen?“, fragte Matt nun skeptisch. „Wir haben die Artefakte nicht mehr, sie wurden gestohlen, schon vergessen?“
 

Als ob mich jemand das je vergessen lassen könnte …

 

Der Schwarzhaarige begann mit den Händen zu gestikulieren. „Aber wie soll Anya sich dann in ihrem Umgang üben?“

Jene zuckte ebenso unwissend mit den Schultern.
 

Dürfte ich hierzu einen Vorschlag machen. Denn ich wüsste einen Ort, der noch besser dafür geeignet ist, als ein Bannkreis …

 

~-~-~

 

Sie öffnete ihre Augen.

Levrier war schon eine Marke. Das Elysion zu nutzen, um Kämpfe zu simulieren, so etwas konnte nur ihm einfallen. Letztlich hatten sie es vorhin doch noch probiert. Der Flohpelz war am gestrigen Abend wesentlich besser gelaunt als erwartet zurückgekehrt und hatte sich bereit erklärt, mitzumachen. Sein Vorschlag, einfach die Fantasie spielen zu lassen, was die Artefakte anging, war auch gar nicht schlecht. Wenn es wahr war und die Kraft jener von ihren Besitzern abhing, so hieß das im Umkehrschluss, dass jene die Artefakte nach ihrem Willen formen konnten. Zumindest interpretierten Anya und Zanthe das so und das Mädchen konnte kaum erwarten, es in der Realität auszuprobieren.

 

Sie verhärtete ihren Blick. Jetzt galt es aber erst einmal ihren Bruder in die Schranken zu weisen.

Ihre Schritte hallten durch den schier niemals endenden, trostlosen Gang, den Anya entlang schritt. Über ihr flackerte nervös einer der sparsam verteilten Halogen-Leuchter. Scheinbar hatten die Architekten echt an dieser Ecke der Arena gespart, schoss es ihr durch den Kopf. Oder es war beabsichtigt, dass all jene, die diesen Weg beschritten, sich seltsam klein und unbedeutend vorkommen sollten – wovon Anya wiederum dank eingebautem Ego-Airbag verschont blieb.

 

Zu ihrem Ärgernis war sie jedoch nicht die Einzige, die auf dem Weg zum Spielfeld war. Etwa zehn Meter von ihr entfernt stieß sich ihr Gegner von der Wand ab und kam ihr in gemäßigtem Schritttempo entgegen. Zachariah!

Anya sagte gar nichts. Sie beschleunigte lediglich ihren Gang und wollte an ihm vorbei, doch als sie ihn passierte, versperrte ihr der blonde, junge Mann in hellblauem Hemd und schwarzem Sakko den Weg.

„Verpiss' dich! Deine Prügel kannst du dir dort drüben abholen!“, raunte sie.

„Nanu, wer übt sich denn neuerdings in Zurückhaltung?“, stichelte ihr ein Kopf größerer Bruder mit schnarrender Stimme. „Am liebsten würdest du die Rechnung doch gleich hier begleichen, oder?“

„Worauf du dein Goldkettchen verwetten kannst, Schmierlappen!“

„Zu dumm, dass ein solcher Akt der Gewalt dich sofort disqualifizieren würde.“ Er lachte auf. „Nicht, dass es einen Unterschied macht, das Finale erreichst du so oder so nicht.“

Die Arme verschränkend, erwiderte Anya: „Sagt wer? Dir ist klar, dass du dieses Mal nicht versuchen kannst, mich durch ein Duell umzubringen. Wer ist jetzt der Loser, huh?“

„Das kommt drauf an, ob du mein Angebot annimmst oder ablehnst.“ Zach streckte ihr die Hand entgegen. „Lass uns doch einen Deal machen. Du bekommst deine Duel Disk wieder, steigst aber freiwillig aus dem Turnier aus.“

Anya weitete die Augen. Hatte sie gerade richtig gehört!?

„Was sagst du?“

 

Anya Bauer, das ist nur ein Trick! Lass dich nicht von ihm hinters Licht führen, du weißt, was auf dem Spiel steht!

 

Natürlich wusste sie das, das brauchte Levrier ihr nicht ins Ohr zu flüstern!

„Was sagst du? Nicht gut?“

Anya schlug die Hand beiseite. „Verarschen kann ich mich alleine!“

Um ihrer Wut über seinen Spott Form zu verleihen, stampfte sie geradewegs in seine Richtung und rempelte ihn mit derber Wucht zur Seite.

„Wir sehen uns auf dem Spielfeld, Mistkerl!“

Zachariah jedoch lachte nur, während er gegen die Wand sackte. „Wenn du gewinnst, werden wir die Duel Disk zerstören!“

Einen kurzen Moment blieb Anya stehen. Dann schritt sie stumm weiter Richtung des Lichts.

„Das meine ich ernst!“, rief Zachariah ihr hinterher, zwecklos.

 

Es brodelte in Anya. Gewaltig. So war es ihr unmöglich einen klaren Gedanken zu schöpfen. Was vielleicht auch seine Vorteile hatte, denn als sie aus dem Dunkel ins Licht trat, blieb sie von den überwältigenden Eindrücken verschont.

Zwar mochte dieses Stadion kleiner sein als das von den Vorrunden, doch dafür ging das runde Gebäude viel mehr in die Höhe. Aberdutzende Sitzreihen, angeordnet wie in einem Kolosseum und voll bis auf den letzten Platz. Dezenter Jubel ertönte, als Anya auf das Spielfeld in der Mitte zu schritt. Oben gab es eine gläserne Lounge, in der der Kommentator Mr. C hauste, ebenso die Ehrengäste und VIPs, zu denen zweifelsohne auch die Ford-Geschwister zählten.

Anders als das Brückenstadion war dieses komplett überdacht. Grelle Scheinwerfer waren auf das Duellfeld gerichtet, an dem das Mädchen sich, abwesend nach ihren Freunden in der Menge suchend, platzierte.

„Denk an deine Duel Disk“, mahnte Zachariah, der neben ihr vorbei ging und sich auf der anderen Seite aufstellte.

 

„Ladies and Gentleman“, schrie der schwarzhaarige Kommentator in rotem Anzug von der erhöhten Lounge aus, als beide Duellanten sich positioniert hatten, „endlich ist es soweit. Das große, das einzigartige, das allererste Achtelfinale des Legacy Cups!“

Die Zuschauer in der kreisrunden Halle tobten förmlich.

„Und welch Ironie des Schicksals, stehen sich doch Bruder und Schwester gegenüber! Zachariah Bauer, der sich mit der höchsten Punktzahl qualifiziert hat! Und Anya Bauer, unsere Nachzüglerin!“

Die Stimmung flachte bei der Nennung der beiden Namen abrupt ab, stattdessen entstand durch wildes Gemurmel und das ein oder andere Pfeifen eine angespannte Stimmung. Die Anya prompt mit dem Mittelfinger quittierte, nur um lautstark ausgebuht zu werden.

„Fickt euch!“, schnarrte sie angespannt und es war ihr dabei völlig egal, dass sie zuvor mit einem Mikrophon verkabelt worden war.

„Na na na, da gehört jemandem wohl der Mund mit Seife ausgewaschen!“, empörte sich der schwarzhaarige Kommentator mit Elvistolle vor der Glasscheibe, nur um den Arm auszuschwenken. „Vielleicht ja von ihrem Bruder?“

Jene Idee wurde vom Publikum jubelnd aufgenommen, während Zachariah seinen 'Fans' lächelnd zunickte.

„Doch reden wir nicht länger um den heißen Brei herum, beginnen wir mit dem Duell, welches den neuen Regeln der AFC folgt. Nur zur Erinnerung: Der Spieler, der es beginnt, muss seine Draw Phase überspringen. Auch dürfen nun beide Spieler gleichzeitig Spielfeldzauber kontrollieren.“ Mit in die Höhe gestrecktem Zeigefinger schrie er: „Zeit für ein Duell!“

Zeitgleich aktivierten Anya und Zach ihre roten D-Pads und funkelten sich böse an.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 4000LP]

 

„Ich fange an!“, bestimmte Anya umgehend und riss ihr Startblatt von ihrem Deck. Als hätte sie gar nicht zugehört, wollte sie bereits die nächste Karte ziehen, da hallte die altbekannte, nicht immer liebgewonnene Stimme in ihrem Kopf:

 

Konzentriere dich, Anya Bauer!

 

„O-oh, shit, stimmt ja!“

Zum Glück hatte sie noch nicht gezogen, sonst wäre das Duell vielleicht jetzt schon vorbei. Das hämische Grinsen ihres Bruders verschlimmerte die Sache nur noch, dem Mädchen stand bereits jetzt der Schweiß auf die Stirn geschrieben.

Aus dem Konzept gebracht, warf sie einen skeptischen Blick in ihr Blatt. „Wie fange ich die Scheiße am besten an? Shit!“
 

Hast du dich doch noch nicht an dieses Deck gewöhnt? Brauchst du Rat?

 

Um nicht den Eindruck zu erwecken, mit jemandem zu reden, schüttelte Anya kaum merklich den Kopf und nahm dann instinktiv ein Monster aus ihrem Blatt. „Ich beschwöre [Battlin' Boxer Headgeared]!“

Aus einer roten Lichtsäule stieg vor ihr ein Boxer empor, von hagerer, doch trainierter und vor allem dunkelblauer Gestalt. Namensgebend war sein roter Kopfschutz.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Sofort griff Anya, dieses Mal gerechtfertigt, nach ihrem Deck. „Wenn er normalbeschworen wird, schicke ich umgehend einen seiner Trainingspartner direkt vom Deck auf den Friedhof.“

Jenen zeigte sie kurz vor, ehe sie ihn in den Friedhofsschlitz schob. Doch sie war noch nicht fertig, klatschte sie doch kurzerhand noch ein Monster auf die freie Monsterkartenzone neben Headgeared.

„Spezialbeschwörung! Wenn ich einen Boxer kontrolliere, kann ich [Battlin' Boxer Sparrer] als Sparringspartner rufen!“

Neben ihrem bereits vorhandenen Kämpfer tauchte ein weiterer, in grauer Montur gekleideter auf, an dessen Oberarmen sich große, rote Schienen befanden.

 

Battlin' Boxer Sparrer [ATK/1200 DEF/1400 (4)]

 

Anya schnalzte mit der Zunge. „Tja, da ich ihn beschworen habe, muss ich die Battle Phase überspringen. Aber das ist kein Problem, im ersten Zug kann ich sowieso nicht angreifen!“

Ohne weitere Worte schwang sie ihre Hand nach oben aus. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

Inmitten des Spielfeldes öffnete sich ein schwarzes Loch. Auch wenn das Publikum scheinbar schon damit gerechnet hatte, gab es doch vom ein oder anderen Zuschauer positive Zurufe.

„Aus meinen zwei Stufe 4-Boxern wird eine Rang 4-Kriegsmaschine!“, verlautete Anya stolz, angespornt von der Resonanz der Zuschauer, „Xyz Summon!“

Beide Boxer verwandelten sich in rote Lichtstrahlen, die vom Überlagerungsnetzwerk absorbiert wurden. Aus diesem erfolgte eine Explosion. „Ab in den Ring mit dir, [Battlin' Boxer Lead Yoke]!“

Schließlich stieg der mit zwei Stahlpfeilern fixierte Boxer vor Anya empor, dessen Xyz-Material sich in besagten Fesseln befand.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Nachdem ihr Kämpfer erschienen war, lugte Anya ein weiteres Mal nachdenklich in ihr aus nur noch drei Karten bestehendes Blatt. Da war sie, ihre Geheimwaffe in Form einer bestimmten Falle.

Immer wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie Zachariah während ihres letzten Duells und auch bei Kakyos mit seinen Schwertern ihre gesetzten Karten zerstört hatte. Unweigerlich würde er es diesmal wieder versuchen, da war sie sich sicher.

„Jetzt ist es noch zu früh für dich“, murmelte Anya, um dann laut zu verkünden: „Zug beendet!“

 

Einige Leute klatschten. Während der Kommentator noch über den Zug der Blonden sinnierte, zog Zachariah eine sechste Karte und schmunzelte. „Du willst das also durchziehen, was? Meinetwegen.“

Anya blies ihre Wut geradezu durch die imaginären Nüstern, mit denen sie nur zu gerne Feuer spucken würden. „Worauf du deinen hässlichen Arsch verwetten kannst!“

Buhrufe waren die Folge ihrer giftigen Antwort. Allerdings störte sich ihr Bruder nicht daran, im Gegenteil, er begann noch breiter zu grinsen. Dazu nahm er die erste Karte aus dem Blatt. „Ich beschwöre den angehenden König der Legende, [Noble Knight Artorigus]!“

In glänzender, mit Fellen verzierter Rüstung tauchte vor ihm ein großer Krieger von rotem Haar auf.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 DEF/1800 (4)]

 

Der Ritter streckte die Hand von sich. Die Finger spreizend, wartete er darauf, dass Zach seine nächste Karte in die Zauberfallenzone schob. „Was wäre der König ohne sein treues Schwert? Ich rüste ihn mit [Noble Arms – Caliburn] von meiner Hand aus und mache ihn damit um 500 Punkte stärker!“

Ein Lichtblitz schoss von der Decke direkt vor Artus' Füße, wo nun ein Schwert im Boden steckte. Dieses zog er beidhändig heraus und hielt es triumphierend in die Höhe.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 → 2300 DEF/1800 (4)]

 

Die Augenbrauen zu einem einzigen Strich verziehend, erinnerte sich Anya nur zu gut an dieses beknackte Schwert, welches sich wie alle Edlen Waffen an ein anderes Monster ausrüsten konnte, sollte es zerstört werden.

Und dieses Ding war besonders lästig, denn …

„... einmal pro Zug erhalte ich mit seinem Effekt 500 Lebenspunkte!“

Blaue Energielinien begannen nach Zachariahs Ausruf vom Heft der Klinge hin bis zur Spitze aufzuleuchten. Ein Regen aus blauen Funken ging auf den blonden Mann hernieder.

 

[Anya: 4000LP / Zachariah: 4000LP → 4500LP]

 

„Wollen doch mal sehen, woraus dein Boxer so gemacht ist“, philosophierte Zach und schwang den Arm aus. „Angriff!“

Unter einem Kriegsschrei stürzte sich Artorigus auf Lead Yoke. Weit ausholend beabsichtigte der Ritter seinen Feind mit einem diagonalen Schlag zweizuteilen. Rechtzeitig jedoch wich der Boxer aus und wandte sich mit dem Rücken zu seinem Feind, welcher unfreiwillig einen der beiden Pfeiler zerschlug, die Lead Yoke fesselten. Aus diesem trat das Xyz-Material hervor und wurde von jenem absorbiert, der in roter Aura aufleuchtete und Artus mit einem Faustschlag gegen die Klinge zurückwarf.

 

[Anya: 4000LP → 3900LP / Zachariah: 4500LP]

 

Anya verschränkte altklug die Arme. „Pah! Du magst mir zwar Schaden zugefügt haben, aber statt Lead Yoke zu zerstören, hast du ihn dank seines Effekts stärker gemacht!“

Dieser vermochte ein Xyz-Material abzuhängen, um sein Ableben zu verhindern. Und wann immer er von der Last einer solchen Overlay Unit befreit wurde, erhielt er 800 Angriffspunkte.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 → 3000 DEF/2000 {4} OLU: 2 → 1]

 

Mit den Schultern zuckend, meinte Zachariah gleichgültig. „Schön für dich. Mach was draus, dein Zug.“

„Werd' ich, darauf kannst du Gift nehmen! Oh und ich bitte dich, nimm welches!“, tönte Anya gallig.

„Oh, was ist das!? Zerrüttete Familienverhältnisse!?“

„Schnauze!“, fauchte Anya den Kommentator an und gab ihm eine Dosis ihres Lieblingsfingers. „Kümmere dich um deinen eigenen Mist, du gehst mir jetzt schon auf die Eierstöcke, du-!“

 

Genug, Anya Bauer. Denk dran, hier sehen hauptsächlich deine Landsmänner zu. Deine Fäkalsprache und unangebrachten Gesten könnte ihnen bleibende Schäden zufügen.

 

„Was? So was wie das?“, fragte Anya aufrichtig irritiert und zeigte überall ihre Mittelfinger herum. „Aber wie soll ich sonst 'fuck you' zum Ausdruck bringen? Ich kann ihn ja schlecht als 'beschissene Wichskacke' beschimpfen, denn zu ihm passt mehr ein 'hinterfotziges Verräterschwein'!“

Sie legte besagten Finger an die Lippe. „Aber das ist mir zu lang. Wieso soll ich mir was Neues ausdenken?“

 

Warte … neckst du gerade zur Abwechslung mich?

 

Die Blonde zwinkerte. „Jep! Nicht wahr, Mr. C?“

Wobei die Frage nur dazu gedacht war, von dem Gespräch mit Levrier abzulenken. Welcher prompt erwiderte: „S-so etwas habe ich noch nie in meiner neunundzwanzigjährigen Karriere als Moderator erlebt! Wie gut, dass die Übertragung um wenige Sekunden zeitversetzt ist!“

Dann jedoch verhärteten sich Anyas Züge wieder, als sie nach ihrem Deck griff. „Was auch immer, der Spinner stampft sich nicht von alleine ein, also Schnauze jetzt! Draw!“

Schwungvoll zog sie und betrachtete sofort die Zauberkarte, die sie in den Händen hielt und welche anschließend in ihr Blatt wanderte.

„Ich rufe [Battlin' Boxer Big Bandage]!“

Ein, von den roten Shorts mal abgesehen, vollkommen einbandagierter Kämpfer gesellte sich zu Anyas anderem Monster.

 

Battlin' Boxer Big Bandage [ATK/1100 DEF/1400 (2)]

 

„Sein Level ist scheiße, deswegen aktiviere ich jetzt seinen Effekt!“ Anya zeigte den [Battlin' Boxer Headgeared] von ihrem Friedhof vor. „Den habe ich eben abgehangen, als ich Lead Yokes Effekt benutzt habe. Jetzt wird Big Bandage seinen Level übernehmen.“

Einige der Bandagen lösten sich von den Armen ihres Boxers und begannen von einer unsichtbaren Kraft angetrieben wie ein Schleier um ihren Besitzer zu kreisen, wobei sie in Flammen aufgingen.

 

Battlin' Boxer Big Bandage [ATK/1100 DEF/1400 (2 → 4)]

 

„Aber da man mit einem Monster noch kein Xyz beschwören kann, reanimiere ich Headgeared gleich noch.“ Hinter dessen Karte, die Anya zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt, schlüpfte eine weitere hervor. „Und zwar hiermit, dem Zauber [Battlin' Boxing Spirits]. Dafür muss ich nur die oberste meiner Deckkarten ablegen.“

Jene schob sich ein Stück nach vorne, damit Anya sie mühelos greifen und sich ihrer entledigen konnte. Kurz darauf schoss eine flammende Säule zwischen ihren beiden Monstern aus dem Boden und brachte den Boxer mit dem roten Kopfschutz zum Vorschein.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Anya richtete die Hand nach vorne, hörte kaum noch, was um sie herum vor sich ging.

„Das ist es. Jetzt kannst du zeigen, dass du mehr drauf hast als freche Sprüche zu klopfen!“ Anya ballte die Finger zu einer Faust. „Ich erschaffe das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster! Xyz Summon!“

Das schwarze Loch öffnete sich inmitten des Spielfelds und absorbierte die beiden Boxer als rote Lichtstrahlen.

„Stehe mir bei, [Gem-Knight Pearl]!“

Unter dem Staunen der Zuschauer entstieg aus dem Wirbel eine weiße Gestalt. Die Arme majestätisch verschränkt, kreisten neben den beiden obligatorischen Lichtsphären auch sieben kohlkopfgroße Perlen um den Ritter, den Levrier verkörperte.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 2]

 

Elegant schwebte er zu Anyas Seite des Feldes und bezog neben ihr Stellung.

 

Soll ich deinen Bruder ein wenig erziehen, Anya Bauer? Mir scheint, als hätte er schon länger keine Tracht Prügel mehr bekommen.

 

Es bildete sich ein Grinsen um Anyas Mundwinkel, dessen Ausmaß befürchten ließ, alsbald schmerzhafte Krämpfe in ihren Gesichtsmuskeln auszulösen.

„Ich verlasse mich auf dich!“, flötete sie, froh, dass der Mistkerl endlich mal auf ihrer Seite war.

„Bevor du dich jedoch austoben kannst, ist erstmal Lead Yoke dran! Verpass' seinem Ritter eine Kopfnuss, die sich gewaschen hat! One-Hit KO!“

Der hünenhafte Boxer sammelte leibhaftiges Feuer in seiner Faust, ehe er auf Artorigus zu stürmte und diesem ebenjene ins Gesicht rammte. Damit brachte er den Ritter zu Fall, welcher kurz darauf explodierte und mit ihm auch sein Schwert.

 

[Anya: 3900LP / Zachariah: 4500LP → 3800LP]

 

Nachdenklich betrachtete Anya Zachariahs leeres Feld.

„Seltsam … beim letzten Mal hat er extra versucht, diese blöden Schwerter weiterzureichen.“

 

Denk an sein Assmonster. Es kann auch vom Friedhof auf sie zugreifen.

 

Anya sagte nichts, erinnerte sich aber noch gut daran. Dann war wohl offensichtlich, was er als Nächstes vorhatte.

„Tch, das macht mir keine Angst. Im Gegenteil“, murrte sie, „ich bin so aufgeregt wie noch nie. Kannst du dir denken warum, Arschgesicht?“

„Aber sicher doch. Du willst mich mit -ihm- direkt angreifen“, sagte Zachariah mit einem heimtückischen Grinsen und breitete die Arme aus. „Nur zu. Wenn du mit den Konsequenzen leben kannst.“

Anya zuckte ungewollt zusammen. Sie zweifelte nicht daran, dass ihr verhasster Bruder seine Drohung wahr machen würde. Unbewusst ballte sie eine Faust und senkte den Kopf. Sie musste das hier durchziehen, ansonsten würde sie womöglich ihre einzige Chance verlieren, sich mit Claire Rosenburg zu duellieren. Wäre es doch bloß nicht diese eine Duel Disk, mit der er sie versuchte zu erpressen!

Mit den Zähnen knirschend, wollte ihre Zunge bereits nachgeben, als ein plötzlicher Impuls sie wie ein Blitz durchfuhr. Den Kopf nach oben reißend, schwang sie den Arm aus. „Weiß nicht was du meinst!“

Die Erkenntnis war zum Glück rechtzeitig gekommen, auch wenn sie sehr schmerzhaft war: Sie würde ihre Duel Disk nicht wiederbekommen. Dafür würden Zach und seine Freundin Kali sorgen. Wieso sollten sie sich auch an Abmachungen halten, wenn die beiden sie tot sehen wollten!?

Anya richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf ihren Bruder. „Jetzt kriegst du die volle Breitseite! Lev- [Gem-Knight Pearl], direkter Angriff auf seine Lebenspunkte! Shining Knuckle!“

 

Unbemerkt von allen anderen stand eine in dunkler Kutte verhüllte Person im Gang, der zum Spielfeld führte, und wohnte dem Schauspiel stumm bei. Die Kapuze tief über das von der weißen Maske verdeckte Gesicht gezogen, rümpfte Kali die Nase, bevor sie sich wegdrehte. Ihre Schritte hallten im Weggehen durch den Gang.

 

Levrier schoss wie ein Pfeil auf Zachariah zu, anstatt seine Perlen zu kommandieren, welche regungslos auf Anyas Spielfeldseite verharrten. Er hatte genau verstanden, was sie von ihm erwartete und auch wenn er Einwände hatte, würde er sie in diesem Fall nicht äußern. Nicht zuletzt auch deshalb, da er selbst eine gewisse Genugtuung dabei empfand, als er mit voller Wucht seine Faust in Zachariahs Magen rammte und seinen zusammenzuckenden Körper spürte. Speichel tropfte auf den Boden.

Einige Zuschauer bemerkten diese, aus ihrem Betrachtungswinkel, unerwartete Reaktion und schrien auf.

 

[Anya: 3900LP / Zachariah: 3800LP → 1200LP]

 

Du wirst Stillschweigen hierüber bewahren, Zachariah Bauer. Wenn nicht, wirst du schnell feststellen, dass dies nur der Anfang war und nicht jeder Konflikt durch ein Duell gelöst werden muss.

 

Langsam zog Levrier seine Faust aus dem Bauch des blonden Mannes.

Dieser hustete, flüsterte dann aber: „Denk nicht, dass ich das auf sich beruhen lassen werde, mein lieber Levrier …“

 

Dann behalte diesen Schmerz im Gedächtnis, denn es wird nicht das letzte Mal sein, dass du ihn fühlst.

 

Damit zog sich Levrier zu Anyas Spielfeldseite zurück.

Gleichzeitig streckte Zachariah breit lachend die Hand nach oben. „Sah doch täuschend echt aus, was!?“

Sein verzerrter Gesichtsausdruck strafte seiner Worte jedoch Lügen, auch wenn er das Publikum mit dieser Scheinvorführung damit auf seiner Seite hatte.

Derweil nickte Anya ihrem Ritter anerkennend zu. „Besser hätte ich das auch nicht hinbekommen!“

 

Ich fühle mich geehrt, auf eine Stufe mit dir gestellt zu werden- warte!

 

Doch Anya hörte schon gar nicht mehr zu, da sie versuchte, ihre schier grenzenlose Schadenfreude davon abzuhalten, ihre von Natur aus nur mäßig ausgeprägte Konzentration nicht zu stören. Sie blickte sich noch einmal im Publikum um und entdeckte endlich Zanthe, der ihr mit erhobenen Daumen gratulierte. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte sie schließlich auch Logan ausmachen, der mit grimmiger Miene und verschränkten Armen da saß. Und sicherlich waren Redfield und Marc auch noch irgendwo.

Aber genug davon! Immerhin hatte sie das Duell noch nicht gewonnen.

„Ich jage jetzt einen Zauber hinterher!“, verkündete sie, „[Xyz Gift]! Wenn ich zwei Xyz-Monster kontrolliere, kann ich von einem zwei Overlay Units abhängen und dann zweimal ziehen!“

Die um Levrier kreisenden Lichtsphären lösten sich von ihrem Besitzer und flogen in hohem Bogen auf Anya zu, besser gesagt auf das Deck in ihrem roten D-Pad. Jenes leuchtete auf und Anya riss umgehend daraus die zwei Karten fort.

Eine davon nehmend, schmetterte sie sie in die Duel Disk. „Diese hier gesetzt, Zug beendet!“

 

Noch immer nicht der richtige Zeitpunkt für die Geheimwaffe?

 

Anya nickte kaum merklich. Diese würde sie erst ausspielen, wenn Zachs Assmonster auf dem Feld war. Vorher erschien ihr das zu riskant.

„Du bist dran!“, raunte sie mit zwei verbliebenen Handkarten. Den Kopf zur Seite legend, fragte sie provokativ: „Na, kannste noch stehen?“

Zach, der nebenbei seine Hand auf den Bauch legte, musste auflachen. „Für wen hältst du mich? Du warst schon immer gut daran, Schwächere zu … beeindrucken. Aber bei mir klappt das nicht.“

„Noch nicht“, versprach Anya unheilverkündend.

 

Weit von ihnen entfernt befand sich die kleine VIP-Lounge am höchsten Punkt der Arena. Ganz aus Glas bestehend, hatte man von hier einen guten Blick auf das gesamte Spielfeld. Fast schon gemütlich mutmaßte das Innere an, gab es doch einen Tisch gefüllt mit vielen leckeren Speisen am hinteren Ende des Raums und eine breite Couch direkt hinter dem Kommentatorenplatz, an dem Mr. C fleißig seinen Senf zum Duell gab.

Geradezu gelangweilt lehnte sich Melinda in einem weißen Kleid an eine der roten Lehnen und seufzte. Doch die Pose täuschte. „Hoffentlich macht sie das nicht nochmal. Wenn einer merkt, dass sie Levrier benutzt, um ihren großen Bruder zu vermöbeln …“

Henry, der die Arme verschränkt hielt, nickte knapp. „Was denkt sie sich nur dabei? Fühlt sie sich sicher, weil man es nicht auf die Solid Vision-Technologie schieben kann? Dämliche Pute, das ganze Turnier wird gestoppt werden, wenn etwas schief geht.“

Eine Hand an die Wange führend und sich daran abstützend, wunderte sich Melinda: „Was er ihr wohl getan hat?“

„Oder sie ihm. Scheint ja auf Gegenseitigkeit zu beruhen.“

Derweil schrie vorne der schwarzhaarige Mr. C in sein Mikrofon: „Was für ein Schlagabtausch. Diese beiden schenken sich nichts!“

„Geht der nur mir auf die Nerven?“, flüsterte Melinda hinter vorgehaltener Hand ihrem Bruder zu.

Ein Surren unterbrach das Gespräch der Geschwister jedoch. Henry zog aus der Brusttasche seines Anzugs ein Smartphone hervor und legte es ans Ohr. „Ja?“

Er machte eine kurze Pause. Als Melinda ihn fragend ansah, nannte er bloß einen Namen. „Nick.“

Was seine rothaarige, ältere Schwester die Augen verdrehen ließ. Umso mehr, als Henry aufgeregt wiederholte: „Erster Prototyp schon in etwa einem Monat?“

Sein Mund stand sperrangelweit offen, der seltene Anflug eines Lächelns überzog sein Gesicht. „So schnell? Du bist ein Genie!“

Melinda, die Nick als liebenswerten Volltrottel kennengelernt hatte, stand ihm mit gemischten Gefühlen gegenüber, seit er indirekt Henrys rechte Hand bezüglich seines neuen Spiels geworden war. Solche Leute, die sich verstellten, hatten nur allzu oft etwas zu verbergen. Etwas Gefährliches.

Als Henry das Gespräch beendete, lächelte sie ihm trotzdem freundlich zu. „Klingt ja gut.“

„Ja, er kümmert sich höchstpersönlich um die Plattform. Wenn er den Zeitplan wirklich einhalten kann, schaffen wir es vielleicht noch dieses Jahr.“

„Toll!“, log Melinda ohne rot zu werden.

„Ich bin mir sicher, dass 'mein' Monochrome Duel Monsters zerstören wird!“

 

Zachariah zog mit Schwung die nächste, fünfte Handkarte auf und kniff dabei für einen kurzen Moment die Augen fest zusammen, was Anya mit deutlicher Genugtuung beobachtete. Im Gegensatz zu Levrier, der neben ihr verharrte.

 

Anscheinend war ich ein wenig zu enthusiastisch.

 

„Was auch immer.“

 

Ich kenne deine Gefühle diesbezüglich. Allerdings habe ich Bedenken, was passieren könnte, wenn wir ihn hier und jetzt ausschalten. Zum Einen würdest du die Aufmerksamkeit der Autoritäten auf dich ziehen. Und die von Kali … welche Verbindung die beiden auch immer haben mögen.

 

„Kch!“

Anya wusste selbst gut genug, dass ihr verdammter Bruder das Glück hatte, in einem offiziellen Duell gegen sie anzutreten, dem Millionen Zuschauer beiwohnten. Natürlich durfte sie ihn da nicht vor einem Weltpublikum aus dem Verkehr ziehen. Aber ein klein wenig leiden lassen konnte sie ihn und im Moment wollte sie nichts mehr als das. Und was Kali anging? Die war so oder so hinter ihr her. Sollte sie sich halt hinter den Undying, irgendwelchen verrückten Dämonenjägern und anderem Gesocks anstellen!

 

Derweil nahm Zach eine Karte aus seinem Blatt und legte sie auf die Duel Disk.

„Ich beschwöre die [Lady Of The Lake]!“

Das Spielfeld vor dem hochgewachsenen, blonden Mann verwandelte sich in klares, schimmerndes Wasser. Aus diesem stieg eine Klinge empor, breit und mächtig, durch deren linke Hälfte rote Energielinien verliefen und durch die rechte hellblaue. Wie ein Geist tauchte plötzlich eine blonde Frau auf, die jenes sagenhafte Schwert fest umklammert hielt: Viviane, die Herrin des Sees, gekleidet in einem fliederfarbenen Mantel.

 

Lady Of The Lake [ATK/200 DEF/1800 (1)]

 

Zach griff nach seinem Friedhof. „Wenn sie beschworen wird, kann sie einen normalen Noble Knight vom Friedhof zurück aufs Feld bringen. Artorigus!“

Sie streckte elegant den Arm zur Seite aus, als wolle sie jemandem die Hand reichen und tatsächlich: Aus der Oberfläche des Wassers tauchte der rothaarige Artus auf und nahm die Hand der Herrin des Sees.

 

Noble Knight Artorigus [ATK/1800 DEF/1800 (4)]

 

„Da [Lady Of The Lake] eine Empfängerin ist, kann ich sie auf Artorigus einstimmen!“, rief Zach und streckte den Arm in die Höhe. „Stufe 1 auf Stufe 4!“

„Synchro!?“, überschlug sich Anyas Stimme.

Viviane löste sich in Luft auf, ebenso ihr See, an dessen Statt nun ein weiter, grüner Ring von unten um Artus herum aufstieg.

„Ganz richtig! Synchro Summon! Stufe 5, erscheine, [Ignoble Knight Of High Laundsallyn]!“

Ein rotes Licht schoss aus dem Boden und ließ Artorigus verschwinden. Stattdessen schwebte vor Zachariah plötzlich eine schwarzhaarige, in roter Aura gehüllte Gestalt in anthrazitfarbener Rüstung, welche von roten Energielinien durchzogen war – der Verräter Lancelot, mit dem Anya, wenn auch in anderer Form, schon in ihrem letzten Duell Bekanntschaft geschlossen hatte.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/2100 DEF/900 (5)]

 

Dieser streckte die Hand nach vorne aus und lachte.

„Bei seiner Synchrobeschwörung rüstet er sich sofort mit einer Waffe von meinem Deck aus.“ Zach seinerseits hielt jene schon zwischen den Fingern und zeigte sie. „[Noble Arms – Gallatin]!“

In Lancelots Hand tauchte ein schlichtes Schwert mit leuchtend grüner Klinge auf. „Sie stärkt das ausgerüstete Monster um 1000 Punkte.“

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/2100 → 3100 DEF/900 (5)]

 

Mit einem Schlag bekam Zachs Ausdruck etwas Heimtückisches. „Und dann rüste ich ihn noch mit einer weiteren Karte von meiner Hand aus: [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms]!“

Was Anya ziemlich verblüffte, handelte es sich bei der Karte um ein Monster. Jenes tauchte in Form eines jungen Mädchens auf, dessen zu zwei Zöpfen geflochtenes, braunes Haar wild umher flatterte, genau wie ihr weißes Kleid, als sie wie ein Geist herabstieg und sich an Lancelot zu klammern begann. Anschließend verschwand sie, was die Aura des Kriegers verstärkte und ihr schwarze Nuancen hinzufügte.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/3100 → 3400 DEF/900 (5)]

 

Anya kniff die Augen zusammen, sodass ihre böse funkelnden Pupillen nur noch aus Schlitzen hervorlugten. „Noch stärker, huh?“

„Noch viel stärker“, versprach ihr Bruder unheilvoll und streckte sogleich den Arm aus. „Stark genug, um deinen geliebten Pearl in die ewigen Jagdgründe zu schicken! Und wenn das passiert, erhalte ich eine Noble-Karte von meinem Deck.“

„Der große Bruder dreht auf! Kann Anya Bauer sich gegen ihn zur Wehr setzen?“, fragte der Kommentator ins Publikum.

Während jenes in der groben Überzahl verneinte, hob Lancelot seine Klinge in die Höhe. Rotes Feuer begann um sie zu brennen.

Die Stirn runzelnd, ignorierte Anya die johlende Pro-Zachariah-Fraktion und schwang den Arm aus. „Natürlich würdest du ihn angreifen! Aber das kannste knicken, Falle: [Shift]! Sie macht [Battlin' Boxer Lead Yoke] zum Ziel!“

Ohne dem weißen Ritter der Perlen überhaupt Beachtung zu schenken, schleuderte dessen dunkler Rivale eine flammende Welle auf den Boxer. Jener drehte sich von der Attacke weg und schützte sich dank des Pfeilers auf seinem Rücken, welcher zerbarst. Seine Brocken flogen in Anyas Richtung, die sich instinktiv mit den Armen schützte.

 

[Anya: 3900LP → 3500LP / Zachariah: 1200LP]

 

Sofort als die Attacke überstanden war, zog sie das letzte Xyz-Material unter Lead Yoke hervor und schob es in den Friedhofsschlitz. „Zu dumm, da hast du wohl nichts durch einen Kampf zerstört. Lead Yoke benutzt seine Overlay Unit, um sich am Leben zu erhalten und zu stärken.“

Nun war der Boxer völlig frei von seinen Fesseln und begann, ähnlich wie Lancelot, in roter Aura aufzuleuchten.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 → 3800 DEF/2000 {4} OLU: 1 → 0]

 

Als Zach allerdings mit der Zunge schnalzte, schwante Anya Böses. „Das war also alles, was du da hinten liegen hattest? Enttäuschend … aber gut, dass es jetzt weg ist.“

Plötzlich begriff Anya. Ihr Bruder hatte -absichtlich- den zweiten Effekt dieses blöden Ritters preisgegeben, damit sie ihre Falle aktiviert, um zu verhindern, dass jener zum Einsatz kommt! Und wenn er nur darauf spekuliert hatte, [Shift] aus dem Weg zu räumen, hieß das …

„Jetzt habe ich freie Bahn hierfür“, meinte er und zeigte zwischen Mittel- und Zeigefinger einen Schnellzauber vor, „ein nettes kleines Präsent einer gemeinsamen Bekannten. [Galaxy Storm]!“

Seine Gegnerin atmete schwer ein und wich einen Schritt zurück. Alles um sie und ihre Monster herum wurde dunkel, pechschwarz, nur einzelne Lichtpunkte durchdrangen jene Finsternis – sie befand sich im All!

„Du hast dich bemüht, deinen Pearl zu schützt, was? Die Logik würde gebieten, dass ich das stärkste Monster auf deinem Feld anziele mit dem Effekt von [Galaxy Storm].“

„Was für ein Effekt!?“

Anya wurde immer unwohler zumute. Irgendetwas näherte sich ihrem Spielfeld aus den Tiefen des Alls, lauter dunkle Schatten, es war unmöglich zu sagen, um was es sich dabei handelte.

„Mit dieser Karte vermag ich sofort ein Xyz-Monster ohne Overlay Units zu zerstören. Wie gesagt, die Logik würde Lead Yoke als Ziel bestimmen. Aber …“

Ein Stich. Anya keuchte auf, als sie glaubte, von jener Karte in Zachs Hand eine dunkle Aura ausgehen zu sehen. Irgendjemand hatte das Teil bearbeitet – Kali!

„Oh nein, das wirst du-!“

„Doch, ich werde. Wie würdest du sagen? Revenge Menge! Pearl ist das Ziel!“

Jener sah sich unsicher um.

 

Sieht nicht gut aus. Das wird wehtun …

 

„Nein!“, schrie Anya panisch, die jetzt erkannte, was aus allen Richtungen auf ihren Partner zugeschossen kam – dutzende Kometen.

Aber es war zu spät. Wie ein Hagel schlugen sie um Levrier ein, lösten eine Explosion nach der anderen aus.

 

Ahhhhhhh!

 

Es wollte einfach nicht aufhören. Und als wäre das allein nicht schon schlimm genug, sammelte sich die Energie der kleineren Explosionen, um ein gewaltiges Finale zu entfesseln.

Unter einem ohrenbetäubenden Knall wurde eine Super Nova-ähnliche Entladung ausgelöst, die Levrier in Fetzen riss und das eigentliche Spielfeld wiederherstellte.

 

Gyaaaah!

 

Anya stockte der Atem. Unsicher flüsterte sie: „Le- Pearl?“

Keine Reaktion.

Zach lachte hämisch. „Der kommt so schnell nicht wieder zu sich. Beste Grüße von Kali! Kannst ja versuchen dich zu rächen, dein Zug.“

Während Anya noch versuchte zu begreifen, kommentierte der MC: „Was war das!? Wieso hat Zachariah das schwächere Monster ausgewählt? Führt er etwas im Schilde!?“

 

Wie in Trance griff Anya nach ihrem D-Pad, das sie lasch vor sich hielt und zog auf. Die Karte betrachtend, sah sie unvermittelt mit zornesroter Fratze auf und schmetterte das Monster heftiger auf den Apparat als nötig gewesen wäre.

„[Battlin' Boxer Glassjaw]!“

Vor ihr tauchte ein grüner, stämmiger Boxer aus, dessen Anblick glatt vermuten ließ, er wäre ein aus Stein gemeißelter Hulk.

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Als Anya den Arm ausstreckte und den Zeigefinger mit aufgerissenen Augen auf Zach richtete, schrie sie: „Macht ihn alle! Lead Yoke, schlag auf diesen verdammten Ritter ein, bis nichts mehr von ihm übrig ist! One-Hit KO!“

Selbst danach schrie sie noch derart kriegerisch, als wäre sie diejenige, die den Schlag austeilte. Mit flinken Schritten näherte sich der Boxer und schmetterte seine Faust gegen Lancelots rot entflammte Klinge. Jener kicherte geheimnisvoll.

„So wird das nichts. Effekt von [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms]! Du weißt schon, das Klammeräffchen.“

Mit Schrecken beobachtete Anya, wie jene hinter Lancelot auftauchte und sich kreischend in Luft auflöste. Im nächsten Moment schleuderte Letzterer Lead Yoke erst davon, um eine messerscharfe, vertikal gerichtete Welle hinterher zu schicken, die den Boxer durchtrennte.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/3400 → 3100 DEF/900 (5)]

 

Wie versteinert stand Anya da, ließ den Arm sinken.

Zach schloss die Augen und grinste zufrieden. „Sicher, ich muss die Königin opfern, aber das macht doch jeder dunkle Ritter, um einen mächtigeren Feind einfach so zu töten. Richtig?“

„Jetzt hat er beide Xyz-Monster besiegt, unglaublich!“, schrie Mr. C begeistert.

Anya hörte jedoch nicht hin. Jetzt stand sie nur noch mit Glassjaw und zwei Handkarten da. Dieser verdammte Bastard, er spielte mit ihr wie mit einem Kind! Darüber hinaus hatte er sich an Levrier vergangen, der Feigling! Und sie wusste nicht einmal, wie es ihm ging.

Panisch sah sie in ihr Blatt. Jetzt musste sie ihren Trumpf ausspielen, wenn sie hier heil durchkommen wollte! Sicherlich würde Levrier ihr auch dazu raten.

„Das hier ist noch lange nicht vorbei!“, fauchte sie, immer noch knallrot im Gesicht. „Diese da verdeckt, Zug beendet!“

Zischend materialisierte jene Falle sich vor ihren Füßen.

 

Geradezu lässig zog Zachariah auf, als läge es nun an ihm, Anya den Gnadenstoß zu versetzen. Nebenbei erklärte er: „Während jeder Standby Phase verliert der Träger Gallatins 200 Angriffspunkte, aber das macht nichts.“

Tatsächlich trübte es nicht die finstere Aura, die Lancelot umgab.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/3100 → 2900 DEF/900 (5)]

 

„Du hast eindeutig noch zu viele Lebenspunkte. Das müssen wir ändern.“ Er legte eines seiner Monster auf das D-Pad. „Erscheint, [Noble Knight Brothers]! Wenn sie gerufen werden, kann ich bis zu zwei weitere Edle Ritter rufen. Aber ich brauche nur diesen hier, [Noble Knight Borz]!“

Zunächst stellten sich drei junge Männer blonden Haares vor ihrem Besitzer auf. Der älteste Bruder mit schulterlangem, der mittlere mit etwa einer Handbreit langem Haar und zu guter Letzt der jüngste mit vergleichsweise kurzer Pracht. Neben ihnen gesellte sich ein weiterer Ritter mit braunem Haar und in rotem Umhang – Bors der Jüngere, Sucher des Heiligen Grals.

 

Noble Knight Brothers [ATK/1200 DEF/2400 (4)]

Noble Knight Borz [ATK/1700 DEF/900 (4)]

 

Anya entfuhr ein aufgeregtes Keuchen. Zwei Monster gleicher Stufe auf dem Feld zu haben war nicht gut! Das Problem war nicht, dass er eine Xyz-Beschwörung durchführen konnte. Die Frage war, -wann- würde er es tun?

„Ich denke, ein Schwert würde Borz gut zu Gesicht stehen. Drum rüste ich ihn mit der Klinge der Legenden aus, [Noble Arms – Excaliburn]!“

Zu Anyas Überraschung materialisierte sich in der Hand des Ritters ebenjene Klinge, die die Herrin des Sees so fest umschlossen gehalten hatte. Doch ihre zweifarbigen Energielinien leuchteten nicht auf.

„Hups“, gluckste Zach da, als würde er ihre Gedanken lesen und fasste sich demonstrativ an die Stirn, „Borz ist ja gar nicht der wahre Träger Excaliburs.“

Was sich auch darin zeigte, dass sich sein Angriffswert nicht veränderte. Woraus der blonde Duellant schloss: „Naja, es reicht zumindest, damit Borz jetzt seinen Effekt aktivieren kann. Solange er mit einer Edlen Waffe ausgerüstet ist, bestimmt er einmal pro Zug drei weitere jener Schwerter – und was sonst noch dazugehört – und überlässt mir von denen eine zufällige. Die anderen landen auf dem Müll.“

Zach nahm sein Deck aus der Halterung und durchsuchte es nach den dreien, die ihm im Sinn standen. Er zeigte sie vor, doch Anya konnte nur den Namen der obersten Karte lesen: [Noble Arms – Excaliburn II]. Zusammen mit den anderen beiden tauchte sie anschließend in vergrößerter Form mit dem Rücken zu Anya gewandt auf.

„Du entscheidest“, gurrte er verheißungsvoll.

Es war die mittlere, auf die Anya nach praktisch nicht vorhandener Überlegung deutete. Jene nahm Zach auf und ließ die anderen beiden in seinem Friedhof verschwinden.

„Diese Karte …“, murmelte die Blonde derweil nervös. Mit der hatte Zach letztes Mal versucht sie zu besiegen und es war dieselbe Karte, vor der dieser Kakyo sie gewarnt hatte. „Shit …“

Umso weniger überraschte es sie, als Zach seine beiden Noble Knights vom D-Pad nahm und übereinander legte. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

Wie schon die beiden Male bei Anyas Xyz-Beschwörung zuvor öffnete sich inmitten des Spielfelds ein schwarzes Loch. Die drei Brüder und Borz lösten sich in goldgelbe Lichtstrahlen auf, die in die Mitte jenes Netzwerks schossen und verschwanden.

„Zwei Stufe 4-Monster! Xyz Summon! Herrsche, [Artorigus, King Of The Noble Knights]!“

Eine Lichtexplosion erfolgte aus dem finsteren Schlund. Daraus empor stieg der gereifte König Artus, nun in einer blau aufleuchtenden Rüstung gehüllt. Von seinen Schultern flatterte ein Umhang gemacht aus Fell und zwei Lichtkugeln umkreisten ihn dabei, wie er zu Zach herüber glitt.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2000 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Jener famose König streckte beide Hände vor sich aus. Zachariah erklärte dazu: „Bei seiner Xyz-Beschwörung rüstet er sich mit drei Noble Arms von meinem Friedhof aus.“

Nacheinander schnellten jene aus seinem Friedhof hervor, sodass der Blonde sie nur vorzuzeigen brauchte. Es waren [Noble Arms Of Destiny], ein leuchtender Schild, der sich an Artorigus' rechtem Handgelenk manifestierte, [Noble Arms – Arfeudutyr], ein düsteres Schwert, das in Anya böse Erinnerungen weckte und [Noble Arms – Caliburn], das in des Königs rechter Hand erschien. Welches auch gleich in die Höhe gestreckt wurde.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2000 → 2500 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

„Du weißt ja, einmal pro Zug erhalte ich dank Caliburn 500 Lebenspunkte.“

„Tch, geht das wieder so los!“

Der von Caliburn gerufene, schimmernde Regen ging auf Zach nieder.

 

[Anya: 3500LP / Zachariah: 1200LP → 1700LP]

 

„Jetzt ist es Zeit, sich um ein paar Zauber- und Fallenkarten auf dem Spielfeld zu kümmern“, verkündete Zachariah und zog eines der Xyz-Materialien unter Artus weg. Jener absorbierte mit Caliburn eine der um ihn kreisenden Lichtkugeln.

„Pro Noble Arms kann ich eine Zauber- oder Fallenkarte auf dem Feld vernichten!“ Zach ballte demonstrativ eine Faust, die er anhob. Gleißendes, blaues Licht begann von Caliburn auszustrahlen, dann feuerte Artus einen kreischenden Lichtblitz auf Anyas gesetzte Karte, sodass diese sich die Ohren zuhielt – und in einer dumpfen, hellblauen Explosion verschwand. Im selben Augenblick zersprang das heilende Schwert in der Hand seines Besitzers.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2500 → 2000 DEF/2000 {4} OLU: 2 → 1]

 

„Ich habe deine Falle und Caliburn gewählt“, erklärte Zach, „und wie du schon weißt, können Noble Arms, wenn sie zerstört werden, einmal pro Zug neu ausgerüstet werden.“

So schnell wie das Schwert in des Königs Hand verschwunden war, so tauchte es auch wieder auf.

Irritiert blinzelte Anya durch den hellen Rauch. Sie hatte damit gerechnet, dass er – wie schon im letzten Duell – Arfeudutyr benutzen würde, um ihre gesetzte Karte zu zerstören. Aber das hier war noch viel schlimmer, denn …

„... da [Noble Arms – Caliburn] kurzzeitig vom Spielfeld gegangen ist, kann ich ihren Effekt nun erneut aktivieren!“

Siegesgewiss streckte Artus die Klinge in die Höhe und ließ auf Zach einen bunten Lichterregen niedergehen.

 

[Anya: 3500LP / Zachariah: 1700LP → 2200LP]

 

Der Rauch löste sich langsam in Luft auf und Anya stand mit verschränkten Armen da – und ohne Monster. Etwas, das Zachariah nicht erwartet hatte.

„Wo ist-!?“

Anstatt ihn ausreden zu lassen, zeigte die Blonde stumm auf Zachs Monster. Welche beide erschöpft in die Knie sanken.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/2900 → 0 DEF/900 (5)]

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/2000 → 0 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

„Seht ihr das!? Was hat Anya Bauer gemacht, um die Angriffspunkte ihres Gegners auf 0 zu bringen!?“, staunte selbst der Kommentator.

Anya nahm die Falle von ihrem Friedhof und zeigte sie vor. „Werd' ich dir sagen, Saftsack. [Zero Force]! Bevor mein Trottel von Bruder sie zerstören konnte, habe ich sie aktiviert. Wenn von meiner Spielfeldseite ein Monster verbannt wird, kann ich sofort den Angriff aller anderen Monster auf dem Feld auf 0 setzen.“

Widersprechend schwang Zach den Arm aus. „Ich habe aber kein Monster verbannt! Und dir fehlten die Mittel dazu!“

„Sicher? Ich hatte doch [Battlin' Boxer Rib Gardna] auf dem Friedhof!“ Jenen holte Anya aus der Verbannungszone, um ihn zum Beweis vorzuzeigen. „Wenn ich den von dort verbanne, kann ich temporär auch einen Boxer aus dem Ring nehmen.“

„Aber wie – !?

Mit großem Genuss konnte Anya ihrem Bruder ansehen, wie er sich an ihren ersten Zug erinnerte.

 

Anya schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm ein Monster aus ihrem Blatt. „Ich beschwöre [Battlin' Boxer Headgeared]!“

Aus einer roten Lichtsäule stieg vor ihr ein Boxer empor, von hagerer, doch trainierter und vor allem dunkelblauer Gestalt. Namensgebend war sein roter Kopfschutz.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Sofort griff Anya nach ihrem Deck. „Wenn er normalbeschworen wird, schicke ich umgehend einen seiner Trainingspartner direkt vom Deck auf den Friedhof.“

Jenen zeigte sie kurz vor, ehe sie ihn in den Friedhofsschlitz schob.

 

Die Stirn runzelnd, lachte er urplötzlich auf. „Nicht schlecht. Ich war wohl etwas unachtsam, weil du meine Gegnerin bist. Du hast gewartet, bis ich die großen Geschütze aufs Feld bringe, ehe du deine Falle setzt. Aber ich sag dir was …“

Anyas Augen weiteten sich, als Caliburn in Artus' Händen zu glühen begann.

„... der Effekt von [Zero Force] wurde aufgelöst, bevor [Noble Arms – Caliburn] zurück aufs Spielfeld kam. Also hat mein Monster ein paar Angriffspunkte!“

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/0 → 500 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

Unbedarft zuckte Anya mit den Schultern. „Na und? Das reicht kaum aus, um mir einen Kratzer zuzufügen.“

„Wenn du dich da mal nicht täuscht, 'liebstes Schwesterherz'.“ Während er das sagte, drehte Zach seinen Lancelot in die Horizontale. Dadurch ging dieser ganz in die Knie und schützte sich mit seinem Schwert.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/0 DEF/900 (5)]

 

~-~-~

 

Innerhalb Ephemeria Citys wurde das Duell auf den vielen Bildschirmen übertragen, welche an Gebäuden, Fassaden und dergleichen befestigt waren. Die Straßen waren gefüllt mit Menschen, die zusahen. Eigens hierfür hatte die Polizei bestimmte Abschnitte der Stadt gesperrt. Die hellen Lichter der Laternen tauchten das spätabendliche Ereignis in warmes Licht.
 

Doch wo Kali sich befand, gab es kein Licht, nur Schatten. Niemand durfte jemals wissen, was sich hinter ihrer Maske verbarg. Niemand durfte wissen, dass es sie gab, bis auf wenige Ausnahmen. Aus diesem Grund hatte sie die Arena verlassen müssen, denn zu groß war die Gefahr, einem der Freunde -jenes Mädchens- über den Weg zu laufen. Es reichte schon, wenn jemand ihre Anwesenheit spürte.

Was nichts daran änderte, dass Kali gerne dem Duell beigewohnt hätte. So saß sie im Schatten eines Treppenhäuschens, das sich auf der Spitze eines der Bürogebäude befand, nicht weit von der Arena entfernt. Unter ihr fand eines der Public Viewing-Events statt, sodass sie das Spektakel zumindest auf dem Bildschirm verfolgen konnte.

Als Zachariah seinen Lancelot in die Verteidigung drehte, Artus jedoch nicht, verspürte Kali ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Was hatte er vor? Über die Lautsprecher, die ebenfalls überall innerhalb der Stadt verteilt waren, konnte sie ihn hören.

 

Jetzt ist es Zeit, 'Anya'.

 

Wie er ihren Namen betonte, voller Abscheu. In dieser Hinsicht war er noch extremer als sie selbst, was Kali kaum für möglich gehalten hatte.

Der Kameramann machte einen guten Job, sah man den blonden, jungen Mann in der Frontansicht, wie er eine Zauberkarte in sein D-Pad schob. Und diabolisch grinste. Das konnte nur eines bedeuten.

 

Ich rüste Artorigus mit [Noble Arms – Excaliburn II] aus.

 

Auch wenn sie damit gerechnet hatte, keuchte Kali auf.

Jetzt wurde der Ritterkönig gezeigt, der sein Caliburn und Arfeudutyr vor sich verschmelzen ließ und daraus ein großes, goldenes Breitschwert schuf. In ihm verliefen sich überkreuzende Lichtlinien, blauer und roter Natur. Es war so riesig, dass kein Mensch es mit nur einer Hand führen konnte, doch Artus belehrte die Zweifler eines Besseren und griff mit einer Hand danach.

 

Was für ein Scheiß! Die Punkte deines Monsters sind nicht gestiegen. Mal wieder!

 

Die Perspektive schwenkte zu Anya um, der entgegen ihrer unbekümmerten Worte der Schweiß auf der Stirn geschrieben stand. Sie wusste nicht, womit sie es zu tun hatte, ahnte jedoch selbstverständlich, dass es nichts Gutes sein konnte.

„Wirst du wirklich so weit gehen?“, fragte Kali leise. „Zach?“

Eine Antwort blieb er ihr nicht lange schuldig. Ihr Partner schwang den Arm aus und zeigte auf die völlig schutzlose Anya.
 

Jetzt bekommst du eine längst überfällige Kostprobe von dem, zu was Excaliburn II imstande ist.

 

Einem inneren Impuls folgend, erhob sich Kali ruckartig. Sie musste zurück! Was er da tat, war nicht in ihrem Sinne, denn …

 

~-~-~

 

Gleichzeitig war auch Henry aufgesprungen, allerdings aus ganz anderen Gründen.

„Was ist das für eine Karte?“, fragte er aufgeregt. „Es gibt kein [Noble Arms – Excaliburn II]!“

Melinda sah verwirrt zu ihm auf. „Wie kommst du darauf?“

„Die Noble Knights sind keine Karten von I², sondern stammen von uns. Ich habe selbst den Zeichner für die Artworks beauftragt!“ Zornig, aber ebenso verwirrt sah er auf das Spielfeld herab. „Wir müssen das Duell stoppen und ihn disqualifizieren!“

Seine Schwester stand ebenfalls auf, legte besorgt ihre Hand auf seine Schulter. „Henry, die Karte ist in der Datenbank, sonst würde sie nicht funktionieren.“

Er wirbelte aufgeregt zu ihr um und flüsterte: „Du weißt, wie wenig das in unserer Welt bedeutet!“

„Vielleicht hast du Recht. Aber vorher lass uns erstmal den Eintrag überprüfen, vielleicht erklärt-!“

Weiter kam Melinda nicht, denn Zachariah hatte soeben den Angriff befohlen.

 

„Direkter Angriff auf ihre Lebenspunkte!“, schrie der Blonde im schwarzen Sakko.

Sein Artus, der das Schwert mittlerweile lässig mit einer Hand schulterte, schwang es nun in einer halbmondförmigen Drehung aus. Wodurch sich von der Klinge eine Schockwelle löste. Von strahlender, blauer Energie, zischte sie über das Feld und erfasste Anya. Jener blieb die Luft weg, als sie getroffen wurde, auch wenn sie äußerlich nichts spürte. Nichts geschah.

Zach kicherte. „Oh? Denkst du gerade, du würdest nur 500 Lebenspunkte verlieren?“

Anya reagierte nicht. Irgendetwas stimmte hier nicht, ihr war mit einem Mal so schwindelig.

„Ich muss dich enttäuschen. [Noble Arms – Excaliburn II] verleiht seinem Träger eine besondere Fähigkeit.“ Während Anyas Sicht zunehmend verschwamm, bekam sie noch mit, wie eine rote Energielinie von Zachs Brust direkt zum Breitschwert verlief. „Sie fügt nicht den Angriffswert des Monsters als Schaden zu …“

Jene Verbindung zwischen Schwert und ihrem Bruder begann regelrecht zu pulsieren.

„… sondern den Lebenspunktewert desjenigen, der im Hintergrund die Fäden zieht! Mein Leben und das ist weitaus stärker als 500!“

Ohne Vorwarnung schwang Artus sein Schwert noch einmal, doch dieses Mal entfesselte er eine rote Schockwelle, die Anya durchfuhr wie ein Blitz. Und mit ihm kamen die Schmerzen. Anya schrie auf und kippte rückwärts um.

 

[Anya: 3500LP → 1300LP / Zachariah: 2200LP]

 

 

Turn 61 – Do Your Worst

Trotz der heftigen, anhaltenden Schmerzen, die Zachariahs Angriff verursacht, kämpft Anya weiter. Die wahre Bedrohung in [Artorigus, King Of The Noble Knights] erkennend, versucht sie alles in ihrer Macht stehende, um ihn zu zerstören. Jedoch gelingt es Zach stattdessen sogar, ihn noch mächtiger werden zu lassen. Ihre einzige Hoffnung in eine der Karten setzend, die sie von Henry erhalten hat, holt Anya zum Gegenangriff aus. Und an ihrer Seite ist …

Turn 61 - Do Your Worst

Turn 61 – Do Your Worst

 

 

Die glühend rote Schockwelle erfasste sie und rauschte durch sie hindurch. Rückwärts umkippend, konnte sie ihren Fall im letzten Moment verhindern, indem sie das rechte Bein nach hinten schob und ihm damit entgegenwirkte.

Keuchend fasste Anya sich an die Brust, verkrümmte sich, taumelte zurück. Wie tausend Wespenstiche fühlte es sich an, überall, kein Teil ihres Körpers wurde verschont.

„Gnnnnn!“, versuchte sie einen Schrei zu unterdrücken, während sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Jedoch biss sie die Zähne zusammen und kämpfte dagegen an, vom Schmerz übermannt zu werden.

Nur verschwommen sah sie ihren Bruder, wie er überheblich grinste. Vor ihm seine beiden Monster, der kniende, schwarze Ritter Lancelot und der stolze König Artus, der ein riesiges, goldenes Breitschwert schulterte, in dessen Klinge rote und blaue Energielinien miteinander verwoben waren. An seinem Arm leuchtete ein bunter Energieschild, um ihn herum rotierte eine leuchtende Kugel.

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/0 DEF/900 (5)]

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/500 DEF/2000 {4} OLU: 1]

 

„Du bist dran, Anya“, hauchte Zachariah zufrieden.

Das Feld ebenjener war leer, wodurch sein Angriff direkt durchgegangen war. Schwankend versuchte sie, die Balance zu halten. Der Schmerz klang allmählich ab, wurde zu einem unangenehmen Kribbeln.

Wie hatte er das gerade gemacht!? Wäre etwas mit dem Solid Vision-System nicht in Ordnung, hätte längst irgendjemand das Duell unterbrochen, hier wurde alles auf Schärfste überwacht! Woraus Anya schloss, dass irgendetwas Übernatürliches involviert war. Klasse!

„Noch so ein Treffer und du bist erledigt“, meinte Zach mit ausgebreiteten Armen, „das, oh ja, garantiere ich dir.“

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 2200LP]

 

„Was war das denn!?“, fragte sie hektisch.

„Ich würde sagen, ein harter Schlag, oder was meint das Publikum!?“, kommentierte Mr. C Anyas missverstandene Frage von der Glaslounge am oberen Ende des kreisrunden Stadions aus.

Und die Zuschauer johlten und grölten, was das Zeug hielt.

Zwar versuchte das Mädchen dies zu überhören, doch es war geradezu höhnisch, wie sie alle lachten und nicht wussten, was wirklich geschehen war. Doch die Antwort blieb man Anya schuldig. Ihr Bruder stand nur da und grinste süffisant, während Levrier scheinbar immer noch außer Gefecht gesetzt war.

„Noch so ein mieser Trick!“, zischte Anya wutentbrannt und griff nach ihrem Deck. „Bist dir wohl für nichts zu schade, was!?“

„Etwas, das wir schon immer gemeinsam hatten.“

Was hatte sie auch anderes von ihm erwartet, fragte sich die Blonde und riss unter einem gellenden Schrei eine Karte von ihrem Deck. Plötzlich flimmerte vor ihr die Silhouette einer zwei Meter großen und kräftig gebauten Gestalt.

„Erinnerst du dich noch an [Battlin' Boxer Glass Jaw]? Den hab ich in deinem Zug mit Rib Gardnas Effekt verbannt gehabt“, erklärte Anya, „und jetzt steigt er wieder in den Ring!“

So geschah es auch. Der grüne, muskulöse Boxer, der ein bisschen so aussah, als wäre er aus Stein gemeißelt, gewann feste Gestalt.

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Nervös sah Anya herüber zum Feld ihres Bruders. Zum Glück waren seine Monster geschwächt, sodass sie sowohl mit Lancelot, als auch Artus fertig werden würde. Es gab nur ein Problem an der Sache: Ihre Hand gab es nicht her, beide zu vernichten. Sie musste sich für einen entscheiden!

Unsicher wanderte ihr Blick weiter zum rechten Teil der nach oben verlaufenden Tribüne. Dort drüben, in einer der letzten Reihen, hockte er. Der, dem das Deck gehörte, ohne das Anya jetzt vielleicht nicht hier stünde – Logan. Und er zeigte ihr einen Daumen nach oben, wenn auch für ihn gewohnt ausdruckslos.

Trotzdem fühlte sich Anya gleich besser, obwohl ihr noch schwindelig war. Es war doch klar, um wen sie sich kümmern musste. Zielstrebig streckte das Mädchen den Zeigefinger aus. „Los Glass Jaw, schnapp' dir den Thron! Angriff auf Artorigus!“

Sie biss sich auf die Lippe, als sie sich an die Effekte der Noble Arms erinnerte. Artorigus war mit den Schwertern Caliburn, Arfeudutyr und Excaliburn II sowie dem Schild [Noble Arms Of Destiny] ausgerüstet. Welche allesamt auf Laundsallyn übertragen werden würden, sobald Artorigus im Kampf fiel. Und der hielt noch Gallatin in der Hand, auch wenn dessen Angriffsboost nach [Zero Force] ohnehin hinfällig war.

„Kann man nix dran ändern“, murmelte sie dennoch verstimmt. Zumindest würde Zach eine Menge Schaden erleiden!

Ihr Boxer stürmte auf seinen Feind zu und griff mit einem gezielten Kinnhaken an. Den der brünette, edle König jedoch gekonnt mit seinem Schild abwehrte.

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 2200LP → 700LP]

 

„Unglaublich! Sein Monster steht noch!“, rief der Kommentator aufgeregt.

Anya ballte eine Faust, die sie nur gerne in Richtung des Kameramanns hielt, der gerade damit beschäftigt war, die Szene aufzunehmen. „Was zur Hölle soll das jetzt!?“

„Denkst du, [Noble Arms Of Destiny] ist nur Deko?“, fragte ihr Bruder reißerisch. „Einmal pro Zug entgeht sein Träger dem sicheren Tode.“

Sich auf die Lippen beißend, knurrte Anya: „Wie schön für ihn! Zug beendet!“

Jetzt saß sie so richtig in der Patsche!

 

Zum selben Schluss kam weiter oben Zanthe, welcher sich in einer der mittleren Zuschauerreihen befand. Nach vorne gebeugt, hielt er sich die Hand an die Stirn und murmelte: „Gib mal'n bisschen Gas, Anya!“

Das konnte doch unmöglich alles sein, was sie auf Lager hatte! War ihr der Dämpfer aus der Vorrunde nicht genug gewesen!? Wenn sie wüsste, -wem- sie ihr Weiterkommen zu verdanken hatte, würde ihr Ego-Airbag wahrscheinlich platzen …

Zanthe, der am äußeren Rand direkt neben der Treppe saß, die nach unten zu den Ausgängen führte, seufzte schwer. Es wäre wohl am besten gewesen, wenn Nick ihn statt Anya eingeschleust hätte. Aber dem das zu verklickern wäre ohnehin vergeudete Liebesmüh gewesen, so fixiert wie er auf den Giftzwerg war.

Anscheinend unterhielten sich Anya und Zachariah gerade, denn Letzterer führte seinen Zug nicht durch. Aber aufgrund der schlechten Akustik im Stadion und der lärmenden Fans, konnte er trotz oder gerade wegen seines feinen Gehörs nahezu nichts davon verstehen, obwohl alles per Lautsprecher übertragen wurde.

 

Neben ihm nahm jemand die Treppen herab zum Ausgang. Und als jene Person an Zanthe vorbeizog, erkannte er diese als Kakyo, den brünetten, etwas langweilig gekleideten Duellanten wieder.

„Der gehst schon?“, murmelte er überrascht, was Kakyo auf seinem Weg nach unten jedoch nicht bemerkte.

Ebenso wie Anya war jener einer der Duellanten, die es in die Hauptrunde geschafft hatten. Höchstwahrscheinlich wollte er sich ein Bild von der Konkurrenz machen.

Zanthe hatte ihn den ganzen Tag über im Auge behalten und war nicht überrascht davon gewesen, dass jener ebenfalls hierher gekommen war. Doch wieso wollte der jetzt verschwinden, gerade wo das Duell seinen Höhepunkt erreicht hatte?

Zanthe sah herüber zum Duellfeld, wo Anya immer noch mit ihrem Bruder redete. Sollte er Kakyo folgen? Demjenigen, den Exa als seinen 'Retter' bezeichnet hatte? Wovor, das hatte er nicht gesagt, aber sicherlich war es nicht unbedeutend. Vielleicht konnte der Werwolf mehr herausfinden, wenn er sich an Kakyos Fersen heftete. Andererseits wollte er auch Anya nicht alleine lassen.

 

Leider gab es dieser Hinsicht jedoch eines, das man über Zanthe Montinari wissen musste: Seine Neugier war beizeiten grenzenlos. Anders als seine Treue, die bei bestimmten Individuen hin und wieder zur Nebensache wurde. Für Zanthe war seine Anwesenheit bei Anyas Duell letztlich nicht mehr als eine Trivialität. Ob sie gewann oder nicht hing von ganz anderen Faktoren ab, als das wiederholte Schreien ihres Namens.

So war es letztlich in seiner Natur begründet, dass Zanthe aufstand und ebenfalls die Treppen herunter schlurfte. Plötzlich jedoch blieb er einen Moment lang stehen, als ein Windhauch an ihm vorbeizog.

Wo kam der her!?

Als er sich umsah, jedoch niemand anderes auf den Stufen entdeckte, zuckte er mit den Schultern. War wohl nur Einbildung gewesen, sagte er sich. Und setze seinen Weg fort.

 

Zur selben Zeit fragte Zachariah plötzlich: „Warum kämpfst du eigentlich?“

„Was ist das für eine dämliche Frage!?“ Anya verzog die Augen zu Schlitzen. „Ich wette, du weißt ganz genau, warum ich hier bin. Hier sein muss.“

„Das stimmt. Aber … ich hätte irgendwie gedacht, -sie- würde dir mehr bedeuten.“ Zach schnalzte mit der Zunge. „Andererseits, was überrascht es mich? Du würdest doch alles und jeden wegschmeißen, wenn es darum geht, deinen Hintern zu retten.“

„Tch! Vielleicht war ich wirklich mal so … aber heute bin ich anders.“

Ihr Bruder sah sie nachforschend an und fasste sich ans Kinn. Es war Anya zutiefst unangenehm, so von Zach gemustert zu werden, besonders, wenn sie dank ihres dämlichen, dunkelblauen Werbe-T-Shirts lächerlich aussah. Doch selbst in einem Panzer wäre sie vermutlich nicht vor diesen blauen Augen gefeit, die sie zu gerne mausetot sehen wollten.

Plötzlich sagte ihr Bruder: „Vielleicht ähnelst du ihr weniger als ich dachte.“

„Wem?“

„Kali natürlich. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass du genauso bist wie sie.“ Er lachte amüsiert auf. „Denn glaub mir, wenn nötig, würde sie mich 'opfern'. Nicht, dass ich es ihr einfach machen würde, käme es dazu.“

Anya fuhr sich durch das blonde Haar und warf betont desinteressiert ihren Pferdeschwanz in den Nacken. Dabei sagte sie: „Was weiß ich. Ich kenne die Schnalle nicht mal …“

„Ich würde dir gerne mehr über sie erzählen, aber dazu habe ich nicht das Recht. Eines Tages wirst du jedoch wissen, wer sich hinter ihrer Maske verbirgt.“ Seine nächsten Worte formte er jedoch nur mit den Lippen, sprach sie nicht laut aus. Aber auch so verstand Anya aus dem Kontext heraus. „Dann ist es jedoch zu spät.“

 

Die Blonde schwieg und verfiel in Gedanken. Eigentlich war es ihr egal, warum Kali sie hasste oder wer sie überhaupt war. Aber das mit Nick und ihrer gestohlenen Duel Disks sowie die kaputte Krone, dafür konnte sie sie nicht einfach davon kommen lassen.

Waren die beiden sich ähnlich? Das sollte Nick ihr beantworten, der hatte schließlich mit ihr gesprochen. Aber wenn diese Kali auch nur ansatzweise so versiert wie Anya darin war, ihre Feinde zu bestrafen, würde diese Konfrontation einen durchaus vielversprechenden Lauf nehmen. Ein wenig wünschte sich Anya diesen Nervenkitzel sogar herbei.

 

„Nun, auf jeden Fall solltest du gut überlegen, ob du das hier wirklich durchziehen willst“, riss sie Zachariah aus ihren aufkeimenden Fantasien des Terrors und streichelte dabei demonstrativ über seine Duel Disk.

Anya zuckte nur teilnahmslos mit den Schultern. „Und? Von einer Duel Disk lebt man auch nicht länger.“

„Kannst du dich wirklich von ihr trennen?“, fragte der größere Zachariah neugierig. „Das glaube ich dir nicht.“

Sie gab einen gedämpften Lacher von sich. „Ach ja? Hab ich dir je erzählt, warum mir diese Duel Disk so wichtig ist? Kannst du es dir denken?“

Wie erwartet schüttelte Zach den Kopf. „Nein.“

Daraufhin schloss Anya die Augen. Sollte sie tun, was Matt ihr vor seiner Abreise geraten hatte? Einfach … mit ihm reden? Eine Versöhnung ansinnen?

„Wie du weißt, ist Dad gegangen, als ich gerade mal vier war. Dich hat er damals mitgenommen. Seitdem habe ich ihn kaum gesehen. Er … vergisst regelmäßig meine Geburtstage, ruft so gut wie nie an. Zu Besuch kommt er schon gar nicht.“

Ihr Bruder schwieg dazu und sah das Mädchen an, ohne nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen.

„Daher habe ich nicht viel von ihm. Praktisch nur die Dinge, als er noch da war. Seine Jacke, seine Duel Disk … sonst nichts. Wenn wir uns doch mal sehen, ist er zwar da, aber ich sehe nicht einmal meine eigene Reflexion in seinen Augen.“ Anya öffnete schlagartig die ihren. „Verstehst du jetzt? Ich habe Dad nur in Form der Geschenke, die er mir gemacht hat.“

Zach sagte gar nichts. Für einen Moment jedoch, so schien es, als würde er ihr betroffen in die Augen sehen. Allerdings straften seine anschließenden Worte jenem Eindruck lügen: „Wer würde auch so eine missratene Tochter wie dich sehen wollen? Schlimm genug, dass er dauernd seinen Einfluss nutzen muss, um dich aus der Scheiße zu holen.“

Ebenso feindselig erwiderte sie: „Lieber bin ich ein Miststück, als so ein aalglatter Möchtegern wie du!“

„Deine Worte tun mir weh, 'Schwesterherz'“, erwiderte Zachariah keineswegs verletzt, „ein Möchtegern bin ich ganz bestimmt nicht mehr. Draw!“

 

Das Gespräch abrupt beendend, riss er eine Karte von seinem Deck. Es war damit die einzige, die er auf der Hand hielt.

Gleichzeitig entschloss sich jetzt auch Mr. C, sich wieder ins Geschehen einzumischen. „Was für eine tragische, geheimnisvolle Geschichte! Dieses Duell ist wahrlich ein Aufeinanderprallen zweier Geschwister, die unterschiedlicher nicht sein könnten! Ist das Schicksal!?“

Als ob, sagte sich Anya innerlich. Irgendwie hatte Zachariah das so hingebogen, dessen war sie sich sicher.

„Ich benutze den Effekt von [Noble Arms – Caliburn] und erhalte 500 Lebenspunkte“, verkündete Zach.

Sein Ritterkönig Artus streckte sein riesiges, goldenes Schwert in den Himmel – es war die vereinte Form von Arfeudutyr und Caliburn. So strahlten die blauen Lichtlinien in der Klinge stärker denn je und ein Regen aus gleichfarbigen Partikeln ging über Zachariah hernieder.

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 700LP → 1200LP]

 

Der griff unter die Karte seines Artus und zog das letzte Xyz-Material darunter hervor, welche als leuchtende Kugel von Excaliburn II absorbiert wurde.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/500 DEF/2000 {4} OLU: 1 → 0]

 

„Wusstest du, dass Artorigus' Effekt auch einen anderen Nutzen hat? Ich kann Zauber- und Fallenkarten bis zur Anzahl an offenen Noble Arms zerstören.“

Anya konnte ihm jedoch nicht folgen, schließlich besaß sie gar keine Zauber- und Fallenkarten auf dem Feld!

Zach ließ sie jedoch nicht lange im Dunkeln tappen und erklärte: „Dein Blick spricht tausend Bände. Schon mal daran gedacht, dass ich auch meine eigenen Karten zerstören kann?“

„Ah!“, begriff sie nach einem Moment, in dem sie sicherstellte, dass sie gar keine Zauber- und Fallenkarten besaß. Dieser Dreckskerl!

Und es war genau, wie sie es vermutet hatte. Nacheinander tauchten vor ihrem Bruder die Hologramme der tatsächlichen Zauberkarten auf. Arfeudutyr, Caliburn, Excaliburn II und die [Noble Arms Of Destiny] von Artus sowie Lancelots Gallatin. Der Ritterkönig wirbelte herum und schleuderte von seinem Breitschwert drei kreischende Lichtblitze, die die Karten von Arfeudutyr, Caliburn und Gallatin vernichteten. Letztes verschwand aus Lancelots Hand und wurde durch ein rot glühendes ersetzt.

Doch keine Sekunde später manifestierten sich zwei der Schwerter wieder und schwebten wie schützende Schilde um Artus herum in der Luft. Es waren das goldene Caliburn und das schlichte Gallatin.

 

Artorigus, King Of The Noble Knights [ATK/0 → 1500 DEF/2000 {4} OLU: 0]

 

„Das ist der Vorteil der Noble Arms, die sich einmal pro Zug nach ihrer Zerstörung erneut ausrüsten lassen“, sagte Zachariah und steckte die Hände in die Hosentaschen, „nun, für Arfeudutyr habe ich keine Verwendung. Ich brauche die freie Zone, verstehst du?“

Anya knirschte mit den Zähnen. Ihr beknackter Bruder war klug genug, nicht seine ganze Backrow zu verstopfen. Zumindest war es jetzt leichter für sie, einen Überblick zu wahren, welcher der beiden Ritter welche Waffe besaß: Artus alle, Lancelot keine.

Mit nach vorne gestreckter Hand verkündete Zach derweil: „Da Caliburn kurz auf dem Friedhof lag, ist ihr 'einmal pro Zug'-Effekt zurückgesetzt worden. Also erhalte ich nochmal 500 Lebenspunkte.“

Wieder schüttete es blaue Partikel über ihm, was Anya schnaufend zur Kenntnis nahm.

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 1200LP → 1700LP]

 

„Dass ich die freie Zone brauche hat seinen Grund.“ Er ballte die Hand zu einer Faust. „Er hört auf den Namen [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms].“

An jene erinnerte sich Anya sofort. Diese kindliche Königin mit den zu zwei Zöpfen geflochtenem, braunen Haar hatte dafür gesorgt, dass ihr Lead Yoke draufgegangen war! Und genau diese Königin tauchte plötzlich als Geist hinter dem schwarzen Ritter auf und umklammerte ihn, während er sich aus seiner Hocke erhob.

„Sie lässt sich nicht nur von der Hand, sondern auch vom Friedhof aus an einen Noble Knight ausrüsten. Jede Runde einmal.“

 

Ignoble Knight Of High Laundsallyn [ATK/0 → 300 DEF/900 (5)]

 

Nervös drehte Anya den Kopf in Hoffnung auf stillen Beistand zur Seite, doch erschrak, als sie in den mittleren Reihen, bei einer der Treppen, Zanthes Platz leer vorfand.

„Wo ist-!?“

„Hier spielt die Musik!“, raunte Zachariah streng. „Wenn auch nur noch für einen kurzen Augenblick, also höre lieber gut hin! [Ignoble Knight Of High Laundsallyn], greife [Battlin' Boxer Glassjaw] an!“

Erschrocken drehte Anya den Kopf in Richtung des Duellfeldes und sah nur noch, wie der schwarze Ritter mit gezückter Klinge auf den hünenhaften Boxer zu stürmte. Die Klinge direkt auf dessen Brust gerichtet, war Lancelot bereit, den Todesstoß zu versetzen. Völlig unerwartet jedoch zersprang Glassjaw, noch bevor er überhaupt getroffen wurde.

Zach legte den Kopf schief. „Hm?“

„Das war der negative Effekt meines Monsters: Es wird sofort zerstört, wenn er angegriffen wird. Daher auch sein Name, Glassjaw!“, erklärte Anya angespannt.

„Na wenn das so ist? Direkter Angriff!“, befahl ihr Bruder unbekümmert.

Sein unedler Ritter rannte einfach weiter, stieß sich vom Boden ab und versuchte Anya durch einen Sprungangriff niederzustrecken. Die hob ihr rotes D-Pad und parierte, woraufhin eine Explosion folgte.

 

[Anya: 1300LP → 1000LP / Zachariah: 1700LP]

 

Noch während der Rauch sie umhüllte, huschte Lancelot aus diesem hervor und positionierte sich wieder vor seinem Besitzer. Der schnalzte mit der Zunge. „Dann kommt jetzt das große Finale. [Artorigus, King Of The Noble Knights], lösche ihre letzten Lebenspunkte aus!“

König Artus, der das riesige Schwert bisher mit einer Hand führte, umschloss es nun mit beiden und begann auf die Rauchwolke zu zu rennen. Wie sein finsterer Kamerad, stieß er sich etwa in der Mitte des Spielfeldes vom Boden ab, hoch in die Luft. Das Publikum hielt den Atem an. Das Schwert weit ausholend, stürzte er sich hinab.

„Das wird nicht gut ausgehen!“, prophezeite der Kommentator aufgeregt.

In die Wolke eindringend, ließ Artus seine Klinge nach unten fahren. Das laute Donnern von Metall auf Metall war zu hören. Und der Qualm verzog sich.

„Och nö“, nölte Zachariah.

Nicht etwa Anya war es, die den Angriff abgewehrt hatte, sondern ein Monster auf ihrer Spielfeldseite. Es war ein mit rotem Brustpanzer und Beinschienen versehener Boxer, an dessen Unterarmen zwei Hälften eines runden Metallschildes befestigt waren, welche er zu einem perfekten Ganzen zusammenhielt. Die sichtbare Einkerbung darin zeigte, dass Artus' Schwert daran abgeprallt war. In gebeugter Haltung verharrte der König vor seinem Widersacher.

 

Battlin' Boxer Veil [ATK/0 DEF/1800 (4)]

 

„Pech für dich“, raunte Anya, „du hättest nicht mit Lancelot angreifen sollen, nachdem Glassjaw sich zerstört hat. Damit hast du nämlich seinen zweiten Effekt ausgelöst …“

 

Gleich als dieser zersprang, schob sich eine Karte aus Anyas Friedhof hervor. Jene nahm sie in ihr aus zwei Karten bestehendes Blatt auf. Sofort im Anschluss schnellte auch schon der schwarze Ritter auf sie herab, den sie mit ihrer Duel Disk abwehrte. Gleich nachdem er die Rauchwolke verließ, legte Anya die eben erst erhaltene Karte auf ihre Duel Disk, wodurch der Boxer vor ihr erschien.

 

„Glassjaw kann einen KO gegangenen Battlin' Boxer von meinem Friedhof auf meine Hand zurückholen.“ Das Mädchen deutete dabei auf ihr Monster. „Das war er, der vorhin durch [Battlin' Boxing Spirits] dort landete.“

Zach zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Nochmal Glück gehabt, was?“

„Yeah. Da sich [Battlin' Boxer Veil] nur spezialbeschwören lässt, wenn du mir Schaden zufügst, wäre es ohne deinen ersten Angriff nicht gut gegangen“, erklärte Anya, „aber wenigstens gleicht er auch den Schaden aus, wenn er beschworen wird.“

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 1700LP]

 

„Was für ein unerwartetes Manöver von Anya Bauer!“, schrie Mr. C ins Mikrofon. „Damit kommt ihr Bruder nicht mehr an ihre Lebenspunkte heran!“

„Ein Replay also. Ich stoppe den Angriff natürlich“, murmelte Zach verstimmt.

Einige der Zuschauer pfiffen und jubelten, andere wiederum buhten das Mädchen schamlos aus. Jenes mahnte sich, bloß nicht darauf zu achten, auch nicht auf die Kameramänner, die sie jetzt von allen Seiten umlagerten.

„So funktionierst du eben. Einmal in die Ecke gedrängt, versuchst du mit aller Macht, dir etwas Zeit zu verschaffen“, stichelte Zach und griff nebenbei nach seinem Friedhof.

Anya runzelte die Stirn. „Was soll ich sonst machen, mich besiegen lassen!? Lern' erstmal das Spiel, du Amateur!“

Der Spruch hätte auch von Zanthe stammen können, fiel ihr nebenbei auf. Und wenn sie ihren Bruder nur halb so nervten wie sie manchmal, war es nur gut, dass der Flohpelz abfärbte!

„Das würde dir zumindest ein unangenehmes Erlebnis nach dem anderen ersparen. Aber du willst es ja so“, erwiderte er und zeigte eine Karte vor, „erinnerst du dich an die hier noch?“

Anya betrachtete die Zauberkarte, [Noble Arms – Excaliburn]. Es war ein goldener Einhänder, bestehend aus einer roten und einer blauen Klingenhälfte – das originale Excalibur.

„Die hattest du an Borz ausgerüstet gehabt.“

„Oh? Hast du dein Gedächtnis trainiert?“ Zachariah lachte spöttisch. „Ja, das war diese Waffe. Warum glaubst du, habe ich sie nicht wieder ausgerüstet?“

Anya zuckte mit den Schultern. „Um mir dumme Fragen stellen zu können?“

„Weil sie im Friedhof einen Effekt hat, der jedoch nicht im selben Zug aktiviert werden kann, in dem sie dort landet. Main Phase 2 …“

Der große Blonde schob die Karte in die Verbannungszone seines D-Pads. Plötzlich verwandelte sich der Boden um seinen König Artus in die Oberfläche eines Sees. Aus diesem stieg jene sagenumwobene Klinge hervor, nach der der brünette Ritter griff.

„Excaliburn setzt die wahre Kraft von [Artorigus, King Of Noble Knights] frei.“ Schlagartig riss Zach den Arm in die Höhe. „Ich rekonstruiere das Overlay Network!“

Anya stieß einen entsetzten Schrei aus, als sich der See in den schwarzen Wirbel des Überlagerungsnetzwerks verwandelte und Artus als goldenen Lichtstrahl in sich zog.

„Rank-Up Incarnation! Rang 5, erscheine, [Sacred Noble Knight Of King Artorigus]!“

Ein gleißender Lichtblitz schoss aus dem Schwarzen Loch. Als er abklang, schwebte der sichtlich gereifte Artus über dem Boden, nun in einer blau leuchtenden Silberrüstung steckend. Um ihn kreiste eine Energiekugel.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2200 DEF/2200 {5} OLU: 1]

 

Mit einem strengen Blick betrachtete der Ritterkönig Anya, deren leicht geöffneter Mund mehr aussagte als tausend Worte. Hatte ihr Bruder gerade-!?

„Wie du siehst, ist Artorigus unbewaffnet. Da ich die Effekte von Gallatin und Caliburn schon einmal benutzt habe, können sie sich nicht noch einmal an ein neues Monster ausrüsten“, erklärte Zach derweil unbeschwert weiter, „daher rüste ich sie mit dem Effekt meines Monsters aus: Bei seiner Xyz-Beschwörung erhält es drei Noble Arms.“

Genau wie seine Vorstufe, schoss es Anya durch den Kopf. Das Monster ihres Widersachers streckte zu beiden Seiten die Arme aus und öffnete die Hände. In der einen tauchte das goldene Schwert [Noble Arms – Caliburn] auf, in der anderen der eigentliche Zweihänder [Noble Arms – Excaliburn II]. Zusätzlich manifestierte sich an seinem Arm der leuchtende Schild, die [Noble Arms Of Destiny].

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2200 → 2700 DEF/2200 {5} OLU: 1]

 

Zachariah legte eine Hand ans Kinn und neigte den Kopf seitwärts. „Soll ich? Oder soll ich nicht?“

„Was!?“

„Ach, nichts. Ich warte noch. Aber da Caliburn kurzzeitig auf dem Friedhof war, ist sein Effekt zurückgesetzt worden. Also heile ich mich um 500 Punkte!“

Artus streckte sein erstes Schwert in die Höhe und ließ über Zach einen blauen Energieregen niederprasseln.

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 1700LP → 2200LP]

 

Mr. C war völlig aus dem Häuschen und brüllte: „Unglaublich! Nicht nur hat Zachariah Bauer ein Rank-Up vollzogen, er hat auch die Ausgangssituation des letzten Zuges wiederhergestellt!“

Oh, am liebsten würde Anya diesen Spinner erwürgen! Als ob sie das nicht wüsste! Wie es dieser elenden Kackratte aber auch gelang, sich über Wasser zu halten!

Die ihrerseits verschränkte die Arme. „Nun, heben wir uns die nächste Überraschung für dich doch noch etwas auf. Zug beendet.“

 

Gerade griff Anya nach ihrem Deck, da fragte Zachariah neugierig: „Weiß Dad überhaupt, dass du hier bist?“

„Warum willst du das wissen!?“ Auf Anyas Stirn bildete sich eine zornige Falte. „Ich wette, der hat keine Ahnung …“

Ihr Bruder zuckte unbedarft mit den Schultern. „Schon möglich, hab auch schon länger nicht mehr mit ihm gesprochen.“

„Tja, Dad kümmert sich eben nicht um seine Kinder.“

„Vielleicht sind wir drei einfach zu viel für ihn gewesen?“

„Tch!“ Entgegen der Hausordnung des Stadions spuckte Anya zur Seite aus. „Mum konnte nichts für das, was Dad getan hat. Das war allein sein Fehler!“

Zach brach plötzlich in schallendes Gelächter aus. Er fasste sich sogar an den Bauch und die Stirn, ehe er Anya belustigt ansah. „Ich möchte behaupten, das schon einmal gesagt zu haben, aber: Zu so etwas gehören immer zwei Seiten, liebes 'Schwesterherz'. Außerdem: Wann habe ich je behauptet, dass Mum Teil der Gleichung ist?“

Als das Mädchen ihn aber nur mit ihrem typischen, manche würden sagen leicht debilen Gesichtsausdruck ansah, fügte er hinzu: „Ich rede von unserem Halbbruder. Dem letzten Nagel im Sarg unserer Familie.“

 

~-~-~

 

Zanthe musste unweigerlich in sich hineingrinsen. Schon wieder hatte er das Turnier vorzeitig verlassen, weil er jemanden verfolgte. Wenigstens war es diesmal die richtige Person, wie ihm ein Blick quer durch die Straßenbahn verriet. Weiter drüben saß er in dem überfüllten Verkehrsmittel, mit dem Rücken zum Fenster: Kakyo, vertieft in eine Zeitschrift.

 

Der Werwolf war schon die ganze Zeit am überlegen, aus welchem Grund der brünette Bursche Anyas Duell beigewohnt hatte. Bloße Neugier? Die Konkurrenz in Aktion sehen? Oder war da mehr im Spiel? Etwas, das mit seiner Verbindung zu Kyon zu tun hatte?

Während Anya sich die letzten zwei Tage auf ihr Duell mit Zachariah vorbereitet hatte, war Zanthe dem jungen Mann so oft wie möglich auf Schritt und Tritt gefolgt. In der Hoffnung, dadurch etwas herauszufinden. Doch Fehlanzeige, Kakyo war so normal, normaler ging es gar nicht. Er telefonierte stundenlang mit seiner Freundin, kaufte sich lieber in einem Supermarkt Essen, statt teure Restaurants zu besuchen und bereitete sich auf seine Spiele vor, indem er mitten in der Nacht seine Karten vor sich auf dem Tisch ausbreitete und über ihre Verwendung lauthals grübelte.

Und der sollte Kyon kennen? Zanthe zweifelte langsam daran. Vielleicht hatte er Exa missverstanden oder womöglich war der auch mit den Namen durcheinander gekommen, weil er Kakyos irgendwo aufgeschnappt hatte. Doch das würde sich erst klären, wenn er mit jenem ein Wort wechselte. Und diese Gelegenheit wollte Zanthe nun abpassen. Wenn keiner zusah. Für den Fall, dass doch etwas Unnormales geschah.

 

Die Straßenbahn hielt an der Ecke Covet Street. Kakyo erhob sich von seinem Platz und verstaute im Gehen zur Tür sein Magazin in seiner Umhängetasche. Auch Zanthe stand auf und schob sich an den anderen Fahrgästen vorbei.

Kaum war er draußen, wartete er einen Moment. Den Geruch des jungen Mannes hatte er sich inzwischen eingeprägt. Es war besser, ihm nicht so dicht auf den Fersen zu sein, am Ende wurde er nur vorzeitig bemerkt. Solange er seiner Spur mit der Nase folgen konnte, musste er ihm nicht direkt am Hintern kleben.

Nachdem er einen Moment gewartet hatte, bog er, wie Kakyo, an der Kreuzung rechts ab. Dort in der Ferne sah er ihn unbekümmert geradeaus laufen. Zanthe setzte zur Verfolgung an. Er musste sich etwas überlegen, schließlich würde sein Ziel kaum in eine dunkle Gasse abbiegen und darauf warten, verhört zu werden.

Zanthe wusste, wohin der junge Mann unterwegs war: Sein Hotel. Das machte er immer. Statt ein Taxi zu nehmen, benutzte er lieber öffentliche Verkehrsmittel. Allerdings musste er auch mit den zehn Minuten Fußweg leben, die damit verbunden waren. Zehn Minuten, in denen sich Zanthe etwas einfallen lassen musste, wie er ihn ganz für sich hatte. Ohne störende Zeugen. Nur gab es dieser hier mehr als genug.

 

Schritt um Schritt folgte Zanthe dem linearen Pfad, ohne einen passenden Angriffspunkt zu finden. An dunklen Ecken mangelte es diesem Teil der Stadt zwar nicht, doch wie sollte er Kakyo unbemerkt in eine jener locken?

Gerade als er sich dazu durchrang, von der Verfolgung vorerst abzulassen, riss ihn jemand beinahe von hinten um.

„Na, Kumpel?“

Exa hatte seinen Arm um Zanthes Schulter gelegt.

„Was machst du denn hier!?“, fragte Letzterer erschrocken und sah auf zu dem jungen Mann, dessen blond gefärbter Haarschopf zu Dreadlocks geflochten und zu einem Pferdeschwanz gebunden war, während die beiden Seiten kurz rasiert und von Natur aus schwarz waren.

Wie immer trug er seinen Kopfhörer um den Hals, aus dem seltsame Musik dudelte. „Wohl dasselbe wie du.“

„Du … du verfolgst ihn?“

„Jap“, nickte Exa.

 

Zanthe hatte ihm gestern davon erzählt. Nachdem er vor dem sich anbahnenden Streit geflüchtet war, hatte er sich mit seinem neuen Freund getroffen und ihm sein Leid geklagt. Exa war ein sehr verständnisvoller, wenn auch nicht immer ernsthafter Zeitgenosse. Statt einen Rat zu geben, wie sich Zanthe in der Situation verhalten sollte, lautete sein Vorschlag, lieber den süßen Kellner anzurufen und sich die Zeit mit ihm zu vertreiben. Etwas, das Zanthe aus mehreren Gründen niemals getan hätte und über jeden davon hatte sich Exa lustig gemacht.

Trotz allem war es ein heiterer Tag geworden, auch wenn Zanthe nicht gelungen war, besonders viel über Exa in Erfahrung zu bringen. So lebte er sehr abgeschieden vom Rest der Welt in, Zitat, 'mericuh, zog aber öfter los und jagte Dämonen. Hauptsächlich Hybrids, von denen Zanthe noch nie in irgendeinem Zusammenhang gehört und über die der Blonde auch nicht wirklich reden wollte.

Während sie Ephemeria Citys Straßen unsicher gemacht hatten, war auch die Sprache auf Kakyo und Kyon gekommen.

 

Als Exa den Kopftuchträger schließlich losließ, fragte der: „Und? Ist er der, der dir neulich geholfen hat?“

Der Größere brach in schallendes Gelächter aus. „Der? Nein! Noch nie gesehen.“

„Aber sein Name ist Kakyo.“

„Vielleicht gibt es mehrere mit diesem Namen?“

Zanthe schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht.“

Irgendwie erinnerte ihn das an gestern, wo er dieselbe Ausrede verwendet hatte. War das so eine Art Karma, dass das jetzt auf ihn zurückfiel und er nicht wusste, wie er das Geheimnis um diesen Namen lösen sollte?

„Wieso verfolgst du ihn überhaupt? Ich habe dich nicht darum gebeten“, murrte Zanthe trotzig. „Er könnte gefährlich sein, weißt du?“

„Mach dir keine Sorgen um mich, ich kann auch gefährlich sein“, gluckste Exa unbekümmert und zuckte mit den Schultern, „ich dachte nur, da du heute Anya beim Kartenspielen zugucken wolltest, dass irgendjemand in der Zeit den da im Auge behalten sollte.“

Er zeigte in Kakyos Richtung, welcher unbekümmert seiner Wege zog. Gerade trat er in den Schatten einer Brücke, die Bestandteil einer der Riding Duel-Strecken dieser Stadt war.

„Heißt das, du warst auch im Stadion?“

„Könnte man so sagen“, meinte Exa geheimnisvoll und zwinkerte.

„Ich habe dich gar nicht bemerkt! Nicht mal gerochen.“ Zanthe verschränkte die Arme. „Okay, da waren viele Gerüche, aber-!“

„Die ganze Zeit stand ich neben dir.“

Der Schwarzhaarige blieb abrupt stehen, als die beiden ebenfalls unter die Brücke traten.„Was!? Das kann nicht sein!“

Exa lief noch ein Stück weiter und hielt genau dort, wo der Schatten der Brücke ihn regelrecht verschluckte. Mit einem diebischen Grinsen drehte er sich zu seinem Freund und holte etwas aus seiner Hosentasche. „Fang.“

Zanthes Brieftasche landete auf dessen ausgestreckten Handflächen. Mit geweiteten Augen sah er zu seinem Freund auf, ehe er mit Mühe und Not seine Beherrschung wahrte. „Was soll das!?“

„Ich wollte nur testen, ob Werwölfe mich noch wahrnehmen, wenn ich das hier mache.“ Plötzlich hielt er sich die Hand vors Gesicht – und war verschwunden.

 

Verloren starrte Zanthe in die Leere, die eben noch ein großer, junger Mann gewesen war. Ein Auto fuhr an ihnen vorbei.

„Buh!“

Unter einem entsetzen Schrei wich Zanthe zurück, als Exa direkt vor ihm wieder auftauchte. Nicht der Laut an sich war jedoch, was den Schwarzhaarigen so erschreckt hatte. Dort, wo sein Gesicht war, leuchtete ein hellblaues Symbol und verdeckte den größten Teil davon. Wie ein Schmetterling mutete es in seiner absolut symmetrischen Form an, mit dem Unterschied, dass die flügelartigen Auswüchse spitz zuliefen.

„Was in aller Welts Namen ist das!?“

„Ein kleiner Trick!“ Plötzlich streckte Exa die flache Hand vor Zanthes Gesicht aus. Ein Blitzlicht blendete jenen kurz.

„Hey!“ Für einen kurzen Moment sah Zanthe noch unscharf Teile desselben Musters vor seiner Nase, welches jedoch sofort verschwand.

„So, jetzt wirkt er auch auf dich. Damit sieht uns niemand, solange wir nicht direkt vor der Person stehen“, erklärte Exa belustigt und zwinkerte, „so, wollen wir uns jetzt um ein kleines Verhör kümmern? Die Gelegenheit ist günstig.“

Er zeigte in Kakyos Richtung, der gerade aus dem Schatten der Brücke trat. Wenige Meter von ihm entfernt führte eine schmale Gasse an einer Kneipe vorbei.

Zanthe war sich nicht sicher, ob er beeindruckt oder alarmiert sein sollte. „Wo hast du das gelernt?“

„Ist doch egal, solange es uns hilft. Komm.“ Exa drehte sich um und begann zu rennen, doch bemerkte sofort, dass Zanthe ihm nicht folgte. Kurz hielt er an. „Wenn du nicht willst, ziehe ich das auch alleine durch. Deine Entscheidung.“

„Wieso tust du das?“

Das Gesicht unter dem Schleier des Zaubers verborgen, sah Exa über seine Schulter. „Weil wir Freunde sind. Und du meine Hilfe brauchst.“

Zanthe stieß einen trockenen Lacher aus. „… du hast echt 'ne Meise.“

Er setzte sich in Bewegung und als er zu Exa aufgeholt hatte, fügte er aufrichtig hinzu: „Danke.“

 

~-~-~

 

Es war mucksmäuschenstill im Stadion. Man musste sich in der Szene nicht gut auskennen, um zu begreifen, dass es so etwas noch nie gegeben hatte. Ein Familiendrama während einer Fernsehübertragung.

Anya starrte ihren Bruder mit einer gefährlichen Mischung aus Faszination und Ekel an. Dann winkte sie grimmig ab. „Der war gut, Drecksack! Um ein Haar hätte ich es geglaubt!“

„Es ist die Wahrheit. Dad hat ein drittes Kind.“

Geradezu höhnisch fragte Anya: „Und wie soll es heißen? Wenn du jetzt Redfield sagst, muss ich dich leider töten. Nicht, dass mir das was ausmachen würde, aber-!“

„Nun, da du mir ohnehin nicht glaubst, brauche ich dir den Namen auch nicht zu nennen“, gab sich Zach plötzlich gleichgültig.

Das stank doch zum Himmel, dachte Anya insgeheim. Der wollte sie bloß durcheinander bringen, damit sie Fehler machte. Wenn da auch nur im Entferntesten etwas dran wäre, hätte Mum ihr das längst gesagt. Ihre Mutter hatte keine Geheimnisse vor ihr, auch wenn dieses Vertrauensverhältnis schon immer eher einseitiger Natur war. Nie im Leben hatte Dad ein drittes Kind, redete sich Anya ein.
 

Fauchend griff sie letztlich nach ihrem Deck und zog schwungvoll auf. „Dafür gibt’s jetzt ein paar aufs Maul, du elende Kackbratze!“

„Ich fasse es nicht, was sich uns hier für Abgründe auftun, liebe Zuschauer!“

„Du halt ja die Klappe!“, schnauzte Anya in eine der Kameras an den Kommentator gerichtet. „Wehe, ich höre noch ein Wort davon! Dieser Dreckskerl da schauspielert nur! Kapische?“

Mit dem Zeigefinger deutete sie auf Zach, der abwesend ins Leere starrte.

 

Wenn sie sich vor Augen hielt, was allein auf den Szeneblogs losgewesen war, weil sie sich ihren Weg ins Turnier gekämpft hatte, wie würde dieses Schauspiel dann erst einschlagen? Vermutlich gab es in den Klatschblättern nichts anderes mehr zu lesen, als Berichte über den Familienstreit der Familie Bauer. Gott, wie sie ihren Bruder dafür hasste! Aber selber schuld, immerhin war sie darauf eingegangen, tadelte sich Anya ungewohnt selbstkritisch. Was auch nur daran lag, dass genau so etwas in ihrem Bild einer perfekten Duel Queen nicht vorkam.

Die Duel Queen hatte über allen anderen zu stehen. Sie machte die Ansagen, sie dominierte jeden! Das Duellfeld war ihr Schlachtfeld und auf dem hatte Privates nichts zu suchen. Und, nicht zu vergessen, sie konnte ihre Gegner und alle anderen nach Herzenslust zur Schnecke machen!

Schon der Gedanke daran, dass Zach ihr das nehmen wollte, ließ das Blut in ihren Adern kochen.
 

So verwunderte es nicht, dass sie nach einer längeren Pause schließlich unvermittelt ein Monster auf ihr D-Pad knallte und damit sicherlich den ein oder anderen Zuschauer wachrüttelte.

„Ich beschwöre [Battlin' Boxer Shadow]!“, schrie sie förmlich.

Sofort tauchte neben ihrem [Battlin' Boxer Veil] ein in Schwarz gehaltener Boxer auf, der in so schneller Folge mit der Linken und Rechten in die Luft schlug, dass man seinen Bewegungen kaum folgen konnte. Dabei flatterten zwei Schale um seinen Hals.

 

Battlin' Boxer Shadow [ATK/1800 DEF/1400 (4)]

 

Mit scheelem Blick sah sie von einem Krieger zum anderen. Denn sie hatte noch eine kleine Überraschung für ihren Bruder parat.

„Ich erschaffe das Overlay Network!“, verkündete Anya und streckte den Arm in die Höhe. „Aus meinen beiden Stufe 4-Monstern wird ein Rang 4-Monster!“

Ihre beiden Boxer lösten sich in rote Energiestrahlen auf. Gleichzeitig öffnete sich inmitten des Spielfelds der schwarze Wirbel und absorbierte die verwandelten Monster.

„Xyz Summon!“, donnerte Anya und formte die nach oben gerichtete Hand zu einer Faust. „Träger der Hoffnung, zeige dich! [Daigusto Emeral]!“

Aus dem Überlagerungsnetzwerk schwebte eine grüne, humanoide Gestalt empor. Sie ähnelte stark Anyas [Gem-Knight Emerald], doch fehlten an ihrer glänzenden Rüstung die entsprechenden Edelsteine. Stattdessen verfügte der Ritter jetzt über, an den Rändern gezackte, Schilde sowie ein paar metallischer Flügel, welche in organische, grüne Federn übergingen.

In gebeugter Haltung positionierte sich der Krieger vor Anya, wobei ihn zwei Lichtkugeln umkreisten.

 

Daigusto Emeral [ATK/1800 DEF/800 {4} OLU: 2]

 

In Zachs weit aufgerissenen Augen stand deutlich der Schock geschrieben. „Was ist das? Das ist kein Gem-Knight, aber-!?“

„Das ist ein Monster, das mir einst sehr geholfen hat, auch wenn es noch nie in einem Duell benutzt wurde“, erklärte Anya. Und dachte im Zuge dessen zurück an den Tag von Valeries geplatzter Hochzeit, als Henry ihr die drei Karten – geschaffen durch seinen Deal mit dem Sammler – gegeben hatte. Jene, die sie einst im Turm vor Neo Babylon vor den lähmenden Kräften des Tores Eden beschützt hatten. „Ich finde, es ist nur fair, ihm jetzt etwas Screentime einzuräumen!“

Sie hatte die Monster nie in ihr Deck integriert, weshalb sie nicht zusammen mit ihren anderen Karten gestohlen worden waren. Und jetzt waren jene ihr Trumpf!

 

Auch Henry in der gläsernen Lounge ganz am oberen Ende des Stadions wusste darum und war von dem Sofa aufgesprungen. Vor ihm saß Mr. C, ein bereits in die Jahre gekommener, schwarzhaariger Mann mit Elvistolle, an einem Pult und schrie ins Standmikrofon: „Was ist das für ein Monster? Davon habe ich noch nie gehört!“

„Sehr gut!“, strahlte Henry und sah über einen Laptop an Mr. Cs Platz Anyas Gesicht, wie sie kampflustig in die Kamera grinste. „Enttäusch' mich jetzt nicht, Anya!“

Die rothaarige Melinda neben ihm strahlte nicht weniger. „Da werden Erinnerungen wach. Auch wenn ich damals Angst hatte, war es doch irgendwie auch … aufregend.“

„Sei froh, dass du rechtzeitig aus dem Kristallsaal fliehen konntest. Wir hatten nicht so viel Glück“, murrte Henry schon im nächsten Moment wieder in seiner gewohnten, miesepetrigen Art.

Seine Schwester schlug die Beine übereinander und lachte. „Da hast du auch wieder Recht.“

„Egal“, sagte Henry mit Blick auf den Bildschirm, „hoffen wir, dass sich das Wunder von damals wiederholt.“

 

Von Anyas Entschlossenheit aus zu urteilen, hätte man durchaus der Meinung sein können, dass dem so war. Denn als sie unter ihr neues Monster griff und eines seiner Xyz-Materialien hervorzog, stand das wahrhaftige Feuer in ihren Augen. „Jetzt wirste dein blaues Wunder erleben!“

Emeral hielt daraufhin einen der Schilde an seinen Armen in die Höhe und absorbierte eine der leuchtenden Sphären damit.

 

Daigusto Emeral [ATK/1800 DEF/800 {4} OLU: 2 → 1]

 

Anya rief: „[Daigusto Emerals] Effekt lässt ihn ein Nicht-Effekt-Monster von meinem Friedhof beleben!“

„Wann hast du so eins jemals gespielt?“, fragte Zachariah daraufhin irritiert. „Hat mein Angriff vorhin ein paar deiner Synapsen verkohlt?“

„Bist wohl doch nicht so schlau wie du dich gibst. Denk mal scharf nach, welches meiner Monster könnte ich wohl meinen?“

Zwar stieß Zach im Anschluss einen Laut der Erkenntnis aus, doch Anya lieferte ihm bereits die Antwort, indem sie die Karte aus ihrem Friedhof nahm und vorzeigte. „Bingo!“

Sie schmetterte Levrier mit voller Wucht auf das D-Pad. Neben ihrem [Daigusto Emeral] öffnete sich ein Runenportal, aus welchem der weiße Ritter stieg, von seinen sieben Riesenperlen umgeben.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 0]

 

„Für gewöhnlich mag er zwar nutzlos und schwach sein“, stichelte Anya mit diebischem Grinsen, „aber hin und wieder hat selbst er seine fünfzehn Minuten Ruhm! Willkommen zurück!“

Erwartungsvoll beobachtete die Blonde ihre Signaturkarte. Doch als diese sich weder rührte, noch einen frechen Spruch abließ, verging dem Mädchen das Lachen. Nervös fragte sie: „Was ist los?“

Als wieder keine Antwort kam, richtete sie sich zornig an ihren Bruder. „Was hast du ihm angetan!?“

„Nichts?“, mimte der vor dem Publikum den Ahnungslosen. „Dein Pearl ist doch auf dem Feld, alles bestens? Oder erwartest du ernsthaft, dass er dir antwortet?“

Rote Äderchen traten aus Anyas Augapfel hervor, als Zach den Satz mit einem zuckenden, rechten Mundwinkel beendete. Er wusste genau, was sie von ihm wissen wollte und selbst ohne weitere Worte gab er ihr mit einem Blick zu verstehen, dass er Levrier nicht einfach mit seiner Zauberkarte zerstört hatte. Ihr Partner war langfristig außer Gefecht gesetzt worden. Oder schlimmer …

„Du …!“, knurrte Anya und ballte eine Faust.

Dabei lag ihr Augenmerk auf seinen beiden Monstern, dem schwarzen Ritter Laundsallyn und König Artus. Und sie wusste, wie sie -es- anstellen musste!

„Ganz egal was du ihm antust, er ist immer bei mir“, rief sie und schwang den Arm zur Seite aus, „deswegen werde ich ihn beschützen, egal was es mich kostet! Ich greife deinen Gothic-Ritter mit [Daigusto Emeral] an! Emerald Storm!“

Der beflügelte Ritter stieg in die Höhe und streckte beide Hände nach vorne aus, geballt zu Fäusten, genau wie bei seiner Besitzerin: Dann schoss er die beiden Schilde ab, die sich in der Luft wie die Sägeblätter einer Kreissäge drehten.

Zach griff nach seinem D-Pad. „Das ist keine gute Idee! Denk an [Gwenhwyfar, Queen Of The Noble Arms]! Mit ihr kann ich sofort das Monster zerstören, das mit Laundsallyn kämpft.“

Seine Schwester verzog keine Miene. Die Finger des Blonden berührten schon den Rand der Karte, als die tödlichen Waffen von beiden Seiten im hohen Bogen auf den Ritter zuschossen. Doch plötzlich ließ er von der Karte ab. „Verstehe! Genau das willst du!“

Und sie schlugen in Laundsallyn ein, welcher lautstark explodierte.

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 2200LP → 700LP]

 

Anya keuchte angespannt.

„Dachtest du ernsthaft, ich falle auf so etwas herein? Hätte ich deinen Emeral jetzt zerstört, hättest du mit Pearl den finalen Schlag ungehindert durchführen können, da Laundsallyn danach völlig schutzlos gewesen wäre“, erklärte Zachariah den Plan seiner Gegnerin, „deshalb hast du auch nicht mit Pearl angegriffen.“

„Falsch!“, widersprach Anya. Zwar wäre dies der Idealfall gewesen, doch sie hatte nie damit gerechnet, dass er wirklich eintritt. „Ich habe lediglich dafür gesorgt, dass beide meiner Monster überleben. Wie du richtig festgestellt hast, hättest du Pearl sofort zerstört. Da ich aber mit Emeral angegriffen habe, warst du praktisch dazu gezwungen, auf den Effekt von dieser Sumpfkuh zu verzichten, eben weil du verhindern musstest, dass Pearl danach Laundsallyn angreift!“

„Das wird immer spannender! Nicht nur hat Anya Bauer die Lebenspunkte ihres Bruders wieder auf ein Minimum gesenkt, nein, es scheint, als würde sie ein starkes Band mit [Gem-Knight Pearl] verbinden!“

Wie immer war der Kommentator außer sich, selbst wenn es um das Offensichtliche ging. Anya runzelte die Stirn. Irgendwie musste sie hier heil wieder herauskommen. Artus konnte sie nicht angreifen, der war um lächerliche 100 Punkte zu stark für Pearl.

Sie sah ihr Blatt an. Zwei Karten standen ihr noch zur Verfügung. Sie nahm eine davon und legte sie in das D-Pad ein. „Die setze ich. Zug beendet!“

Zischend materialisierte sich die Karte vor ihren Füßen.

 

„Ein starkes Band, hm?“ Als Zach zog, legte er ein hässliches Grinsen auf. „Mal sehen, ob ich es durchtrennen kann!“

Anya verzog eine grimmige Fratze. „Das kannst du nicht!“

„Wart's ab!“ Mit den beiden Karten in der Hand, griff er nach Artus' Karte und zog das einzelne Xyz-Material darunter hervor. „Ich aktiviere [Sacred Noble Knight Of King Artorigus'] Effekt!“

Jener streckte die beiden Schwerter in seinen Händen in die Höhe und hielt sie über Kreuz. Dunkle Wolken zogen inmitten des Stadions auf, welche die Zuschauer in lautstarkes Staunen versetzten.

„Death Penalty“, hauchte Zachariah eisig.

Ein Blitz schlug in das Caliburn-Excaliburn II-Duo ein, den Artus schnurstracks auf Pearl schleuderte, indem er die Klingen nach vorne schwang.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2700 DEF/2200 {5} OLU: 1 → 0]

 

Anya schloss die Augen. „Als ob …“

Blind ließ sie die Hand über ihre gesetzte Karte fahren, die unmittelbar aufsprang. „Dein Artorigus hat Alzheimer.“

Kurz vor Levriers Brust verpuffte der Blitz. Irritiert betrachteten sowohl der Ritterkönig, als auch Zachariah die Karte namens [Memory Loss], ehe Ersterer plötzlich in die Knie ging.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2700 DEF/2200 {5} OLU: 0]

 

Die Augen wieder öffnend, erklärte Anya: „[Memory Loss] ist eine coole Falle, die mir Summers nahegelegt hat. Sie negiert einen Monstereffekt auf dem Feld und wechselt dessen Position.“

„Hmpf!“, schnaubte Zachariah ärgerlich. „Dann benutze ich jetzt Gwenhwyfars Effekt vom Friedhof und rüste sie an Artorigus aus.“

Blasse, fast geisterhafte Arme legten sich um die Schultern des Königs, als sich die junge, brünette Königin mit den Zöpfen an ihn schmiegte und anschließend verschwand.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2700 → 3000 DEF/2200 {5} OLU: 0]

 

In seiner knienden Position hob jener plötzlich sein kürzeres Schwert Caliburn in die Höhe, sodass über Zach ein blauer Energieregen niederging. „Du kennst das ja mittlerweile …“

 

[Anya: 1300LP / Zachariah: 700LP → 1200LP]

 

Eindringlich betrachtete er eine Falle auf seiner Hand. Dann schnalzte er mit der Zunge und schob sie in den letzten freien Schlitz seines D-Pads. „Ich setze diese Karte und beende den Zug.“

Während sich die Karte vor ihm materialisierte, kommentierte Mr. C: „Ein ewiges Hin und Her ist das! Obwohl Zachariah Bauer seine Schwester so unter Druck setzt, lässt diese sich keinen Millimeter zurückdrängen!“

Einige schenkten ihr sogar einen Applaus dafür. Anya bemerkte es nicht einmal, sondern tauschte einen feindseligen Blick mit ihrem Bruder aus. Keiner der beiden gab dabei nach. Bis er eine einzige Silbe auf den Lippen formte, ohne sie jedoch auszusprechen. Die Blonde, die im Lippenlesen nicht sehr versiert war, kannte nur zwei Worte in dieser Richtung. Und beide bedeuteten mehr oder weniger dasselbe …
 

„Du elender-!“, schrie sie aufgewühlt. „Jetzt reicht's endgültig! Draw!“

Sie zog mit derartigem Schwung, dass es sie dabei beinahe eine Drehung um sich selbst machte. Die neue Karte kurz betrachtend, sah sie anschließend auf. „Effekt von [Daigusto Emeral]. Der andere, um genau zu sein! Ich darf drei Monster vom Friedhof ins Deck mischen, um eine Karte zu ziehen. Lead Yoke, Shadow, Glassjaw!“

Jene drei Karten schoben sich automatisch aus ihrem D-Pad hervor, sodass Anya sie nur auf das Deck legen und jenes mischen lassen brauchte. Gleich im Anschluss zog sie noch einmal, jedoch ohne diesmal eine unfreiwillige Pirouette hinzulegen.

„Ich wollte es nicht glauben. Irgendwie habe ich es die ganze Zeit verdrängt, obwohl ich es gewusst habe“, gestand Anya niedergeschlagen, „wollte mir einreden, dass du das damals alles nicht so gemeint hast. Aber … du bist wirklich nur -deswegen- hier, oder?“

Zachariah antwortete nicht, sondern wich ihrem Blick zur Seite aus.

„Alles nur, damit ich nicht weiterkomme, richtig? Denn wenn das passiert, werde ich vielleicht … und du weißt es. Und du willst es so. Wie du es schon bei unserem letzten Duell versucht hast.“

Wieder kam keine Reaktion seinerseits. Ohne dass Anya es kontrollieren konnte, rann eine einzelne Träne über ihre Wange.

„Aber das klappt nicht“, schwor sie ihm bitter, „du wirst mich nicht aufhalten. Ich hab' dich genau da, wo ich dich haben will!“

Überrascht horchte er auf und blickte wieder in ihre Richtung. Unwillkürlich fuhr seine Hand zum Auslöser seiner Falle, nur damit er sie letztlich wieder zurückzog.

Anya kniff die Augen zusammen. Sie hatte es nicht bemerkt, war sie doch zu fixiert auf seinen emotionslosen Gesichtsausdruck. „Mach dich schon mal frisch! Ich beschwöre [Battlin' Boxer Rabbit Puncher]!“

Ein hagerer Boxer betrat das Spielfeld, dessen markantestes Merkmal neben einer zerzausten, roten Mähne sein gasmaskenähnlicher Kopfschutz war.

 

Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3)]

 

„Attacke!“, befahl Anya plötzlich mit ausgestrecktem Finger. „Egal was passiert, du wirst mein Held sein, Rabbit Puncher!“

„Was ist das!?“, überschlug sich Mr. Cs Stimme. „Wieso greift sie mit diesem Monster an!?“

Selbst ihr Bruder war überrascht davon. „Du wirst doch nicht etwa-!?“

Regelrecht formvollendet tänzelte der kleinwüchsige Boxer über das Spielfeld und war im Begriff, dem König die Faust ins Gesicht zu drücken.

„Du hast es erfasst! Rabbit Puncher vernichtet Monster im Verteidigungsmodus automatisch!“

Und es geschah letztlich genau das, was Anya erwartet hatte: [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms] stellte sich mit ausgestreckten Armen in den Weg des Kriegers und würde jenen zerstören. Womit Anya jedoch grundlegend falsch lag, als die hübsche Königin den Hieb einsteckte und zersprang, nur damit Artus wutentbrannt seine massive Goldklinge Excaliburn II schwang und eine blaue Schockwelle in Richtung des Mädchens schleuderte.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/3000 → 2700 DEF/2200 {5} OLU: 0]
 

„Ah!“, schrie die perplex.

„Du hast scheinbar damit gerechnet, dass die gute Gwenny notgedrungen dein Monster zerstört“, spottete Zachariah übermütig, „dabei opfert sie sich, um ihren Liebsten zu schützen. Das ist der Unterschied darin, ob sie ein Finsternis- oder ein Lichtmonster ausrüstet.“

Gleichzeitig wurde Anya von den Ladungen erfasst und schrie auf. Ihr Bruder setzte noch eins drauf: „Du hast dich derart verkalkuliert, dass du selbst den Treffer einstecken musstest. Denn da der Effekt deines Boxers nie zum Tragen kam, ging der Kampf ganz normal weiter.“

 

[Anya: 1300LP → 100LP / Zachariah: 1200LP]

 

Anya wurde ganz schwindlig. Nur verschwommen nahm sie ihren Bruder war, spürte ihren taub gewordenen Körper nicht mehr. Diese verdammte Klinge! Und doch!

„Tch, Trottel“, raunte sie nicht weniger selbstbewusst als ihr Bruder, „dein ach so tolles Schwert hat mir diesmal den Hintern gerettet. Wie war das doch mit Kampfschaden gleich der eigenen Lebenspunkte? Pech für dich, du hast 100 zu wenig!“

Das Gefühl kehrte wieder. In Form von Schmerzen, die das Mädchen in allen Gliedern, jedem Muskel, jeder Faser zu peinigen begannen. Doch sie biss die Zähne zusammen. „Du … kriegst mich … nicht klein!“

Zachariah zog eine Augenbraue an. „Was auch-“

„Los!“, schrie sie da schon mit letzter Kraft. „Pearl, werd' endlich zum Königsmörder! Angriff auf [Sacred Noble Knight Of King Artorigus] mit Blessed Spheres of Purity!“

Sie stürzte vorne über, aber nicht, ohne dabei die Hand auszustrecken. Im Fall sah sie, wie ihr weißer Edelsteinritter die seine ausschwang und die sieben Perlen um ihn herum auf seinen Feind hetzte. Wie ein Bombenhagel gingen sie auf Artus nieder.

Das Mädchen landete schmerzhaft auf dem Bauch, den Kopf dennoch nach oben gerichtet, wollte sie jede Sekunde -davon- miterleben. „Geh endlich sterben- Ah!“

Sie weitete die Augen. Das konnte nicht sein! Die Perlen schlugen zwar um den Ritter ein und lösten Explosionen auf, aber wann immer eine ihn direkt ansteuerte, wehrte er sie mit dem Schild aus Licht an seinem Arm ab.

„Die [Noble Arms Of Destiny]“, sprach Zachariah Anyas Gedanken aus, „die hast du in deinem Eifer wohl ganz vergessen, oder?“

Sie verhinderte einmal pro Zug die Zerstörung ihres Trägers. Anya ließ den Kopf erschöpft sinken.

 

~-~-~

 

„Guter Junge“, nuschelte Exa Kakyo ins Ohr, während er ihn tiefer in die dunkle Seitengasse schleifte. Seine Hand lag auf dem Mund des jungen Mannes, denn auch wenn niemand sie sehen würde, so war es dennoch möglich sie zu hören.

Zanthe bildete die Nachhut und achtete darauf, dass niemand hier einbog und Kakyo bemerkte.

„Ein Mucks und du bist Geschichte“, sagte Exa und schleuderte seine Geisel schließlich gegen die Außenwand der Kneipe, neben einen Müllcontainer.

Kraftlos sank Kakyo an jener auf den Hosenboden herab. „Ich hab's kapiert …“

Angst schwang in seiner Stimme mit. Zanthe bemerkte, wie er mit seinem Blick nach Exa suchte, welcher sich nun außerhalb der Sichtweite des Zaubers befand und daher unsichtbar war.

„Keine Sorge, wir sind noch hier“, sagte der Werwolf daher drohend.

„Was wollt ihr von mir!? Ich habe nicht viel Geld und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch nicht vor, es euch zu geben.“

Ohne mit der Wimper zu zuckten stampfte Exa mit dem Fuß auf die Brust des Brünetten, der schmerzerfüllt aufkeuchte. „Lass uns den ganzen 'Wer seid ihr!?'-Kram überspringen und gleich zur Sache kommen, okay? Die eigentliche Frage lautet nämlich, wer du bist.“

„Kakyo Sangon.“

Zanthe trat neben seinen größeren Freund. „So viel wissen wir längst. Welche Verbindung hast du zu einem Mann namens Kyon?“

Erschrocken horchte Kakyo auf, sodass Exa ihn sofort wieder gegen die Wand presste. „Antworte einfach.“

„Ich kenne keinen Kyon“, murmelte der Verhörte und senkte den Kopf.

„Deine Lippen sagen nein, dein Fleisch sagt ja“, erwiderte Zanthe daraufhin ärgerlich, „du riechst förmlich danach. Nach Angst.“

„Und wenn schon … Werde ich jetzt verprügelt?“

„Ja.“

 

Selbst bei Zanthe stellten sich die Nackenhaare auf, wie sein Freund dies mit einer absoluten Eiseskälte bestätigte. Mehr noch, er setzte eins drauf: „Ich denke, ich bin recht gut darin, Leuten ihre Geheimnisse zu entlocken. Also überleg' dir deinen nächsten Schritt ganz genau.“

„Willst du ihn etwa foltern!?“, stieß Zanthe erschrocken hervor und packte Exa an der Schulter.

Der nickte. „Wenn's nötig ist.“

„Das kannst du nicht!“

Exa bedachte Zanthe hinter dem gezackten Schmetterlingssymbol mit einem eisigen Blick. „Möchtest du Gewissheit haben? Denkst du, sie wird zu dir kommen, wenn du nett 'bitte' sagst? So läuft das in dieser Welt nun mal nicht.“

Mit zitternder Stimme mischte sich Kakyo ein: „Tut, was ihr nicht lassen könnt.“

„Wenn du schon so tapfer dein Schicksal herausforderst, hast du eindeutig etwas zu verbergen“, sagte Exa. Er hob das Bein auf Kakyos Brust an, sodass die Spitze seines Stiefels unter dessen Kinn fasste und dieses nach oben drückte. „Ist es das wirklich wert?“

Entgegen seiner spürbaren Angst, sah der junge Mann ihm mit einem kämpferischen Blick entgegen. „Nein, aber ich habe etwas versprochen. Und ich breche keine Versprechen!“

„Hast du Kyon etwas versprochen!?“, fragte Zanthe aufgeregt und stieß Exa dabei zur Seite, sodass dessen Fuß unter Kakyos Kinn wegrutschte. „Bitte sag es mir! Wir tun dir nichts, versprochen!“

Neben ihm fasste sich der Größere seufzend an die Stirn. „Ich glaub's nicht. Kumpel…“

„Ist das hier so ein 'Guter Cop, böser Cop'-Spiel!?“, schnappte Kakyo und richtete sich an der Wand entlang tastend auf. „Ganz egal was ihr sagt oder womit ihr mir droht, dieses Versprechen ist wichtiger als mein Leben!“

„Warum halten wir uns dann überhaupt noch an dir auf?“, fragte Exa plötzlich mit diesem unterkühlten Tonfall. Zanthe verstand sofort, worauf er anspielte. Außerdem sah er es auch, als in der Hand seines Freundes weißes Licht zu strahlen begann und der anschließend seine seltsame Waffe auf Kakyo richtete.

 

Ebenso verstand Kakyo, der, als er wieder auf beiden wackligen Beinen stand, seinen Arm ausschwang. „Ganz einfach. Weil ich es verlange. Einer von euch duelliert sich mit mir, jetzt, hier!“

„Keine Chance, Kumpel!“

Zanthe runzelte die Stirn. „Und was soll dir das bringen?“

„Gewinne ich, lasst ihr mich gehen. Gewinnt ihr, könnt ihr mit mir machen was ihr wollt!“

Exa stieß einen derben Lacher aus. „Du bist ja einer! Wir spielen Karten um dein Leben? Was ist das für ein Unsinn!?“

Plötzlich streckte Zanthe den Arm zur Seite aus, um Exa zurückzuhalten. „Nur, wenn du im Falle deiner Niederlage sprichst wie eine Friseurin während der Arbeitszeit.“

„Und du willst auch noch einwilligen!?“, empörte sich der Blonde fassungslos.

Sein Freund warf ihm aus den Augenwinkeln einen scharfen Blick zu. „Solange es uns weiterbringt, ist mir das nur recht.“

„Dann lass mich ran.“

 

Überrascht wirbelte Zanthe um. Exa warf seine seltsame Waffe mit Schwung nach oben, wo sie sich zu einem hellblauen Blitz verformte, der wiederum steil nach unten zischte. Den Arm vor den Oberkörper haltend, ließ Exa beim anschließenden Treffer an jenem eine weiß-blaue Duel Disk erscheinen, die mit ihrer äußeren, dicken Hülle seinem Sägeschwert nicht unähnlich sah.

„Oha!“ Zanthe wich vor Schreck von ihm zurück, machte dann aber beim Anblick der Duel Disk große Augen. „Du spielst Duel Monsters!? Seit wann!?“

„Seit eben.“

„Was habe ich da gerade gesehen?“, fragte Kakyo heiser. Dann jedoch wurde seine Stimme fester. „Wie auch immer, dann bist du mein Gegner!“

„Nein! Ich duelliere mich!“, widersprach Zanthe zornig.

Exa erwiderte kühl: „Wenn das hier -so- laufen soll, dann nur, wenn du mir das überlässt. Oder vertraust du mir nicht?“

Darauf wusste der Schwarzhaarige nichts zu erwidern. Es gab mehr als genug Gründe, die dagegen sprachen. Sollte er jedoch nur einen davon äußern, würde er mit Sicherheit einen Keil zwischen ihre noch junge Freundschaft treiben. Also schwieg Zanthe notgedrungen und senkte das Haupt.

 

Mit schlottrigen Knien stellte sich Kakyo an einem Ende der Seitengasse auf, Exa wiederum am anderen. Nebenbei griff der nach der Illusion vor seinem Gesicht und ließ sie verschwinden, sodass sein Gegner ihn auch auf Distanz sehen konnte. Und somit auch jeder, der durch die Hintertür der anliegenden Kneipe verschwinden wollte oder hier vorbeikam.

„Mach nichts Unüberlegtes“, konnte Zanthe seinem Freund nur ans Herz legen, nachdem er ihn flankierte.

Ohne sich zu ihm umzudrehen, sagte Exa plötzlich: „Verstehst du nicht? Er ist ein Verbündeter deines Feindes. Ihm Gnade zu zeigen bedeutet potentiellen Verlust. Es mag grausam sein, aber diese Welt ist nun mal grausam und erbarmungslos.“

Der Werwolf schnappte bereits nach Luft, um etwas darauf zu erwidern, aber Exas autoritäre Stimme gebot ihm Einhalt. „Es gibt einen Grund, warum ich mich duellieren will.“

„Welchen!?“

„Mein Gesicht kennt er bereits, deines noch nicht. Sollte das hier in die Hose gehen …“

Mit einem Schlag verstand Zanthe plötzlich, was all das sollte. Exa wollte ihn beschützen, deshalb auch …

„Aber“, sagte jener plötzlich scharf, „dazu wird es nicht kommen.“

Kakyo stand der Schweiß auf der Stirn geschrieben. Schließlich riefen beide: „Duell!“

 

 

Turn 62 – Determination

Während Anya erbittert mit ihrem Bruder kämpft, stellt sich Kakyo notgedrungen Exa in einem Duell. Sofort wird klar, dass Exa zu unerfahren ist, um sich mit einem angehenden Profi wie Kakyo zu duellieren. Und dennoch löst er eine Kette von Ereignissen aus, die Zanthe in seinen Grundfesten erschüttert …

Turn 62 - Determination

Turn 62 – Determination

 

 

Ungefähr drei Stunden vor dem ersten Viertelfinalspiel des Legacy Cups …

 

Anyas, Zanthes und Matts Hotelzimmer war verlassen. Während Letzterer bereits am gestrigen Tage seine Reise angetreten hatte, um mehr über den nächsten Hüter in Erfahrung zu bringen, befanden sich die anderen auf dem Weg zum Frühstücksbuffet.

Mittlerweile hatte das ein wenig trist erscheinende Zimmer mit den drei nebeneinander stehenden Betten eine gewisse Note von Anya angenommen, was nicht zuletzt daran lag, dass deren Klamotten überall verteilt lagen. Eine ihrer durchlöcherten Jeans lag mitten auf dem runden Tisch in der Ecke, ein gefühltes Dutzend schwarzer T-Shirts dekorierte wahlweise den Boden, Anyas Bett und sogar die Klinke zum Badezimmer.

 

Könnte ihre Kleidung sprechen, würde sie einen konzentrierten, spitzen Schrei der Warnung ausstoßen. Aber es waren eben nur T-Shirts und Jeans, die nie verraten würden, dass sich mitten im Hotelzimmer ein schwarzes, ovales Portal öffnete. Seine reflektierende Oberfläche spiegelte die Unordnung wieder, bis zwei Personen daraus hervor traten.

Die erste war gehüllt in eine schwarze Kutte und verbarg ihr Gesicht hinter einer weißen Porzellanmaske. Bei der anderen hingegen handelte es sich um niemand Geringeren als Anyas Bruder Zachariah.

Nachdem beide das Portal verlassen hatten, schloss sich jenes und Zach sah sich neugierig und mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck um. Seine wesentlich kleinere Begleiterin Kali fragte mit gedämpfter Stimme: „Hier sind wir. Mach was du willst, aber beeile dich.“

„Nicht so kratzbürstig“, murmelte Anyas älterer Bruder im blauen, karierten Hemd unter schwarzem Sakko und fixierte seinen Blick auf deren Nachttisch. „Da ist es.“

Besser gesagt galt dem D-Pad, welches dort lag, sein Augenmerk. Gemütlich schlenderte er herüber zum letzten Bett der Reihe, welches sich am weitesten von der Tür entfernt befand, und nahm den Apparat in seine Hand.

Kali derweil war an das Panoramafenster herangetreten. „Verrätst du mir, was du vorhast?“

„Gib' mir ein paar Minuten“, erwiderte er und nahm das Gerät mit sich zum kreisrunden Tisch neben dem Fenster, wo er zuerst Anyas Jeans vom Stuhl nahm und wegwarf, ehe er sich setzte.

Er zog aus der Brusttasche seines Hemds einen Schraubenzieher heraus und löste nach und nach eine Abdeckung unterhalb des roten D-Pads, bis er dessen Inneres vor sich offenbarte.

„Ich will nur kurz dieses kleine Baby hier verstecken“, sagte er und holte noch etwas aus der Tasche. Es handelte sich um ein rechteckiges, schwarzes Stück Plastik, nur unwesentlich größer als eine Batterie. „Das dauert einen Moment.“
 

Während er ein paar Drähte innerhalb des D-Pads löste und mit seinem Mitbringsel verband, warf Kali ihm aus ihrer starren Maske einen Seitenblick zu. „Das ist eine Bombe.“

„Was dagegen?“, fragte Zachariah abwesend, ohne dabei aufzusehen.

„Ich weiß nicht …“

„Mach dir nicht ins Hemd. Das ist nur Plan C, falls die anderen beiden scheitern.“

Kali gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Unser Ziel ist es lediglich, ihre Teilnahme am Legacy Cup zu beenden. Wir müssen verhindern, dass sie an Claire Rosenburg herankommt. Möglichst ohne Blutvergießen.“

Nun sah Zach doch auf, mit ernstem Gesichtsausdruck. „Denkst du, mir fällt das leicht? Aber hast du jemals darüber nachgedacht, dass selbst wenn wir sie von Claire fernhalten, ihr Blut dennoch an unseren Händen kleben wird?“

„Ich denke jeden Tag daran.“ Die Maskierte legte ihre Hand gegen das Fenster. Genau vor ihr flimmerte die Werbung der amtierenden Duel Monsters-Weltmeisterin über den Bildschirm des Wolkenkratzers, welcher gegenüber dem Hotel stand. „Aber sie soll nicht unwissend sterben. Das ist alles.“

„Ist es das wirklich?“, fragte Anyas Bruder skeptisch. Dann schnalzte er mit der Zunge. „Aber es ist in Ordnung. Dass du zweifelst, meine ich. Sieh es doch mal so: Wir verbinden deinen Rachefeldzug gleichzeitig mit einer guten Tat.“

Kali stieß sich vom Fenster ab und wandte sich Zachariah zu, der gerade damit beschäftigt war, das Gehäuse wieder zuzuschrauben. „Wie soll Plan C überhaupt funktionieren?“

„Hiermit“, antwortete er und zückte eine Karte aus seiner Brusttasche. Es war eine Falle namens [Avalon]. „Sie ist der Zünder, den ich jederzeit bei Bedarf ziehen kann. Wenn ich [Avalon] aktiviere macht es 'Boom'!“

Als Kali jedoch nichts erwiderte und nur die Karte anstarrte, verzog der Blonde eine säuerliche Miene. „Jetzt bleib mal locker. So weit wird es gar nicht kommen.“

„Unterschätze sie nicht, nur weil du sie zu kennen glaubst“, mahnte Kali ihn streng.

„Ich weiß, sie hat Levrier. Aber auch um den werde ich mich kümmern.“

 

Nachdem die Duel Disk wieder in ihren vermeintlichen Ausgangszustand zurückgebracht war, erhob sich Zach und schritt auf Anyas Nachttisch zu. „Keine Sorge. Die Bombe brauchen wir nicht, denn ich werde sie so oder so vom Platz fegen.“

Den Apparat wieder zurücklegend, zwinkerte er seiner Partnerin verschwörerisch zu. „Vertrau mir, du bekommst deine Rache. Oder willst du plötzlich nicht mehr?“

„Es gibt nichts, was ich mehr will, als sie zu vernichten“, verkündete Kali düster, „aber auf meine Weise. Überleg' dir gut, ob du Plan C durchziehen willst.“

Nicht weniger ernst erwiderte er: „Vergiss nicht, dass ich auch ein Wörtchen in der Sache mitzureden habe.“

„Du hättest schon einmal beinahe alles durch dein überstürztes Handeln verdorben“, warnte sie ihn nichtsdestotrotz und streckte den Arm aus. Ein schwarzes Portal öffnete sich neben ihr. „Du solltest sie nur ablenken, aber stattdessen wärst du ihr beinahe ans Leder gegangen.“

Der Blonde schlürfte lässig auf sie zu und winkte dabei ab. „Aber, aber, wer ist denn da nachtragend? Ist doch alles bestens.“

„Und so soll es auch bleiben. Bis ich anders entscheide.“

Daraufhin zwinkerte ihr Zachariah nur zu, ehe er das Portal betrat. Kali warf einen letzten Blick zurück in das unaufgeräumte Hotelzimmer, ehe sie ebenfalls in die Dunkelheit eintauchte und verschwand.

 

~-~-~

 

Erstauntes Raunen ging durch die Ränge der Zuschauertribünen. Einige sprangen von ihren Sitzen auf, um besser das Mädchen sehen zu können, das vorne über auf dem Boden lag. Mit einem Schlag wurde es ganz still in der kreisrunden Arena.

Anya sah mit zornesrotem Gesicht auf. „Du-!“

Direkt vor ihr verharrte [Gem-Knight Pearl], der weiße Ritter, um den sieben kohlkopfgroße Perlen schwebten. Neben ihm zur Rechten der geflügelte Smaragdkrieger [Daigusto Emeral], zur Linken dagegen der kleine, rothaarige Boxer mit der Gasmaske auf, [Battlin' Boxer Rabbit Puncher].

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 0]

Daigusto Emeral [ATK/1800 DEF/800 {4} OLU: 0]

Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3)]

 

Es erschien Anya, als gäbe es keine Faser ihres Körpers, die nicht schmerzte. Durch den gescheiterten Angriff Rabbit Punchers auf Zachs in blau strahlender Rüstung steckenden König Artus hatte sie fast all ihre Lebenspunkte eingebüßt.

 

Sacred Noble Knight Of King Artorigus [ATK/2700 DEF/2200 {5} OLU: 0]

 

Dazu war sie noch von [Noble Arms – Excaliburn II] getroffen worden, dem riesigen, goldenen Schwert in des Königs rechter Hand, durch welches rote und blaue Energielinien über Kreuz verliefen. Auch wenn der fixe Schaden der Klinge ihr gleichzeitig den Hintern gerettet hatte, waren die dadurch verursachten, unerklärlichen Schmerzen vermutlich mehr als Kompensation genug aus der Sicht ihres Bruders.

 

[Anya: 100LP / Zachariah: 1200LP]

 

Anya biss die Zähne zusammen.

Und doch! All ihre Attacken hatten versagt. Rabbit Puncher war an dieser Nervensäge von Königin, Gwenirgendwas gescheitert, Pearl dagegen an [Noble Arms Of Destiny], dem leuchtenden Schild an Artus' linken Arm.

„Was ist mit ihr!?“, schrie der Kommentator Mr. C von seiner Lounge aus besorgt ins Mikrofon. „Sanitäter, schnell!“

Unter einem leisen Keuchen stützte Anya sich vom Boden ab. Alles, bloß das nicht. Wackelig auf die Beine kommend, winkte sie ab. „Schon gut, bin nur ausgerutscht. Alles okay!“

Eine schlechte Ausflucht, aber besser als gar keine. Wenn die Zuschauer erfuhren, mit was für Bandagen hier gekämpft wurden, wer wusste schon, was dann geschah und welche Konsequenzen es nach sich zog. Anya wollte sich das gar nicht ausmalen.

Mit zusammengekniffenen Augen hielt sie sich den Magen. Er schmerzte besonders und Anya vermutete, dass dies nicht nur an ihrem Bruder, sondern auch ihrer eigenen Kondition lag. Jedoch bereitete ihr das weniger Sorgen als Levrier … Wie es ihm wohl ging? Hoffentlich war er okay und nur bewusstlos, oder was auch immer Immaterielle waren, wenn sie ausnahmsweise mal nicht ihre große Klappe aufreißen konnten.

„Für dich ist hier Endstation“, sagte Zachariah und machte mit seiner Hand eine Bewegung, als wolle er sie an sich vorbei durchwinken, „mach jetzt bitte Platz für die nächsten Duellanten, ja?“

„Nope …“

„Pardon?“

Anya setzte schlagartig ihr durchtriebenstes Grinsen auf. „Ich sagte nein! Schon vergessen? Du bist genau da, wo ich dich die ganze Zeit haben wollte!“

„Was soll das jetzt heißen!? Jeder deiner Angriffe ist erbärmlich gescheitert!“

„Jeder? Wenn ich richtig sehe, habe ich noch ein Monster, mit dem ich angreifen kann“, erwiderte Anya altklug und beäugte dabei die Karte auf ihrem roten D-Pad, die sie von Henry erhalten hatte, „also sollten du und dein Artorigus sich schon mal frisch machen! Volle Fahrt voraus, [Daigusto Emeral]! Emerald Storm!“

Ihr Ritter des Emeralds mit den blassgrünen Flügeln der Gusto stieg in die Luft auf. Dabei streckte er seine Arme nach vorne und schoss die beiden kreissägenhaften Schilde an ihnen in breitem Bogen auf den brünetten König Artus ab.

„Du bist doch vollkommen durchgeknallt!“, schimpfte Zach auf einmal gar nicht mehr ruhig und unbesorgt.

„Genau! Deswegen funktioniert diese Karte auch so gut mit mir!“ Anya drehte mit süffisantem Grinsen einen Schnellzauber zwischen ihren Fingern um. „Kennst du die schon? [Ego Boost]! Sieh hin, was passiert. Und sieh gut hin!“

Während sie die Karte noch in ihren Apparat einlegte, schwoll die Brust Emerals vor Stolz geradezu an. Aus beiden Richtungen flogen die sich rapide drehenden Waffen auf Artus zu.

 

Daigusto Emeral [ATK/1800 → 2800 DEF/800 {4} OLU: 0]

 

Und trafen ihn mitten in die Brust. Mit weit offen stehenden Augen beobachtete Zachariah, wie sein Monster in einer gewaltigen Explosion niederging.

„Booyah!“, jubelte Anya inmitten eines aufgeregten Publikums. „Endlich ist die Ära der Tafelrunde zu Ende, Mistkerl! Also auch keine Schwerter mehr!“

Der Rauch lichtete sich und alles, was ihrem Bruder noch geblieben war, war seine verdeckte Karte. Mit offenem Mund stand er da, brachte keinen Ton heraus.

„Schade, dass der [Ego Boost] nur einen Zug anhält, aber das reicht schon“, sinnierte Anya und nahm ihre letzte Handkarte, welche sie ebenfalls in das D-Pad schob, „Zug beendet.“

Sogleich nahm ihr Krieger wieder eine normale Körperhaltung an. Die Falle materialisierte sich vor Anya, die sich wieder den Bauch zu halten begann. „Ugh!“

 

Daigusto Emeral [ATK/2800 → 1800 DEF/800 {4} OLU: 0]

 

„Du bist“, murmelte Zach und sein Gesicht wurde plötzlich zu einer zornigen Fratze, „die größte Plage, die man sich überhaupt vorstellen kann. Lerne endlich, wo du hingehörst! Auf die Knie! Draw!“

Mit von ihm ungewohnten Elan zog er eine Karte. „Du hast eins nicht beachtet, wertes 'Schwesterherz'! Ich brauche dich nur noch anzuhauchen, damit du-!“

Plötzlich stiegen von seiner Duel Disk gleißende Blitze grünlicher Färbung auf, die um sich schlugen und den Blonden taxierten. Der schrie schmerzerfüllt auf.

 

[Anya: 100LP / Zachariah: 1200LP → 200LP]

 

Anya begriff die Welt nicht mehr. Sie hatte nichts gemacht!

 

Werd' das Schwert los, mit dem er mich besiegt hat. Dadurch kannst du es drehen.

 

Sich an Kakyos Worte erinnernd, benutzte sie erstmals den Bildschirm ihres D-Pads oberhalb der Kartenzonen und durchforstete Zachariahs Friedhof. An den Tipp des jungen Mannes hatte sie gar nicht mehr gedacht! Und tatsächlich: Dieser Stromschlag eben war [Noble Arms – Excaliburn II] zuzuschreiben, das sich jede Runde dafür rächte, auf dem Friedhof zu liegen!

Das Mädchen blickte auf. Dampfend stand ihr Bruder dort drüben, in gebeugter Haltung, doch er sah zu ihr herüber.

„Nochmal überstehst du das nicht!“, rief Anya ihm zu.

„Danke für die Warnung, aber sie ist unnötig“, erwiderte er leise, „denn dazu kommt es nicht mehr. Ich beschwöre ein Monster! [Noble Knight Peredur]!“

Im selben Moment, in dem er dessen Karte auf die mittlere Monsterkartenzone legte, tauchte vor ihm ein wunderschöner Rappe auf, dessen glänzendes Fell nur von der blonden Haarpracht seines Reiters übertrumpft wurde. Der edle Ritter Percival führte sein Pferd erhobenen Hauptes einmal auf der Stelle im Kreis und bezog vor seinem Herrn Stellung.

 

Noble Knight Peredur [ATK/1900 DEF/300 (4)]

 

Zach streckte den Arm aus. „Und ich rüste ihn mit [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms] vom Friedhof aus, was ihn sowohl stärker macht, als auch durch seinen eigenen Effekt eine Stufe steigen lässt!“

Missmutig beobachtete Anya, wie sich die brünette, kindliche Königin auf dem Sattel des Rappen an dessen Reiter schmiegte und verschwand.

 

Noble Knight Peredur [ATK/1900 → 2200 DEF/300 (4 → 5)]

 

„Willst wohl ganz sicher gehen, huh?“, fragte Anya grimmig. Die dämliche Pute konnte sich selbst opfern, um Lichtritter wie Percival vor dem Tod durch Karteneffekte zu bewahren.

Zach starrte seine Schwester unentwegt finster an. „Ist auch in deinem Interesse, glaub mir.“

Damit streckte er die Hand nach vorne aus. Geradezu flehend murmelte er vor sich hin: „Bitte … es muss irgendwann Schluss sein!“ Um dann lautstark fortzufahren. „Angriff auf [Battlin' Boxer Rabbit Puncher]! Lösche ihre restlichen Lebenspunkte aus, [Noble Knight Peredur]!“

Der Ritter nickte und straffte die Zügel. Sein Rappe setzte sich in Bewegung, sodass der Blonde mit einer Hand losließ, um sein Schwert zu ziehen. Im wilden Galopp näherte er sich dem kleinwüchsigen Boxer.

„Du-kapierst-es-nicht!“ Anya schwang den Arm über ihrer gesetzten Karte aus. „Du bist längst in meiner Falle! Und hier kommst du nicht mehr raus! [Soul Strike]!“

Die Karte sprang auf und plötzlich begann ihr Boxer in flammend-roter Aura aufzuleuchten. Zach zuckte zusammen.

„Denkst du, ich habe nicht mit so etwas gerechnet, Blödmann?“, raunte Anya. „Alles, was ich habe, geht in diesen letzten Gegenangriff! So auch die Hälfte meiner Lebenspunkte!“

Ebenso wie um ihr Monster entstand auch um Anya besagte Aura, die wie ein Herzschlag regelmäßig pulsierte.

 

[Anya: 100LP → 50LP / Zachariah: 200LP]

 

„Diese Falle macht [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] stärker, genau genommen um die Differenz zwischen meinen derzeitigen Lebenspunkten und 4000!“

„Das gibt’s nicht!“ Der Kommentator war völlig aus dem Häuschen, als die Angriffspunkteanzeige des schwächlich anmutenden Boxers förmlich zu explodieren schien.

 

Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 → 4750 DEF/1000 (3)]

 

„Wirst du denn nie damit aufhören!?“, ereiferte sich Zachariah, der den Ritt seines Kriegers nicht mehr aufhalten konnte. Er riss die Karte der edlen Königin aus seinem D-Pad. „Effekt von [Gwenhwyfar, Queen Of Noble Arms]!“

Mit einem Male leuchteten Percivals Augen rot auf.

„Ich kann sie zerstören, um das Monster zu vernichten, mit dem ihr Liebster kämpft!“

Anya klappte die Kinnlade hinunter. „Aber das geht nur bei Finsternis-Rittern!?“

„Und genau das ist [Noble Knight Peredur], solange er mit einer Noble Arms-Karte ausgerüstet ist, wozu auch die Königin selbst zählt!“

Im Licht der Scheinwerfer funkelte das Schwert, als Percival damit vor dem Boxer angekommen ausholte. Jener hob die Faust zum Gegenschlag.

 

Noble Knight Peredur [ATK/2200 → 1900 DEF/300 (5 → 4)]

 

Ein ekelhaftes Surren durchdrang die plötzliche Stille. Anya sah nur noch die Gasmaske ihres Rabbit Punchers fliegen, an der noch dessen Kopf haftete. Eine tiefe, zornige Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Wirklich, dass du selbst jetzt noch so etwas abziehst …“

Zachariah stand aufrecht auf der anderen Spielfeldseite. Sein Gesicht war versteinert. Und Anya wusste genau warum. „Aber selbst wenn du dich wieder gerettet hast, Schaden konntest du mir nicht zufügen. Nächste Runde wird dich dein Schwert holen. Ich habe gewonnen!“

Der Blonde neigte den Kopf nach unten. „Richtig. Es gibt nichts mehr, was ich noch tun kann, um das zu verhindern. Aber …“

So wie er sprach, so völlig emotionslos, es bereitete Anya eine Gänsehaut. Irgendetwas stimmte da nicht.

„... das heißt nicht, dass ich nicht noch etwas in der Hinterhand habe. Einen letzten Trumpf …“

 

Gleichzeitig im spärlich beleuchteten Gang, der zum Duellfeld des Stadions führte …

 

Aus einem Portal mitten im Gang erscheinend, rannte Kali dem Licht des Ausgangs entgegen, welches sie von den beiden Duellanten noch trennte. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, denn Zachariah würde das hier durchziehen, dessen war sie sich inzwischen sicher. Sie musste ihn aufhalten und eine Katastrophe verhindern!

Nur noch wenige Schritte vom Ausgang entfernt, ertönte hinter ihr eine tiefe, weibliche Stimme, welche der Maskierten sofort Einhalt gebot.

„Du solltest dich nicht einmischen.“

Kali stöhnte ärgerlich. „Gardenia …“

Sich umdrehend, konnte Kali gerade so im dunklen Gang die Silhouette einer Person sehen, die einen braunen Umhang trug. Die Halogenleuchte über ihr war defekt, die Frau daher in Schatten gehüllt. „Wenn er -diese- Karte aktiviert, wird er sie umbringen!“

„So lautet der Plan.“

„Nein!“, widersprach Kali zornig. „Der Plan lautet, sie aus dem Turnier zu schmeißen! Damit sie nicht an Claire herankommt!“

Tadelnd bekam sie als Antwort: „Deine Naivität steht dir einmal mehr im Weg. Der Sammler wird einen anderen Weg finden, Anya zu ihrem Ziel zu führen. Zachariah weiß das.“

„Und riskiert dafür für immer hinter Gitter zu kommen!“ Kali wirbelte herum. „Das werde ich nicht zulassen!“

„Also willst du dein größtes Begehren hinten anstellen?“ Die Frage war so provokativ gestellt, dass Kali schnaubte. Gardenia fügte hinzu: „Gehst du jetzt durch dieses Tor, wird es sich womöglich für immer hinter dir schließen.“

Die Maskierte sah dem Licht entgegen. „Das nehme ich in Kauf. Wenn dir das nicht passt, sorg' dafür, dass er ihr nicht mehr schaden kann. Ich werde mich um sie kümmern, aber zu -meinen- Bedingungen!“

Jene, die Gardenia genannt wurde, hielt jedoch in derselben Schärfe wie schon zuvor dagegen und erwiderte: „Du bist unsicher. Hin und her gerissen zwischen deinem Gelüst nach Rache und deinem Gewissen. Zwei mögliche Wege. Wisse, dass keiner davon weder als gut, noch als böse bezeichnet werden kann.“

Kali schwieg währenddessen und hörte aufmerksam zu.

„Genauso wenig, wie Lebewesen in gut oder böse eingeteilt werden können. Es gibt nur verschiedene Betrachtungswinkel. Stellst du dich Zachariah in den Weg, würde es zweifelsohne jene geben, die dich dafür bewundern.“

Draußen waren lautstarke, aufgewühlte Reaktionen vom Publikum zu vernehmen.

„Andere hingegen werden dich für deine Entscheidung anklagen. Es gibt kein Richtig oder Falsch, egal wie du dich entscheidest. Aber du weißt ebenso, was getan werden muss. Nicht wahr, Dämonengöttin Kali?“

Jene gab nur trotzig wieder, als sie einen Schritt Richtung Ausgang trat: „Ich weiß, dass das nicht das ist, was ich mir vorgestellt habe!“

„Ich habe dich nicht gelehrt, derart töricht zu handeln.“

Plötzlich ertönte noch eine Stimme, quietschig, von Gardenias Schulter. Auf welcher eine etwa kopfgroße Gestalt mit leuchtend violetten Augen saß. „Keine Sorge, Oma-dono, ich passe schon auf sie auf!“

Gardenia seufzte schwer. „Also gut. Ich hoffe, dass es nichts an deiner Entscheidung zu bereuen geben wird, Kali.“

„Darauf kannst du Gift nehmen!“, hielt jene an ihrer Vorstellung fest. „Niemand hat das Recht, ihr das Leben zu nehmen. Niemand außer mir!“

 

„Meine letzte Karte: [Avalon]!“

Eine eisige Kälte durchfuhr Kali, als sie die Stimme Zachariahs aus der Arena vernahm.

„Ich verbanne fünf Monster von meinem Friedhof, darunter mindestens eine Form von König Artus und Lancelot“, erklärte er den Effekt, „um im Gegenzug das gesamte Spielfeld zu vernichten. Um -dich- zu vernichten!“

Orion, seines Zeichens ein Schattengeist, hielt sich die Stummelärmchen über den Kopf und kauerte sich zusammen. „Oh oh …“

Wutentbrannt wirbelte Kali herum. „Gardenia!“

„Es war sein Wunsch. Für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass du dich einzumischen versuchst, bat er mich darum, Zeit für ihn zu schinden.“ Die im Schatten stehende Gardenia drehte sich mit Orion auf der Schulter um. „Nichtsdestotrotz waren meine Worte aufrichtig gemeint, Kali. Es gibt kein Richtig oder Falsch.“

Ein ohrenbetäubender Knall drang von der Arena zu ihnen.

 

~-~-~

 

„Duell!“, riefen Exa und Kakyo unison.

 

[Exa: 4000LP / Kakyo: 4000LP]

 

Etwas am Rand des engen Duellfelds stand Zanthe und verschränkte angespannt die Arme. Um sein Gesicht flackerte ein blaues, zackiges Symbol, einem Schmetterling nicht unähnlich. Durch Exas Zauber konnte Kakyo ihn nicht sehen, solange er nicht unmittelbar vor ihm stand. Ohne diesen hätten sie Kakyo nicht unbemerkt in die Seitengasse neben einer Kneipe zerren können.

„Mach nichts Dummes“, flüsterte Zanthe noch einmal seine Worte von zuvor.

Er begriff jetzt, dass Exa es nicht wirklich darauf anlegte, Kakyo zu töten. Alles bis hierher hatte nur der Einschüchterung gedient, um seine Zunge zu lockern. Wenn der brünette, unscheinbare Bursche das Duell gegen Exa verlor, würde dies auch geschehen.

 

Beide zogen schließlich ihr Startblatt. Und es war der langgewachsene Exa, der schließlich mit autoritärem Tonfall entschied: „Ich fange an. Und beende den Zug.“

Der Kopftuchträger blinzelte verdutzt. „Wie … wie bitte?“

„Im ersten Zug kann man doch eh nichts machen“, rechtfertigte sich der Blonde mit dem Rasterzopf und drehte sich zu seinem Freund um. „Hast du mir doch gestern selbst beigebracht.“

 

„Draw!“, schrie Kakyo aufgewühlt, während Zanthe sich die Hand gegen die Stirn schlug.

„Du hast nicht zugehört“, fauchte der Werwolf im Anschluss wütend, „man kann nicht im ersten Zug angreifen und eine Karte ziehen, mehr nicht.“

Exa legte eine Hand auf den Kopfhörer um seinen Hals und tippte abgelenkt gegen das Gehäuse. „Ich dachte das gilt für-!“

„Ich aktiviere [Spell Economics]“, übertönte Kakyo seinen Gegner lautstark. Vor ihm klappte die permanente Zauberkarte auf, aus der ein alter Lederwälzer samt Schreibfeder erschien. „Solange ich sie besitze, werden sämtliche Lebenspunkte bedingten Aktivierungskosten von Zauberkarten unwirksam. Wie zum Beispiel bei [Instant Fusion]!“

Der junge Mann legte sogleich noch eine Karte in sein D-Pad ein: Das Buch vor ihm klappte von selbst auf, die Feder neben ihr setzte am oberen Rand der linken Seite zum Schreiben an.

„Normalerweise müsste ich 1000 Lebenspunkte bezahlen, um [Instant Fusion] benutzen zu dürfen.“ Eine Klappe an seinem D-Pad seitlich der Monsterkartenzonen sprang auf. Sie verbarg ein Fach voller Karten, von dem sich Kakyo die oberste nahm und vorzeigte. „Jetzt aber sind die Kosten gleich 0. Von daher beschwöre ich jetzt ein Fusionsmonster mit maximal Stufe 5 von meinem Extradeck: [Flame Swordsman]!“

Exa drehte sich erschrocken wieder zu seinem Gegner um. Vor dem stand bereits besagtes Monster: Ein Krieger in blauer Robe, um dessen Hüfte sich ein roter Umhang breit machte. Von gleicher Farbe waren auch sein breiter Hut und die Klinge, die er mit sich führte.

 

Flame Swordsman [ATK/1800 DEF/1600 (5)]

 

„Da ich nicht mit ihm angreifen kann, opfere ich ihn für ein stärkeres Monster!“ Kakyo nahm seine Karte sofort wieder vom D-Pad und tauschte sie mit einer anderen von seinem Blatt aus. Der Flammenschwertkämpfer löste sich in einer weißen Lichtsäule auf, wobei sein Besitzer rief: „Zeig ihm, was du drauf hast, [Dark Magician Girl]!“

Dem Licht entstieg eine wunderschöne, blonde Magierin in blauer Robe, die sich ihren spitz zulaufenden Hut hielt und dabei zwinkerte. In der anderen Hand schwang sie ihren Zauberstab.

 

Dark Magician Girl [ATK/2000 DEF/1700 (6)]

 

„Black Burning!“, befahl Kakyo und deute mit aneinander gelegtem Zeige- und Mittelfinger auf seinen Gegner.

Sofort streckte seine Magierin den Arm mit dem Zauberstab in der Hand nach vorne und schoss daraus eine violette Energiekugel, die mitten in Exas Brust einschlug und explodierte.

„Halt-!“, schrie der, wurde aber von dem Knall übertönt.

 

[Exa: 4000LP → 2000LP / Kakyo: 4000LP]

 

Zanthe schüttelte fassungslos den Kopf. „Hast du es jetzt kapiert!? Wenn du dir nicht mal die Grundregeln merken kannst, dann lass mich lieber ran!“

Wieso hatte er bloß zugelassen, dass sich Exa mit einem angehenden Profi wie Kakyo duellierte!? Zweifelsohne war sein Freund ein kluger Mensch, aber er hatte ihm die Regel nur kurz in einer Bar erläutert! In einer Bar, die sehr viel Alkohol an den Blonden ausgeschenkt hatte!

„Geht schon“, sagte Exa wieder ernster, mit Blick auf Kakyo, „war nur die Aufwärmrunde.“

„Dasselbe gilt auch für mich“, erwiderte jener entschlossen und schob eine Karte unter die Monsterzone seines [Dark Magician Girls]. „Ich spiele eine Karte verdeckt aus und gebe an dich ab.“

Nachdem die Karte vor seinen Füßen vergrößert erschien, hielt er nun lediglich zwei Karten auf der Hand.
 

Bei Exa waren es dagegen, kaum hatte er wortlos aufgezogen, immerhin sechs. Der drehte sich schließlich mit sichtbar ratlosem Gesichtsausdruck Zanthe zu. „Und jetzt?“

„Du musst ein Monster beschwören, das stärker ist als seines“, riet der ihm genervt.

„Ich hab keins!“

„Dann zerstöre [Dark Magician Girl] durch einen Karteneffekt.“

Sich daraufhin seinem Blatt widmend, zuckte der Blonde mit den Schultern. „Da ist nichts. Ah! Aber ich hab doch ein Monster, das stärker ist!“

Zanthe legte seine Hand an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Worauf wartest du dann?“

„Alles klar“, rief sein Freund mit wiederkehrender Ernsthaftigkeit, „ich beschwöre ein Monster. [Satellarknight Rigel]!“

Es war, als würde ein Blitz Zanthes ganzen Körper durchfahren. Der Klang dieses Namens ließ ihn augenblicklich erstarren. Über Exas Spielfeldseite begann eine helle, weiße Sphäre zu strahlen, die ihr Licht in Form einer Säule hinab sandte. Dort, wo der Kegel den Boden traf, stieg eine edle, humanoide Gestalt aus dem Nichts empor.

 

Satellarknight Rigel [ATK/1900 DEF/700 (4)]

 

Es war ein Ritter mit blonder, wallender Mähne, welcher in einer weiß-goldenen Rüstung steckte. In einer Hand hielt er seinen Umhang fest, den er scheinbar nicht tragen wollte, wohingegen er mit den Fingern der anderen einen weißen Schlagstock führte. Zudem drehte sich ein Ring aus Gold auf Hüfthöhe um ihn, an welchem der strahlende Stern in Miniaturversion hing.

„Das … kann nicht sein …“, stammelte Zanthe fassungslos und ließ die Hand von seiner Stirn sinken.

Als der Sternenritter vollkommen aufgetaucht war, schwanden die Sphäre und das Licht über ihm.

„Dieses Monster hat auch einen Effekt“, erklärte Exa ungerührt, „und der macht ein Satellarknight-Monster stärker. Ich hab nur eins, von daher …“

Kakyo ballte seine leere Hand zu einer Faust. „Nicht gut.“

 

Satellarknight Rigel [ATK/1900 → 2400 DEF/700 (4)]

 

Mit dem Finger auf die blonde Hexerin deutend, befahl Exa seinem nun in gelber Aura leuchtendem Monster: „Greif an!“

Augenblicklich holte Rigel mit seiner Waffe aus und richtete sie auf das [Dark Magician Girls]. Schlagartig wurde der Stab immer länger und schoss auf die Magierin zu. Jene wich erschrocken zurück und sah hilfesuchend zu ihrem Herrn.

„Nichts da! So leicht kriegst du sie nicht“, verteidigte jener sein Monster umgehend und schwang den Arm aus. Seine Falle klappte auf. „[Black Illusion]!“

Die Magierin nickte und verschwand plötzlich. So verfehlte sie der Angriff und traf stattdessen Kakyo an der Wange, welcher von der Wucht glatt auf die Knie gezwungen wurde.

„Ahhh!“, stieß er dabei schockiert hervor und hielt sich den Schnitt an der Wange, um welchen sich ein roter Film sowie leichter Dampf bildete.

 

[Exa: 2000LP / Kakyo: 4000LP → 3600LP]

 

Kurz darauf tauchte das Magiermädchen wieder vor ihm auf und fasste ihm mit mitleidigem Blick auf die Schulter. Kakyo nuschelte etwas und erhob sich wieder.

Gleichzeitig stand Zanthe der Mund weit offen. Nicht nur spielte Exa -diese- Monster, nein, er fügte seinem Gegner realen Schaden zu. Wer … wer war er!?

„Ist nur ein Kratzer“, murrte der Brünette unter dem strengen Blick seines Gegners, „solange ich [Dark Magician Girl] beschützen konnte, war es den Schmerz wert. [Black Illusion] behütet sie einen Zug lang davor, im Kampf zerstört oder von Karteneffekten beeinflusst zu werden!“

„Aber er bewahrt dich nicht vor Schäden aus dem Kampf, wie es aussieht“, stellte Exa richtigerweise fest.

In dem Moment stieß Zanthe einen erschrockenen Schrei aus. „Exa! Du musst sofort etwas tun, sonst stehst du am Ende des Zuges ohne Monster da!“

„Was!?“, drehte der sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck um.

„Wenn du Rigels Effekt benutzt, verlierst du das Monster, das davon betroffen war!“, erklärte der Kopftuchträger wild gestikulierend.

Sein Freund machte große Augen. „Oh Mist, das wusste ich gar nicht!“

So suchte er sein Blatt nach einer hilfreichen Karte ab. „Monster … Falle, also … ah, wie wär's mit der hier? Die dürfte doch funktionieren, oder? Ich wechsele in die Main Phase 2 und aktiviere [Satellarknight Skybridge]!“

Vom Himmel herab schoss ein leuchtender, bunter Pfad in die Seitengasse, direkt vor Exas Füße. Während sein Rigel damit begann, jenem schwebend entlang zu folgen, passierte er einen anderen Ritter, der gerade auf dem Weg nach unten war. Dieser war jedoch nicht mehr als eine blau leuchtende Silhouette.

„Ja, das ist gut“, meinte Zanthe nachdenklich, „aber du kannst Schnellzauberkarten wie diese auch in deiner Battle Phase von der Hand aktivieren, schon vergessen?“

Der Blonde rieb sich verlegen den Hinterkopf. „Irgendwie schon. Ist auch egal. Dank dieser Karte darf ich einen Satellarknight von meiner Spielfeldseite mit einem aus meinem Deck austauschen, wenn man es so ausdrücken möchte. Und meine Wahl fällt auf, hmm, ah! [Satellarknight Capella]!“

Als der blau leuchtende Ritter vor Exa ankam, gewann er die Form eines weiß-goldenen Ritters, der in einem Streitwagen saß und Zügel aus gleißendem, gelbem Licht führte. Mit der Besonderheit, dass es gar kein Pferd gab, welches den Wagen zog. Genau wie bei Rigel, drehte sich auch um ihn ein goldener Ring.

 

Satellarknight Capella [ATK/1100 DEF/2000 (4)]
 

„Großartig!“, jubelte Exa sich selbst an Zanthe gewandt zu. „Da kommt seine Magierin nicht drüber!“

„Yeah“, kam es zögerlich zurück.

„Aber ich hab auch noch eine Falle. Die sollte ich auch noch ausspielen, da ich sie sonst nicht benutzen kann“, murmelte der junge Mann nachdenklich und mit einer gewissen Vorfreude. „Also setze ich sie!“

Er führte die Karte in seiner weiß-hellblauen Duel Disk ein, sodass sie zischend vor seinen Füßen auftauchte. Zanthe schnalzte mit der Zunge. „Du solltest so etwas nicht hinausposaunen! Jetzt weiß er, dass er vorsichtig sein muss!“

„Halb so wild“, winkte Exa jedoch unbekümmert ab. Seinem Gegner hingegen zeigte er kurz darauf wie gewohnt seine eisige Seite. „Ich bin hier fertig.“

 

Zanthe atmete beruhigt aus. Immerhin hat der Dummkopf es geschafft, nicht gleich zu verlieren und war jetzt hoffentlich abgesichert. Dafür, dass er ihm nur das Grundprinzip kurz erklärt hatte, machte sich Exa gar nicht so schlecht. Aber mit Kakyo als Gegner? Zumindest besaß Exa ein starkes Deck.

Sofort war es wieder da: Dieses beklemmende Gefühl in seiner Brust, ein Kampf zwischen Hoffnung und der Furcht vor der Gewissheit. Eine, die er erlangen musste, egal was es kostete.

„Woher hast du dieses Deck?“, fragte er Exa scharf, während Kakyo stillschweigend aufzog.

„Weiß nicht“, antwortete der schulterzuckend, ohne sich umzudrehen.

Was dem Werwolf alles andere als gefiel. „Das glaube ich dir nicht!“

„Ich weiß es nicht, okay!?“, wirbelte Exa nun erzürnt zu ihm herum. „Vor ein paar Minuten hatte ich noch gar keins. Du wolltest mir eins besorgen, schon vergessen?“

„Aber es muss doch irgendwie in deinen Besitz geraten sein!“, blieb Zanthe beharrlich wie zunehmend verzweifelt zugleich. „Ohne Deck kann man sich nicht duellieren, aber genau das wolltest du, also-!“

Exa breitete aufgeregt die Arme aus. „Ich weiß nicht, wie -das- genau funktioniert! Nenn' es Instinkt oder was auch immer. Dieses Deck habe ich mir nicht ausgesucht, das hat- egal, das erkläre ich dir später. Zumindest falls ich bis dahin schlauer bin als du ...“

„Versprich es mir!“, forderte Zanthe.

Sein Freund nickte fest. „Versprochen.“

 

Indes nahm Kakyo eine Zauberkarte aus seinem Blatt hervor und legte sie in das rote D-Pad ein. Das Blut, das seine Wange entlang rann, beachtete er gar nicht. Doch auch wenn er entschlossen klang, so hörte man in seinen Worten auch eine unterschwellige Furcht durchklingen. „Ich aktiviere [Dark Magic Curtain], für den ich die Hälfte meiner Lebenspunkte zahlen müsste, aber …“

Seine andere offen stehende Zauberkarte, [Spell Economics], leuchtete auf. Das magische Buch vor dem jungen Mann bekam einen weiteren Eintrag durch die schwebende Feder.

„... ich muss sie nicht zahlen, wie ihr seht“, erklärte Kakyo. Unterdessen tauchte vor ihm ein dunkelblauer Vorhang auf, dessen oberes Ende von einem Skelett gehalten wurde. „Zwar kann ich den Rest des Zuges über nicht mehr beschwören, dafür wird aber sofort mein Assmonster aus dem Deck herbeigerufen!“

Mit einem Ruck riss das Skelett den Vorhang beiseite. „Erscheine! [Dark Magician]!“

Ebenjener war es auch, der schließlich hinter dem Stoff auftauchte und in abwartender Pose verharrte. Ganz in violett gekleidet, umklammerte der Magier seinen grünen Zauberstab. Das Magiermädchen neben ihm strahlte vor Freude und die beiden nickten einander zu.
 

Dark Magician [ATK/2500 DEF/2100 (7)]

 

„Dein Monster hat keine Chance“, verkündete Kakyo aufgeregt und zeigte auf den Streitwagenführer Capella, „greif es an, [Dark Magician]! Black Magic!“

„Er ignoriert die Falle einfach!?“ Zanthe weitete die Augen.

Erbarmungslos streckte der Hexer seinen Zauberstab nach vorne und schoss aus dessen Spitze eine violette Energiekugel ab, die durch die Seitengasse fegte und den Sternenritter zerfetzte.

„Und gleich darauf greift [Dark Magician Girl] direkt an!“, befahl der Brünette mit bebender Stimme. „Black Burning!“

So tat es die blonde Magierin ihrem Meister gleich und lud an der Spitze ihres Zauberstabs eine flammend-violette Lichtkugel auf, die sie auf Exa abschoss.

„Der will unbedingt gewinnen, komme was wolle!“, stellte jener erhitzt fest. „Aber nicht mit mir, ich habe die Falle nicht umsonst gesetzt! Los!“

Besagte Karte namens [Stellarnova Wave] sprang auf. Aus ihr traten ein blauer und ein roter Schwarm funkelnden Staubs in die Höhe und formten dort das Symbol eines Sechsecks, aus dem in alle Himmelsrichtungen Lichtstrahlen abgingen.

„Diese Falle kann ich nutzen, um während deiner Battle Phase einen Satellarknight aus meinem Blatt zu rufen!“ Im Antlitz der violetten Energiekugel schmetterte Exa sein Monster auf die Duel Disk. „Spezialbeschwörung, [Satellarknight Alsahm]!“

Aus der Mitte des Hexagons schoss ein weiterer Lichtstrahl nach unten und schlug dort in Form eines kleinen, weiß-goldenen Ritters ein, der dank abgerundeter, Flügeln nachempfundener Triebwerke über der Luft schwebte …

 

Satellarknight Alsahm [ATK/1400 DEF/1800 (4)]

 

… und sofort im Anschluss von einer Explosion zerstört wurde. Plötzlich schoss aus dem Rauch jedoch ein goldener Strahl, der zwischen den beiden Magiern hindurch flog und Kakyo direkt in die Brust traf. Jener wurde von den Füßen geholt und durch die Luft geschleudert.

 

[Exa: 2000LP / Kakyo: 3600LP → 2600LP]

 

Unter einem schmerzerfüllten Aufschrei prallte er mit dem Rücken auf den Boden und rutschte noch ein Stück weiter an den Mülltonnen vorbei.

„Geschieht dir recht“, sprach Exa unterkühlt, „du musst wissen, wenn Alsahm beschworen wird, fügt er dem Gegner 1000 Schadenspunkte zu. Hättest du mich nicht angegriffen, hätte ich ihn nicht beschwören müssen.“

Kakyo hob den Oberkörper an und sah seinem Gegner trotzig entgegen. „So funktioniert das Spiel aber. Und ich hätte ihn auch beschworen, wenn es nicht nötig gewesen wäre …“

Damit erhob er sich, indem er sich an einer der Mülltonnen hochzog. In seinem T-Shirt klaffte ein faustgroßes Loch, die Haut dahinter war sichtbar blutig und gerötet.

„Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Rede. Das wäre die einzige Chance, hier lebend herauszukommen.“

Aber Kakyo winkte das Angebot mit einem ungläubigen Lachen ab. „Nein danke. Außerdem darf ich gehen, sollte ich das hier gewinnen, oder hältst du dich etwa nicht an Abmachungen?“

„Wer weiß“, erwiderte Exa vielsagend.

„Dann habe ich erst recht keinen Grund, frühzeitig das Handtuch zu werfen.“ Der junge Mann nahm seine vorletzte Handkarte und ließ sie in das D-Pad ein. „Ich spiele die hier verdeckt aus und gebe an dich ab.“

Mit einem Zischen materialisierte sie sich Stück für Stück vor Kakyo, welcher sich an die schmerzende Brust fasste.

„Denk an deine Gesundheit!“, mahnte Zanthe und versuchte es mit einem etwas freundlicherem Tonfall. „Wir wollen nur wissen, wer Kyon ist und wie du mit ihm in Verbindung stehst.“

Allerdings blieb der Brünette stur und nickte zu Exa herüber. „Dazu müsste er mich schon besiegen. Aber wenn das passiert, wer weiß, ob ich dann noch lebe!“

 

„Das finden wir bald heraus“, prophezeite der düster und zog seine nächste Karte, womit er bei drei Stück angelangt war. „Hmm … jetzt wird es wirklich schwierig.“

Zanthe seufzte. Er schlenderte herüber zur Außenwand der Kneipe und lehnte sich an ebenjene, verschränkte dabei die Arme. Neben ihm befand sich die Hintertür.

Das Symbol vor seinem Gesicht berührend, fragte er sich, wie das alles hier wohl ausgehen mochte. Hätte er doch bloß das Ruder in die Hand genommen …

„Denk dran, dein Deck ist nicht die einzige Quelle von starken Monstern“, sagte er dabei in Exas Richtung.

„Oh, richtig!“ Der nahm eine Karte aus seinem Blatt. „Ich brauch drei, richtig?“

„Ja. Aber woher weißt du das, ohne nachgesehen zu haben?“, hakte Zanthe skeptisch nach.

„Instinkt“, erwiderte Exa ernst, „und ich weiß sogar, was ich dafür tun muss. Als ob …“

„... du dieses Deck bereits benutzt hast.“

„Ja. Nur ist das völlig unmöglich.“ Der Blonde nahm eine Karte aus seinem Blatt. „Aber vielleicht lösen wir dieses Rätsel, wenn wir den da zum Sprechen bringen.“

Zanthe schloss die Augen und nickte. „Ja …“

Das Monster auf seine Duel Disk legend, rief Exa: „Dann tun wir es! Normalbeschwörung, [Satellarknight Vega]! Und wenn sie gerufen wird, kann ich noch einen spezialbeschwören: [Satellarknight Altair]!“

Gleich im Anschluss legte er noch ein Monster von seiner Hand auf den Apparat an seinem Arm. Zwei grelle Sterne begannen über dem Feld zu leuchten und schickten ihr Licht in die Gasse hinab. Als die Kegel den Boden erreichten, stiegen dort zwei Krieger auf. Die eine trug ein weiß-rosanes Kleid und eine goldene Metallstola. Altair dagegen war ein blau-weißer Ritter mit leuchtend blauen Energieflügeln. Wie bei allen ihrer Art, drehten sich auch um ihre Hüften goldene Ringe mit einem Miniaturplaneten daran.

 

Satellarknight Vega [ATK/1200 DEF/1600 (4)]

Satellarknight Altair [ATK/1700 DEF/1300 (4)]

 

Exa streckte den Arm nach unten gerichtet aus. „Und Altair besitzt auch einen Beschwörungseffekt. Er holt einen Sternenritter vom Friedhof, im Verteidigungsmodus, aufs Feld!“

Sein Monster imitierte die Pose und ließ eine goldene Lichtsäule vor sich aus dem Boden brechen, die den Bogen schießenden Krieger mit sich brachte.

 

Satellarknight Alsahm [ATK/1400 DEF/1800 (4)]

 

Jener spannte seine Waffe unverzüglich und schoss einen Pfeil ab, welchem Kakyo mit einem Hechtsprung zur Seite ausweichen konnte. Dabei stieß er gegen die Mülltonnen und musste sich an ihnen festhalten, um nicht umzukippen. Nicht weit hinter ihm knallte es.

 

[Exa: 2000LP / Kakyo: 2600LP → 1600LP]

 

„Nochmal passiert mir das nicht!“ Kakyo stieß sich von der Mülltonne ab. „Aber trotzdem, gut gespielt. Dafür, dass du offenbar ein Anfänger bist, hast du Einiges auf dem Kasten.“

„Spar' dir die Schmeicheleien“, schmetterte sein Gegner diese eiskalt ab. „Abgesehen davon kommt der wirklich schlimme Teil erst jetzt!“

In diesem Moment riss Exa seinen Arm in die Höhe. „Ich führe eine Xyz-Beschwörung durch!“

Zanthe musste in sich hineingrinsen, wie ungekünstelt sein Freund mit dem Duellieren doch umging. Was das anging, hatte er recht wenig mit -ihm- gemeinsam. Sofort durchbohrte ein bitterer Schmerz sein Herz. „Alessandro …“

Ein Schwarzes Loch öffnete sich vor Exa, dessen drei Ritter sich in gelbe Lichtstrahlen verwandelten und in es hineingezogen wurden. „Erscheine, Herr des Winterdreiecks! [Stellarknight Triverr]!“

Gleißendes Strahlen drang aus dem Overlay Network. Diesem entstieg ein weißer Ritter, prachtvoller als seine Vorgänger es je hätten sein können. Unbeständig flatterte der weiße Umhang um seine Schultern, als er sein Lichtschwert zog. An seinem anderen Arm hingegen befand sich ein Schild, geformt aus den drei Ringen der Satellarknights. Zwischen ihnen spannte sich ein Dreieck aus purem Licht, welches die eigentliche Schutzfunktion einnahm. Jene drei Ringe drehten sich und mit ihnen auch die Miniplaneten daran, in denen sich die leuchtenden Overlay Units befanden.

 

Stellarknight Triverr [ATK/2100 DEF/2500 {4} OLU: 3]

 

„Dieser sagenhafte Sternenritter hat einen besonderen Effekt, der dich zu Fall bringen wird“, drohte Exa seinem Gegner an und schwang den Arm aus, „bei seiner Beschwörung schickt er alle anderen Karten auf dem Feld ins Blatt ihrer Besitzer zurück!“

Kakyo erwiderte trocken: „Aha …“

„Great Southern Triangle!“, befahl Exa lautstark.

Der weiße Ritter begann sich in um die eigene Achse zu drehen. Dabei ließ er sein Schwert nach links und rechts ausschwenken, bei jeder Bewegung löste sich eine eisige Schockwelle von der Klinge. Es war wie die Aufführung eines Balletts, wie Triverr tanzte. Eine der Wellen erfasste Exas [Stellarnova Wave]-Fallenkarte, eine andere dagegen Kakyos [Spell Economics]-Zauber. Auch auf das Magiergespann schossen die weißen Lichtklingen zu. Und durch sie hindurch, da sie plötzlich verschwanden. Womit es Kakyo war, der beide Angriffe abbekam.

 

[Exa: 2000LP / Kakyo: 1600LP → 600LP]

 

„Ahhh!“, schrie der, von dessen Schultern nun blutige Schnitte klafften. Seine freie Hand auf den einen legend, sagte er: „Ich hab dir gesagt … du kriegst sie nicht. Keinen der beiden!“

Vor ihm stand die Falle [Trap Of Darkness] offen. Kakyo erklärte: „Sie lässt mich eine Falle in meinem Friedhof kopieren, aber das kostet 1000 Lebenspunkte. [Black Illusion]!“

Seine beiden Magier tauchten wieder an genau derselben Stelle auf, an der sie eben verschwunden waren. Zusammen hielten sie ihre Zauberstäbe vor Kakyo über Kreuz, als ob sie zum Ausdruck bringen wollten, dass Exa erst an ihnen vorbei musste, um den jungen Mann zu bekommen.

„Der Trick bringt dir auch nur so viel“, murrte der fast zwei Meter große Exa, „Effekt von Triverr! Ich hänge ein Xyz-Material ab, damit du eine durch den Zufall bestimmte Karte abwerfen musst!“

Besagter Sternenritter hielt seinen Schild schützend vor sich. An dessen oberem Ring verschwand der Planet.

 

Stellarknight Triverr [ATK/2100 DEF/2500 {4} OLU: 3 → 2]

 

Infolge dessen schoss aus der Mitte des Energiedreiecks ein Strahl, der an den erschrockenen Magiern vorbei zischte und Kakyo in die Hand traf. Der schrie schmerzhaft auf und ließ eine Karte fallen, die mit der Vorderseite nach unten auf dem Boden landete. Blut tropfte auf sie hinab.

„Gut, ich kann deine Magierin nicht zerstören. Aber dir Schaden zuzufügen reicht mir völlig.“ Exa streckte die Hand nach vorn. „Angriff auf [Dark Magician Girl]! Southern Cross!“

Um seinen Winterritter peitschten plötzlich sturmartige Winde, die Schneeflocken mit sich wirbelten. Dann schoss er wie ein Pfeil auf die blonde Magierin zu, drehte sich dabei in der Luft einmal um die eigene Achse und verpasste ihr schließlich zwei entgegen gesetzte Hiebe, sodass aus der kreischenden Hexerin spitze Eisspeere in alle Richtungen schossen. Kakyo, welcher sich gerade nach seiner verlorenen Karte bückte, sah einen nur knapp über seinen Kopf hinweg fegen.

 

[Exa: 2000LP / Kakyo: 600LP → 500LP]

 

Kaum war das getan, zog sich Triverr zurück.

„Ich setze die hier“, meinte dessen Besitzer und schob die Karte in seine Duel Disk, „Zug beendet.“

Schließlich zersprang das Eis und die Magierin atmete erleichtert auf. Zeitgleich tauchte die gesetzte Falle vor Exas Füßen auf.

Insgeheim musste Zanthe staunen, wie er das alles aus den Augenwinkeln mit ansah. Für einen Anfänger machte sich sein Freund immer besser. Ob das auch in Zusammenhang mit der Tatsache stand, dass er -dieses- Deck besaß? Alessandros Deck …

 

„Was ist das für ein Krach!?“, donnerte plötzlich eine tiefe Stimme und die Tür neben Zanthe wurde aufgerissen.

Ein bulliger, bärtiger Mann stampfte heraus, in weißem Hemd und dunkler Weste steckend. Scheinbar der Barkeeper, wenn man dem Geschirrtuch an seinem Hosenbund trauen konnte.

„Ihr da!“, fauchte er die beiden Duellanten an, als er sie bemerkte. „Was treibt ihr da!?“

Von Zanthe nahm er keine Notiz, obwohl dieser direkt neben ihm an der Wand lehnte und sich aufgeschreckt von dieser abstieß.

„Locker bleiben, wir duellieren uns doch nur“, äußerte sich Exa dem Barkeeper gegenüber heiter, wobei er ihn dabei dennoch nicht einmal ansah.

Jener bemerkte plötzlich, dass Kakyo verletzt schien. „Bursche, du blut-!“

In dem Moment krachte schon Zanthes flache Hand gegen seinen dicken Hals. Der Bärtige fiel bewusstlos vorne über, ganz zum Schrecken des angehenden Profiduellanten. Unruhig betrachtete Zanthe seine Tat. „Wo der her kommt, gibt’s bestimmt noch mehr.“

„Egal, das hier dauert nicht mehr lange. Gut gemacht“, wurde er dabei noch von Exa gelobt.

„Wie könnt ihr so etwas tun? Der Mann hat euch nichts getan!“

Auf Kakyos Empörung hin erwiderte der Blonde: „Dazu wäre es gar nicht erst gekommen, wenn du gleich auf unsere Forderung eingegangen wärst. Daran bist du schuld. Ach, und du mach die Tür zu.“

Zanthe wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, tat aber wie ihm geheißen und stieg über den Barkeeper hinweg. Als er die Tür zu schob, warf er einen Blick über die Schulter zu Exa herüber. Ob es ihm überhaupt etwas ausmachte? Dann wunderte er sich, ob es -ihm- etwas ausgemacht hatte, diesem Mann sofort einen Schlag zu verpassen. Es war eine instinktive Reaktion gewesen, denn hätte der Kerl Alarm wegen Kakyos Wunden geschlagen, hätten sie das hier abbrechen müssen …

 

„Ihr seid wirklich das Letzte!“, ereiferte sich jener zornig und griff nach seinem Deck. „Hoffentlich bekommt ihr dafür eure gerechte Strafe! Draw!“

Mit Schwung zog er eine Karte nach. Zunächst warf er seinem Gegner einen abweisenden Blick zu, bis er schließlich leise vor sich hin murmelte: „… kein Risiko eingehen …“

Zu Exas und Zanthes Überraschung streckte er seinen Arm mit dem D-Pad aus, um dann auf den oberen Bildschirm zu tippen, welcher die feindliche Spielfeldseite abbildete. Besser gesagt war es Triverrs Karte dort, welche er berührte.

„... dacht' ich's mir doch, das Ding hat noch einen Effekt!“

Sein Gegenüber blinzelte erstaunt. „Was? Worum geht es hier?“

„Das weißt du genau!“, erwiderte Kakyo und nahm seine beiden Handkarten und schob sie parallel in den Apparat. „Klappen wird das jedoch nicht! Ich aktiviere [Diffusion Wave Motion]! Und natürlich auch [Spell Economics], wodurch ich keine 1000 Lebenspunkte zahlen muss, um Erstere zu aktivieren!“

Gleichzeitig sprangen beide Zauberkarten vor ihm auf. Sein violetter Magier streckte im Anschluss unvermittelt den Zauberstab in die Höhe.

„Das ist doch …“, nuschelte derweil Zanthe nachdenklich.

„Dieser besondere Zauber wirkt nur auf besonders hochstufige Hexer“, erklärte Kakyo zeitgleich und zeigte auf [Stellarknight Triverr], „damit wird der Effekt jedes Monsters annulliert, das von ihm im Kampf vernichtet wird. Los! Black Magic Wave!“

[Dark Magician] schwang den Zauberstab nach vorne und schickte von ihm eine wellenförmige Schockwelle los, die geradewegs auf den Sternenritter zuschoss. Es folgten drei weitere. Wie sie sich ihren Weg durch die Gasse bahnten, fingen sie hellblau-schwarze Flammen und durchtrennten ihr Ziel schließlich an mehreren Stellen des Körpers. Exa wich schnaufend zurück.

 

[Exa: 2000LP → 1600LP / Kakyo: 500LP]

 

Vor ihm öffnete sich im Boden unerwartet ein goldenes Portal. „Ah, das ist-!“

Der Blonde sollte den Satz jedoch nicht beenden, da tosende Blitze aus jenem Runenzirkel schlugen, welcher sich sogleich wieder schloss.

„Wie ich sagte“, sprach Kakyo entschlossen, „[Diffusion Wave Motion] lässt den Hexer die Effekte der zerstörten Monster negieren. Also kann dein Triverr kein Monster vom Friedhof beschwören, wie du es gerne hättest. Eines wie [Satellarknight Alsahm] zum Beispiel …“

Im selben Moment kam auch Zanthe zu dieser Erkenntnis und sah auf. „Natürlich! Damit hättest du ihn besiegen können! Alsahm hätte ihm genug Schaden zugefügt.“

„Hätte ich?“, schien sich Exa da jedoch gar nicht so sicher zu sein und drehte sich um. Dann zuckte er mit den Schultern. „Wäre ich nie drauf gekommen.“

Was den Werwolf zurückgiften ließ: „Vielleicht solltest du seinem Beispiel folgen und die Effekttexte deiner Karten auch mal durchlesen!“

Jedoch wirbelte sein Freund bereits wieder herum. „Mach ich. Aber wenn ich jetzt nichts unternehme, wird seine üppige Magierin dort mir eins überbraten. Effekt von [Stellarnova Wave]!“

Seine Falle klappte auf. Seine letzte Karte vorzeigend, rief Exa Kakyo entgegen: „Damit beschwöre ich [Satellarknight Sirius], in die Verteidigung!“

Ein Lichtstrahl schoss aus dem Sechseck am Himmel und schlug vor Exa ein. Mit der Hand über die Duel Disk fahrend und dabei das Monster ablegend, ließ der große Blonde einen Ritter vor sich erscheinen, der vor ihm in die Knie ging. Auffallend an ihm war sein Helm, der mit seinen Ohren und dem einer Schnauze ähnelndem Visier dem Kopf eines Wolfes nachempfunden war. Auch um ihn kreiste ein Ring mit einem Stern daran.

 

Satellarknight Sirius [ATK/1600 DEF/900 (4)]

 

„Damit aktiviere ich auch gleich den Effekt dieses Monsters“, rief Exa. Nach und nach schoben sich fünf Karten aus seinem Friedhof, die er vorzeigte und dann aufs Deck legte, „ich mische Rigel, Altair, Alsahm, Vega und Triverr in mein Deck zurück. Und ziehe anschließend eine Karte! Draw!“

Noch während er im Begriff war zu ziehen, schüttelte Kakyo kaum merklich den Kopf. „Unnötige Aktion …“

„Hm?“, wunderte sich Exa, ohne seine neue Handkarte anzusehen.

„Du hättest ebenso nachschauen sollen, was [Diffusion Wave Motion] bewirkt. Sie lässt nur das von ihr betroffene Monster in diesem Zug angreifen“, erklärte sein Gegner und formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole, „dafür aber darf es jedes Monster meines Gegners angreifen!“

Zanthe schlug sich kopfschüttelnd die Hand vor die Stirn. „Ist nicht wahr …!“

„Nochmal lasse ich dich kein Xyz beschwören! [Dark Magician], Black Magic Wave!“

Kakyo machte mit seiner Hand eine Bewegung, als würde er eine Kugel auf Exas Sternenritter abfeuern. Sein Hexer aber schickte mehrere der violetten Energiewellen in dessen Richtung, die Sirius in seine Einzelteile zerlegten.

„Das gibt’s doch nicht! Und ich dachte-!“, schnaubte Exa verärgert.

„Da sie nicht angreifen kann, wechsle ich [Dark Magician Girl] in den Verteidigungsmodus. Du bist dran“, wurde er von Kakyo übertönt, der besagte Karte auf seinem D-Pad in die Horizontale drehte.

Sogleich hielt die hübsche, blonde Magiern schützend ihren Zauberstab vor den Körper.

 

Dark Magician Girl [ATK/2000 DEF/1700 (6)]

 

„Ugh!“ Unvermittelt sackte der Brünette beinahe zusammen, fand nur dadurch Halt, dass er sich Richtung der Mülltonnen fallen ließ und sich an einer davon abstützte.

„Du bist nicht der Verfassung, noch weiter zu kämpfen“, quittierte Exa dies mit einem geradezu herrischen Blick, „also mach es nicht noch schlimmer. Beantworte einfach-!“

„Nein!“, presste Kakyo durch seine Zähne.

„Gut, wie du willst?“ Gar nicht lange fackelnd, riss Exa eine zweite Karte von seinem Deck und sah sie neugierig an. „Oh …“

Alarmiert horchte Zanthe auf. „Was ist? Kannst du mit den Karten nichts anfangen?“

„Nicht wirklich“; erwiderte sein Freund abwesend.

„Dann gib auf und lass mich gehen. Ich werde niemandem von dieser Begegnung erzählen, versprochen!“ Doch Kakyos Bitte wurde mit einem Kopfschütteln abgetan.

„So schnell kann sich das Blatt wenden“, sinnierte Exa und sah plötzlich gen Himmel, „sollte ich wirklich …?“

Mit nachdenklichem Blick senkte er den Kopf wieder und warf einen Blick auf seine Duel Disk, wobei er flüsterte: „Schätze, eine andere Wahl bleibt mir nicht. In dem Fall hätte ich auch gleich sein Angebot annehmen können. Aber das ist nicht meine Art, schätze ich. Wenn ich so etwas benutze, bestimme ich selbst, wie es auszusehen hat …“

Zanthe, der dank seiner übermenschlich ausgeprägten Sinne jedes Wort verstanden hatte, verkrampfte. Hatte sein Freund noch ein Ass im Ärmel?

Jener ballte urplötzlich eine Faust und presste sie gegen seine Brust, wobei er die Augen schloss. „The stars have decided! Summoning contract established!“

Wie in Zeitlupe nahm er die Hand und streckte sie in die Höhe. Sieben Lichter stiegen aus seiner Brust auf, kreisten umeinander und positionierten sich dann über ihm in einem ganz bestimmten Muster. Jedes erwies sich als Bestandteil eines bestimmten Kreises, die wie die Wellen einer Wasseroberfläche ineinander lagen.

„Witness the creation of the eternal gate!“

Die Lichter erloschen und kurzerhand verwandelten sich die Kreise in verschiedene Schichten einer Steintafel. Jede drehte sich dabei entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn, und dort, wo einst das Licht schien, leuchtete stattdessen eine Rune mit einem unbekannten Symbol.

Der Anblick des riesigen Tores verunsicherte den sonst so bodenständigen Zanthe endgültig. „Was zum Henker ist das!? Kein Synchro, aber auch kein Xyz!?“

Nicht weniger gebannt starrte Kakyo die insgesamt sieben ineinander liegenden Steinkreise an. Er war sichtbar sprachlos, wenngleich sein Mund auch offen stand.

„The contract is established!“ Schlagartig riss Exa die erhobene Hand wieder herunter und präsentierte seinem Gegner den Handrücken, auf dem ein kompletter, türkis leuchtender Schriftzug eingraviert war. Es handelte sich um die sieben Runen in den Kreisen. „Open the eternal gate! Excel Summon!“

„Excel Summon!?“, wiederholten Zanthe und Kakyo im selben Atemzug entgeistert.

In diesem Moment schoss aus Kakyos Sicht der innerste Steinkreis nach hinten, in die Ferne, in das Nichts einer bunten Raumverzerrung. Ihm folgte der nächstgelegene, dann wiederum der nächste. Als ob sie einen Pfad in eine andere Welt bildeten, bis nur noch der äußerste Ring übrig blieb,

„Grade 7! Rule indefinitely, [Cosmic Enforcer – Event Horizon]!“

Der Pfad über ihm weitete sich in alle Richtungen aus, ganz an seinem Ende sah Kakyo ein strahlendes Licht. Das direkt aus dem Tor schoss. Ein dunkler Schatten legte sich über die Gasse. Alle drei legten ihre Köpfe in den Nacken, um das Monster zu sehen, was dort mehr über Kakyo, denn über seinem eigentlichen Besitzer schwebte. Jener pfiff anerkennend. „Das kommt also dabei heraus, wenn ich Excelsior direkt ins Spiel bringe? Coole Sache!“

Etwas, das Kakyo mit Sicherheit anders sah, konnte man seiner versteinerten Miene Glauben schenken. Mit geweiteten Augen betrachtete er das riesige Schlachtschiff, welches sich nun im Rückwärtsflug über Exa positionierte. Der Schwerpunkt der Maschine befand sich ganz an deren hinterem Ende in Form einer sphärischen Hauptkomponente mit vier in jeder Richtung abstehenden Tragflächen, wobei der innere Teil besagter Zentrale ausgehöhlt und mit einem leuchtenden Kern versehen war. Von dort an befanden sich in regelmäßigen Abständen spitz zulaufende Mini-Tragflächen vor den eigentlichen Tragflächen, die jedoch in keinster Weise mit dem Schiff verbunden waren.

Selbst Zanthe war sprachlos bei diesem Anblick.

 

Cosmic Enforcer – Event Horizon [ATK/2500 DEF/2000 X7]

 

~-~-~

 

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Einige der Zuschauer erhoben sich von ihren Sitzen, dennoch konnten sie nicht durch den Rauch sehen, der Anyas ganze Spielfeldseite einnahm.

„Das war ein lauter Knall!“, durchbrach Mr. C die Stille, klang dabei ungewöhnlich verloren. „Ist, also ist …?“
 

Zachariah stand regungslos da, sein Finger lag noch auf dem Auslöser unterhalb der Fallenkarte, die aufgeklappt vor ihm stand. Abgebildet war ein bewusstloser König Artus, wie er inmitten einer grünen Wiese nahe einer Klippe lag und von der blonden Herrin des Sees, Viviane, sowie Königin Gwenwhyfar umsorgt wurde. Ansonsten war sein Feld leer.

Der Schweiß rann seine Stirn hinab. Der Rauch verzog sich nicht. Aber es wurde auch kein Feueralarm ausgelöst. Hatte es geklappt? War sie wirklich tot? Er wollte dem nachgehen, doch sein Körper rührte sich nicht. Gelähmt wie er war, vom Gedanken an die eigene Tat, konnte er nur dort stehen und warten.

„Zach!“, hörte er jemanden seinen Namen rufen.

Er drehte sich um, blickte zu dem Gang, durch den die Duellanten in die kreisrunde Arena geführt wurden. Dort stand sie, Kali, in ihrer schwarzen Kutte und verharrte ebenso erstarrt wie er. Sein Name war alles, was sie herausgebracht hatte, ihm folgten keine weiteren Worte.

Der große Blonde wollte etwas erwidern. Dass er es geschafft hatte, sie von ihrem Leid befreit hatte, aber … es ging nicht. Wieso konnte er sich nicht freuen!?

 

„Ist Anya Bauer in Ordnung?“, wunderte sich der Kommentator schließlich aufgeregt. „Immer noch keine Reaktion!“

Zach spürte die erwartungsvollen, teils unsicheren Blicke des Publikums, wie sie sich in seinen Nacken bohrten. Er musste etwas tun, und sei es nur, um nicht aufzufallen. Daher verkündete er, mit aller Fassung, die er aufbringen konnte: „Zug beendet.“

 

„Na endlich, ich dacht' schon, ich muss hier noch drei Stunden warten!“

Mit nur einer Handbewegung von der anderen Spielfeldseite wurde der Rauch regelrecht davon geblasen. Anya stand völlig unversehrt dort, mit deutlich hervorstechender, pochender Ader auf der Stirn und ebenso wie Zach mit keiner einzigen Karte unter ihrer Kontrolle.

Der Mund ihres Bruders öffnete sich, doch es kam nur ein ersticktes Geräusch daraus hervor.

„Was!? Dachtest du, ich gehe vor Schreck drauf oder was?“, giftete das Mädchen scheinbar ahnungslos. „Was sollte diese dämliche Aktion überhaupt!?“

Nur eine Frage hämmerte in diesem Moment im Kopf des ältesten Bauer-Sprosses. Wie hatte sie die Explosion überlebt? Nein … Das D-Pad an ihrem Arm war intakt. Demnach war die Bombe nie hochgegangen …

 

„Was hast du gemacht!? Hast du es gewusst!?“

„Was gewusst? Dass ich jetzt gewinnen werde?“, hakte die deutlich Kleinere grantig nach und griff nach ihrem Deck. Anders als ihr Bruder hielt sie auch keine Karten auf der Hand. „Natürlich weiß ich das! Als ob ich an jemandem wie dir scheitern werde! Draw!“

Voller Schwung zog sie, sich dessen bewusst, dass dies die entscheidende Runde war – und die Sache war entschieden, denn [Noble Arms – Excaliburn II] würde Zach ins Verderben stürzen. Aber Anya wollte mehr. Sie wollte in ihrem Zug gewinnen. Und nur ein Blick auf die nachgezogene Karte verriet ihr, dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde. „Ich aktiviere [Monster Reborn]!“

Zachariah zuckte zusammen. „Machst du Witze!?“

„Könnte das die alles entscheidende Aktion sein!?“, überschlug sich Mr. C derweil.

„Jetzt komm und hol dir, was schon längst überfällig ist!“, stieß Anya einen Schrei in die Luft aus, als sich vor ihr ein Runenzirkel öffnete. „Eine mächtige Tracht Prügel! Kehre zurück, [Gem-Knight Pearl]!“

Unter den aufgeregten Zurufen des Publikums entstieg dem Lichtkreis der weiße Ritter mit den blauen Augen, welcher wie so oft die Arme verschränkt hielt. Um ihn herum schwebten die sieben Riesenperlen.

 

Gem-Knight Pearl [ATK/2600 DEF/1900 {4} OLU: 0]

 

Zeitgleich wich Zach immer mehr zurück. „D-du warst das, nicht wahr!?“

Er zeigte mit dem Finger auf Pearl, der sich jedoch nicht regte. Was auch Grund genug für Anya war, vorsichtig nachzufragen, obwohl sie das eigentlich nicht in aller Öffentlichkeit tun sollte. „Bist … bist du in Ordnung?“

Nichts. Das Mädchen schluckte. Jedoch mahnte sie sich, dass sie gleich noch genug Zeit haben würde, um sich mit Levrier zu beschäftigen. Zuerst musste sie ihren verdammten Bruder einstampfen. Und das würde sie jetzt auch, endgültig!

Den Arm ausschwingend, kniff sie fest die Augen zusammen und befahl: „Los, [Gem-Knight Pearl]! Lösche seine restlichen Lebenspunkte aus! Direkter Angriff mit Sacred Spheres of Purity!“

Wie ein Puppenspieler hob der weiße Ritter seine rechte Hand und musste nur ein wenig die Finger bewegen, damit die kohlkopfgroßen Perlen um ihn herum wie Kanonenkugeln auf Zachariah zu schossen.

„Sayonara, Arschloch!“, feixte Anya dabei bitterböse grinsend.

Dann wurde ihr Bruder schon von den Perlen erfasst, die um ihn herum im Boden einschlugen und mehrere kleine Explosionen verursachten. Alles, was sie noch hörte, als ihr Bruder im daraus resultierenden Qualm verschwand, war „Scheiße!“.

 

[Anya: 100LP / Zachariah: 200LP → 0LP]

 

„Das ist es, das Ende dieses fantastischen Duells! Wer hätte gedacht, dass die kleine Schwester am Ende als Siegerin hervortreten würde!?“

Anya nahm Mr. Cs aufgeregte Worte und den anschließend einsetzenden, teilweise schon tosenden Applaus des Publikums, aber auch deutlich daraus hervorstechende Buhrufe kaum wahr. Sie sah nur auf den Ergebnisbildschirm oberhalb der Zuschauerränge zu ihrer Rechten, wo eindeutig stand, wer dieses Duell gewonnen hatte.

Mit einem Schlag überkam es sie. Sie hob die Faust in die Luft und schrie: „Booyah! Wer ist hier der Boss, Mistkerl!?“

Die Hologramme verschwanden und mit ihnen auch der Rauch, der Zach kurz zuvor noch umgeben hatte. Jener steuerte bereits festen Schrittes auf den dunklen Gang am Ende des Spielfelds zu, ohne seiner Gegnerin überhaupt zu gratulieren.

Anya sah ihm nachdenklich hinterher. „Zach … tch!“

 

Wie ein … geprügelter Hund …

 

Levrier, schoss es Anya durch den Kopf und ihre Miene hellte sich schlagartig auf. „Du bist-!?“

Tatsächlich sollte sie nicht dazu kommen, sich nach dessen Befinden zu erkundigen, da sie plötzlich von allen Seiten von Kameraleuten und Reportern mit Mikrofonen in der Hand umzingelt wurde. So sehr, dass die Leute ihr glatt auf die Pelle rückten.

„Wie fühlt sich der Sieg an?“, fragte eine Journalistin.

„Erzählen Sie uns etwas über ihre Familientragödie, Mrs. Bauer!“, ein anderer, der ihr glatt mit seinem Mikrofon gegen die Wange stieß.

Anya, die kaum mehr Luft zum Atmen bekam, stammelte verloren: „H-hey, macht mal halblang!“

 

~-~-~

 

Kyon schob seine Sonnenbrille mit der Spitze des Zeigefingers zurück auf die Nase. Der ganz in Schwarz gekleidete Butler des Sammlers sah auf zu dem riesigen Raumschiff, das sich über der Seitengasse befand.

„Beeindruckend“, flüsterte er für sich, „aber ich habe nichts Geringeres von dir erwartet.“

 

Völlig von den Ereignissen abgelenkt, bemerkte Zanthe nicht, wie der Mann mit dem schulterlangen, schwarzen Haar auf dem Dach der Kneipe stand und ihn beobachtete. Auch er hatte seinen Kopf in den Nacken gerissen, betrachtete die seltsame Maschine mit diesen von ihren vier Tragflächen abstehenden, regelmäßig auftauchenden Spitzen.

Dieses Ding, Exa hatte es aus dem Nichts beschworen. Ohne dafür etwas zu tun! Excel Summon hatte er es genannt!? Was für eine Art Monster war das dann!?

„Exa!“, wollte er seinen Freund umgehend dafür zur Rede stellen, doch der winkte mit erhobener Hand ab.

„Nicht jetzt.“

 

Der Blonde drehte den Kopf leicht zur Seite und sah aus den Augenwinkeln zum Dach der Kneipe, vor dessen Außenwand Zanthe stand. Anders als der Werwolf, hatte er Kyon sehr wohl bemerkt, wandte sich jedoch wieder ab, ohne dies kundzutun.

Also war seine Eingebung richtig gewesen, dass sein Retter auftauchen würde, wenn man diesen Knirps dort bedrohte. Ab wann würde er sich preisgeben, fragte sich Exa. Vielleicht, wenn man den Druck auf seinen Schützling oder was auch immer erhöhte?

Der stand da wie angewurzelt, hatte ebenfalls nur Augen für jenes unbekannte Monster. Exa warf daraufhin ebenfalls einen Blick auf seine Duel Disk, wo die Karte lag. Anders als andere Monsterarten, fehlte ihm ein farblicher Rahmen. Stattdessen war die komplette Karte mit dem dunklen Artwork von Event Horizon ausgefüllt, mit Ausnahme des Effekttextes, dessen Abschnitt davon deutlich blasser hervorgehoben war.

„Excel Summon, huh?“, nuschelte er selbst ein wenig fasziniert. „Das wolltest du mir also andrehen?“

Dann aber blickte er zu Kakyo auf. „So, genug gegafft! Das Duell geht weiter!“

Keuchend riss sich sein brünetter Gegner von dem Anblick los. „Was ist das!?“

„Etwas, das nicht jeder zu sehen bekommt“, erwiderte Exa bestimmend. Plötzlich streckte er den Arm vor, „wie wäre es also mit einer Kostprobe seines Effekts? [Cosmic Enforcer – Event Horizon]! Black Hole Distortion!“

Sowohl Kakyo, als auch Zanthe stießen erschrockene Seufzer aus, als sich die verschiedenen, vor dem Schiff schwebenden Spitzen zu allen Seiten ruckartig ausbreiteten. Unvermittelt schoss aus jeder der über ein dutzend Maschinen ein weißer Lichtstrang, die allesamt dasselbe Ziel hatten: [Dark Magician]. Jener wurde erfasst und gefesselt, und trotzdem er sich mit aller Kraft zu wehren versuchte, wurde er von Kakyos Spielfeldseite fortgerissen.

„Nein!“, schrie der mit ausgestreckter Hand. Auch [Dark Magician Girl] sah ihrem Lehrmeister verzweifelt hinterher.

In der Innenseite des Raumschiffes schob sich derweil aus jeder Tragflächen eine Antenne, die zusammen unter großer Spannung einen dunklen Riss generierten, der rasend schnell anwuchs. Und in genau jenen wurde [Dark Magician] hineingeführt, bis er vollständig verschwand.

Kakyo weitete die Augen. „W-was hast du getan!?“

„Keine Bange, dein [Dark Magician] ist nicht wirklich verloren. Du bekommst ihn wieder.“

Dies ließ seinen Gegner aufhorchen. „W-was?“

Vor Exa tauchte plötzlich drei Reihen a fünf Karten auf, wobei in der letzten eine fehlte. Manche mit violettem Rand, andere mit schwarzem. Zanthe erkannte sie als Kakyos Extradeck wieder.

„Nun ja, nicht in seiner ursprünglichen Form zumindest“, erklärte der Blonde derweil und überflog mit einem kurzen Blick die Karten. „Sondern als eine der Karten in deinem Extradeck, die mithilfe deines Magiers beschworen werden kann. Ah! Die nehm' ich, die sieht schwach aus!“

Er hob seine Hand in die Höhe. „White Hole Emission!“

Plötzlich änderte das Schwarze Loch inmitten des Schiffes seine Farbe und wurde weiß. Aus ihm schoss ein gleichfarbiger Strahl direkt vor Kakyons Füße und gab ein völlig neues Monster preis.

„[Dark Flare Knight]!?“, nannte der den schwarzen Ritter beim Namen, welcher einen rot umrandeten Schild sowie eine glühende Klinge mit sich führte.

 

Dark Flare Knight [ATK/2200 DEF/800 (6)]

Dark Magician Girl [ATK/2000 → 2300 DEF/1700 (6)]

 

„Genau“, bestätigte ihm Exa nickend, „schließlich ist [Dark Magician] eines seiner Fusionsmaterialien. Und da die Umwandlung geglückt ist …“

Die Spitzen des Raumschiffes formierten sich wieder vor den Tragflächen in einer geraden Linie, woraufhin es selbst weiß aufzuleuchten begann.

„… erhält Event Horizon bis zur End Phase die Hälfte der Angriffspunkte des Originalmonsters.“

 

Cosmic Enforcer – Event Horizon [ATK/2500 → 3750 DEF/2000 X7]

 

Kakyo stieß einen erschrockenen Seufzer aus, sah sofort auf sein D-Pad. Dann murmelte er: „Für jeden [Dark Magician] auf meinem Friedhof erhält [Dark Magician Girl] 300 Punkte …“

 

[Exa: 1600LP / Kakyo: 500LP]

 

„Letzte Chance. Sprich“, forderte Exa mit scharfem Tonfall.

Sein Gegner blickte mit widerspenstigem Gesichtsausdruck auf. „Nein!“

„Dann nicht. Aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, erwiderte der Blonde und hob seinen ausgestreckten Zeigefinger in die Höhe, „greif [Dark Flare Knight] an, Event Horizon! Planet Obliteration!“

„Hör auf!“ Ohne Vorwarnung packte Zanthe den Arm seines Freundes. Mit eindringlichem Blick sah er zu ihm auf. „Willst du etwa wirklich-!?“

Doch es war bereits zu spät für solche Aktionen, der Angriff war befohlen. Die Spitzen des Raumschiffes gingen wieder auseinander und schossen allesamt gleichzeitig orangefarbene Laserstrahlen auf Kakyo ab. In der Seitengasse gab es eine gewaltige Explosion.

Entgeistert sah Zanthe Feuer und Rauch aus Kakyos Richtung schlagen. Selbst Exas diesbezüglich hartherzige Fassade bröckelte, als er das sah. Mit offenem Mund stand er da, mit erhobenem Arm, der von Zanthe festgehalten wurde.

Dann aber sagte er leise: „Er hat nicht eingegriffen.“

„Wer hat nicht …?“

Aber da nickte Exa schon gen Dach, sodass Zanthe der Richtung nur folgen brauchte, um Kyon dort oben stehen zu sehen.

„Unser kleines Duell hat ihn auf den Plan gerufen“, fügte Exa hinzu, „er ist es. Der, für den du mich gehalten hast.“

 

„Um den kümmere ich mich!“

Blitzschnell ließ Zanthe von seinem Freund ab, rannte quer durch die Gasse, nur um von einer Wand zur anderen zu springen, damit er aufs Dach gelangte. Exa sah ihm erstaunt nach.

„PPKM.“

Irritiert drehte sich der großgewachsene Mann um. Der Rauch hatte sich verzogen, jedoch war in einer der offen stehenden Mülltonnen lichterloh Feuer ausgebrochen. Kakyo stand noch dort, unverletzt, zumindest wenn man den letzten Angriff als Ausgangspunkt nahm. Und vor ihm ein Ritter in glänzender, weißer Rüstung.

„PPKM“, wiederholte er seine Worte, „Persönliches Pech, kein Mitleid. Von allen Monstern, die du aus meinem Extradeck auswählen konntest, hast du ausgerechnet [Dark Flare Knight] genommen.“

Exa verzog keine Miene. „Und das ist schlecht für mich?“

„Sein Effekt hat dafür gesorgt, dass ich keinen Kampfschaden erleide. Und, dass nach seinem Tod [Mirage Knight] beschworen wird.“ Kakyo nickte besagtem weißen Ritter zu, um dessen Schultern ein blauer Umhang wehte. Eine violette Haarsträhne in seinem Gesicht verriet, welches Monster dort in der Rüstung steckte. Mit sich führte der gepanzerte [Dark Magician] eine riesige Sense, dessen massives Klingenblatt allein jedem Gegner Furcht einflößte.

 

Mirage Knight [ATK/2800 DEF/2000 (8)]
 

Jedem außer Exa. Geradezu unbeeindruckt entgegnete er: „Vielleicht sollte ich wirklich anfangen, Karteneffekte durchzulesen. Zumindest eine Karte setze ich noch, bevor ich an dich abgebe.“

Jene schob er in seine Duel Disk, sodass sie neben der offen stehenden [Stellarnova Wave] in verdeckter Position erschien. Damit klang auch das Leuchten seines riesigen Raumkreuzers ab.

 

Cosmic Enforcer – Event Horizon [ATK/3750 → 2500 DEF/2000 X7]

 

„Draw!“, schrie Kakyo sofort im Anschluss und riss die Karte von seinem Deck. Ohne sie überhaupt anzusehen, zeigte er gen Himmel. „Du hättest -wirklich- besser aufpassen sollen! Dieses Duell ist zu Ende! [Mirage Knight], greif [Cosmic Enforcer – Event Horizon] an! Illusion Breaker!“

Der Ritter stieß sich vom Boden ab und schoss wie ein Pfeil quer durch die Luft, Richtung seines anvisierten Ziels. Dabei zischte er unmittelbar an Zanthe vorbei, der am Rande des Dachs direkt vor Kyon stand.

 

„Also ist es wahr“, sagte er leise und zerbrach das Schmetterlingssymbol vor seinem Gesicht mit der Hand, „du und er, zwischen euch besteht eine Verbindung.“

Kyon folgte mit seinem Blick dem Flug des weißen Ritters. „Ja.“

„Mehr nicht!? Ja!?“ Zanthe ballte eine Faust. „Ich will Antworten, verdammt! Wer ist dieser Kakyo!?“

„Ein Mensch, wie du siehst. Und nichts weiter.“

Daraufhin weitete der Werwolf die Augen. Seine aufkochenden Emotionen nicht unter Kontrolle halten könnend, stürmte er auf sein Gegenüber zu und packte es am Kragen der Butleruniform.

 

Gleichzeitig war [Mirage Knight] hoch genug aufgestiegen, um direkt vor dem Inneren des Schiffes zu schweben. Mit seiner Waffe ausholend, warf er sie mit aller Kraft in Richtung des Kerns. Wie ein Chakram kreiste sie dabei um ihre eigene Achse.

Unten, am Boden, erklärte Kakyo: „[Mirage Knight] ist besonders. Nur einmal, wenn er kämpft, kann er sich um die Grundangriffskraft seines Gegners stärken. Aber das bedeutet seinen Tod.“

„Und den bist du bereit einzugehen?“, fragte Exa ungerührt.

„Nein. Weil das Duell vorbei sein wird, ehe es dazu kommt!“ Ruckartig sah Kakyo nach oben zu seinem Monster. „Gib alles! Mirror Resonance!“

Sogleich strahlte sein Ritter regelrecht von Innen. Und die fliegende Sense duplizierte sich einmal, dann zweimal, bis eine ganze Horde jener Waffen auf den Kern zuflog.

 

Mirage Knight [ATK/2800 → 5300 DEF/2000 (8)]

 

„Illusionen“, erwiderte Exa ungerührt, „sind leider nur das. Illusionen.“

Statt eine massive Explosion auszulösen, die mit Sicherheit den ganzen Stadtteil erschüttert hätte, prallte die originale Sense einfach am Metall des Schiffes ab. Die anderen verschwanden gar.

Kakyo klappte die Kinnlade hinunter.

„Du hättest auch etwas Recherche betreiben sollen, Kurzer“, fügte Exa noch an, „dann wüsstest du, dass Event Horizon den Effekt des von ihm beschworenen Monsters kopiert und grundsätzlich nicht durch Kämpfe zerstört werden kann.“

Fassungslos sah der angehende Profiduellant nach oben. „Dann habe ich …“

„Dein Monster doch ins Verderben geschickt.“

„Noch bin ich nicht am Ende!“, zeigte sich Kakyo trotz allem noch kämpferisch. Er nahm seine einzige Handkarte und schob sie in die Duel Disk. „Ich rüste mein [Dark Magician Girl] mit [Wonder Wand] aus.“

Deren Zauberstab wurde kurzerhand durch einen neuen ausgetauscht, dessen Spitze in einer grässlichen Silberfratze endete, auf deren Kopf ein grüner, runder Edelstein thronte.

 

Dark Magician Girl [ATK/2300 → 2800 DEF/1700 (6)]

 

„Vergib mir …“, murmelte Kakyo traurig. Seine Magierin drehte sich zu ihm um, lächelte ihn jedoch aufmunternd an. Woraufhin er verkündete: „[Wonder Wand] lässt mich das ausgerüstete Monster opfern, um zwei Karten zu ziehen.“

Exa verschränkte die Arme. „Jetzt musst du schon über die Leichen deiner Monster gehen, um noch mitzuhalten.“

„Ihr Opfer wird nicht vergebens sein!“, konterte Kakyo mit derartiger Inbrunst, als würde es sich bei der Magierin um einen echten Menschen handeln. „Draw!“

Die obersten zwei Karten von seinem Deck ziehend, betrachtete er sie konzentriert.

„Dein 'Freund' oder 'Meister' oder was auch immer ist hier. Jetzt ist die Frage, ob er redseliger ist als du“, sagte Exa und deutete mit dem Daumen zum Dach.

Für einen Moment blickte der junge Mann erstaunt drein, verzog dann aber zornig das Gesicht. „Das ist seine Sache. Ich für meinen Teil halte mein Versprechen. Zwei Karten verdeckt, du bist dran!“

Er schob beide Karten in sein D-Pad, sodass sie je links und rechts neben seiner [Spell Economics]-Zauberkarte erschienen. Als Resultat jener Ankündigung löste sich [Mirage Knight] sang- und klanglos auf.

 

„Mal sehen“, murmelte Exa und zog auf eine zweite Handkarte auf. Mit großem Erstaunen betrachtete er sie einen Moment, ehe er sich wieder seinem Gegner widmete.

Der schwang den Arm aus. „Ich aktiviere [Eternal Soul]!“

Sogleich sprang die linke gesetzte Karte auf und erwies sich als dauerhafte Falle, auf der eine Steintafel abgebildet war. Jene schob sich aus dem Artwork hervor und manifestierte sich in vergrößerter Form auf Kakyos Spielfeldseite. Die Umrisse eines Monsters begannen auf ihr zu funkeln.

„Diese Karte lässt mich [Dark Magician] vom Friedhof beschwören!“

Dessen Silhouette war es schließlich auch, die auf dem braunen Gestein eingemeißelt war. Wie von Kakyo angekündigt, drang aus der Tafel ein Licht, welchem schließlich sein violetter Magier entsprang. Jener schwang seinen Zauberstab und fasste sich an den spitz zulaufenden Hut.

 

Dark Magician [ATK/2500 DEF/2100 (7)]

 

„Ganz egal, wie oft du ihn vernichtest, er kehrt immer wieder zu mir zurück!“, rief Kakyo ehrgeiziger denn je.

Exa quittierte das mit einem schelmischen Grinsen. „Das muss man ihm lassen. Aber ich habe nicht vor, ihn zu vernichten. Event Horizon, Black Hole Distortion!“

Gnadenlos zeigte er auf den Hexer. Die metallischen Spitzen, die vor dem Raumkreuzer flogen, schossen weiße Lichtstränge auf [Dark Magician] ab, wie es schon beim letzten Mal der Fall gewesen war. Doch plötzlich ging ein grelles Licht von der immer noch hinter dem Magier verharrenden Steintafel aus, welches die Fesseln kurz vor ihrem Ziel zum Bersten brachten.

„Also das hab ich mir anders gedacht“, staunte Exa nicht schlecht und blinzelte verdutzt.

„[Eternal Soul] hat noch einen Effekt, der [Dark Magician] vor Effekten meines Gegners beschützt. Und zwar vor allen!“

Einen tiefen Seufzer ausstoßend, zuckte Exa mit den Schultern. „Im Ernst jetzt? Musst du es uns so verdammt schwer machen? Wenn Duelle immer so sind, machen sie mir keinen Spaß …“

„Das sind wir schon zwei“, erwiderte Kakyo. „Duelle sind nicht dazu da, anderen weh zu tun.“

„Sei froh, dass es Duelle gibt, sonst hätte ich dir auf andere Weise weh getan.“ Exa kniff die Augen zusammen. „Außerdem solltest du eines nicht vergessen. Event Horizon kann nicht durch Kämpfe zerstört werden, weshalb ich kein Problem damit habe, deinen [Dark Magician] anzugreifen.“

„Darauf bin ich vorbereitet!“

Der Blonde grinste wieder verschlagen. „Ich habe auch noch ein Ass im Ärmel.“

Womit er die vor ihm liegende, gesetzte Karte neben [Stellarnova Wave] meinte.

 

Gleichzeitig stieß Zanthe Kyon von sich fort. „Das ist alles, was du mir zu sagen hast!?“

„Ja.“

„Es war noch nie gut, jemanden vor Wissen zu beschützen!“, widersprach Zanthe aufgebracht und schwang den Arm aus. „Wer bist du, dass du dir anmaßt-!?“

„Planet Obliteration!“, hallte Exas Stimme plötzlich durch die Gasse.

Erschrocken wirbelte der schwarzhaarige Kopftuchträger herum und sah nur noch, wie sich die kleinen Spitzen vor dem Raumschiff über ihnen bereits in orangem Licht aufluden.

„Das reicht jetzt!“, donnerte Kyon plötzlich ungewohnt zornig und schnippte mit dem Finger. „Dein Freund wird uns nur in Schwierigkeiten bringen!“

 

Exa, der seine Hand nach vorne ausgestreckt hielt, sah Kakyo ehrgeizig entgegen. Jener war gerade im Begriff, seine letzte gesetzte Karte zu aktivieren, da tauchte direkt unter seinen Füßen ein schwarzes Portal auf.

„Was-? Ah!“, stieß der einen erschrockenen Schrei aus, wie er immer tiefer in der sich spiegelnden, schwarz-violetten Oberfläche verschwand.

Aber nicht nur ihm ging es so, auch Exa steckte in einem vergleichbaren Phänomen fest. Statt seine Laserstrahlen abzufeuern, löste sich das riesige Raumschiff in Luft auf. Genau wie sein Besitzer und dessen Gegner, die spurlos verschwunden waren.

Zanthe, der all dies beobachtet hatte, wirbelte zu Kyon herum. „Was hast du mit ihnen gemacht!?“

Erstaunt musste er feststellen, dass sich zwischen ihm und dem Butler des Sammlers ebenfalls ein Portal öffnete, doch jenes war in seiner Form um die zwei Meter hoch.

„Sie vor so einigen Problemen gerettet. Genau wie uns, wohlgemerkt.“

„Wirst du jetzt abhauen?“, verlangte Zanthe zu wissen. „Dann sag mir wenigstens, wo Exa jetzt ist!“

„Nichts dergleichen habe ich vor.“ Kyon schritt an dem Portal vorbei, streckte jedoch seinen Arm danach aus, als wolle er es seinem Gegenüber präsentieren. „Deine Worte sind wahr. Dir essentielles Wissen vorzuenthalten ist falsch. Aber ich kann es dir nicht überlassen, ohne sicherzugehen, dass es dich nicht zerstört.“

Zanthe nickte mit verzogenen Mundwinkeln. „Verstehe schon. Also gut, ich komme mit …“

 

~-~-~

 

Völlig erschöpft trat Anya über die Schwelle, die das Stadion von dem dunklen Gang trennte. Irgendwie war es ihr gelungen, diesen Nervensägen von Reportern zu entkommen, was nicht zuletzt mit ein paar nicht TV-tauglichen Schimpfwörtern verbunden war. Und kaum war sie außerhalb der Sichtweite des Publikums, kippte sie zur Seite und musste sich an der Wand abstützen.

Von weiter vorne hörte sie Stimmen, verstand aber nicht, was sie sagten. Doch es war ihr gleich, denn in diesem Moment zähle nur eines: Sie hatte gewonnen. Aus eigener Kraft, ohne Levriers Hilfe! Und es ging ihm gut!

 

„… wirst du immer eine Gefangene sein …“

„… dich nicht darum gebeten!“

 

Anya schleppte sie sich weiter voran. Dabei wurden die Stimmen deutlicher und ihre Besitzer traten zunehmend in ihr Blickfeld. Als Anya sie erkannte, blieb sie abrupt stehen. Dort standen sie, ihr Bruder Zach und Kali in ihrer schwarzen Kutte. Beide diskutierten heftig und schienen keine Notiz von ihr zu nehmen.

„Hör' auf mich zu verarschen“, zischte der wesentlich größere Zach und schlug seine flache Hand gegen die Wand, direkt neben Kalis maskiertes Gesicht, „du bist die Einzige, die davon wusste!“

„Ich war es nicht!“, beteuerte die und stieß den Arm mit ihrer eigenen Hand weg. „Wann hätte ich das tun sollen!?“

„Du? Gar nicht. Aber Gardenia, die bringt so etwas mit Sicherheit fertig!“ Zach drehte Kali den Rücken zu und hielt sich die Stirn, senkte das Haupt. „Ich habe Kopfschmerzen …“

Mit ihrer von der weißen Porzellanmaske gedämpften Stimme redete Kali hitzig auf ihn ein. „Mach dich nicht lächerlich! Gardenia wollte, dass du diese Schnapsidee durchziehst! Sie hat mich mit ihrem Gequatsche aufgehalten, damit ich mich nicht einmischen kann!“

„Und wer soll es dann gewesen sein?“

„Ich kenne jemanden … Nick Harper. Aber der ist meilenweit von hier entfernt, er hätte unmöglich -da- herankommen können, schon gar nicht so kurz vor dem Duell.“

Wieder wirbelte Zachariah herum, doch blieb diesmal mitten in der Bewegung mit offenem Mund stehen. Er hatte Anya bemerkt, die sich ein paar Meter von ihnen entfernt von der Wand abstieß und auf sie zusteuerte.

Kali hingegen schien sie nicht bemerkt zu haben, mutmaßte sie wild weiter. „Möglicherweise war sie es selbst? Aber … nein, das ist unmöglich. Dazu fehlen ihr die nötigen Fähigkeiten.“

„Vielleicht kann die gute Anya uns selbst ein wenig auf die Sprünge helfen?“, sprach der große Blonde an seine Schwester gewandt.

 

Die gab ihr Bestes, beim Laufen einen selbstbewussten, festen Eindruck zu erwecken. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie in ihrer jetzigen Kondition kein Gegner für die beiden war.

„Worum geht es denn, huh?“, zischte sie bitterböse. „Ein vereiteltes Mordkomplott etwa? Pech für euch Kackratten, ich lebe nämlich noch.“

Kali trat daraufhin vor Zachariah. „Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein.“

„Da es um mich geht, sind es sehr wohl auch meine Angelegenheiten, dämliche Pisskuh!“ Entgegen ihres Zustands konnte Anya ihre ureigenen Angewohnheiten einmal mehr nicht unterdrücken. „Lass uns doch hier und jetzt darüber entscheiden, ob du deine Rache an mir bekommst!“

„Die ist so sicher wie das Amen in der Kirche“, versicherte ihr Kali jedoch unbeeindruckt, „dich mir jetzt vorzunehmen wäre nicht besonders befriedigend.“

Anya grinste hässlich. „Hast du etwa Schiss, weil du mir jetzt höchstpersönlich gegenüber stehst?“

„Denk was du willst …“ Ihre verhasste Feindin drehte sich um. „Seid dir nur im Klaren darüber, dass du nächstes Mal -mir- gegenüber stehen wirst. Vielleicht solltest du ja Schiss haben?“

Das gesagt, streckte Kali die Hand aus. Direkt hinter Zachariah öffnete sich ein schwarzes Portal, das das schwache Licht der Lampen über ihnen spiegelte.

„Hey, warte!“, wollte Anya ihr hinterher, doch verlor die Kontrolle über ihren Körper und sackte gegen die Wand. „Bleibt stehen!“

Auch Zach drehte sich um und folgte Kali, wie sie auf das schwarze Loch inmitten des Ganges zuschritt. „Nichts für ungut, aber … nein.“

„Gebt mir gefälligst mein Zeug wieder!“, forderte Anya zornig.

„Es gibt nichts in dieser Welt“, entgegnete Kali plötzlich und blieb vor dem Portal stehen, „das dir gehört.“

„Wenigstens mein Deck“, flehte die Blonde jedoch plötzlich.

Kali schwieg erst eine Sekunde, bis sie sagte: „Davon weiß ich nichts.“

Dann trat sie ein, kurz darauf auch Zach, und mit ihnen verschwand auch die Krümmung im Raum. Anya rutschte an der Wand entlang auf die Knie. Und schlug mit der Faust auf den metallischen Boden. „Scheiße!“

 

 

Turn 63 – Day Of The Ghost

Durch Kyons Einmischen sind Exa und Kakyo verschwunden. Stattdessen will Zanthe jetzt ein Duell mit dem Immateriellen austragen, um die Wahrheit über ihn zu erfahren. Sich darauf einlassend, bringt Kyon sie beide an einen anderen Ort, wo sie ungestört duellieren können. Und beginnt sich im Verlauf ihrer Konfrontation, ganz zu Zanthes Verblüffung, zu öffnen …

Turn 63 - Day Of The Ghost

Turn 63 – Day Of The Ghost

 

 

Das schwarze, ovale Portal öffnete sich und voran trat Zanthe heraus, der sich im Gehen umsah. Sofort fiel ihm die Umzäunung auf, die seine Umgebung in alle Richtungen abgrenzten, kurz darauf ein kleines Treppenhäuschen hinter ihnen.

„Hier sind wir ungestört“, sagte Kyon, als sich das Portal schloss.

Jubel drang an Zanthes Ohr, sodass er abgelenkt an den Zaun heran schlenderte. Sich mit einer Hand darin festkrallend, blickte er hinab zur Straße, in der sich das Gebäude befand, auf dessen Dach Kyon sie geführt hatten. Dort unten standen ein paar Jungs vor einem Elektronikgeschäft, das um diese Uhrzeit noch geöffnet hatte. Auf dutzenden Fernsehern wurde das Duell zwischen Anya und ihrem Bruder Zachariah übertragen. Die Kinder standen in dem Lichtkegel einer der Straßenlaternen.

„Wo ist Exa?“, fragte Zanthe tonlos, ohne seinen Blick abzuwenden.

„Ganz in der Nähe. Ich musste ihn von Kakyo Sangon trennen“, versicherte ihm Kyon.

Der Werwolf löste seine Finger aus dem Maschendraht und drehte sich um. „Exa, Kakyo, der Sammler … und mittendrin du. Ich will Antworten.“

 

Kyon streckte seinen Arm vor. Dort befand sich seine flügelähnliche Duel Disk, die mit einem leisen Klacken ausfuhr. „Und du sollst sie bekommen. Sofern du dich mit mir duellierst.“

„Und wenn ich verliere, gehe ich leer aus?“, hakte Zanthe misstrauisch nach.

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn du verlierst, weiß ich, dass ich noch besser auf dich Acht geben muss. Dann bist du noch nicht bereit für-“

„Was soll das alles!?“, brach es plötzlich aus dem immer zorniger werdenden Werwolf heraus, der die Arme weit von sich streckte. „-Du- willst auf mich aufpassen!? Bist du mein Vater!? Meine Mutter!? Ach nein, du steckst ja im Körper meines Bruders Alessandro! Aber du bist nicht er!“

„Dennoch habe ich es ihm versprochen, bevor seine Seele in den Limbus überging.“

Zanthe weitete die Augen, als er dieses Wort hörte. Erinnerungen wurden wach, die er sofort wieder unterdrückte.

 

Aus der Ferne hallte ein mächtiges Donnern bis zur Lichtung. Zanthe hockte auf den Knien, stützte sich mit den Händen im Moos ab. Unter ihm lag eine einzelne Karte, [Angel Wing Dragon]. Die Augen fest zugekniffen, fielen von ihnen die Tränen hinab.

Geh weg“, presste er mühsam mit zitternder Stimme hervor.

Inmitten dieser schicksalsträchtigen Nacht ragte über die Bäume hinaus ein riesiger Turm. Von Explosionen heimgesucht, stürzte er langsam ein, doch verschwand inmitten dieses Prozesses urplötzlich.

Er hat dich als seinen Nachfolger auserwählt, Zanthe Montinari“, sprach Kyon, der hinter dem jungen Mann stand. Sein Erscheinungsbild damals war gänzlich anders als heute, so trug auch er sein langes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Gehüllt war er in einen weißen Mantel, auf eine Sonnenbrille verzichtete er.

Ich will das nicht! Und jetzt verschwinde!“, wimmerte Zanthe.

Kyon sah auf seinen vor sich ausgestreckten Arm herab, an dem ein Duellhandschuh derselben Machart wie Zanthes befestigt war. Diesen griff er und zog ihn von der Hand. „Dein Bruder-!“

Mit einem Ruck sah der Kopftuchträger mit geweiteten Augen über seine Schulter. „Auch wenn du im Körper meines Bruders steckst, werde ich-!“

Er verstummte, als etwas Nasses seine Wange streifte. Doch es waren nicht seine eigenen Tränen, sondern die des Himmels.

 

Zanthe zuckte zusammen, als er sich bewusst wurde, woran er sich gerade erinnerte.

Zu allem Überfluss benetzte plötzlich eine winzige Wasserperle seine Wange. Dann noch eine. Beide blickten nach oben, in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Es begann zu regnen. Genau wie damals, als Zanthe um Kyons Existenz erfuhr – und seinen Bruder verlor.

Er war es auch, der als Erster den Kopf wieder senkte. „Ich werde mich mit dir duellieren, alles klar? Aber nicht, weil ich von dir beschützt werden will. Deine Hilfe brauche ich gewiss nicht!“

„Mir ist gleich, aus welchen Beweggründen du zusagst. Zeig mir, wie viel Hüter noch in dir steckt!“, rief Kyon streng und schwang seinen Arm aus. „Zanthe Montinari!“

Ebenjener drückte mit dem Daumen das Juwel in seinem Armreif, welcher sich umgehend um seine Hand schloss und zu dem Handschuh wurde, welchen er für seine Duelle verwendete. In diesen schob er sein Deck, welches er aus der Hosentasche zauberte.

„Gut“, war alles, was Kyon dazu zu sagen hatte.

Zanthe nahm es jedoch kurzerhand wieder aus der Halterung seines Duellhandschuhs und begann es nach einer Karte zu durchsuchen. „Bevor wir beginnen, gibt es noch etwas, das ich dir zurückgeben muss.“

Als er sie gefunden hatte, warf er sie Kyon unvermittelt zu. Der fing sie zwischen Zeige- und Mittelfinger auf, drehte sie zwischen ihnen und lächelte geheimnisvoll. „Oh, [Spellbooks Of Tetrabiblos]. Ich nehme an, du brauchst sie nicht länger?“

„Ich habe sie nie gebraucht! Ich weiß ja nicht einmal, wie sie in mein Deck gelangt ist!“, stellte Zanthe nicht ganz wahrheitsgemäß klar, denn gegen Edna hatte sie ihm auf Valeries Hochzeit sehr wohl geholfen. „Wie dem auch sei, es ist deine, also nimm sie.“

Dem folgte Kyon auch, indem er die Karte ins Deck seiner flügelartigen Duel Disk steckte. „Also gut. Bist du bereit?“

„Und wie ich das bin! Klären wir das ein für alle Mal, Duell!“

 

[Zanthe: 4000LP / Kyon: 4000LP]

 

Kyon streckte einladend den Arm aus. „Der erste Zug ist deiner.“

„Ja, weil er nicht mehr so viele Vorteile wie vor der Regeländerung birgt, nicht wahr?“ Der Kopftuchträger rümpfte die Nase. „Aber wenn du meinst, dann fange ich an.“

So zogen beide fünf Karten von ihrem Deck.

„Dieses Monster setze ich!“, verkündete er und ließ es in horizontaler Position mit nach oben zeigendem Kartenrücken vor sich in vergrößerter Form erscheinen. „Dazu setze ich was. Du bist.“

Noch eine Karte materialisierte sich auf seiner Spielfeldseite, allerdings in vertikaler Lage.

 

„Alles geschieht zur rechten Zeit unter den rechten Bedingungen. Dieses Duell war lange vorhergesehen.“ Kyon lächelte geheimnisvoll, als er nach seinem Deck griff. „Draw!“

Die sechste Karte zu seinem restlichen Blatt steckend, zückte er jene neben ihr und zeigte den Spielfeldzauber vor. „Ich aktiviere [The Grand Spellbook Tower]!“

Die Umgebung veränderte sich. Plötzlich standen beide auf einer breiten, schier unendlich langen Straße, die zu einem riesigen Turm führte, indem gerade ein blitzender Wirbelsturm einschlug. Ihr Umfeld flackerte kurz auf, dann standen beide wieder auf dem Dach des mehrstöckigen Bürogebäudes.

Zanthe hielt die Hand gespreizt vor seiner offen stehenden Schnellzauberkarte. „Das kannst du vergessen, es gibt kein Heimspiel für dich. [Mystical Space Typhoon] hat deinen Turm zum Einsturz gebracht.“

„Aber einer seiner Einwohner konnte sich retten“, meinte Kyon unbesorgt. „Und je höher die Zahl der Spellbooks auf meinem Friedhof war, nachdem der Turm zerstört wurde, desto größer auch die Stufe des Hexers, den ich vom Deck beschwöre.“

In einer abwertenden Geste winkte Zanthe ab. „Kann ja nicht viel sein, denn außer dem Turm gibt es da rein gar nichts.“

„Deswegen ist jenes Monster auch der Stufe 1-[Stoic Of Prophecy].“

Zwei lange Stäbe knallten vor Kyon in den Boden. Zwischen ihnen tauchte ein rothaariger Zauberer auf, der sie mit je einer Hand aufnahm. Die Kristalle an ihren Spitzen begannen zu glimmen.

 

Stoic Of Prophecy [ATK/300 DEF/200 (1)]

 

„Sicherlich wirst du mir zustimmen, dass dieses Monster zu schwach ist, um auf dem Feld zu verweilen“, sagte Kyon und nahm es von seiner Duel Disk, „deswegen biete ich es als Tribut für [Prophecy Destroyer] an.“

Der Stoiker löste sich in Luft auf. An seiner Statt entstand ein dunkler Nebel, aus dem eine gehörnte Gestalt trat. Über zwei Meter groß, lief der geflügelte, teuflische Dämon aufrecht. In der Hand hielt er ein rot leuchtendes Kurzschwert.

 

Prophecy Destroyer [ATK/2500 DEF/1200 (6)]

 

Nebenbei schoss eine einzelne Karte aus Kyons Deck, welcher jene vorzeigte und dann in sein Blatt aufnahm. „Selbstverständlich hat es einen tieferen Sinn, warum ich [Stoic Of Prophecy] gerade jetzt geopfert habe. Wird er auf den Friedhof geschickt, erhalte ich einen Stufe 3-Magier wie [Temperance Of Prophecy] von meinem Deck. Jeder meiner Züge ist exakt geplant.“

„Schön für dich“, zischte Zanthe gehässig zurück, „du hast ja auch geplant, -seinen- Körper zu übernehmen, nachdem er … nachdem er …“

Der junge Mann senkte den Kopf. „Nachdem er -fortgegangen- ist.“

„Es war seine Entscheidung. Alles. Das habe ich dir bereits mehr als einmal versucht ans Herz zu legen.“

Ruckartig richtete Zanthe sich auf. „Ach ja!? Also behauptest du, nichts von dem sei deine Schuld gewesen!?“

Während er wild zu gestikulieren begann, regte sich der Sonnenbrillenträger keinen Millimeter. Er antwortete geradezu berechnend: „Das ist korrekt. Ich habe ihn über alles im Vorfeld aufgeklärt.“

„Als ob ich dir das jemals glauben würde!“

Der Butler des Sammlers rückte die kreisrunde Sonnenbrille auf seiner Nase mit dem Handrücken zurecht. „Ich fürchte, dir bleibt nichts anderes übrig, Zanthe Montinari. Aber das ist eins, mein Zug das andere. Diesen setze ich fort, indem ich [Spellbook Of Secrets] aktiviere und damit ein neues Spellbook von meinem Deck erhalte: [Spellbook Of The Master].“

Dieses zeigte er vor und aktivierte es im Anschluss sogleich, während er dabei einen blau leuchtenden Wälzer in der anderen Hand hielt. „Es imitiert den Effekt eines bereits genutzten Spellbooks und funktioniert dementsprechend. So wähle ich [Spellbook Of Secrets] und erhalte ein neues Buch von meinem Deck.“

Die Farbe seines Buches änderte sich, wurde violett. Auch der Einband, die Form, sie wechselten kaum merklich ihre Erscheinung. „Dieses Mal fällt die Wahl auf [Spellbook Of Wisdom].“

Und Zanthe schnaubte bereits, gefiel ihm nicht, dass sein Gegner scheinbar für irgendetwas seinen Friedhof mit diesen Büchern füllte.

„Also dann, ich deklariere einen Angriff auf dein gesetztes Monster. [Prophecy Destroyer], Prophecy #15 – Road to One's Demise!“

Der teuflische Dämon schwang nur einmal seine Klinge in Richtung von Zanthes gesetzter Karte, aus der im selben Moment ein weißer Krieger mit orange leuchtenden Zangenarmen erschien.

 

Constellar Acubens [ATK/800 DEF/2000 (4)]

 

Von der Waffe löste sich ein Lichtstreifen, der durch die Luft glitt und Acubens zerteilte. Dessen zwei Hälften zersprangen dann in tausend Einzelteile.

Kyon nahm eine Karte aus seinem Blatt und schob sie in seine Duel Disk. „Ich setze wie du es getan hast eine Karte. Zug beendet.“

Zischend materialisierte jene sich vor ihm.

 

Aufgeregt zog Zanthe nach und präsentierte die neue Karte sogleich. „Ich aktiviere den permanenten Zauber [Constellar Star Chart]. Was er bewirkt dürftest du wissen!“

Weit über den Dächern begann ein goldenes Symbol zu leuchten, ein Kreis, der in sich einen Windrosen ähnlichen Stern einschloss.

„Ich beschwöre [Constellar Algiedi] und durch ihren Effekt noch [Constellar Pollux] hinterher, da er genau Stufe 4 ist.“

Er hielt Kyon die beiden Karten geradezu demonstrativ entgegen, ehe er sie in seinen Duellhandschuh schob. Zu beiden Seiten neben ihm tauchten kleine Schlüssel aus Kupfer auf, die er nahm und zwischen den Fingern geklemmt ausschwang. Zwei runenverzierte Portale bildeten sich daraufhin zu seiner Linken und Rechten. „Open a door to the goat! Open a door to the twins!“

Beide zersprangen und somit stand links neben Zanthe eine in Weiß gekleidete Hexe in blauem Cape und mit Zauberstab bewaffnet, rechts ein maskierter Schwertkämpfer, ebenfalls ganz in Weiß, welcher ein Schwert mit zwei parallel zueinander verlaufenden Klingen führte.

 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

Constellar Pollux [ATK/1700 DEF/600 (4)]

 

Beide wurden aber sogleich wieder von Zanthe aus dem Handschuh genommen, übereinander gelegt und in die Luft gehalten. „Aus meinen beiden Stufe 4-Sternen wird ein großer Stern.“

In seiner Hand materialisierte sich ein fast ein Meter langer, massiver Goldschlüssel, den er gegen die Stirn legte. „Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network!“

Vor ihm öffnete sich ein schwarzer Galaxienwirbel, welcher seine beiden Monster in sich aufsaugte. Zanthe rammte den Schlüssel unter einem ehrgeizigen Aufschrei in den Boden. Unter ihm breitete sich daraufhin ein gewaltiger Runenzirkel aus, der von den Symbolen der Sternzeichen geprägt war. „Xyz Summon! Erstrahle, [Constellar Praesepe]!“

Der Schlund verschwand. Stattdessen wuchs vor Zanthe aus dem Boden ein in weiß-goldener Rüstung gepanzerter Krieger, der massive Schlagringe aus purem Gold schwang. Auf seinem Rücken befand sich ein metallischer Umhang, der verschieden lange Spitzen in alle Richtungen aufblitzen ließ. Um Praesepe kreisten zwei Lichtkugeln.

 

Constellar Praesepe [ATK/2400 DEF/800 {4} OLU: 2]

 

Das über den Dächern leuchtende Symbol begann zu pulsieren. „Einmal pro Zug, wenn ein Constellar-Xyz unter der [Constellar Star Chart] beschworen wird, darf ich eine Karte ziehen.“

Zanthe riss die oberste Karte von seinem Deck und schob sie im Anschluss in seinen Handschuh, die sich vor ihm materialisierte. „Setzen wir sie doch gleich.“

Dann streckte er den Arm aus und zeigte mit dem Finger auf den Dämonen. „Komm Praesepe, der ist doch ein gefundenes Fressen für dich! Angriff, Sacred Star Raid!“

Zunächst hielt der Krieger seine Rechte hoch in die Luft, welche eine der Lichtkugeln absorbierte.

 

Constellar Praesepe [ATK/2400 → 3400 DEF/800 {4} OLU: 2 → 1]
 

Er verschwand im Folgenden so schnell, dass selbst Kyon einen erstaunten Laut von sich gab. Denn sein Dämon sah nur noch die Faust auf sich zufliegen, ehe er in einer Explosion unterging. Der schwarzhaarige Butler wich zurück. „Eine interessante Wendung.“

 

[Zanthe: 4000LP / Kyon: 4000LP → 3100LP]
 

„Praesepe kann sich oder andere Constellar im Kampf temporär stärken, wenn ich dafür ein Xyz-Material locker mache“, erklärte Zanthe, „dein Zug, Kyon.“

 

Constellar Praesepe [ATK/3400 → 2400 DEF/800 {4} OLU: 1]

 

„Interessant, doch nicht völlig unerwartet“, sinnierte dieser weiter und zog auf.

Der Gegensatz konnte nicht krasser sein, hielt er doch fünf Karten fest, sein Gegner dagegen nur eine einzige. Der schwarzhaarige Butler überlegte eine ganze Weile, in welcher Zanthe bereits ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden tippte, ehe er sich für eine Vorgehensweise entschied.

„So soll es sein: Ich beschwöre [Temperance Of Prophecy].“

Ein hellblauer Dampf stieg von den beiden goldenen Kelchen auf, die zuerst das Spielfeld betraten. Zwischen ihnen gewann eine in brauner Kutte verhüllte Schamanin Gestalt, welche Hand an die wertvollen Stücke legte.

 

Temperance Of Prophecy [ATK/1000 DEF/1000 (3)]

 

Schlagartig stieg ein wesentlich dunklerer Nebel vor Kyon auf und ehe Zanthe sich versah, kam daraus mit erhobenem Schwert der [Prophecy Destroyer]. Rot glühte seine Klinge wie je her.

„Der Teufel kommt immer wieder, solange man für ihn drei Spellbooks vom Friedhof verbannt“, erklärte Kyon mit einem spitzbübischen Grinsen, während er [Spellbook Of Secrets], [Spellbook Of The Master] und [The Grand Spellbook Tower] in der Hand hielt.

 

Prophecy Destroyer [ATK/2500 DEF/1200 (6)]

 

Der Werwolf verschränkte argwöhnisch die Arme voreinander. „Dafür also …“

„Es wird noch besser, denn mein Vorhaben ist brillant. So aktiviere ich jetzt [Spellbook Of Power].“

In der freien Hand des Dämons tauchte ein roter, leuchtender Wälzer auf, welcher jenen aufmerksam durchlas. Das neu errungene Wissen stellte sich als glühende Aura dar, welche um den Zerstörer aufflackerte.

 

Prophecy Destroyer [ATK/2500 → 3500 DEF/1200 (6)]
 

„Derjenige Magier, der das [Spellbook Of Power] liest, erhält 1000 Angriffspunkte für einen begrenzten Zeitraum“, erklärte Kyon und streckte den Arm aus, „mehr noch, wird ein Spellbook gelesen, vermag [Temperance Of Prophecy] ihren Effekt zu aktivieren.“

Jene schrie plötzlich hysterisch auf und ließ die Kelche fallen. Während sie sich ebenfalls in blauen Nebel verwandelte und mit dem aus den Kelchen verschmolz, nahm Kyon eine hervorstehende Karte aus seinem Deck und legte sie auf die Duel Disk. „So opfert sie sich für eine andere Weissagung. Diese ist [Wheel Of Prophecy]!“

Der Nebel zog sich zusammen und bildete den Körper eines humanoiden Löwenkriegers, der einen mächtigen, runenverzierten Schild mit sich führte.

 

Wheel Of Prophecy [ATK/2700 DEF/1700 (8)]

 

„Und da das Rad durch den Effekt eines Magiers beschworen wurde, beginnt es sich nun zu drehen“, verkündete Kyon. „Es schickt nun eine beliebige Anzahl an verbannten Spellbooks in mein Deck und den Rest auf meinen Friedhof.“

Genau das tat der kräftige Löwenmann auch: Er drehte seinen Schild in der Hand im Uhrzeigersinn, aus dem dutzende Symbole durch die Luft schossen. Kyon schob [The Grand Spellbook Tower] zurück in sein Deck, danach legte er die anderen beiden auf seinen Friedhof zurück.

Zanthe stand der Schweiß auf der Stirn. „Natürlich, du willst deinen Teufel auf dem Feld halten.“

„Ich denke viel vorausschauender als das. Nun, ich greife deinen [Constellar Praesepe] an! [Prophecy Destroyer], Prophecy #15 – Road to One's Demise!“

Zanthe ballte eine Faust mit seinem Handschuh und schlug diesen direkt über seine gesetzte Karte in die Luft aus. „Vergiss es! Falle aktivieren, [Draining Shield]! Dein Angriff wird annulliert und direkt meinen Lebenspunkten gutgeschrieben!“

Die Karte klappte auf. Am Arm seines Sternenkriegers materialisierte sich ein spiegelnder Schild, den er erhob, als sein Feind die rote Klinge ausholend schwang und damit einen roten Lichtstreifen auf ihn schleuderte. Plötzlich nahm dieser einen purpurnen Ton an und zerschmetterte Schild und Träger gleichermaßen.

Zanthe keuchte auf. „Du machst wohl Witze …!“

„Mitnichten. Auch ich habe eine Karte aktiviert, mein verdecktes [Spellbook Of Wisdom]. Es beschützt einen Magier wahlweise vor dem Einfluss feindlicher Zauber oder Fallen. Der Angriff ging also durch …“

Zanthe zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Lebenspunkte bekomme ich trotzdem, da jener Teil des Effekts von [Draining Shield] mich betrifft und nicht dein Monster.“

Die leuchtende Energieklinge schoss an ihm vorbei, denn Zanthe wich ihr aus, indem er den Kopf zur Seite neigte. Trotzdem strich sie seine Wange, aus der ein Rinnsal an Blut über die Haut trat und krachte anschließend durch den Zaun, welcher jetzt durch einen leicht schräg verlaufenden Schnitt gezeichnet war.

 

[Zanthe: 4000LP → 7500LP → 7400LP / Kyon: 3100LP]

 

Kyons Deck begann plötzlich rötlich zu strahlen. Eine einzelne Karte stand daraus hervor und Zanthe rollte nur noch mit den Augen.

„Zusätzlich zum stärkenden Effekt des [Spellbooks Of Power] kommt, dass es, sollte sein Wissen korrekt angewendet werden, ein neues Buch ins Leben ruft. Und du kennst es.“ Der Sonnenbrillenträger drehte jene Karte zwischen seinen Fingern. „[Spellbooks Of Tetrabiblos]. Bereust du jetzt, mir die Karte zurückgegeben zu haben?“

Zanthe schüttelte trotzig den Kopf.

„Du solltest aber. Nicht jede Entscheidung ist die richtige, schon gar nicht, wenn sie aus Trotz getroffen wurde. Doch noch ist nicht der rechte Zeitpunkt, dir diese Lektion zu erteilen. Zunächst befehle ich einen direkten Angriff. [Wheel Of Prophecy], Prophecy #10 – Motion of the Stars!“

Zunächst drehte der Löwenkrieger seinen Schild vor sich, dann nahm er ihn und warf ihn wie einen Diskus auf Zanthe. Dieser wich nach hinten aus und duckte sich so unter dem Angriff geschickt hinweg. Kopfüber sah er, wie der Schild kurz vor dem abgrenzenden Zaun einen Bogen machte und zurückkehrte, dieses Mal tiefer fliegend. Schnell richtete er sich auf und machte einen Sprung aus dem Stand über die Waffe hinweg, die sicher in die Hände ihres Besitzers zurückkehrte, welcher sie in gebückter Haltung auffing.

 

[Zanthe: 7400LP → 4700LP / Kyon: 3100LP]

 

„Kinderspiel“, flötete der junge Mann selbstbewusst.

„Für deinesgleichen unbedingt.“ Kyon rückte seine Sonnenbrille zurecht. „Zug beendet.“

Die rote Aura um seinen Teufel legte sich schließlich.

 

Prophecy Destroyer [ATK/3500 → 2500 DEF/1200 (6)]

 

Die Augen zusammenkneifend, bewegte Zanthe seine Hand in Richtung Deck. „'Meinesgleichen'? Was ist denn 'meinesgleichen'!?“

„Ein Werwolf natürlich. Eure athletischen Fähigkeiten werden nur von wenigen anderen Dämonen übertroffen.“

„Nur bin ich kein Dämon!“, protestierte Zanthe erzürnt, hatte er mit genau dieser Antwort gerechnet. „Ein Werwolf ja, noch! Aber kein Dämon!“

„Ich habe lediglich simple Fakten genannt.“

„Dann nenne ich dir jetzt auch einen! Du steckst im Körper meines toten Bruders und besitzt die Dreistigkeit, -mich- zu beleidigen!“ Zanthes Pupillen leuchteten für einen kurzen Augenblick golden auf. „Ich kann dir nur raten, dieses Duell zu gewinnen und mich zu töten, denn lieber sehe ich meinen Bruder unter der Erde, als mit dir darin über ihr!“

„Also bist du bereit, dich mit so einem Schicksal abzufinden?“ Ehe sein Gegenüber etwas darauf erwidern konnte, schnitt ihm Kyon das Wort ab. „Kannst du deinen Bruder nach all der Zeit nun endlich gehen lassen? Das überrascht mich.“

„Was weißt du?“ Zanthe versuchte mühsam, seine Fassung zu wahren. „Mein Bruder ist tot. Alles, was von ihm übrig ist, ist sein Körper. Ich habe jetzt andere Verpflichtungen. Anya, Matt, Exa …!“

„Dieser Mann bedeutet dir sehr viel, obwohl ihr euch erst wenige Tage kennt“, erwiderte Kyon und sah gen Himmel in den Regen, welcher seine Sonnenbrille mit dicken Tropfen benetzte, „weißt du auch, warum das so ist?“

Zanthe, dessen Hand bereits vor seinem Deck angelangt war, hielt in der Bewegung inne. Er ließ den Arm sinken und zuckte mit den Schultern. „Weil er … irgendwie der erste Mensch ist, der sich mit mir anfreunden wollte. Und nicht etwa umgedreht.“

„Er hat dich nicht erkannt, du ihn aber. Dieser Mensch ist für dich ganz besonders, ohne, dass du davon weißt. Als du ihm zum ersten Mal begegnet bist, hast du ihn für mich gehalten, nicht wahr? Oder eher …“

Der Werwolf keuchte, als er sich zurückbesann. „Alessandro … Moment!“

Sein Gegenüber nickte. „Es ist, wie du vermutest. In Exa schläft die Seele deines Bruders. Mir ist es gelungen, Alessandro Montinaris Seele aus dem Limbus zu befreien. Dein Bruder ist noch nicht tot, deshalb solltest du deine Worte in Zukunft mit mehr mit Bedacht wählen.“

Mit offenem Mund starrte Zanthe Kyon an.
 

Das konnte nicht sein! Er log, so hämmerte es förmlich im Kopf des Schwarzhaarigen. Der Limbus war der Ort, wo all jene Seelen landeten, die einen Pakt mit einem anderen Wesen brachen oder die unter besonderen Umständen den Tod fanden. Alessandro gehörte zu Ersteren, er verlor seine Seele, da er seinen Pakt mit Kyon nicht erfüllen konnte.

Obwohl nicht viel über den Limbus in Erfahrung gebracht werden konnte, so galten zwei Dinge als gesichert: Er galt als das, was die Menschen sich unter der Hölle vorstellten. Und es gab kein Entkommen. Nicht einmal einem Dämon vom Kaliber des Sammlers war es je gelungen, in den Limbus einzudringen!

 

„Ich weiß, was du jetzt denkst“, sagte Kyon, der plötzlich nach seiner Sonnenbrille griff und sie abnahm. Dahinter traten braune Augen hervor, die den Werwolf genau musterten. „Doch glaube mir, es gibt eine 'Person', die den Limbus betreten kann. Ich habe sie ausfindig machen und um Hilfe bitten können.“

Zanthe aber schüttelte vehement den Kopf. „Du lügst!“

„Es ist die Wahrheit. Hör mir zu.“ Der Butler streckte beide Arme zur Seite aus. „Sobald ich mein Ziel erreicht habe, werde ich diesen Körper verlassen. Bis dahin jedoch musst du Exa unter allen Umständen beschützen.“

„Was beabsichtigst du hiermit, huh!?“ Zanthe wurde zunehmend lauter. „Ich glaube dir kein Wort!“

„Exa ist ein Hüter, genau wie du einer warst“, überging Kyon die Frage glatt, „er darf unter keinen Umständen mit Anya Bauer in Kontakt treten! Wenn sie ihre Conqueror's Soul benutzt, um seine Kräfte zu absorbieren, wird Alessandro Montinaris Seele zerstört werden. Und darüber hinaus wird Exa dabei sterben!“

Zwar hörte dessen Bruder jene Worte, doch glitten sie an ihm vorbei, als wären sie nichts als Wind. Er vermochte in diesem Moment nicht, sie überhaupt zu erfassen. Da es nur eines gab, was er wissen wollte. „Was verdammt noch mal willst du erreichen!? Wer bist du!?“

„Hör mir zu, Zanthe Motinari!“, übertönte Kyon ihn jedoch mit voller Lautstärke. „Verhindere, dass Anya Bauer deinen Freund konfrontiert! Es gibt noch etwas, was du über ihn wissen solltest, aber das musst du unter allen Umständen für dich behalten! Exa ist …“

 

~-~-~

 

Mühsam schleppte sich Anya durch den dunklen Gang. Immer noch litt sie unter den Nachwirkungen von Zachs Angriffen, welche sich als besonders fiese Gliederschmerzen äußerten. Aber auch allgemeine Erschöpfung machte es ihr zunehmend schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Allerdings konnte sie bereits die Tür sehen, welche zurück zum Vorbereitungsraum führte. Genau davor gingen noch zwei Gänge nach links und rechts ab, welche sich wie ein Ring um das Gebäude zogen und hauptsächlich vom technischen Personal benutzt wurden.

 

Kaum hatte Anya die Tür erreicht, ließ sie eine bekannte Stimme innehalten.

„Gut gespielt, Kleine“, lobte sie Logan, der an der Wand des linken Ganges lehnte und die Arme verschränkt hielt.

Die Blonde drehte träge den Kopf zur Seite, konnte sich aber trotz der natürlich-absolut-böse-gemeinten Anspielung auf ihre Körpergröße ein Grinsen abringen. „Danke. War doch gar nicht so schwer, wie ich dachte.“

„Trotzdem siehst du aus wie jemand, der jetzt eine Pause braucht.“ Der Schwarzhaarige mit den buschigen Koteletten löste sich von der Wand. „Ich bring' dich zurück ins Hotel.“

„Ich schaff das-!“

Nein, tat sie nicht, wie sie selber merkte, als sie in seine Richtung kippte und von dem gleichgroßen Mann aufgefangen werden musste.

„War kein Angebot“, stellte Logan daraufhin klar und half dem Mädchen, wieder gerade zu stehen.

„M'kay“, willigte Anya ein, da sie zu müde war, um ihrem Drang zum Widersprechen nachzugeben.

„Hab 'ne Idee“, meinte er plötzlich, als er völlig unerwartet seinen Arm um sie schlang und so abstützte. „Könnten ja deinen Sieg feiern. Kenne da 'ne gute Bar.“

„W-was!? L-lass mich los!“, stammelte Anya, die in Windeseile knallrot anlief.

Als würde er sie gar nicht hören, zog er sie regelrecht zum Ausgang. „Ohne Alkohol für dich versteht sich, bist ja noch minderjährig. Lad' ruhig alle deine Freunde ein, geht alles auf mich.“

 

Verblüfft betrachtete das Mädchen ihn von der Seite. Er strahlte mit einem Male förmlich. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Und irgendwie steckte es an. „M'kay …“

„Aber erstmal gönnste dir 'ne Mütze Schlaf.“

„War ich denn … gut?“, fragte Anya verlegen.

„Mhm“, brummte er nachdenklich, „du wärst besser, wenn du deine Familienangelegenheiten außen vor gelassen hättest. Oder vielleicht warst du gerade deswegen gut?“

Die beiden blieben direkt vor der metallischen Tür stehen. Anya fragte: „Wohl eher Letzteres. Die Leute werden jetzt über mich reden, was?“

„Werden sie“, versicherte Logan ihr ernst, „so läuft das in dieser Branche. Aber davon darfst du dich nicht beeindrucken lassen, sonst machen sie mit dir, was sie wollen.“

„'kay …“, gab Anya müde zurück.

 

Sei froh, dass sie mich nicht interviewen können, Anya Bauer. Ansonsten wäre das Erste, was ich den Reportern sagen würde, dass du eine verdammt dämliche Kuh bist!

 

Vor Schreck stieß Anya einen spitzen Schrei, wodurch selbst Logan zusammenzuckte und fragte: „Bin ich dir auf den Zeh getreten?“

 

Selbst wenn, wäre das nicht halb so schmerzhaft wie die Hölle, durch die ich gehen musste! Hast du eine Ahnung …

 

Glücklich schloss Anya die Augen. Dem schien es wohl wieder gut zu gehen, wenn er meckern konnte …

 

~-~-~

 

„… lächerlich.“ Zanthe zog geradezu lasch von seinem Deck, nahm dann eine Karte aus seinem Blatt. „Und selbst wenn es wahr wäre, warum ist er dann hier?“

„Wegen mir. Ein anderer kam nicht infrage.“

„Natürlich. So ein Zufall aber auch“, spottete Zanthe grimmig. „Erspar' mir deine Lügen! Es sagt doch schon alles, dass du dich nur ins Turnier gemogelt hast, um Anyas Position zu sichern! Damit alles so läuft, wie der Sammler sich das vorstellt!“

Kyon regte sich nicht. „Es war eine Anweisung.“

„Natürlich war es das“, zischte der Bruder seines Wirtes ärgerlich und schob die Zauberkarte in seinen Handschuh. „Wie auch immer, ich aktiviere [Constellar Star Cradle]!“

Das über den Dächern hängende Symbol der Sternenkundler schoss zwei Lichtstrahlen ab, deren Weg direkt in Zanthes Hand führte. Der erklärte dazu: „Dafür, dass ich diese Runde nicht angreifen darf, bekomme ich zwei gefallene Sterne zurück, nämlich [Constellar Pollux] und [Constellar Algiedi]. Genau Letztere beschwöre ich jetzt auch!“

Zwischen seinen Fingern tauchte ein einfacher Schlüssel aus Kupfer auf, den er zur Seite ausschwang. „Open a door to the goat! Erscheine, [Constellar Algiedi]. Und ihr Effekt erlaubt es mir, ein Stufe 4-Constellar aus meiner Hand zu rufen!“

Noch während neben ihm, dort wo der Schlüssel mündete, ein Energieportal verziert mit astronomischen Symbolen entstand, tauchte in seiner anderen Hand ein weiterer dieser Schlüssel auf, den er ebenfalls weit zur Seite streckte. „Open a door to the archer! [Constellar Kaus]!“

Als die weiße Hexe bereits aus ihrem Siegel brach, bildete sich das zweite erst noch, bis schließlich ein weißer Zentaursoldat, welcher einen goldenen Bogen mit sich führte, neben Zanthe erschien.
 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1400 (4)]

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4)]
 

Jener Krieger richtete seine Waffe gen Himmel und schoss zwei gelb glühende Pfeile in gerader Linie ab.

„Zweimal pro Zug kann Kaus die Stufe eines belieben Constellars um eins verändern.“

Beide Monster auf Zanthes Spielfeldseide wurden schließlich von jenen getroffen und erstrahlten in derselben, grellen Farbe wie die Pfeile.

 

Constellar Algiedi [ATK/1600 DEF/1400 (4 → 5)]

Constellar Kaus [ATK/1800 DEF/700 (4 → 5)]

 

„Du weißt, was jetzt kommt“, kündigte der Werwolf grimmig an und streckte die Hand aus. Zwischen seinen Fingern materialisierte sich ein goldener Schlüssel von der Größe eines Schwertes, den er ergriff und gegen die Stirn legte. „Aus meinen beiden Stufe 5-Monstern wird ein gleißender Stern. Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network! Xyz Summon!“

Seine Monster verwandelten sich in gelbe Lichtstrahlen, die von dem Schlüssel in Zanthes Hand absorbiert wurden. Jenen rammte er mit der Spitze voran in den Boden.

„[Constellar Pleiades], erscheine!“

Unter Zanthe bildete sich ein neuer Zirkel, aus dem ruckartig ein großer Krieger brach. Wie alle seine Monster kam er ganz in Weiß daher, wobei die dunkle, siebenzackige, schwarze Platte auf seinem Rücken einen deutlichen Kontrast dazu bildete. Seine zwei Xyz-Materialien zogen ihre Bahnen um den Hünen, der seine Klinge verkehrt herum hielt, sodass ihre Spitze gen Boden zeigte.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 2]

 

Über Zanthe begann das Sternensymbol zu pulsieren. „Da ich wieder ein Constellar-Xyz gerufen habe, darf ich diese Runde einmal aufziehen.“

Sogleich tat er das, betrachtete die Karte zufrieden und steckte sie dann in eine für Handkarten vorgesehene Halterung an seinem Duellhandschuh. „Die behalte ich für später.“

Mit ausgestreckter Hand leitete er den nächsten Schritt seines Zuges ein: „Wie gesagt, angreifen kann ich diese Runde wegen [Constellar Star Cradle] nicht mehr. Aber für etwas Unfug ist immer Zeit. Also benutze ich Pleiades' Effekt!“

Jener absorbierte mit seiner Klinge eine der Leuchtsphären, die um ihn rotierten und warf die Waffe dann in die Höhe. Sie aufrecht auffangend, drehte er sich einmal um 360° und schleuderte so eine Schockwelle in Kyons Richtung.

„Hmm“, gab der nur von sich.

Es war sein [Prophecy Destroyer], der letztlich getroffen wurde und sich auflöste.

„Jetzt kannst du ihn nicht mehr reanimieren, da ich ihn durch Pleiades' Effekt auf deine Hand zurückgegeben habe“, erklärte Zanthe, „Zugende!“

Kyon war noch dabei, die Karte seines Monsters von der Duel Disk zu nehmen. Dabei sagte er: „Du hast das schwächere Monster gewählt? Interessant. Doch im Endeffekt weiß ich bereits, was passieren wird, weshalb ich dir dennoch einige Schritte voraus bin.“

„Glaub was du willst. Duelle werden nicht nur durch akribisches Planen gewonnen.“ Zanthe schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Sondern auch mit Herz.“

 

Als der Butler des Sammlers zog, entgegnete er: „Dein Bruder glaubte ebenfalls daran. Vielleicht spiegelte sich dieser Glaube sogar in dem Duell wieder, das Exa und Kakyo Sangon ausgetragen haben.“

Plötzlich verdunkelte sich Zanthes Miene jedoch. Statt seinen Freund lobend hervorzuheben, sagte er: „Soll ich ich dir verraten, warum Exa das Duell gewonnen hätte? Weil er einen unfairen Vorteil besaß. Dieses … Ding!“

„Wahre Worte. Hätte er sein Artefakt nicht zu einem Excel-Monster umgeformt, wäre seine Niederlage unvermeidlich gewesen.“ Kyon neigte den Kopf ein wenig nach unten, schob mit dem Zeigefinger seine Sonnenbrille zurecht.

Zanthe wich mit einer Kopfdrehung seitwärts dem Blick aus, den der Immaterielle ihm dabei über die Ränder der Brille hinweg zuwarf. „Yeah … aber das ist schließlich das Privileg eines Hüters, oder? Dennoch …“

Er wandte sich letztlich doch an Kyon. „Was sind Excel-Monster?“

„Nichts, worum du dir Sorgen machen musst. Außer mir, Exa, dem Collector und dem Schöpfer der Excel-Monster gibt es niemanden, der solche Karten besitzt. Es ist ironisch, dass Exa die meine abgelehnt hat, nur um später eine eigene zu erschaffen.“ Kyon nahm eine gerade Haltung an.

„Ich mag Exa“, gestand Zanthe, „aber in ihm steckt kein Duellant. Und er weiß vermutlich nicht mal, dass er eine Karte dieses Kalibers gar nicht besitzen dürfte.“

„Deswegen musste ich das Duell unterbrechen.“

Zanthe schnaufte wütend. „Dann muss ich dir wohl am Ende doch danken, was?“

„Wenn du das möchtest? Ich fürchte nur, nach meinem Zug wird von deinem Dank nicht mehr viel übrig sein.“

 

Dies gesagt, zog er in einer zackigen Bewegung seine nächste Karte. Obschon er im Angesicht der anderen fünf auf seiner Hand kaum nötig hatte. So landete sie letztlich auch in seinem Blatt, denn Kyon entschied sich dafür, stattdessen eine andere auszuspielen. „Wissen ist Macht, Zanthe Montinari. Aber Macht ist auch Zerstörung in der Hand eines Narren. Diese Karte ist der Beweis: [Fool Of Prophecy]!“

Er legte das Monster auf seine flügelartige Duel Disk, woraufhin sie vor ihm in Gestalt eines Jünglings in Erscheinung trat. Ein goldenes Zepter schulternd, erweckte der Bursche im gelben Mantel mit seinem vergnügten Grinsen auf den Lippen einen unbeschwerten Eindruck.

 

Fool Of Prophecy [ATK/1600 DEF/900 (3)]

 

„Da er nie die Grausamkeit dieser Welt kennengelernt hat, weiß er nicht, wie töricht sein Effekt ist“, philosophierte Kyon und griff nach seinem Deck, „alles was er damit bewirkt, ist das Ablegen eines Spellbooks auf meinen Friedhof.“

Eine einzelne Karte schob sich aus dem Stapel und wurde von Kyon vorgezeigt, [Spellbook Organization], die sogleich im passenden Schlitz entsorgt wurde.

Der schwarzhaarige Butler streckte den Arm nach vorn aus. „[Wheel Of Prophecy], kümmere dich um das Problem. Prophecy #10 – Motion of the Stars!“

Schon war der Löwenkrieger im Begriff, seinen radähnlichen Schild wie einen Diskus auf [Constellar Pleiades] zu schleudern, doch genau dieser war es, der als Erster sein Schwert zückte.

„Nicht so hastig!“, gebot Zanthe seinem Widersacher Einhalt. „Wenn du dich so gut auskennst, weißt du, dass Pleiades' Effekt jederzeit eingesetzt werden kann! Aus dem Angriff wird also nichts!“

Der Krieger warf seine Waffe in die Luft, begann sich um die eigene Achse zu drehen und fing sie mitten in der Bewegung auf. Was folgte war eine gewaltige Schockwelle, die über das Dach fegte und Kyons Monster trotz gezücktem Schild mit voller Wucht traf.

Wortlos, aber mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, nahm der Butler des Sammlers daraufhin [Wheel Of Prophecy] von seiner Duel Disk.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 1 → 0]

 

„Ein Jammer“, sagte er, „demnach muss ich meinen Zug beenden.“

Zanthe rümpfte die Nase. „Schwache Leistung dafür, dass du so große Töne spuckst.“

„Mit Verlaub, nur weil ich den Zug beendet habe, ist das letzte Wort dazu noch nicht gesprochen.“

Unerwartet begann der [Fool Of Prophecy] in goldenem Licht zu erstrahlen. Dies ließ den Werwolf augenblicklich verstummen, was Kyon wiederum nutzte, um das Phänomen zu erklären. „Hat der Narr seine Macht genutzt und das fünfte Spellbook auf den Friedhof gelegt, entfesselt er die wahre Tragödie.“

„Aha. Und welche wäre das?“, gab sich Zanthe betont desinteressiert, obschon seine verkrampfte Körperhaltung eine andere Sprache sprach.

Der Narr löste sich auf. Und dort, wo er gestanden hatte, begann dunkler Nebel aufzusteigen.

„Er beschwört das größere Übel. Einen Hexer der Finsternis, mit nicht weniger als fünf Stufensternen.“

Mit dem Dunst erhob sich eine schattenhafte Gestalt.

„Die Prophezeiung, die niemand gerne hört. Gesprochen vom [Reaper Of Prophecy]!“

Als Kyons Monster sich vor ihm aufgerichtet hatte, festigte sich der Nebel um ihn herum als sein Mantel. Von violetter Farbe, schwang der Hexer eine massive Sense.

 

Reaper Of Prophecy [ATK/2000 → 2600 DEF/1600 (6)]

 

Beim Anblick der Punkte gab Zanthe ein gedämpftes Stöhnen von sich.

„Sieh dir an, was das törichte Handeln des Narrs bewirkt hat: [Reaper Of Prophecy] erhält für jede Art von Spellbook einen besonderen Effekt, beginnend ab einer Anzahl von drei, bis hin zu fünf verschiedenen.“ Kyon schnippte mit dem Finger. „Effekt Nummer 1: Ein Angriffsboost von 600. Nummer 2: Ein Spellbook für mich, direkt von meinem Deck. Und der letzte: Die Beschwörung eines weiteren Finsternis-Hexers.“

Zwei Karten schoben sich aus Kyons Deck. Die eine präsentierte er, einen Zauber namens [Spellbook Of Fate]. Die andere legte er auf seine Duel Disk. „Erscheine, [Emperor Of Prophecy]!“

Ein Thron erschien. Auf ihm saß ein Magier in violetter Robe, der sich unter einem äußerst gelangweilten Gesichtsausdruck Luft mit seinem Fächer zuwedelte.

 

Emperor Of Prophecy [ATK/2300 DEF/2000 (5)]

 

„Was soll das?“, hakte Zanthe schließlich nach. „Denkst du, die beiden da beeindrucken mich?“

„Ich kenne dich und dein Deck. Dachtest du, du könntest aufhalten, was nicht aufgehalten werden kann?“, stellte Kyon stattdessen eine seelenruhige Gegenfrage. „Sieh dir das an.“

Er präsentierte ihm seine Hand, natürlich mit dem Kartenrücken voran. Allerdings fiel Zanthe nichts Ungewöhnliches daran auf.

So forderte sein Gegner: „Zähle sie.“

„Eins, zwei, drei, hmm, fünf, sechs … sieben?“

„Exakt. Da es immer noch meine End Phase ist, muss ich eine Karte abwerfen, um das maximale Handkartenlimit einzuhalten.“ Kyon zog sie zwischen Zeige- und Mittelfinger aus der Menge heraus und drehte sie dann um.

Zanthe klappte der Mund auf, als er begriff. „[Prophecy Destroyer]!“

„Von Anfang an war ich mir im Klaren darüber, wie du [Constellar Pleiades] einsetzen würdest. Dies ist das Resultat.“ Damit schob Kyon die Karte in seinen Friedhofsschlitz. „Nichts hat sich geändert.“

 

Beim Klang dieser Worte weitete Zanthe die Augen. Was sollte das heißen!? Dass er zu unfähig war, einen einfachen Immateriellen zu besiegen? Selbst Anya hatte das geschafft! Glaubte er, nur weil er ein paar Züge durchgeplant hat, schon das ganze Spiel gewonnen zu haben? Allein der Gedanke an so viel Hochmut, nicht zuletzt ihm gegenüber, brachte den jungen Mann regelrecht zum Kochen.

„Manchmal muss sich nichts ändern“, konterte er zorniger denn je und riss schwungvoll eine Karte von seinem Handschuh. „weil die Dinge gut so sind, wie sie sind. Du beschwörst deinen [Prophecy Destroyer] jede Runde? Dann zerstöre ich ihn jede Runde! Genau, nichts hat sich geändert!“

Kyon nahm das alles mit angehobener Augenbraue zur Kenntnis. Sein Gegner schmetterte förmlich eine Karte in den Handschuh. Seinen Arm zur Seite ausstreckend, erschien in Zanthes Hand ein kleiner Schlüssel. „Open a door to the twins! Normalbeschwörung, [Constellar Pollux]!“

Dort, wo die Zähne des Schlüssels mündeten, entstand ein aus diversen Kreisen und astronomischen Symbolen bestehendes Portal, aus dem der weiße Krieger regelrecht herausbrach. Wie zuvor, führte er ein Schwert mit zwei parallel zueinander verlaufenden Klingen mit sich.

 

Constellar Pollux [ATK/1700 DEF/600 (4)]

 

„Pollux gestattet mir eine zusätzliche Normalbeschwörung für einen Constellar“, rief Zanthe inbrünstig aus und schwang mit der anderen Hand den nächsten Schlüssel aus. „Open a door to the dragon!“

Noch ein Runenportal entfaltete sich neben Zanthe, doch dieses wirkte ein wenig anders als seine Vorgänger. Zwar bestand es auch aus mehreren Kreisen, doch statt Symbolen der Astronomie, wurden sie mit griechischen Buchstaben gefüllt.

„Verlorener Tänzer! [Constellar Alrakis]!“

Das Tor zersprang und gab einen weißen Krieger preis, dessen Helm in einem schier unendlich langen, goldenen Federschweif endete. Statt eines Visiers, verhüllte ein goldener Schleier sein Gesicht. Er führte zwei Schellenringe mit sich.

 

Constellar Alrakis [ATK/1200 DEF/1500 (4)]

 

Zu Zanthes Überraschung musterte Kyon jenes Monster skeptisch. „Es gehört nicht zu den Tierkreiszeichen, ganz im Gegensatz zu den restlichen Monstern deines Main Decks. Ein Außenseiter.“

„Er kommt in keiner der Geschichten der Constellar vor“, erklärte Zanthe daraufhin. „Weil er eigentlich gar nicht existieren sollte.“

„Wie du. Ein Fremder, der in die Gruppe aufgenommen wurde. Sind das die Gedanken, die du mit dieser Karte verbindest?“

Der Werwolf schnaubte. „Nein. Meine Gedanken drehen sich hierum!“

Seine Hand in einem Stoß ausstreckend, rief er: „Open a gate to the Sacred Star Knights! To the Overlay Network!“

In ihr materialisierte sich ein aus purem Gold gemachter, schwertgroßer Schlüssel, den er gegen die Stirn legte. „Xyz Summon!“

Mit voller Wucht rammte er diesen in den Boden, woraufhin sich das Schwarze Loch vor ihm öffnete und sowohl Alrakis, als auch Pollux als gelbe Lichtstrahlen absorbierte.

„Zeig dich uns, [Constellar Omega]!“

Über das Overlay Network zog sich ein weitflächiger Runenzirkel. Sogleich zerbarst dieser und brachte einen weißen Zentaur hervor. War sein Körper der eines Schimmels, begann ab der Hüfte der gepanzerte Krieger, aus dessen Rücken darüber hinaus ein Gestell aus schwarzen Metallplatten wuchs, Flügeln nicht unähnlich. Zwei Lichtkugeln rotierten dabei um ihn.
 

Constellar Omega [ATK/2400 DEF/500 {4} OLU: 2]

 

Am Himmel begann das Wappen der Sternenkundler zu leuchten. Zanthe riss eine Karte von seinem Deck. „Einmal pro Zug, wenn ich einen Xyz-Constellar rufe, darf ich ziehen. Beim zweiten Mal nicht mehr. Wie zum Beispiel jetzt!“

Unvermittelt faltete er beide Hände auf Kopfhöhe zusammen. „Denn jetzt rekonstruiere ich das Overlay Network!“

Als er sie wieder auseinander zog, manifestierte sich ein Platinschlüssel desselben Kalibers wie der goldene in seinen Händen. „Aus meinem Rang 5-Pleiades wird ein Rang 6-Monster!“

Besagter Sternenritter verwandelte sich in einen goldenen Lichtstrahl, der von dem noch immer vor Zanthe wirbelnden Schwarzen Loch absorbiert wurde.

„Rank-Up Incarnation Summon!“, schrie der aus voller Lunge und schmetterte den Schlüssel, auf dass sich erneut ein Runenzirkel über das Overlay Network legte, in den Boden. „Lass alles um dich herum verblassen!“

Ein ohrenbetäubender Schrei drang aus dem Inneren des Phänomens. Begleitet wurde er durch rote, schwarze und goldene Blitze, die letztlich auch den Kreis zum Explodieren brachten. „[Constellar Ptolemy M7]!“

Mit einem Ruck schoss ein gewaltiger, weißer Drache aus dem sich schließenden Loch empor. Von gold-weißer Farbe, positionierte er sich über Zanthe. In seinen schwarzen Energieschwingen war ebenfalls ein Teil des Constellar-Wappens eingelassen.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 DEF/2000 {6} OLU: 1]

 

Die goldene Sphäre, die um ihn kreiste, flackerte unruhig. „Wenn ich Messier 7 inkarniere, kann er seinen Effekt im selben Zug nicht mehr nutzen. Was nur gut für dich ist!“

Kyon sah an dem Drachen empor und nahm dafür sogar die Sonnenbrille ab. Geradezu ehrfürchtig murmelte er: „Das ist er … wunderschön.“

„Glaubst wirklich, dass ich dir alles abnehme?“, fragte Zanthe geradezu hasserfüllt. „Dir? Dem Diener des Sammlers? Ich wette, selbst das hier ist nur Schauspielerei!“

Kyon setzte seine Sonnenbrille wieder auf. „Du wolltest Antworten, ich habe sie dir gegeben.“

„Ach so? Eine fehlt immer noch.“

„Meine Ambitionen werde ich dir nur mitteilen, wenn du mich in diesem Duell besiegen kannst.“

Der Werwolf rümpfte die Nase. „Eigentlich sind es dann zwei. Da ist immer noch dieser Kakyo.“

„Diese Wahrheit ist Teil der Antwort, die du dir erkämpfen musst.“

Verächtlich kam es wieder: „Falls irgendetwas von dem überhaupt der Wahrheit entspricht. Was nicht heißt, dass ich nicht trotzdem kämpfen werde!“

Er nahm seine vorletzte Handkarte und zeigte sie vor. Und sein Gesichtsausdruck hellte sich für einen Moment auf, gewann etwas Melancholisches.

„Die hier kennst du bestimmt noch nicht! Ich aktiviere [Xyz Scales]!“

Plötzlich stiegen [Constellar Omega] und M7 in die Höhe, aufgetrieben von weißen Lichtsäulen, die rechts und links von Zanthe aus dem Boden schossen. Unter dem Zentaur leuchtete eine verzerrte Ziffer auf, die 4, dagegen war es bei dem Drachen die 6.

„Mit dieser Zauberkarte kann ich eine Art Pendelbeschwörung für Xyz-Monster durchführen“, erklärte Zanthe und schloss lächelnd die Augen, „ein Xyz-Monster, dessen Rang zwischen den Rängen der beiden Ziele liegt, kann damit direkt aus meinem Extradeck beschworen werden …“

 

Die Lichter der Geschäfte um sie herum blendeten Zanthe und Exa regelrecht, wie sie durch die Shopping Mall zogen. Über ihnen der klare Sternenhimmel. Trotz fortgeschrittener Stunde waren immer noch viele Leute unterwegs. Besonders an der offenen Mall war, dass in ihrer Mitte durchgehend Blumen und Bäume gepflanzt waren, deren Beete regelmäßig durch Sitzbänke unterbrochen waren. Die Gebäude der Geschäfte dagegen standen auf engstem Raum nebeneinander.

Wow!“, staute Exa nicht schlecht, der sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen umsah. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Kommst wohl nicht oft raus, huh?“, stichelte Zanthe neben dem großen Blonden vergnügt.

„Kann man so sagen. Ist mein erstes Mal in einer so großen Stadt. Dagegen kommt mir meine Heimat so winzig vor.“

Zanthe nickte. Er kannte das Gefühl nur zu gut, auch für ihn war das alles hier Neuland. Gerne hätte er die Stadt mit Anya und Matt erkundet, aber so wie die im Moment drauf waren, hätte er auch gleich ein Rudel tollwütiger Pitbulls mitnehmen können. Gerade Anya dürfte jetzt nicht ansprechbar sein. Er fragte sich, ob sie sich für die Finalrunden des Legacy Cups qualifiziert hatte, schließlich waren Zweifel daran durchaus berechtigt.

Sag mal“, begann er schließlich neugierig, um den Gedanken zu vertreiben, „du sagtest vorhin, du hast noch nie Duel Monsters gespielt?“

Ein Schulterzucken war die Antwort. „Glaube nicht. Aber es kommt mir bekannt vor.“

„Soll ich es dir beibringen?“ Zanthe blieb stehen und sah sich links und rechts um. Dann deutete er auf ein Geschäft schräg gegenüber. „Dort verkaufen sie Duel Monsters-Karten. Ich besorg' uns ein paar und zeige dir dann, wie's geht.“

Ich dachte, du hättest kein Geld?“, hakte Exa grimmig nach.

„Für Duel Monsters hat man immer Geld“, erwiderte Zanthe grinsend und war schon im Begriff, sein Vorhaben umzusetzen.

Seufzend, aber mit einem Lächeln auf den Lippen, nickte Exa mit dem Kopf Richtung des Geschäfts. „Eigentlich habe ich keine Lust. Aber ok, kurz zeigen kannst du es mir ja mal. Na los, geh schon.“

Zanthe rannte zufrieden strahlend los, da rief ihm Exa hinterher: „Aber lass uns das woanders machen. In einer Bar oder so, ich habe Durst.“

 

Über Zanthe öffnete sich ein Portal, um das sich dutzende, hellblaue Ellipsen zogen. Der Werwolf riss die Augen auf und nahm die aus seinem Extradeck hervorstehende Karte zwischen Mittel- und Zeigefinger. „Komm zu mir, [Constellar Pleiades]!“

Aus dem rosafarbenem Loch am Himmel schoss ein einzelner, gelber Lichtstrahl, der vor Zanthe im Dach einschlug. Aus diesem erhob sich der weiße Ritter, der seine Klinge mit der Klinge nach unten zeigend führte. Wie gut, dass er zwei Kopien davon besaß, dachte Zanthe dabei zufrieden.

 

Constellar Pleiades [ATK/2500 DEF/1500 {5} OLU: 0]

 

[Xyz Scales] war eine der Karten gewesen, die der Werwolf letztlich aus den an diesem Tag gekauften Boostern gezogen hatte. Er musste, wie er so an den Abend zurückdachte, über Exas teilweise sehr dummen Fragen lächeln, da er manche Spielmechaniken einfach nicht verstanden hatte. Kaum zu glauben, wie gut er sich trotz seiner Unerfahrenheit gegen Kakyo angestellt hatte. Aber das lag dann wohl an …

„Oh! Stimmt ja!“ Neben den Boostern hatte er einen kostenlosen Werbeprospekt erhalten, den er unbedingt Anya zeigen musste. Die würde ausflippen!

Aber zuerst musste er dieses Duell zu Ende bringen. Indes hatten sich die Lichtsäulen aufgelöst und die Monster ihren Weg zurück zu Zanthe gefunden. Dessen Gegner sagte: „Tatsächlich. Damit habe ich nicht gerechnet. Jedoch ändert das nichts an dem, was ich für dich zurecht gelegt habe.“

„Das werden wir ja sehen!“, erwiderte Zanthe zornig und riss den erhobenen Zeigefinger gen Himmel. „[Constellar Omega], [Constellar Pleiades] und Messier 7! Greift Kyons Monster und ihn alle zusammen an! Unison Star Raid!“

Erstgenannter streckte seine Brust vor, auf der das Wappen der Sternenkundler zu leuchten begann. Daraus schossen dutzende Lichtpfeile, die allesamt den in Violett gekleideten [Emperor Of Prophecy] anvisierten. Messier 7 dagegen feuerte aus seinem Maul einen orangefarbenen Lichtstrahl ab, der von goldenem Schimmer begleitet wurde. Sein Ziel war der Sensen schwingende [Reaper Of Prophecy] Während beide Hexer zeitgleich getroffen wurden und explodierten, zischte etwas an Kyon vorbei. Dieser drehte sich noch um, sah aber nur noch, wie Pleiades wieder verschwand und hinter ihm auftauchte. Kurz darauf wurde der Butler von allen Seiten mit Hieben eingedeckt.

 

[Zanthe: 4700LP / Kyon: 3100LP → 3000LP → 2900LP → 400LP]

 

Jedoch gänzlich unbeeindruckt, drehte sich Kyon schließlich wieder Zanthe zu, dessen Krieger bereits zu ihm zurückgekehrt war. „Unglücklicherweise war das nicht ausreichend.“

„Aber ich habe immer noch diese hier!“, erwiderte der Kopftuchträger grimmig und schob seine letzte Handkarte in den Handschuh. „Du bist dran.“

Zischend materialisierte sich die Karte vor seinen Füßen.

 

Zwar stand Kyon jetzt mit völlig leerem Feld da, was angesichts der Zahl seiner Handkarten unerheblich war, nachdem er auf eine siebte aufgezogen hatte. Sie zu den vielen anderen steckend, nahm er die beiden Karten ganz rechts aus seinem Blatt und spielte sie aus. „[Monster Reborn]. Ich hole den [Emperor Of Prophecy] aus dem Reich der Toten zurück. Dazu [Strength Of Prophecy] als Normalbeschwörung.“

Vor ihm öffnete sich ein Runenzirkel, aus dem der violette Hexer auf seinem Thron hervor schwebte und sich dabei desinteressiert Luft zu fächerte. Neben ihm materialisierte sich eine rothaarige Kriegerin in gleichfarbiger Robe, die ihre riesige Axt mit dem Schaft voran in den Boden rammte, ehe sie ihre Hände auf das brusthohe, diamantenbesetzte Mordinstrument abstützte.

 

Emperor Of Prophecy [ATK/2300 DEF/2000 (5)]

Strength Of Prophecy [ATK/1500 DEF/1400 (4)]

 

Kyon schob bereits noch eine Karte in seine Flügel-Duel Disk. „Nun, da ich wieder über Hexer verfüge, kann ich das [Spellbook Of Fate] aktivieren. Durch das Verbannen von drei anderen Büchern auf meinem Friedhof …“

Diese zeigte er vor, es waren die Spellbooks Of Secret, Master und Wisdom. Gleichzeitig erschien in des Emperors freier Hand ein gelb leuchtender Wälzer, aus dem er in einer fremden Sprache zu zitieren begann. „... vermag ich augenblicklich eines deiner Monster ebenfalls ins Exil zu schicken.“

Er streckte den Arm aus und deutete auf den Drachen M7. Selbiges tat auch sein Magier, der seinen Fächer mit einem herrischen Schrei ausschwang. Von dessen Spitze löste sich ein gelber Blitz.

„Netter Versuch, aber vergebens!“, konterte Zanthe und riss ein Xyz-Material unter [Constellar Omega] hervor. „Omega kann meine Constellare immun gegen Zauber und Fallen machen! Star of Protection!“

Sogleich streckte der Zentaur beide Arme weit aus und ließ das Wappen der Sternenkundler in riesiger Form vor Zanthes Spielfeld erscheinen. An dem leuchtend weißen Symbol prallte der gelbe Blitz hoffnungslos ab.

 

Constellar Omega [ATK/2400 DEF/500 {4} OLU: 2 → 1]

 

„Interessante Reaktion“, gestand Kyon seinem Gegner zu. „Ich war unvorbereitet.“

Dieser erinnerte sich plötzlich. Natürlich! Damals, da hatte er Omega nicht ausgespielt … also kannte Kyon diesen auch nicht.

„Dieser Rückschlag ist jedoch vernachlässigbar“, relativierte dieser plötzlich, „Effekt von [Strength Of Prophecy]. Sie schickt ein benutztes Spellbook zurück in mein Deck, um selbst Kraft daraus zu gewinnen.“

Jene magische Kriegerin schloss die Augen und murmelte etwas. Ein roter Lichtfunke stieg von ihrer Axt auf und wurde von Kyons Deck absorbiert. Dieser zeigte [Spellbook Of Power] von seinem Friedhof vor und legte es auf den Kartenstapel, der anschließend durchgemischt wurde.

 

Strength Of Prophecy [ATK/1500 → 2000 DEF/1400 (4 → 5)]

 

Nicht völlig unerwartet für Zanthe, öffnete sich vor Kyon ein Schwarzes Loch. Als violette respektive rote Lichtstrahlen wurden Emperor und Strength vom Überlagerungsnetzwerk absorbiert. Kyon rief: „Werde Zeuge, wie ich das Overlay Network erschaffe! Aus meinen Stufe 5-Hexern wird ein Rang 5-Monster!“

Ein gelbschwarzer Blitz brach aus diesem hervor.

„Xyz Summon! Erhebe dich, Herrin des Schicksals! [Empress Of Prophecy]!“

Auf einem steinernen Thron sitzend, tat jene in Weiß gehüllte Magierin das auch. Die Finger ihrer linken Hand umklammerten fest einen goldenen Zauberstab, an dem dünne Stoffbänder gebunden waren. Dagegen lehnte zu ihrer Rechten ein massiver Schild mit rosafarbenen Perlen am Thron, die zusammen mit der goldenen Randverzierung das Symbol der Venus ergaben. Zwei der Edelsteine leuchteten besonders stark.

 

Empress Of Prophecy [ATK/2000 DEF/1700 {5} OLU: 2]

 

Kyon zeigte aber längst seine nächste Handkarte vor. „Nun rufe ich durch [Spellbook Of Life] einen gefallenen Hexer zurück. Zuvor muss ich jedoch ein Spellbook vorzeigen.“

Dieses nannte sich [Spellbooks Of Tetrabiblos]. Stimmt, erinnerte sich Zanthe dabei, das Teil besaß er ja auch noch!

„Außerdem muss erst ein Opfer gebracht werden. Also verbanne ich [Stoic Of Prophecy]“, sagte er, wodurch ein weißes Grimoire auf dem Spielfeld erschien und wie von Zauberhand durchgeblättert wurde, „damit [Prophecy Destroyer] zurückkehrt.“

„Was!? Aber das ergibt keinen Sinn!“, kommentierte Zanthe dies verwirrt.

Wieso sollte er das tun, wo jener sich ohnehin durch seinen Effekt wiederbeleben konnte!? Darauf hatte er es doch die ganze Zeit abgesehen!

Noch während Zanthe darüber rätselte, erschien der dämonische Krieger vor Kyon. Welcher plötzlich die Hand ausstreckte. „Du wirst es gleich verstehen. [Spellbook Of Life] erhöht die Stufe des beschworenen Monsters um die des verbannten. Und nun …“

 

Prophecy Destroyer [ATK/2500 DEF/1200 (6 → 7)]

 

Zanthe nahm ihm jedoch die Erklärung ab, als er geschockt rief: „[Spellbooks Of Tetrabiblos]!“

„Exakt“, nickte Kyon und legte die Zauberkarte ein. Um den Zerstörer begannen insgesamt vier Bücher zu rotieren, wobei sie rosafarbend aufleuchteten.

Plötzlich öffnete sich unter dem [Prophecy Destroyer] erneut das Overlay Network, welches jenen als violetten Energiestrahl verschlang. Mehr noch, folgten die vier Bücher diesem in das Schwarze Loch. Kyon erklärte: „Wie du weißt, werden die [Spellbooks Of Tetrabiblos] ebenfalls zu einem Xyz-Material, wenn das andere ein Hexer ist. Und nun erlebe, wie das mächtigste Zauberwesen seine Weissagung spricht! Xyz Summon!“

Erneut schlugen schwarze und gelbe Blitze aus dem Überlagerungsnetzwerk. Durch Kyons Jacke hindurch schimmerte ein weinrotes Symbol, eine Rose. Jenen Arm riss er in die Höhe. „Erhebe dich, [Hierophant Of Prophecy]!“

Begleitet von den Blitzen stieg aus dem Wirbel ein groß gewachsener Magier empor. In eine schwarze Robe gehüllt, flatterten unzählige weiße Stoffbänder mit Zaubersprüchen darauf von ihr durch die Luft. Dabei hielt er seinen langen Zauberstab fest umklammert, um welchen zwei Lichtkugeln kreisten.

 

Hierophant Of Prophecy [ATK/2800 DEF/2600 {7} OLU: 2]

 

Mit einem Male schwang der Hexer besagten Stab aus, ganz zu Zanthes Argwohn.

„Das Wissen der Vergangenheit nutzend, wird der Hierophant die Zukunft beeinflussen“, sagte Kyon und zog unter dessen Karte eine Overlay Unit hervor, „für jedes auf dem Friedhof liegende Spellbook vermag er eine Zauber- oder Fallenkarte zu zerstören.“

Entgeistert schnappte Zanthe: „Nicht im Ernst!“

„Wie erwartet …“, murmelte Kyon. Sein Magier absorbierte mit der Spitze seines Stabes eines der darum kreisenden Xyz-Materialien, ehe er ihn nach vorne richtete. Grünes Licht strahlte vom Stab, von dem sich dann ein schwarzer Feuerball löste. Jener schlug in Zanthes gesetzte Karte ein und pulverisierte sie im wahrsten Sinne des Wortes.

Kyon aber schwang bereits den Arm aus. „Nun das, was ich dir versprochen habe: Ich verbanne drei Spellbooks, damit der [Prophecy Destroyer] zurückkehrt.“

Die Abbilder der Spellbooks Of Fate, Life und der [Spellbook Organization] tauchten vor Kyon auf und verschwanden im Nichts. An ihrer Statt machte sich dunkler Nebel vor Kyon breit, aus dem der teuflische Krieger mit seiner rot-glühenden Klinge in der Hand erschien, zwischen seinen beiden Kameraden.

 

Prophecy Destroyer [ATK/2500 DEF/1200 (6)]

 

Drei gegen drei, dachte Zanthe nervös. Sein Omega, Pleiades und M7 gegen Kyons Hierophant, Empress und Destroyer. Dummerweise waren zwei der Monster seines Gegners stark genug, um mit den Sternkundlern kurzen Prozess zu machen.

„Zweifelsohne glaubst du, aufgrund deiner hohen Lebenspunkte nichts zu befürchten zu haben. Doch ich muss dich enttäuschen“, gab Kyon geheimnisvoll zu bedenken, „dem ist nicht so. Effekt von [Empress Of Prophecy]! Sie lässt mich die obersten fünf meiner Deckkarten ansehen, um für jedes Spellbook darunter ein Monster zu zerstören.“

Besagte Magierin schnippte nur einmal mit dem Finger und schon flogen nacheinander fünf holografische Karten von Kyons Deck und bauten sich mit dem Rücken zu Zanthe gewandt auf, wobei sie automatisch vergrößert worden. Parallel dazu erlosch das Licht einer der Perlen im Schild der Empress.

Starker Wind begann plötzlich zu wehen, der Regen schlug den beiden nur so entgegen. Kyon sagte: „Eine verhängnisvolle Prophezeiung.“

Dann wirbelten die Karten nacheinander herum, sodass der Werwolf sie sehen konnte. Links ein Monster namens [Hermit Of Prophecy], daneben ebenfalls eines, [Charioteer Of Prophecy]. Erschrocken bemerkte Zanthe, dass sich in der Mitte der Zauber [Spellbook Of Judgment] befand. Dann kamen die Monster [World Of Prophecy] und [Justice Of Prophecy].

„Wohl eher für dich, als für mich“, konterte der junge Mann schließlich schnippisch und hob den Arm, um sich vor der Windbö zu schützen.

Kyon dagegen stand unbeeindruckt da, rührte sich nicht. „In der Tat ein enttäuschendes Ergebnis. Aber es reicht, um [Constellar Ptolemy M7] zu zerstören.“

Aus dem Zauber in der Mitte schoss ein silberner Blitz, der in der Brust des edlen Mechadrachen einschlug und ihn zerstörte. Gleichzeitig legte Kyon, der die fünf Karten die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, diese auf sein Deck. „Nach der Prophezeiung schreibt [Empress Of Prophecy] die Zukunft neu, sodass ich die Karten frei anordnen kann.“

„Also weißt du, was du nächste Runde ziehen wirst …“

„So ist es.“ Kyon hob den Zeigefinger und deutete damit auf die Magierin zu seiner Rechten. „Eins solltest du noch wissen, bevor ich zum Kampf übergehe. [Empress Of Prophecys] Potenz steigt, je mehr Xyz-Materialien sich auf meiner Spielfeldseite befinden, de facto um 300.“

Sowohl die Perle im Schild der Hexerin, als auch die Lichtkugel, die um des Hierophants Stab kreiste, begannen zu pulsieren.

 

Empress Of Prophecy [ATK/2000 → 2600 DEF/1700 {5} OLU: 1]

 

Also wäre es so oder so ein Leichtes für Kyon gewesen, seine Constellare auszuschalten, begriff Zanthe ärgerlich. Hatte er das alles von Anfang an so geplant? Spielte das Schoßhündchen des Sammlers ein Spiel mit ihm, dass er nur gewinnen konnte?

Der junge Mann ballte eine Faust und sah weg, als Kyon befahl: „Los, [Empress Of Prophecy] und [Prophecy Destroyer]! Greift [Constellar Pleiades] und [Constellar Omega] gleichzeitig an! Prophecies #3 und #15!“

Der Teufel schwang seine Klinge nur einmal, damit sich von ihr ein dünner Lichtstreifen löste. Dieser schoss so schnell am Zentaur vorbei, dass nur der abgetrennte, herabrutschende Kopf des Monsters davon zeugte, dass jener überhaupt getroffen worden war. Zeitgleich schlug die Empress mit dem Ende ihres Zauberstabs auf den Boden, was dazu führte, dass um Pleiades vier riesige, gelbe Portale entstanden, allesamt aus dutzenden, ineinander fassenden Kreisen und Symbolen bestehend. Und aus jedem davon schoss ein Lichtstrahl, welche sich überkreuzten und vom jeweils gegenüberliegenden Portal wieder absorbiert wurden.

„Ugh“, keuchte Zanthe, der nebenbei noch mit dem heftigen Regenschauer zu kämpfen hatte.

„Und jetzt der direkte Angriff“, verkündete Kyon gnadenlos. „[Hierophant Of Prophecy]! Prophecy #5 – Road To The Stars!“

Mit einem Ruck riss der schwarzhaarige Hexer seinen Stab in die Höhe, ehe er ihn nach vorne stieß und dutzende winziger Lichtsterne auf Zanthe abfeuerte. Der wurde unter dem Hagel zurückgeschleudert und stieß gegen den abgrenzenden Zaun, der in diesem Moment verhinderte, dass der Werwolf in die Tiefe stürzte.

 

[Zanthe: 4700LP → 4600LP → 4500LP → 1700LP / Kyon: 400LP]

 

„Ich überlasse dir den nächsten Zug. Eins ist bereits gewiss: Es ist dein letzter“, ließ Kyon ihn wissen.

 

„Mein letzter Zug, was?“, flüsterte Zanthe vor sich hin. Seinen Arm mit dem Duellhandschuh vor sich ausstreckend, griff er nach seinem Deck. „Ist doch logisch. Den letzten Zug macht der, der gewinnt. Draw!“

Mit vollem Schwung riss er die Karte vom Stapel, etwas, das er sich wohl unbewusst von Anya abgeschaut haben musste. Was ein deutliches Zeichen dafür war, dass er zu viel Zeit mit ihr verbrachte. Andererseits gab es wohl Schlimmeres als das. Zum Beispiel ihre Wortwahl!

Als Zanthe die Karte betrachtete, musste er jedoch ungewollt schlucken. Die allein würde ihm nicht helfen. Es sei denn …

„Ich aktiviere eine Ausrüstungszauberkarte!“ Zanthe schob jene in den passenden Schlitz an seinem Handschuh. Daraufhin brach der Beton vor ihm auf, ein nicht unwesentliches Loch entstand direkt vor seinen Füßen. „[Premature Burial]! Zuerst muss ich 800 Lebenspunkte zahlen. Im Gegenzug kann ich jedoch ein Monster aus meinem Friedhof wiedererwecken, was mit ihr ausgerüstet wird.“

Mit einem schrillen Schrei brach der weiß-goldene Maschinendrache mit den schwarzen Energieschwingen aus dem Dach und stieg in die Lüfte.

 

[Zanthe: 1700LP → 900LP / Kyon: 400LP]

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 DEF/2000 {6} OLU: 0]

 

Seine Bahnen über den Köpfen der beiden Duellanten ziehend, stieß Messier 7 ohne Unterbrechung laute, stolze Schreie aus. Noch weiter am Himmel begann das Wappen der Constellare wieder zu leuchten.

„Du hast einen Fehler gemacht!“ Zanthe nickte der permanenten Zauberkarte vor sich, [Constellar Star Chart], zu. „Anstatt alle Zauber- und Fallenkarten mit deinem Hierophanten zu vernichten, hast du nur Augen für die gesetzte gehabt und die hier ganz vergessen.“

„Anscheinend.“ Kyons tonlose Antwort sprach Bände. Er senkte sogar den Kopf.

„Jetzt darf ich, da ein Constellar-Xyz beschworen wurde, eine Karte ziehen!“ Mit brennendem Ehrgeiz in den Augen sah Zanthe auf sein Deck. Etwas Starkes, irgendetwas, flehte er still im Geiste und umfasste die Karte mit seinen Fingern. „Los!“

Er riss sie von seinem Deck. Sein Atem ging schneller und schneller, als er sie vor sich hielt und begriff. „W-was?“

Damit hatte er nicht gerechnet. Der Anflug eines Grinsens begann um seine Lippen zu spielen.

„Das dürfte reichen. Messier 7, nimm dir [Hierophant Of Prophecy] vor!“ Passend dazu streckte Zanthe den Arm aus. „M7 Star Launcher!“

Mit einem Ruck hob Kyon den Kopf an. „Das ist deine Lösung? Hast du es vergessen? Den zweiten Effekt von [Spellbooks Of Tetrabiblos]?“

Sein Gegner weitete die Augen. Die Bücher konnten nicht nur als Xyz-Material verwendet werden. Nur einmal gaben sie dem beschworenen Xyz-Monster die Kraft, einen angreifenden Feind unverzüglich zu vernichten! Er selbst hatte damals, als Valeries Hochzeit gecrasht worden war, versucht die Dämonenjägerin Edna und ihren [Mermail Abyssgaios] in genau diese Falle zu locken! Allerdings wurde das Duell vorzeitig unterbrochen, ehe es dazu kam.

Oben am Himmel öffnete der majestätische Drache jedoch schon sein Maul und schoss einen orange-roten Lichtstrahl hinab, der von goldenen Partikeln umgeben war. Kyon streckte den Arm aus. „[Hierophant Of Prophecy], wirf den Angriff zurück auf deinen Feind. False Prophecy!“

Besagter, schwarzhaariger Hexer hob seinen Zauberstab und ließ schräg über sich ein grünlich schimmerndes Loch im Raumgefüge erscheinen, das den Angriff absorbierte, um ihn dann eine Sekunde später mit doppelter Intensität zurück auf den Absender zu feuern. Weit über Zanthe gab es eine gewaltige Explosion.

„Ein Jammer“, murmelte der mechanisch. Kyon schwieg. „Aber ich hab's nicht vergessen! Im Gegenteil, ich wollte es so! Schnellzauberkarte!“

Mit grimmiger Genugtuung rammte Zanthe seine letzte Karte in die Duel Disk. Diese sprang vor ihm auf und präsentierte einen weißen Engelskrieger und einen schwarzen, dämonisch wirkenden Krieger, wie sie aus einem roten Abgrund in Richtung des Betrachters flogen.

„[Xyz Double Back]!“, benannte sie dessen Besitzer zufrieden. „Du musstest meinen M7 zerstören, verstehst du? Nur dadurch kann ich diese Karte ausspielen, die mich das zerstörte Xyz-Monster zurückrufen lässt.“

Als würde jemand ein Video zurückspulen, zog sich der Rauch der Explosion über ihnen wieder zusammen, verschwand und hinterließ einen unversehrten Drachen, der auf der Stelle verharrte.

„Du denkst jetzt, dass das nicht reicht, aber du irrst“, sprach Zanthe leise. Er nahm eine aus dem Friedhofsschlitz hervorstehende Karte und zeigte sie vor. „[Xyz Double Back] trägt das Doppel nicht umsonst im Namen. Sie lässt mich ein zweites Monster reanimieren, solange es von den Angriffspunkten her schwächer ist als M7.“

Zanthe legte das Monster auf die Duel Disk. „Erinnerst du dich noch an den hier? Du hast ihn ganz am Anfang des Duells zerstört. Open a door to the crab! [Constellar Acubens]!“

Besagter weißer Krieger brach neben Zanthe aus dem astronomischen Rundenzirkel und klackerte gefährlich mit seinen orangefarbenen Scherenarmen.

„Acubens hat einen Effekt, der sich bei seiner Beschwörung aktiviert“, rief Zanthe und sah zu seinem Drachen hoch, „er gibt allen Constellaren einen Angriffsbonus von 500!“

Sowohl der Sternenkundler im Zeichen des Krebses, als auch Messier 7 in der Luft begannen in einer orangefarbenen Aura aufzuleuchten.

 

Constellar Ptolemy M7 [ATK/2700 → 3200 DEF/2000 {6} OLU: 0]

Constellar Acubens [ATK/800 → 1300 DEF/2000 (4)]

 

„Und jetzt frag mich noch einmal, ob das meine Lösung ist!“, schnauzte Zanthe seinen Gegner förmlich an. Erbarmungslos richtete er den Zeigefinger auf ihn beziehungsweise den schwarzen Hierophanten. „M7 Star Launcher!“

Sein gold-weißer Drache holte tief Luft, um dann einen gewaltigen, orangefarbenen Lichtstrahl abzufeuern. Kyon machte sich nicht einmal die Mühe, dem Angriff entgegen zu blicken, sondern verharrte regungslos. Und diesmal schlug der Strahl im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Bombe ein. Es gab eine Explosion, zu allen Seiten stieß Rauch und aufgewirbelter Staub über das Dach.

 

[Zanthe: 900LP / Kyon: 400LP → 0LP]

 

Acubens und M7s Hologramme lösten sich auf. Mit ihnen auch der Rauch. Und Kyon stand immer noch da, ohne seine Hexer. „Gut gemacht.“

 

„Ist das alles!?“, fauchte Zanthe zornig. „Ist das alles, was du kannst!?“

„Hast du mehr erwartet?“

Allein die Art, wie er das fragte, brachte das Blut des Werwolfs in Wallung. Geradezu provozierend, als wäre all das auf seinem Mist gewachsen!

Sich auf die Lippen beißend, konnte Zanthe seine Fassung letztlich nicht wahren und fuhr Kyon wild gestikulierend an. „Du bist ein Immaterieller! Durch Anya weiß ich, dass ihr eure Paktmonster inkarnieren könnt! Wieso hast du das nicht getan!?“

„Sollte ich etwa“, fragte Kyon langsam und deutete nach oben, „das Monster meines Gegners inkarnieren?“

Sein Finger war genau auf die Stelle gerichtet, wo M7 eben noch verharrt hatte. Zanthe folgte der Richtung des Arms und begriff zwar, aber war in diesem Moment nicht imstande, die Information zu verarbeiten.

„Und warum dann kein Excel-Monster!?“, schrie er stattdessen ungehemmt weiter. „Du sagtest, du hättest eins!? Warum hast du das nicht benutzt!?“

Bevor Kyon auch nur den Mund zum Antworten geöffnet hatte, fuhr ihm der Werwolf schon über diesen. „Ist das deine Vorstellung davon, mich zu prüfen!? Indem du fair bist!? Oder sogar nachlässig? Wolltest du die ganze Zeit, dass ich gewinne?“

Der Immaterielle stieß ein leises Lachen aus und griff den Bügel seiner Sonnenbrille. „Wer weiß. Nur eins ist gewiss. -Diese Erinnerungen- schlafen noch in dir, trotz unseres Duells. Anscheinend bin ich selbst noch nicht bereit …“

„Bereit oder nicht, jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr!“ Zanthe nahm einen Schritt nach dem anderen auf sein Gegenüber zu. In seiner gebeugten Haltung wirkte er dabei, als plane er fest ein, Kyon an die Gurgel zu gehen, sobald er ihn erreicht hatte. Seine Worte sprach er jedoch mit plötzlich einkehrender, aber bitterböser Ruhe aus. „Was ist dein Plan, Speichellecker des Sammlers?“

„Seine Auslöschung.“

 

Stille. Mitten auf der Strecke verharrte Zanthe in seinen Bewegungen.

„Meine Ambition ist es, dieses Wesen zu töten. Und dich zu beschützen, wie ich es deinem Bruder versprochen habe.“

„Du willst … was?“

Kyon sah gen Himmel. Erst jetzt bemerkte Zanthe, dass der Regen ausgesetzt hatte. Im Dunkel der Nacht hatten sich die Wolken über ihnen aufgelöst. Ein voller, strahlender Mond hing über ihnen.

„Der Sammler ist der Feind allen Lebens.“

„Also weißt du, was er mit Anya vorhat!?“, überschlug sich die Stimme des Jüngeren der beiden förmlich. „Sag es mir!“

Allerdings schüttelte Kyon den Kopf. „Das geht nicht. Du würdest es ihr sagen und dann wäre alles umsonst.“

„Und damit willst du mich abspeisen!?“ Zanthe schüttelte den Kopf vehement. Damit wollte er sich nicht abfinden.

Plötzlich aber, völlig ungewohnt für ihn, wurde Kyon laut. „Die Mühen vieler Individuen werden vergebens gewesen sein, wenn der Sammler davon erfährt! Du musst mir vertrauen, Zanthe Montinari! Genau wie ich dir vertraue, indem ich dir bereits diese entscheidenden Informationen zuteil werden lasse! Bringe mich nicht dazu, dies zu bereuen!“

„Er ist das mächtigste Wesen auf diesem Planeten!“, argumentierte Zanthe jedoch weiter. „Wenn er es wissen will, weiß er bereits davon! Genauso gut könntest du einen Elefanten hinter einer Mücke verstecken!“

„Deshalb habe ich Kakyo Sangon ins Spiel gebracht“, erwiderte Kyon nun wieder ruhig, „oder sollte ich ihn bei seinem richtigen Namen nennen? Kyon Sangon.“

 

Für einen Moment verharrte Zanthe schweigend, ehe er die Arme verschränkte und trocken anmerkte: „Jetzt wird’s albern.“

„Es ist die Wahrheit. Du wolltest wissen, was dieser Junge für mich ist.“ Der Butler hob die Hand und streckte sie nach vorne aus, in Zanthes Richtung. Dabei spreizte er die Finger so weit es ging auseinander. „Erinnerst du dich nicht an meinen wahren Namen?“

Obschon Zanthe den Sinn dieser Worte nicht verstand, verließ doch ein einzelnes Wort seine Lippen. „Kakyo …“

Schlagartig erinnerte er sich. Diesen Namen, er hatte ihn schon einmal gehört, aus dem Mund seines Bruders. Und der Immaterielle, der jetzt in dessen Körper steckte – das war Kakyo! Wie hatte er-!?

„Ja. Die Erinnerungen kehren wieder, nicht wahr? Begreifst du es? Ich und Kyon Sangon, wir haben unsere Namen getauscht.“

„Aber … aber warum?“

Kyon, oder eher Kakyo, ließ den Arm sinken. „Alles liegt meinem Wunsch zugrunde, den Sammler zu töten. Doch um ihm nahe zu sein, muss ich gleichzeitig außerhalb seiner Reichweite sein.“

Der Kopftuchträger hob eine Hand und fasste sich ans Kinn, dabei sein Gegenüber nicht aus den Augen lassend. „Und das hast du erreicht, indem du Namen mit diesem Jungen tauscht? Lass mich raten … um zu seinem Diener zu werden, musstest du …?“

„So ist es. Ich musste ihm meinen Namen versprechen. Und damit absolute Kontrolle. Während man mit einer Seele über alle zukünftigen Inkarnationen einer Person herrscht, so verleiht einem der Name die Macht über die Person der Gegenwart.“ Kyon faltete die Hände vor seinen Schoß ineinander. „Mehr noch, gebietet der Besitzer des Namens auch über alles, was in unmittelbarem Zusammenhang jenes Namens steht. Die Excel-Monster sind ein Beispiel für solch ein Vorkommnis.“

„Also benutzt du Kakyo ... oder Kyon, keine Ahnung, wie ich ihn nennen soll, als Schutzschild?“

„Er weiß um seine Rolle. Und wie gefährlich es für ihn wird, wenn der Sammler dahinter kommt. Du musst wissen, er sieht alles. Durch die Augen desjenigen, dessen Name er besitzt.“ Plötzlich tippte Kyon gegen seine Sonnenbrille. „Solange ich jedoch die hier habe, wird er durch die Augen einer der Personen sehen, die ich bestimme. Mich selbst eingeschlossen.“

Zanthe reckte den Kopf zur Seite. „Schön hast du das alles geplant. Und feige.“

„Ich muss verhindern, dass er Macht über mich gewinnt. Soviel solltest selbst du verstehen.“

„Das geht doch niemals gut!“, schrie Zanthe jedoch unerwartet an Kyon gewandt. „Du ziehst andere da mit rein und gefährdest auch ihr Leben! Ist Exa etwa auch einer davon!? Oder vielleicht sogar ein anderer meiner Freunde!?“

 

Statt aber eine Antwort darauf zu geben, drehte sich Kyon plötzlich um und streckte die Hand nach vorne aus. Es entstand ein schwarzes, ovales Portal, das in verzerrter Form das Ebenbild des in Schwarz gekleideten Butlers widerspiegelte.

„Entschuldige, aber ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich kann diesen Dämon nicht ewig glauben lassen, er würde durch meine Augen sehen, wenn es tatsächlich die eines anderen sind.“

„Warum gerade dieser Junge!?“

„Sein Name und meiner sind sich sehr ähnlich. Das ist die Voraussetzung für so einen mächtigen Zauber. Und“, fügte Kyon dabei noch an, „weil er ein reines Herz besitzt. Aber das ist nur ein Bonus.“

„Warte-!“, rief Zanthe und begann dem Schwarzhaarigen hinterher zu rennen, welcher langsamen Schrittes auf das Portal zuging.

Der meinte: „Ich denke, ich habe deine Fragen hiermit beantwortet. Dennoch sind wir beide nicht bereit, uns schon jetzt einem so mächtigen Feind zu stellen. Aber wisse: Ich werde immer auf dich Acht geben. Und alles, was geschehen wird, wurde von mir zurecht gelegt.“

Zanthe, der Kyon beinahe erreicht hatte, streckte die Hand nach ihm aus.

„Denn nicht nur der Sammler ist imstande, Pläne zu schmieden. Also bitte ich dich“, sagte jener und drehte sich lächelnd zu dem jungen Mann um, „um etwas Geduld. Und um dein Vertrauen. Vergiss nicht das Versprechen, das ich dir gegeben habe.“

Damit trat er durch das Portal, welches binnen eines Herzschlags verschwand. Und Zanthes Hand griff ins Leere.

 

Du bist nicht mehr allein.

 

Plötzlich stand er allein auf dem Dach und seine Gedanken rasten. Vertrauen, Zweifel, Hoffnung, Angst, alles kreuz und quer in seinem Kopf. Nur eins kristallisierte sich heraus. Etwas, das er ihm noch mitteilen wollte.

„Planen?“ Zanthe seufzte mit gesenktem Kopf. Dabei betrachtete er seine Finger, um die schwarze Schlieren aufstiegen, Überreste des Portals. „Das hat doch schon im Duell nicht funktioniert …“

 

 

Turn 64 – Lee And Lie

Anderenorts ist Matt auf der Suche nach dem nächsten Hüter. Sein Weg führt in zu einer abgelegenen Villa, wo sich der nächste von ihnen, ein Mann namens James Carrington aufhalten soll. Bevor er jedoch in das Gebäude gelangen kann, wird er von einem Bediensteten namens Lee Anderson entdeckt. Welcher sich als äußerst schwierig entpuppt …

Turn 64 - Lee And Lie

Turn 64 – Lee And Lie

 

 

Der Bus war unangenehm voll. Matt hätte sich in den Allerwertesten beißen können, ausgerechnet dieses öffentliche Verkehrsmittel gewählt zu haben, um zu seinem Ziel, Greenville, zu gelangen. Es gab keinen freien Sitzplatz mehr, mit Ausnahme einiger weniger, die von den Handtaschen und Rucksäcken egoistischer Jugendlicher und junger Erwachsener belegt waren. Matt, der neben einer alten Frau saß, seufzte. Hätte er sich doch lieber irgendwo ein Auto geschnappt …

 

Dazu musste man wissen, dass Matt eine leichte klaustrophobische Veranlagung besaß. Spätestens seit dem Tag, als er während einer Mission mit Alastair für mehrere Tage hinweg in einer dunklen Höhle eingeschlossen war, mied er enge Räume so gut es ging. Nicht nur die Enge selbst und die Dunkelheit hatten ihn an seine Grenzen getrieben, sondern vor allem der Geruch und die nicht mehr ganz so frische Luft. So wurde Matt hin und wieder übel, wenn jene Erinnerungen aufkeimten.

Natürlich bedauerte er es, dass er Anya während ihres Duells gegen ihren Bruder nicht anfeuern konnte, andererseits vermisste er das Stadion kein bisschen. Wie er aus der Zeitung von heute Morgen jedoch erfahren hatte, war sie siegreich aus der Begegnung hervor gegangen, auch wenn dabei unschöne Details aus ihrem Privatleben an die Öffentlichkeit gelangt waren. Aber so brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben, sie hatte es geschafft und war eine Runde weiter.

Und es war ja nicht so, als wäre er hier zum privaten Vergnügen unterwegs.
 

Einen Blick auf das deaktivierte D-Pad werfend, verriet es ihm, dass es kurz vor 16 Uhr war. Seit vorgestern hieß es von einer Bushaltestelle in die nächste umzusteigen. Er war teilweise sogar etwas trampen gewesen, dort, wo kein direkter Anschluss herrschte. Ein Zugticket hatte er sich nicht leisten können und Nick um finanzielle Unterstützung zu bitten kam für ihn seit der Sache mit dem Messer nicht mehr infrage.

So war er nun unterwegs mit dutzenden Menschen, die sich im Gang des Busses auf Kuschelkurs befanden. Allein der Gedanke, vielleicht noch zwischen ihnen stehen zu müssen, ließ Matt erschaudern. Lieber nahm er es mit mehreren Dämonen gleichzeitig auf, als das!

 

Je näher der Bus an den Stadtrand gelangte, desto mehr Leute stiegen aus. An der Endstation, vor einem großen Busbahnhof, verließ ihn letztlich auch Matt. Von hier aus musste er nur unter einer Brücke zu seiner Rechten hindurch, um aus der Stadt zu gelangen.

Als er sie passierte, rauschte ein Zug über ihn hinweg. Sein Ziel lag etwas außerhalb der Stadt, im Wald. Dort hatte der reiche Mr. Carrington vor einigen Jahren eine Villa erbauen lassen. Vom Highway nach Westen aus führte eine kleine, gepflasterte Nebenstraße zum nahegelegenen Greenville Forest. Zu Fuß war es sicher eine dreiviertel Stunde bis dorthin, aber das störte Matt nicht. Er hatte ohnehin vor, erst im Schutze der Dunkelheit aktiv zu werden.

 

Daher ließ er sich auch Zeit und schlenderte seelenruhig am Wegesrand entlang. Zu seiner Linken erstreckte sich eine endlose, triste Graslandschaft, die durch den Highway geteilt wurde. Doch die enge Straße führte von diesem weg, am Waldrand vorbei. Dort sollte sich auch das Anwesen der Carringtons befinden.

Matt hatte zwar nicht allzu viel Recherche anstellen müssen, um herauszufinden, wo der nächste Hüter lebte, doch die Hintergründe durchzuchecken hatte ein paar Tage und einige Gespräche mit ehemaligen Angestellten gekostet. Letztlich wusste er aber immer noch nicht, mit wem genau er es am Ende zu tun bekommen würde. Aber der junge Mann fühlte sich der Aufgabe gewachsen.

 

Wie er die Straße entlang lief, seinen Rucksack geschultert, merkte er zunehmend, dass es keine gute Idee war, in einem schwarzen Ledermantel unterwegs zu sein, wenn einem die Sonne nur so im Nacken brannte. So zog er diesen schließlich aus, klemmte ihn unter den Arm und setzte seinen Weg nur im weißen Hemd fort.

Nebenbei überlegte er, was wohl geschah, wenn er erst auf Mr. Carrington traf. Ein Duell war ohnehin unausweichlich, die Frage war, was danach geschah. Der Gedanke an Drazens Schicksal bereitete ihm Unbehagen.

 

Die Zeit verstrich und Matt hatte das Ende der Straße erreicht, welches in einer Auffahrt mündete, die hinter einem zwei Meter großen Eisentor verschwand. Matt hielt sich hinter einem Baum verborgen, da er nicht von den Kameras gefilmt werden wollte. Jene befanden sich direkt über der großen Flügeltür der Villa, aber auch an anderen Schlüsselpunkten. Er hatte überlegt, einfach zu klingeln, aber da eine Konfrontation unvermeidlich erschien, wollte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite wissen.

Passend zum Tor zog sich ein Zaun im gleichen Stil um das Grundstück, das sowohl eine mehrstöckige, weiße Villa beherbergte, als auch einen kleinen Schuppen und eine Garage im hinteren Teil. Jenen wollte sich Matt genauer ansehen. Ein Blick gen Himmel verriet ihm, dass es schon dämmerte.

 

Um nicht entdeckt zu werden, machte der Schwarzhaarige einen großen Bogen um das Anwesen. Schlussendlich war Matt an der hinteren Seite des Grundstücks angelangt, dort wo der Wald erst richtig begann. Sich hinter einem der massiven Nadelholzbäume verbergend, spähte er herüber zu dem Flügel, welcher wohl das Esszimmer darstellte. In regelmäßigen Abständen gewährten hohe Bogenfenster den Blick ins Innere, auf eine lange, hölzerne Tafel. Jeder der Stühle dahinter war mit rotem Saum bezogen und verlieh dem ansonsten auch mit roten, gemusterten Teppichen versehenem Zimmer ein klassisches Auftreten.

Aber auch hier, so stellte Matt fest, gab es Kameras. Befestigt an der weißen Fassade der Villa, würde man ihn sofort entdecken, wenn er sich dem Gebäude näherte. Mit Sicherheit wäre es kein Problem, diese zu umgehen, allerdings waren die Kameras nur der Anfang. Das wahre Problem war die Alarmanlage. Matt hatte keinen Anhaltspunkt zu dieser bei seinem Rundgang entdecken können, bezweifelte jedoch nicht, dass es eine gab. Ohne Verteilerkasten, den es lahmzulegen galt, würde es schwierig werden, unbemerkt das Anwesen zu betreten.

Und das Letzte, was er brauchte, war die Polizei an seinen Fersen. Nach wie vor wurde Matt wegen Mordes an seinem Vater gesucht, auch wenn tatsächlich seine Schwester Sophie diesen begangen hatte.

Auf seinem Weg hierher hatte er weder besagten Verteilerkasten, noch Strommäste entdecken können, die in den Wald führten. Vermutlich liefen die Leitungen unterirdisch, wodurch es ihm unmöglich war, auf herkömmlichem Wege für einen Stromausfall zu sorgen.

 

Matt seufzte und holte aus der Innentasche seines schwarzen Mantels ein Handy.

„Hilft wohl alles nichts“, murmelte er und wählte eine Nummer.

Kaum hatte er den Apparat ans Ohr gelegt, zischte es genervt aus dem Hörer: „Ich bin beschäftigt.“

„Guten Abend, Nick. Nach Feierabend noch so umtriebig?“, stichelte Matt.

„Mein 'Boss' besteht darauf. Was willst du?“

„Ich bin gerade in Sachen Anya unterwegs.“ Der schwarzhaarige Dämonenjäger hoffte, damit wenigstens ein Minimum an Kooperation herausschlagen zu können. „Allerdings stehe ich sozusagen vor verschlossenen Türen. Ich muss da-“

„Du musst in dieses Anwesen, nahe Greenville? Lass mich raten, du machst dir wegen der Alarmanlage in die Hosen. Ist doch so, oder?“

Matt verstummte erschrocken. Er hatte noch gar nichts weiter gesagt, woher wusste Nick dann, wo er sich befand!? Umgehend spürte er, wie ihn die Antwort darauf das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Beobachtest du mich etwa?“

„Ja“, kam die schonungslos trockene Antwort, „ich will kein Risiko eingehen.“

Matt schnaubte bei dieser eindeutigen Implikation. Und mahnte sich, gar nicht erst darauf einzugehen, sondern einfach bei der Sache zu bleiben. „Kannst du's?“

Sein Gesprächspartner rümpfte hörbar die Nase. „Willst du mich beleidigen? Wenn ich nur die Alarmanlage ausschalten soll, bist du in fünf Minuten drin. Allerdings könnte ich dir auch anbieten, das ganze Stromnetz der Region lahmzulegen, aber das dauert etwas länger.“

„Damit kann ich leben.“ So wäre es möglich im Dunklen zu agieren, zumal es ohnehin noch dämmerte. „Er ist da drin, also gib dir Mühe.“

„Um etwaige Probleme wirst du dich selbst kümmern müssen“, meinte Nick provokant angehaucht. „Kriegst du es hin, notfalls mit Gewalt zu arbeiten? Doch sicher, oder?“

Die Antwort blieb ihm Matt jedoch schuldig, da er einfach auflegte. Um den Baum auf das Grundstück schauend, konzentrierte er sich lieber darauf, nach Anhaltspunkten zu suchen, wo dieser Hüter sich aufhalten könnte. Die Schlafzimmer waren garantiert in einem der oberen beiden Stockwerke.

Was nichts daran änderte, dass er innerlich trotzdem brodelte und Nick am liebsten eine reinpfeffern würde. Verdammt, Anya färbte zunehmend auf ihn ab!

 

Matt staunte wirklich nicht schlecht, als nicht einmal zwanzig Minuten später sämtliche Lichtquellen des Anwesens versiegten. Mit einem Schlag war es stockdunkel, passend zum Tageszeitenwechsel.

„Nicht schlecht“, lobte Matt Nick leise. Und nahm darüber hinaus zur Kenntnis, wie gefährlich doch jemand mit seinen Fähigkeiten war. Das Telefon würde er definitiv früher oder später entsorgen und sein D-Pad austauschen.

 

Bevor Matt sich ins Abenteuer stürzte, lauschte er aufmerksam. Er hörte keine Geräusche, wenn man das gelegentliche Knarzen der Bäume oder den Ruf eines Tieres außen vor ließ. Scheinbar war niemand der Belegschaft nach draußen gegangen. Gute Voraussetzungen für eine Infiltration.

 

Vorsichtig stahl sich Matt hinter dem Baum hervor und huschte vorbei zu dem kleinsten der drei Gebäude, das vermutlich ein Geräteschuppen oder dergleichen war. Zum Zaun hin gab es dort keine Fenster, aus denen jemand schauen und ihn zufällig entdecken konnte.

Dort angelangt, schaffte es Matt in erstaunlich leisen und agilen Bewegungen, sich über den Zaun zu ziehen und mit einem Satz auf dem Grundstück zu landen. Er war jetzt auf der Ostseite, nicht weit befand sich ein Seiteneingang für die Bediensteten. Direkt neben dem Schuppen lag die Garage, deren weißes Tor heruntergefahren war.

„Dann mal los“, flüsterte Matt sich selbst ermutigend zu.

 

~-~-~

 

Anyas Augen hatten Schwierigkeiten, sich an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Die Kneipe oder was auch immer war größtenteils in rötliches Licht getaucht, ausgehend von der Bar, die sich direkt gegenüber dem Eingang befand.

„Da drüben“, meinte Logan an ihrer Seite und deutete auf die hintere Ecke, „hab sozusagen die VIP-Lounge gebucht.“

„Das ist 'n Ecksofa, mehr nicht“, brummte Anya, die der schwarzen Ledercouch auf den ersten Blick nicht viel abgewinnen konnte.

 

Hier sollte also ihr Sieg gefeiert werden? In einer lausigen Bar, in der sie garantiert nicht einmal ein Bier bekommen würde, weil sie noch nicht volljährig war?

Es fiel der Blonden äußerst schwer, ihr Missfallen für sich zu behalten. Was auch nur daran lag, dass sie immer noch müde war. Immerhin war es nicht ihre Schuld, dass sie bis zum späten Nachmittag durchgeschlafen hatte. So erschöpft war sie noch nie gewesen, das Duell gegen Zach hatte ihr alles abverlangt.

Als Zanthe sie dann irgendwann gegen 15 Uhr weckte und das mit einer Laune, die sie sonst nur von sich kannte, da ahnte Anya schon, dass der Tag beschissen werden würde. Aber als dann ein halbes Dutzend Reporter vor ihrer Zimmertür auf sie lauerte, da -wusste- sie es. Und die loszuwerden war erstaunlich schwierig gewesen.

 

Und jetzt war sie also hier. Zusammen mit dem Zwerg, einem unberechenbaren Werwolf, Redfield und Marc.

„Anya …“, sprach Valerie das Mädchen von hinten an und legte ihre Hand auf deren Schulter.

Jene drehte sich zu ihrer Erzrivalin um und musste den wenig begeisterten Ausdruck gar nicht deuten. „Ich weiß Redfield. Aber da musst du jetzt durch.“

Ohne es zugeben zu wollen, brachte Anya es nicht übers Herz, Logans Wahl der Location zu kritisieren. Wie auch, wenn er bereits vorging und sie in Richtung der Sitzecke winkte. Der Laden war außer ihnen komplett leer, was vielleicht noch daran liegen konnte, dass die Kernzeit eines solchen Etablissements noch nicht angebrochen war.

„Sieht doch ordentlich aus“, kommentierte Marc, der an den beiden Mädchen vorbei zog und sich dabei umschaute.

Sich auf die leeren Barhocker fixierend, zuckte Anya mit den Schultern. „Yeah.“

„Ich dachte eigentlich, wir würden essen gehen“, murmelte Valerie noch immer leicht unterwältigt.

„Und plötzlich ist das hier gar nicht so schlecht“, erwiderte die Blonde, welcher allein beim Gedanken an ein Candlelight Dinner zu fünft schlecht wurde. Womit sie ihre Freundin auch stehen ließ.

 

~-~-~

 

Vorsichtig schlich sich Matt am Schuppen vorbei, Richtung der Garage. Dabei fixierte er seinen Blick auf den Bediensteteneingang quer gegenüber, welchen er nehmen würde, um in die Villa zu gelangen. Sich an der weißen Fassade der Garage anlehnend, blickte er um die Ecke. Niemand war zu sehen. Auch die Fenster nahm er ins Visier, doch er konnte nirgendwo die Silhouette eines ungewollten Zeugen entdecken.

Dann war es soweit, eine dunkle Wolke zog vor den jungen Mond.

 

Tief durchatmend, ließ Matt sein Versteck hinter sich und rannte auf die Tür zu. Er ahnte nicht, dass auf dem Dach der Garage unlängst jemand Notiz von ihm genommen hatte. Ebenso wenig ahnte er, dass dieser jemand bereits mit ausgestreckten Gliedmaßen in seine Richtung flog. Und ihn letztlich in den Boden rammte. Etwas knackte laut, aber da war kein unmittelbarer Schmerz.

„Argh!“

Der Schwarzhaarige fackelte nicht lange. Obschon sein Gesicht in das Gras gepresst wurde, verpasste er seinem Angreifer eine Kopfnuss, rammte dann seinen Ellbogen in dessen Bauch. Der Mann keuchte und ließ von ihm ab, sodass Matt die Gelegenheit nutzte, sich in die andere Richtung wegzurollen. In einer wirbelnden Umdrehung gelangte er auf die Beine. Wesentlich unbeholfener versuchte dies auch sein Gegenüber, was jedoch erst beim zweiten Versuch eher schlecht als recht gelang.

 

Matt traute seinen Augen kaum, als sein Angreifer sich vor ihm aufbaute. In diesem Moment zog die graue Wolke schon wieder am Vollmond vorbei, sodass der Dämonenjäger sein Gegenüber gut erkennen konnte.

Kurzes, schwarzes Haar, das hinten erstaunlich lang war. Eine Rotzbremse vom Feinsten. Eine Lederweste über einem weißen Muskelshirt, nur dass es kaum erkennbare Muskeln an dem schlanken, langen Körper gab. Dazu eine Sonnenbrille.

Der junge Mann musste ein Grinsen unterdrücken. Vor ihm stand ein waschechtes Relikt der 90er.

„Hab' ich dich, Einbrecher!“, zeigte der schon etwas ältere Mann mit dem Finger auf ihn. „Sprich dein letztes Gebet, bevor ich deinen Arsch eigenhändig in den Knast katapultiere.“

„Was bist du denn für einer?“, kratzte sich Matt am Kopf. Soviel dazu, hier unbemerkt hineinzukommen.

Breit grinsend mit dem Daumen auf sich zeigend, antwortete der Kerl tatsächlich so stolz, als hätte er nur auf diese Frage gewartet. „Ich bin Lee Anderson, der Wachhund der Carrington-Familie. Der Krieger im Dunkeln, der Streiter für Gerechtigkeit, der beste Dämonenjäger des Planeten. Ein Prototyp, der nie in Serie ging! Und ich habe ganz gewiss nicht die ganze Nacht vor der Alarmanlage gesessen und gewartet, dass irgendetwas passiert, nein, habe ich nicht!“

„Hast du doch“, entfleuchte es Matt, welchem es schwerfiel, diesen Lee ernst zu nehmen.

Jener stampfte überführt auf den Boden. „Dammit! Das bleibt unter uns, verstanden!?“

„Hör mal … Lee.“ Der Schwarzhaarige hob beschwichtigend die Hände. „Ich will keinen Ärger machen. Genau wie du bin ich ein Dämonenjäger und-“

„Du Grünschnabel nennst dich Dämonenjäger!? Haaah!“ Der Typ rotzte vor ihm auf den Boden.

Matt dachte ärgerlich, dass er genau dasselbe über ihn sagen könnte.
 

Unvermittelt begann sich der Typ in Bewegung zu setzen. Wie ein Raubtier zog er seinen Kreis um Matt, ihn nicht aus den Augen lassend. „Worauf hast du es abgesehen, häh? Den Schmuck meiner Herrin? Oder gar-!?“

„Was?“, hakte Matt missmutig nach, Lees Bewegungen aus den Augenwinkeln folgend.

Ahnte er, weshalb es ihn wirklich hierher verschlagen hatte?

„Nie im Leben!“, keuchte Vokuhila-Lee aufgebracht. „Du kannst unmöglich davon wissen!“

Matt schmunzelte und erwiderte leise, als der Größere sich direkt hinter ihm befand: „Was, wenn doch?“

„Ihre Unterwäsche wirst du nicht entweihen!“

Ohne Vorwarnung stürzte sich Lee auf den Dämonenjäger … und stürzte nur noch, als jener ihn mit einem Griff und einer flinken Drehung aufs Kreuz legte.

Auf den verdutzten Kerl herabblickend, murmelte Matt: „So einer bin ich nicht …“

Sofort sprang Lee wieder auf und torkelte erst einmal rückwärts, spuckte Gras und Erde, dabei die Arme kämpferisch in Kung-Fu-Haltung erhoben.

„Noch bin ich nicht besiegt, Tiger!“, raunte er dabei atemlos.

 

Matt biss sich auf die Lippe, dabei aus den Augenwinkeln das Grundstück musternd. Niemand schien diesem Verrückten zu Hilfe zu kommen. Vielleicht hatte noch niemand im Anwesen bemerkt, dass es einen 'Einbrecher' gab.

Sein Fokus richtete sich wieder auf Vokuhila-Lee. Es erschien ihm sinnlos, dem noch weiter irgendwelche Informationen entlocken zu wollen. Der war das fleischgewordene Gegenstück zu Anya. Wenn er ihn ohne Aufmerksamkeit zu erregen ausschalten könnte …

Ohne lange darüber nachzudenken, griff Matt in die Innentasche seines Mantels. Wie gut, dass er sich vorbereitet hatte. Denn kaum hatte er die weiße Karte gezückt, schoss aus ihr ein silbernes Licht. Nur einen Moment später befanden die beiden sich in einer quadratischen Barriere, die gerade groß genug war, um das Grundstück samt Villa einzuschließen. Danach sah man nur noch die Unendlichkeit. In Schweinchenrosa. Man musste Abstriche machen, das hatte Al ihn früh gelehrt, dachte Matt und gluckste in sich hinein.

„Was hast du getan!?“, kreischte Lee mehr, als dass er sprach.

„Das, was richtige Dämonenjäger tun, wenn sie ungestört sein wollen. Ich habe einen Bannkreis errichtet.“ Matt musste ein Auflachen unterdrücken. Wieso überraschte es ihn nicht, dass sein Gegenüber scheinbar keine Ahnung hatte, was gerade geschehen war?

 

Entscheidender war allerdings, ob Mr. Carrington den Zauber bemerken würde. Diese Art Bannkreis war für viele übernatürliche Wesen unsichtbar und präsenzlos, aber wie verhielt es sich mit Hütern? So oder so, er hatte jeden der hier Anwesenden eingesperrt, wenn der alte Mann also nicht schon im Bett war und schlief, würde er auf Kurz oder Lang etwas bemerken müssen. Spätestens wenn er aus dem Fenster sah …

 

„Du hast jetzt-“

„Ich duelliere mich mit dir!“, stotterte Lee, bevor Matt aussprechen konnte.

„Nei-“

„Doch!“

„Ne-“

„Doch!“

„N-“

„Doch!“

Matt öffnete den Mund fasziniert. Dann seufzte er. „Und warum?“

„Warum nicht? Oder bist du nicht nur ein Einbrecher, sondern auch ein Feigling!?“ Dass der Typ dabei noch den Zeigefinger erhob, zerrte bedrohlich am immer dünner werdenden Geduldsfaden des Schwarzhaarigen.

 

Aber wieso eigentlich nicht?

Könnte sich hinter dieser Masche vielleicht mehr verbergen, als es den Anschein hatte, so fragte sich Matt? Vielleicht war dieser Lee derjenige, nach dem er wirklich suchte? Wer würde in ihm schon den neunten Marquise Exeters, bürgerlich William Theodore James Cecil, auch Marquise James Carrington genannt, vermuten?

Es wäre so perfide, dass Matt es fast für denkbar hielt. Und sich sogleich die weißen, fingerlosen Handschuhe aus seiner Manteltasche zog und überstreifte. Einen Versuch war es allemal wert!

 

Als Matt jedoch einen Blick auf sein D-Pad am linken Arm warf, weitete er erschrocken seine Augen. Nicht nur auf auf dem Display ein tiefer Sprung zu sehen, nein, genau dort war eine deutliche Delle zu sehen.

„Verdammt!“, fluchte der junge Mann und aktivierte das Gerät, das jedoch nicht reagierte. „Sag bloß nicht-!“

Er versuchte es wieder, allerdings ohne Erfolg. Der Apparat fuhr nicht einmal hoch.

„Wegen dir ist mein D-Pad jetzt im Eimer“, fuhr Matt Lee an. So viel dazu, dass er sich bald ein neues besorgen müsse. Der junge Mann verfluchte das Pech, das ihn Zeit seines Lebens zu verfolgen schien.

Der nicht ganz so clevere Vorschlag Lees lautete: „Dann schmeißen wir mit Karten um uns!“

„Nein. Das geht auch anders! Zeit für einen alten Klassiker!“ Matt zückte grimmig dreinblickend eine weitere weiße Karte und fuhr in einer geraden Linie direkt auf Brusthöhe vor sich mit dem Arm nach rechts. Dabei zog er eine schwarze Schliere nach sich. „Gott, wie lange ist das her, dass ich das das letzte Mal benutzt habe …“

Schwarzer Staub wirbelte genau auf der Stelle, wo das dunkle Licht von seiner Hand entlang geglitten war. In wahnsinniger Geschwindigkeit setzten sich jene Partikel zu einem Duel Monsters-Spielplan zusammen, gemacht aus einer festen Marmorplatte.

Matt grinste frech. „Etwas gewöhnungsbedürftig. Normalerweise wird die für … andere Zwecke eingesetzt. Aber das weißt du sicher.“

Wusste Lee nicht, wie man anhand seines weit offenen Mundwerks und den bis zum Anschlag aufgerissenen Augen ablesen konnte. So starr wie er da stand, machte er glatt den Eindruck einer Statue. Vielleicht war er doch nur ein Holzkopf …

„Da der Strom ausgefallen ist, musste ich hierauf zurückgreifen“, erklärte Matt, „aber du kannst deine Duel Disk oder was auch immer trotzdem benutzen. Es reicht, wenn der Zauber von einer Spielfeldseite wirkt.“

Keine Reaktion von Statuen-Lee. Auch nicht nach einer Minute. Matt lehnte leicht den Kopf zur Seite und wollte gerade fragen, ob sein Gegenüber noch am Leben sei, da schnellte dessen Zeigefinger derart unerwartet nach vorn, dass es den Dämonenjäger glatt erschrak.

„Jetzt hab ich's!“ Lees Blick war geradezu fixiert auf den marmornen Spielplan vor Matt. „Ich weiß, was du bist!“

„Ein Dä-!“

„Ein Dämon! Du willst mich in die Hölle zerren!“ Unter einem Wutschrei streckte Lee den Arm aus. An dem wohlgemerkt keine Duel Disk befestigt war. „Aber da bist du an der falschen Adresse! Diesen Kampf verlierst du, dich schicke ich in die Hölle zurück, denn -ich- bin ein Dämonenjäger! Der beste!“

Sich an der Wange kratzend, fragte sich Matt, ob sein Gegner auch nur ein Wort von dem verstanden hatte, was er gesagt hatte. Seufzend redete er sich ein, dass es ohnehin egal war, solange er erstmal diesen Typen nur loswurde, ob nun Hüter oder nicht …

„Dann zeig mir, was du drauf hast“, forderte Matt und winkte demonstrativ mit der Hand zu sich, dabei ein gehässiges Grinsen nicht unterdrücken könnend. Denn unabhängig von seinem Status würde Lee sein blaues Wunder erleben.

„Duell!“, schrien beide schließlich synchron.

 

[Matt: 4000LP / Lee: 4000LP]

 

„Ich fange an!“, entschied Lee kurzerhand.

Matt schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, als sein Gegner tatsächlich sein Startblatt direkt aus der Deckbox an seinem Gürtel zog. Wo wollte er überhaupt die Karten platzieren, wenn er keine Duel Disk dabei hatte!?

Die Antwort kam prompt, als sich Idioten-Lee kurzerhand in den Schneidersitz begab und den Rasen als Spielfläche nutzte.

„Ich setze zwei Karten, Monster und Falle! War'n nettes Spiel, Dämon! Und jetzt geh sterben!“

Er legte die Karten vor sich in den entsprechenden Positionen hin, in vergrößerter Form tauchten sie weiter vor ihm auf, wie bei einem normalen Duell.

 

Matt kratzte sich am Kopf. „Oh man …“

Es war wirklich nicht seine Art, seine Gegner beleidigen zu wollen, aber seit der ersten Sekunde war es schier unerträglich, dem Drang in Lees Fall zu widerstehen. Verdammt, Anya färbte -wirklich- auf ihn ab!

Sich möglichst rasch durch das Schütteln des Kopfes von diesen wenig erheiternden Gedanken befreiend, griff er nach dem Deck auf seinem Spielplan und zog. Nein, er würde Lee respektieren, auch wenn er etwas … seltsam war! Außerdem durfte er nicht vergessen, dass dies vielleicht nur eine Fassade war, wenngleich ein nicht geringer Teil in ihm dies immer mehr bezweifelte.

„Draw!“, rief er in der Bewegung und sah die Karte an. „Cool, die spiele ich gleich aus! Erscheine, [Evilswarm Zahak]!“

Unter lautem Gebrüll stieg über Matt ein schwarzer, dreiköpfiger Drache auf. Zwar nicht so eindrucksvoll wie sein Ourorobos, hatte jener dennoch etwas für sich – die messerscharfen Klingen auf jedem seiner Häupter.

 

Evilswarm Zahak [ATK/1850 DEF/850 (4)]

 

„Es ist wirklich erschienen!“ Lee sprang auf und machte Augen wie ein Politiker nach seiner Wiederwahl. Was Matt mehr als verwunderte, hatte der Typ nicht reagiert, als seine eigenen Karten erschienen waren. Dessen Staunen hielt jedoch nur kurz an, denn wieder zeigte er ungeniert mit dem Finger auf den Dämonenjäger. „Okay, was für ein Dämon bist du genau!? Eine Hexe!?“

„Eine ... was!?“

„Oder ein Vampir!?“

„N-nein! Verdammt, ich bin kein-!“

Lee hielt beide Arme über Kreuz. „Nein, mich kannst du nicht täuschen, dreckige Brut!“

Genervt durchatmend, schluckte Matt den zunehmend wachsenden Kloß an Beleidigungen in seinem Hals herunter. Schon jetzt wusste er, dass er seine Beherrschung irgendwann in diesem Duell verlieren würde. Was für Lee schmerzhaft enden würde.

Vielleicht gelang es ihm aber auch, das Duell schnell zu beenden. Den Arm ausstreckend, zeigte er auf das gesetzte Monster. „Los Zahak, schauen wir mal, was sich da drunter versteckt!“

Einem Dreizack gleich, flog der Drache mit den Köpfen voran Richtung Lees Spielfeldseite. Zeitgleich wirbelte die Karte des gesetzten Monsters um die eigene Achse und die angekündigte Falle sprang auf. Zahak bekam es mit einem weißen, schlangenhaften Drachen zu tun, der eindeutig chinesisch angehaucht war. Solche Wesen sah man oft auf Paraden, aber nur als Puppen oder Seidenhüllen. Besonders an diesem hier war zudem sein leicht durchscheinender Körper, als wäre er nur ein Trugbild. Was nichts daran änderte, dass er von Zahak durchbohrt wurde und sein Schmerzschrei hörte sich durchaus real an.

 

Chiwen, Light Of The Yang Zing [ATK/0 DEF/0 (1)]

 

Gerade stemmte Matt zufrieden eine Hand in die Hüfte, da verging ihm sein Grinsen. Zwei leuchtende Funken, Sternen gleich, stiegen aus Lees Deck auf. Jener hatte von Matt unbemerkt zwei Karten von dort aufgenommen und legte sie nun vor sich auf den Boden. Keine Sekunde später tauchten über ihm ein roter, vierbeiniger Drache mit wallender, schwarzer Mähne und ein finsteres, ebenfalls auf vier Beinen gehendes Biest auf. Während ersterer sich dank seiner Schwingen in der Luft hielt, landete der zweite auf dem Boden, streckte die beiden Arme, die er im Gegenzug besaß, weit aus und stieß einen schrillen Schrei aus. Beiden mangelte es ebenfalls an einer festen Gestalt.
 

Suanni, Fire Of The Yang Zing [ATK/1900 DEF/0 (4)]

Taotie, Shadow Of The Yang Zing [ATK/2200 DEF/0 (5)]

 

„Na, verschlägt es dir die Sprache? Huh!?“, bellte Lee, welcher es sich inzwischen wieder im Schneidersitz bequem gemacht hatte. „Du hast Chiwen auf dem Gewissen, du Schwein! Aber zumindest konnte er mit seinem letztem Atemzug ein anderes Yang Zing beschwören.“

Gerade wollte Matt Lee darauf hinweisen, dass er noch einmal nachzählen sollte, da sprang ihm die Falle ins Auge, die zu dessen Linken offen stand.

„[Yang Zing Creation] …“, las Matt den Namen vor.

„Ahja, und die auch. Die macht dasselbe nochmal, halt einmal pro Zug, weißte“, fasste sein Gegner den Effekt äußerst knapp zusammen.

Matt stöhnte. „Großartig, die Hydra in Drachengestalt also. Irgendwie habe ich keine Lust, da irgendwelche Köpfe abzuhacken …“

Was sich wohl leider nicht vermeiden ließ, wie Matt befürchtete. Er nahm eine Karte aus seinem Blatt und positionierte sie direkt unter Zahaks. „Die hier setze ich. Du bist am Zug.“

Zischend tauchte sie vor seinen Füßen auf.

 

„Oh, das bin ich!“ Unter einem kehligen Kampfschrei, oder was auch immer jener schiefe Ton darstellen sollte, zog Amazonen-Lee eine Karte. „Okay, Dämon! Bete schon mal zu Gott!“

Und Matt schüttelte einmal mehr an diesem Tag mit dem Kopf. „Dämonen beten nicht zu Gott …“

„Dann … mach was anderes! Egal! Ich aktiviere eine Zauberkarte, [Yang Zing Prana]!“

Der Vokuhilaträger schmetterte die dauerhafte Zauberkarte in den Boden – wortwörtlich. Und während er sich darüber ärgerte, dass jene dadurch dreckig geworden war, schreckte Matt zurück. Denn überall auf dem Grundstück spaltete sich die Erde und gelb leuchtende Energiekanäle kamen zum Vorschein. Auch das Spielfeld selbst wurde zerteilt, die dadurch entstandenen Plattformen drifteten auseinander. Einzig die Villa sowie der Schuppen und die Garage waren davon nicht betroffen.

„Was ist das für eine Karte!?“, grübelte Matt.

„Nun empfange dein Urteil, Hexe! Ich beschwöre [Bixi, Water Of The Yang Zing]!“ Lee streckte mit viel zu sehr angezogenem Kinn den Finger aus. „Attacke!“

Zunächst bildete sich der Panzer, dann tauchte der Rest der vierbeinigen, bärtigen Drachenkreatur auf, die einer Schildkröte nicht unähnlich war. Das blau leuchtende Wesen öffnete sein Maul.

 

Bixi, Water Of The Yang Zing [ATK/0 DEF/2000 (2)]

 

„Er greift an!? Warte …!“ Matts Blick richtete sich auf Lees Fallenkarte. „Du willst dein Feld mit Monster fluten!“

Die Stirn kraus ziehend, schwang der richtige Dämonenjäger unter ihnen den Arm aus. „Gar nicht so dumm, dafür ein wenig Schaden einzustecken! Aber daraus wird nichts, Falle!“

Seine Karte sprang auf. Von dauerhafter Natur, war auf ihr ein älterer Mann in rot-orangener Robe abgebildet, der über eine Masse an vor ihm niederknienden Menschen gebot. Aus der Karte selbst kam jedoch nicht er, sondern ein ganzes dutzend stählerner Ketten hervorgeschossen.

„[The Regulation Of Tribe] lässt mich einen Monstertypen wählen, welcher, solange diese Karte auf dem Spielfeld liegt, nicht angreifen kann!“, erklärte Matt den Effekt.

Wie Schlangen bewegten sich die Ketten in der Luft und bahnten sich ihren Weg zu den drei Drachen, die sich auf Lees Plattform befanden. Matt grinste. „Da du scheinbar nur einen Typen spielst ist die Wahl nicht weiter schwierig. Drache!“

In Bixis Maul quoll derweil eine regelrechte Flut als die Ketten ihn erreichten – und durch ihn hindurch glitten. Selbiges geschah mit dem dunklen Taotie und dem über ihn fliegenden Suanni.

Dann schoss Bixi eine Fontäne aus seinem Maul in [Evilswarm Zahaks] Richtung. Der dreiköpfige Drache wich der Attacke jedoch problemlos aus, setzte zum Sturzflug an und zerteilte den vermeintlichen Drachen mithilfe der Klingen an seinen Häuptern. Lee kicherte geheimnisvoll dabei.

 

[Matt: 4000LP / Lee: 4000LP → 2150LP]

 

„Besitzen deine Monster einen Effekt, der sie vor Fallen schützt!?“ Matt war fassungslos darüber, dass die seine nicht funktioniert hatte. Wild gestikulierte er mit dem Armen. „Verdammt, antworte!“

Lee grinste breit und erhob sich aus seinem Schneidersitz. „Nein, da liegst du völlig daneben, Dämonenhexe.“

„Uh …!“

Stolz schlug sich sein Gegner auf die Brust. „Meine Monster sind keine -einfachen- Drachen. Sie sind Phantome, mächtiger als es -bloße- Drachen je sein könnten. Sie sind vom Typ Wyrm.“

Matt horchte erstaunt auf. „Typ was? Moment, so einen gibt es nicht!“

„Oh doch!“ Zum Beweis hob Lee Bixis Karte auf und warf sie Matt zu, welcher sie zwischen den Fingern auffing.

Und tatsächlich, als er die Karte betrachtete, war dort definitiv besagter Wyrm-Typ angegeben. Aufgebracht blickte der junge Mann auf. „Das kann nicht sein, ich habe noch nie davon gehört!“

Überheblich verschränkte Lee die Arme. „Natürlich nicht, Amateure wie du werden nie in den Genuss der Wyrm kommen. Jene Karten sind so selten, dass sie nur der absoluten Überelite vorbehalten sind.“

Er setzte sein schmierigstes Grinsen auf. „Wyrm-Monster werden als Preiskarten auf großen Turnieren verteilt. Nur so bekommt man sie, nicht anders! Und ich hab meine bestimmt nicht von einem Profi-Duellanten oder so gestohlen!“

Genervt erwiderte Matt mit zusammengekniffenen Augenlidern: „Hast du wohl.“

„Verdammt!“, schrie Lee ertappt und hielt sich die Hände vor den Mund. Drohend richtete er zum x-ten Male den Finger auf Matt. „Wage es nicht, das irgendwem zu erzählen! Petzen mag ich gar nicht!“

Schlaff entgegnete Matt, als er die Karte zurückwarf, die seinen Gegner nicht völlig unabsichtlich ins Gesicht traft: „Ich … werde es in Erwägung ziehen …“

„Was auch immer!“ Lee nahm zwei Karten von seinem Deck, das er seither auf seinem Handrücken balancierte und schmiss sie mit aller Kraft auf den Boden. „Da Bixi fixi ist, darf ich dank seines Effekts ein Yang Zing in Verteidigung beschwören. Und mithilfe von [Yang Zing Creation] ein weiteres noch dazu!“

Es tauchte ein kreischender, grüner Drache auf, der seine spitzen Zähne aufblitzen ließ. Neben ihm materialisierte sich sein gehörnter Kamerad, länglich wie eine Schlange, mit der Farbgebung eines Tigers.

Doch noch etwas geschah in diesen Moment. Überall innerhalb der aufgerissenen Erde stieg gleißende, gelbliche Energie empor, welche die gesamte Umgebung erleuchtete.

„Pualo, Bi'an, Suanni und Taotie erhalten dank [Yang Zing Prana] endlich den wohlverdienten Angriffsboost von 500, jetzt da zwei Yang Zing unterschiedlichen Attributs unter der Erde liegen.“

Matt fiel aus allen Wolken. „Wie bitte!?“

Jeder der vier Phantomdrachen begann ebenso gelblich aufzuleuchten wie die Energieadern, die das Grundstück durchzogen.

 

Pualo, Wind Of The Yang Zing [ATK/0 → 500 DEF/1800 (1)]

Bi'an, Earth Of The Yang Zing [ATK/1600 → 2100 DEF/0 (3)]

Suanni, Fire Of The Yang Zing [ATK/1900 → 2400 DEF/0 (4)]

Taotie, Shadow Of The Yang Zing [ATK/2200 → 2700 DEF/0 (5)]

 

„Das ist mehr als genug, um dich deines Platzes zu verweisen, Dämonenhexenfinsternismensch!“ Lee streckte den Arm ruckartig nach vorn, wobei die Deckbox auf seinem Handrücken gefährlich hin und her kippte. „Mach dich bereit exkommuniziert zu werden!“

„Du meinst exorziert …“

„Ja! Das! Angriff auf den Loserdrachen, Bi'an!“

Unter einem majestätischem Brüllen tauchte der Tigerdrache kurzerhand unter der Erde ab, nur um wenige Sekunden später direkt unter [Evilswarm Zahak] wieder aufzutauchen. Jener konnte nicht rechtzeitig reagieren und wurde von einem Prankenhieb niedergestreckt.

 

[Matt: 4000LP → 3750LP / Lee: 2150LP]

 

Matt stieß einen leisen Seufzer aus. Zum Glück hatte er nicht mit seinem Finsternisdrachen, Taotie, angegriffen. Denn so erfüllte Zahak zumindest noch einen Zweck …

„Effekt meines Monsters!“, bellte Matt. „Bei seiner Zerstörung reißt er ein anderes Monster mit sich, vorausgesetzt es wurde spezialbeschworen und ist mindestens Stufe 5!“

Besagter Taotie war es schließlich auch, der aus dem Nichts von drei ihn heimsuchenden Klingen aufgeschlitzt wurde und explodierte.

„Dämlicher Hexendämonendepp!“, ereiferte sich Lee wutentbrannt. „Das bringt dir gar nichts, denn Taotie lässt mich ein Yang Zing vom Deck in Verteidigungsposition rufen.“

Zunächst manifestierte sich am Boden ein auf vier Beinen laufender, finsterer Drache, dessen schildkrötenartiger Panzer mit blauer Panzerung versehen war. Doch plötzlich erschien neben ihm noch ein weiterer, weiß leuchtender, der mit seiner Flosse am Ende des Schweifes einem Fisch nicht unähnlich war – Chiwen, der Drache, den Matt ganz am Anfang besiegt hatte.

„Ja, du siehst richtig! Wenn ein Yang Zing ins Gras beißt, kann ich Chiwen zurück aufs Feld bringen! Der andere ist übrigens Jiaotu, nur so zur Info.“

 

Jiaotu, Darkness Of The Yang Zing [ATK/0 → 500 DEF/2000 (2)]

Chiwen, Light Of The Yang Zing [ATK/0 → 500 DEF/0 (1)]

 

Matt traute seinen Augen kaum: Lees ganze Spielfeldseite war voll von diesen Drachen oder Wyrm, was auch immer. Am Boden der finstere Jiatou, in der Luft Chiwen, der rote Suanni, der Windbeherrscher Pualo und Bi'an, der über das Element Erde gebot.

„Direkter Angriff, Suanni!“; befahl Lee aus voller Kehle.

Und Matt musste nicht lange überlegen um zu wissen, welche Suannis Waffe war. Eine fiese Stichflamme, die ihn voll erfasste und sein ganzes Feld in ein einziges Inferno verwandelte.

 

[Matt: 3750LP → 1350LP / Lee: 2150LP]

 

„Lausiger Amateur, nächste Runde bist du erledigt!“ Lee verschränkte selbstbewusst und fest nickend die Arme, fing dabei seine herunterfallende Deckbox auf. „Mach deinen letzten Zug, Xenu!“

„… wer?“

 

Matt hatte andere Probleme, als permanent die seltsamen Bezeichnungen verstehen zu wollen, die ihm sein Gegner an den Kopf knallte.

Eins hatte er begriffen: Der Typ war ein Volltrottel ohne nennenswertes, strategisches Geschick. Aber das brauchte er auch nicht, denn sein Deck war derart mächtig, dass wohl selbst ein Neugeborenes es erfolgreich spielen könnte. Es ließ gar nicht erst zu, dass eine Lücke sowohl in der Offensive, als auch Defensive seines Besitzers entstand.

Wie konnte er diese ewig anhaltende Flut an Monstern bloß stoppen!?

 

Als Matt nach seinem Deck griff, kam er zu der Erkenntnis, dass er womöglich mit härteren Bandagen als eigentlich beabsichtigt kämpfen musste. Und das, obwohl es in diesem Duell mit immer größerer Wahrscheinlichkeit um nichts ging. Keiner würde verletzt werden, auch wenn ein Bannkreis die beiden im Moment einschloss. Darum ging es auch gar nicht. Es ging um Matts Ehre, seinen Stolz.

Wenn er schon an einem von Lees Sorte scheiterte, wo würde das Ganze am Ende hinführen? Seine eigentlichen Gegner waren die Undying, Kali und nur Gott wusste wer sonst noch auf dem Plan stand. Außerdem musste er sich noch um Mr. Carrington kümmern. Er durfte nicht verlieren. Nicht gegen Lee!

 

„Draw!“, schrie Matt angestachelt von der drückenden Vorstellung, womöglich ganz unten am Ende der Duel Monsters-Nahrungskette zu stehen. Mit Schwung riss er die Karte von seinem Deck und sah sie hoffnungsfroh an. Nur um sie wieder umzudrehen und den Kopf hängen zu lassen. „Wieso immer ich … vollkommen nutzlos.“

In der Zwischenzeit zersprang seine dauerhafte Falle [The Regulation Of Tribe], da Matt kein Monster zu ihrer Erhaltung opfern konnte und es auch nicht tun würde, da sie ohnehin den falschen Monstertypen unterdrücken würde.

Trotz der Enttäuschung war Matt noch lange nicht bereit das Handtuch hinzuwerfen. Energisch klatschte er eine Karte auf den marmornen Spielplan. „Normalbeschwörung! [Evilswarm Castor]!“

Ein Krieger, halb weiß, halb schwarz, manifestierte sich vor dem jungen Mann.

 

Evilswarm Castor [ATK/1750 DEF/550 (4)]

 

„Sein Effekt ermöglicht es mir, noch einen Schwärmer als Normalbeschwörung aufs Spielfeld zu bringen“, erklärte Matt und legte neben sein Monster ein weiteres mit gelbem Rahmen. „Los, [Evilswarm Heliotrope]!“

Schwarze Partikel sammelten sich neben Castor und bildeten einen grünlichen Ritter mit Schwert in der Hand und eingesetztem Smaragd in der Mitte seiner Rüstung.

 

Evilswarm Heliotrope [ATK/1950 DEF/650 (4)]

 

Matt griff gerade in sein Blatt, da geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Lee bückte sich, schnappte sich drei seiner Monster auf dem Feld und zeigte sie vor. „Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen, Dracula!“

Hinter ihm stieg sein Chiwen in die Höhe und zersprang in einen grünen Lichtring. Der Feuerdrache Suanni und Bi'an mit den Tigerstreifen folgten ihrem Lichtgegenstück.

Und Matt wollte nicht wahrhaben, was er dort sah: „Synchro!? In meinem Zug!?“

„Hast du gut erkannt! Jedes Yang Zing kann das und es nennt sich … keine Ahnung wie das heißt!“

Die beiden Nicht-Empfänger passierten den Ring und wurden zu in der Summe sieben Lichtkugeln.

„Stufe 1-Chiwen plus Stufe 4-Suanni und Stufe 3-Bi'an ergibt …!“

Ein greller Lichtblitz schoss durch den Ring. Das schrille Gebrüll eines Drachen erklang, während Matt noch gar nicht begriff, was ihm da gerade widerfuhr.

„Synchro Summon! Beiß' ihn, [Baxia, Brightness Of The Yang Zing]!“

Ein schier unendlich lang erscheinender, schlangenhafter Drache breitete sich auf Lees Spielfeldseite aus. Sein Körper war gezeichnet vom Tigermuster Bi'ans und endete in einem flossenartigen Schweif, dem von Chiwen nicht unähnlich. Auch der schwarze Schopf und der dazugehörige Bart waren Matt nicht ganz unbekannt, gehörten sie doch zu Suanni.

 

Baxia, Brightness Of The Yang Zing [ATK/2300 DEF/2600 (8)]

 

„Wie du siehst hat er das gute Aussehen seiner Synchromaterialien geerbt“, grinste Lee breit wie ein Nilpferd. „Aber nicht nur das. Auch ein paar ihrer Effekte, gewissermaßen. Doch erst …“

Es passierte so schnell, dass Matt nicht darauf reagieren konnte. Und selbst wenn, hätte er in diesem Moment nicht gewusst, was er dagegen unternehmen sollte.

Baxias Augen leuchtenden gleißend weiß auf und schossen Lichtstrahlen auf seine Spielfeldseite. Die Monster des Dämonenjägers wurden in die Brust getroffen und lösten sich unvermittelt in glänzenden Partikeln auf.

„Gut, was!?“, feixte Lee. „Baxias Synchrobeschwörung führt dazu, dass ich für jedes verwendete Wyrm-Monster mit unterschiedlichem Attribut eine deiner Karten ins Deck schicken darf!“

„Wie bitte!?“ Matt wich zurück. „Verdammt, dann-!?“

Während Lee Chiwens Karte in die Hosentasche schob, scheinbar ein negativer Effekt der einsetzte, wenn er vom Friedhof aufs Spielfeld geholt wurde, rief er: „Ach das war doch noch lange nicht alles! Suannis Kraft geht auf Baxia über, wodurch er 500 Angriffs- und Verteidigungspunkte erhält! Und vergiss nicht, dass Baxia auch durch [Yang Zing Prana] noch stärker wird!“

Eine feurige Aura schlug um den weißen Drachen, der hysterisch brüllte. Matt lief bei seinem Anblick der Schweiß von der Stirn.

 

Baxia, Brightness Of The Yang Zing [ATK/2300 → 2800 → 3300 DEF/2600 → 3100 (8)]

 

Mehr mit sich selbst redend, grübelte er: „Das kam völlig unvorbereitet. Was tun …?“

Seine übrigen drei Handkarten ansehend, schien eigentlich nur noch eine Vorgehensweise sinnvoll und zwar ausgerechnet die, die er eigentlich hatte vermeiden wollen. Andererseits konnte eine kleine Lektion für Lee sicherlich nicht schaden, zumal sie niemand von Bedeutung beobachte. Nicht einmal Nick konnte in seinen Bannkreis spähen. Zumindest hoffte Matt das …

„So wird’s gemacht!“, entschied er sich mit einem unterstreichenden Nicken. „Ich aktiviere die Zauberkarte [Monster Reborn]! Sie ruft [Evilswarm Zahak] zurück auf mein Feld!“

 

Evilswarm Zahak [ATK/1850 DEF/850 (4)]

 

Noch während der dreiköpfige Drache seinem Grabe entsprang, tönte Vokuhila-Lee: „Renn' ruhig in Baxia rein, Hexe, wirst doch nur verlieren! Meinetwegen beschwör' sogar ein stärkeres Monster, dank Bi'an kriegst du Baxia sowieso nicht durch reines Angreifen klein!“

Matt blinzelte mehrmals hintereinander. „Danke für die Warnung.“

„Scheiße!“, fluchte Lee und schlug die Hand vor den Mund.

„Völlig egal, ich habe sowieso etwas anderes vor! Da ich einen Schwärmer mit mindestens 1500 Angriffspunkten besitze, kann ich diesen hier von meiner Hand rufen: [Evilswarm Dullahan]!“

Matt pfefferte dessen Karte auf die Marmorplatte und ließ damit eine kopf- wie beinlose, düstere Kreatur erscheinen, deren massive Goldarme in noch kräftigeren Fäusten endeten.

 

Evilswarm Dullahan [ATK/1150 DEF/1550 (4)]

 

Matt nahm die Karten seiner beiden Monster vom Spielplan, legte sie übereinander und platzierte sie sogleich wieder in die mittlere Zone. „Ich erschaffe das Overlay Network!“

Inmitten des Spielfelds öffnete sich ein schwarzer Galaxienwirbel, der seine Kreaturen als violette Lichtstrahlen absorbierte.

„Aus zwei Stufe 4-Schwärmern wird ein Rang 4-Monster!“

Eine finstere Explosion erschütterte das Überlagerungsnetzwerk und darüber hinaus das gesamte Spielfeld. Aus dem Loch inmitten des Stroms spreizten sich zwei von Eis durchzogene Schwingen.

„Xyz-Summon!“, brüllte Matt nun. „Steige empor, [Evilswarm Ophion]!“

Ein pechschwarzer Drache erhob sich, wild mit seinem langen Schweif peitschend. Mit einem Satz vor Matt landend, stieß er ein verächtliches Gebrüll aus, blickte gierig nach den beiden Lichtkugeln, die ihn wie kleine Monde umkreisten.

 

Evilswarm Ophion [ATK/2550 DEF/1650 {4} OLU: 2]

 

Mit ihm als einzige Karte auf dem Feld und einer weiteren auf der Hand sagte Matt: „Du bist dran.“

Und ließ dabei ein geheimnisvolles Schmunzeln aufblitzen.

 

Lee, der dies nicht bemerkte, zog ruckartig auf. Wieder warf er eine Karte zu Boden. „Dich mach ich fertig, [Burial From A Different Dimension]!“

In durchsichtiger Form stieg sein Lichtdrache Chiwen aus einem Dimensionsspalt empor und verschwand sogleich im Erdboden. Matt kannte den Effekt von Lees Zauberkarte, welcher es ihm ermöglichte, verbannte Monster zurück auf den Friedhof zu legen. Zweifelsohne würde er Chiwen erneut vom Friedhof rufen, sollte Matt ein Yang Zing zerstören.

Statt sich darüber jedoch den Kopf zu zerbrechen, blieb Matt unerwartet gelassen. Er stemmte eine Hand in die Hüfte, als Lee rief: „Jetzt kannst du einpacken!“

Unter den riesigen Rissen im Erdboden, die das Grundstück in nahezu ein Dutzend Teile spalteten, begann plötzlich die gelbliche Aura zu schwinden. Matt wurde nun doch etwas unruhig. „Was ist das?“

Sein Gegner kicherte böse. Unvermittelt schossen ganze Lavafontänen an allen möglichen Ecken und Enden aus den Spalten. „Das Ende von allem!“

Die Erde begann zu erzittern, sodass Matt auf seiner Plattform ungewollt hin und her stolperte.

„Ich aktiviere [Yang Zing Pranas] Effekt, der nur funktioniert, wenn fünf verschiedene Attribute der Yang Zing auf dem Friedhof liegen.“ Lee bückte sich nach der Karte, nahm sie zwischen Zeige- und Mittelfinger auf und präsentierte sie prahlerisch. „Das ganze Feld wird damit zerstört!“

Matt weitete die Augen: „Was!?“

„Ganz recht! Zwar kostet mich das Baxia, aber du weißt ja, die anderen Yang Zing stört das überhaupt nicht!“

Womit er Jiaotu und Pualo meinte, die nur andere dieser Wyrm-Monster an ihre Stelle rufen würden. So ungern Matt es auch zugab: Dagegen war er machtlos. Zumindest unter normalen Umständen. Doch dies waren keine normalen Umstände …

„Ich werde“, murmelte er und ballte vor sich eine Faust, nur um sie wieder zu öffnen, „dich nicht verletzen. Versprochen.“

Langsam streckte er die Hand nach oben und schloss die Augen. „Ich rekonstruiere das Overlay Network …“

Statt etwa in der Mitte der Duellzone, öffnete sich der schwarze Wirbel weit über dem Dämonenjäger. Ophion zersprang in drei violette Lichtkugeln, die quer nach oben schossen.

Lee klappte die Kinnlade hinunter.

„Du bist nicht der Einzige, der im gegnerischen Zug vom Extradeck beschwören kann“, murmelte Matt vor sich hin. „Aus meinem Rang 4-Schwärmer wird die erste Saat geboren. Rank Up-Incarnation!“

Die drei herrenlosen Overlay Units zerschmetterten das Schwarze Loch förmlich, als sie auf seinen Sog trafen. Finstere Blitze begannen um sich zu schlagen. Und dann erhob sie sich hinter Matt, riesig, absolut.

Der schwarzhaarige Vokuhila-Träger nahm Schritt für Schritt rückwärts, als der oder besser gesagt die Schatten, die jene Kreatur warf, zunehmend seine Spielfeldseite einnahmen, oder nein, gar verschlangen. Besagte Schatten bewegten sich in ihren scheinbar unberechenbaren Bahnen wie lange, massive Schlangen, bis sie Lees Feld völlig verdeckten.

„… Scheiße“, lauteten die erstickten Worte des Hofhüters.

„Dominiere, [Primalswarm Yggdrasil]!“, schrie Matt im selben Augenblick. Und eine sämtliche Farben ins Negative umkehrende Schockwelle erfasste Lee, welcher als Einziger in seinem direkten Umfeld von diesem Effekt verschont blieb. „Inkarnationseffekt: Chain Annihilator!“

Jener schwang den Arm aufgebracht aus. „Toller Trick, Dämonenhexe, aber trotzdem wird dein Fe-!“

Doch blieben Lees Worte in seinem Halse stecken, als er bemerkte, dass seine dauerhafte Karte die einzige war, die zersprang. In jenem Moment fand das Innere des Bannkreises zu seiner alten Form zurück.

„Chain Annihilator negiert alle Effekte in derselben Kette, in der [Primalswarm Yggdrasil] beschworen wurde, beendet die Kette und zerstört alle anderen Karten darin“, erklärte Matt mit einem verschmitzten Grinsen.

Die Kreatur über ihm brüllte mit verschiedenen Stimmen, teils sehr hohe hin bis extrem niedriger Natur. Plötzlich begann alles im Bannkreis zu vibrieren. Matt stolperte rückwärts und sah mit aufgerissenen Augen, wie die schlangenhaften Auswüchse Yggdrasils wild um sich schlugen.

Das konnte doch nicht-!

 

Es passierte jedoch bereits. Einen letzten, unsäglichen Schrei ausstoßend, sendete die Inkarnation eine Schockwelle in alle Richtungen aus. Matt hielt die Arme über Kreuz, sein Mantel flatterte im immer stärker werdenden Wind. Im Gegensatz zu ihm konnte Lee seine Position nicht halten und wurde von den Füßen gerissen, flog direkt in Richtung des Speisesaals der Villa. Eine Erschütterung suchte den Bannkreis anheim und ließ ihn wie eine Seifenblase zerplatzen.

Binnen eines Herzschlags zog sich die gesamte Umgebung wieder zu ihrer ursprünglichen Gestalt zusammen. Es gab ein dumpfes Geräusch, als würde ein Ballon platzen. Matt, der über seinen Arm lugte, sah es. Sah, wie sein schwarzer Marmorspielplan zu Staub zersprang.

 

[Matt: 1350LP → 0LP / Lee: 2150LP]

 

Der immer noch anhaltende Wind wirbelte die Karten darauf in seine Richtung, welche er auffing. Im gleichen Moment schepperten lautstark Glasscherben, sodass Matt erschrocken aufsah.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, schrie er entsetzt und rannte auf das Gebäude zu.

Gleichzeitig rutschte der Körper des nicht ganz so taffen, selbsternannten Dämonenjägers über den Teppich neben der langen Tafel und rollte diesen unter einem ekelhaft klingenden Schleifen auf. Als Lee auf dem Rücken liegend zum Stehen kam, streckte er die Hand in die Höhe.

„Mir … geht’s prächtig …“ Der Arm kippte zur Seite, ebenso sein Kopf. „Wirklich … uh!“

 

Keine Sekunde später bahnte sich Matt seinen Weg durch den Scherbenhaufen des zertrümmerten Fensters, mit dem Ausdruck tiefster Erschütterung im Gesicht. Das hatte er nicht erwartet!

Er sah den Mann in einiger Entfernung liegen, vor der offen stehenden Flügeltür. War er tot!?

Matt sah an sich herab. Sein Hemd und der Mantel waren weißgrau vom Staub, den die explodierende Marmortafel aufgewirbelt hatte. Dass Yggdrasils Macht so enorm war, dass es einen Standard-Bannkreis mit seiner bloßen Anwesenheit vernichten konnte und ihm dadurch automatisch eine Niederlage einbrachte, weil es theoretisch er war, der das Duell abgebrochen hatte …

Matt fühlte sich einmal mehr von seinem Schicksal auf die Schippe genommen.
 

Bevor er sich Lee überhaupt nähern konnte, kam unvermittelt ein grelles Licht um die Ecke in den Speisesaal gebogen. Eine Person trat an Lee heran, mit einem Kerzenständer in der Hand.

„Oh je …“, murmelte die Frau bei seinem Anblick.

Matt verharrte erstarrt auf der Stelle. Ohne Zweifel war sie von dem Lärm wach geworden. Um ihren dunklen Schopf lag ein Haarnetz, die Dame trug über ihrem Nachthemd einen violetten Bademantel.

Und als sie aufblickte entdeckte sie Matt.

Sofort schoss es aus ihm heraus: „Das wollte ich nicht! Er-! Ich-!“

„Wieso bist du hier?“, hauchte sie unterkühlt.

„Ich bin kein Einbrecher oder dergleichen!“, beteuerte Matt aufgeregt. „Ich wollte nur jemand Bestimmtes treffen.“

Hinter ihren dick umrahmten Brillengläsern funkelte etwas für einen kurzen Moment auf. „Wen?“

„Einen Mann namens James Carrington.“

„Du bist zu spät“, erwiderte sie nun weniger eisig als zuvor, „mein Mann ist bereits vor etwa einem Jahr verstorben.“
 

Matt verschlug es die Sprache. Wieso hatte er das nicht gewusst!? War dies das Geheimnis, das diese Familie hütete? Tausende Fragen schossen ihm in diesem Moment durch den Kopf.

„Es … es tut mir leid“, stammelte er. „I-ich wollte nur mit ihm reden, unter vier Augen, aber- und dann ist …“

„Du musst jemand sein, der James kannte, wenn du nicht weißt wie man eine Türklingel benutzt.“ Es klang wie ein missglückter Witz, der an der steifen Darbietung seiner Erzählerin scheiterte.

„Nein, ich kannte ihn nicht persönlich. Aber ich habe von ihm gehört. Dass er … anders ist. Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen, deshalb … das hier.“ Er schwenkte die Hand zum Fenster.

„Gute Arbeit bisher“, erwiderte die Dame des Hauses scharf. Dann machte sie ihrerseits eine einladende Geste. „Setz' dich. Wir werden reden.“

Den immer größer werdenden Kloß in seinem Hals hinunterschluckend, nickte Matt. Die Frau trat an die Spitze der Tafel und stellte dort den Kerzenständer ab. Zögerlich näherte sich der Schwarzhaarige der Frau.

„Und er?“, fragte er dabei und deutete auf den regungslos daliegenden Lee.

„Ihm geht’s gut“, versicherte Mrs. Carrington in resoluter Zuversichtlichkeit. „Unkraut vergeht nicht.“

 

Als Matt das Ende des Tisches erreicht hatte, zog er den ersten Stuhl zu sich und nahm Platz. Sein Gegenüber tat es ihm an der Spitze der Tafel gleich.

„Ist er Ihr Sohn?“, fragte Matt vorsichtig.

Er hatte mit vielem gerechnet aber nicht mit dem schallenden Gelächter, das ihm entgegenschlug. Äußerst amüsiert fragte Mrs. Carrington: „Erst brichst du in mein Haus ein und jetzt beleidigst du mich noch?“

„Ah nein!“ Matt hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte nicht unhöflich sein, ich dachte nur-!“

„Tu uns beiden einen Gefallen und lass das Denken zu so später Stunde.“ Die Frau schürzte die Lippen. „Lee ist nicht mein Sohn, obwohl er einem solchen in gewisser Hinsicht sicherlich gleichkommt. Offiziell ist er jedoch mein Hausmädchen, Koch, Gärtner und Wachmann in Personalunion.“

In diesem Moment konnte sich Matt einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. „Dann hat er bisher ja einen guten Job geleistet.“

Im Kerzenschein erkannte er, wie sich die Krähenfüße um die Augen der Frau daraufhin zusammenzogen. Sie schmunzelte. „Tja, leider bin ich nicht so reich wie es den Anschein hat.“

Matt wurde leiser. „Im Ernst. Es tut mir leid dass ich einfach so hier eingedrungen bin. Ich wusste nicht, womit ich es zu tun bekomme und wollte auf Nummer Sicher gehen. Sie wissen, dass ihr Mann besonders war?“

„Das war er in der Tat, in vielerlei Hinsicht.“ Mrs. Carrington sah Matt fest in die Augen. „Was ist der Grund warum du ihn sprechen wolltest?“

„Seine Kräfte. Ich brauche sie. Hätte sie gebraucht …“

„Warum?“

„Um einer Freundin von mir das Leben zu retten. Doch um das zu erreichen hätte ich sie ihm abnehmen müssen, notfalls mit Nachdruck.“ Matt erschien es wichtig, von Anfang an ehrlich an die Sache heran zu gehen. „Es tut mir leid.“

Die Frau legte ihre Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände ineinander. „Das ist seltsam. Du bist nicht der Erste, der genau dasselbe Anliegen hat.“

„Jemand war vor mir hier!?“ Matt beugte sich ruckartig vor. „Wer!?“

„Eins nach dem anderen“, gebot sie seiner Wissbegierde Einhalt. „Vorher erzählst du mir, wer genau du eigentlich bist und warum deine Freundin Hilfe benötigt.“

 

Was Matt auch im Großen und Ganzen wahrheitsgemäß tat. Einige Details ließ er aus, insbesondere die Tatsache, dass es der Sammler war, der Anyas Lebenskraft an sich gerissen hatte. Es wäre nicht gut für alle Beteiligten, wenn sich dieses Wissen verbreitete.

 

„Verstehe“, sagte Mrs. Carrington und nickte. „Ich bin mir sicher, mein Mann hätte dir geholfen. Er war gütig vom Grunde seines Herzens. Aber wie gesagt, du kommst zu spät.“

Matt seufzte. „Ich weiß nicht ob ich das fragen sollte, aber wann ist Ihr Mann gestorben? Und … wie?“

Unvermittelt ließ die Dame ihre Hand über die Flammen der einzelnen Kerzen gleiten. „Schon vor einigen Jahren. Er wurde nicht ermordet sondern ist seinem Krebsleiden erlegen.“

„Das tut mir leid.“

„Braucht es nicht.“ Da Matt von sich aus nichts erwiderte, fragte sie: „Gibt es sonst noch etwas, das du wissen möchtest?“

Der Schwarzhaarige nickte. „Hat ihr Mann jemals über seine Kräfte gesprochen?“

„Nicht viel. Ich weiß nicht einmal, wie genau sie ausgesehen haben. Aber ich wusste, dass er sie besaß. Du siehst aus wie ein Kämpfer.“ Sie musterte Matt eindringlich, wandte dann aber den Blick ab. „James war keiner. Er hat mir hin und wieder ein wenig von den verborgenen Konflikten dieser Welt erzählt, sich jedoch stets aus ihnen herausgehalten. Er sagte, als Hüter wäre es wichtig, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen.“

Matt rieb sich angespannt über die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen. „Erwähnte er, was genau die Aufgaben eines Hüters sind? Oder vielleicht … wie man zu einem wird?“

„Nein. Und ich habe auch nicht danach gefragt.“

 

Deprimiert ließ Matt den Kopf hängen. Dann gab es wohl keine Möglichkeit herauszufinden, wer nach James Carrington den Platz des Hüters eingenommen hatte. Es sei denn …

„Sie haben erwähnt, dass es noch jemand anderes gab, der nach ihrem Mann und seinen Kräften gefragt hatte.“

Jetzt sah sie ihn wieder an und wenn auch nur für einen kurzen Moment, so glaubte Matt doch ein von Hass erfülltes Funkeln in ihren Augen zu erkennen.

„Ja, das war etwa zwei Jahre vor seinem Tod. Also vor drei Jahren.“

„Erzählen Sie mir die Geschichte“, bat Matt.

 

Die Frau atmete tief durch. Ihr verbitterter Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie starrte in die Flamme der mittleren Kerze und begann zu erzählen. „Zu diesem Zeitpunkt lebten wir noch in London.“

Matt erinnerte sich, davon hatte ihm auch einer der ehemaligen Angestellten erzählt, welcher ebenfalls mit der Familie Carrington in die Staaten ausgewandert war.

„Es war mitten in der Nacht als es an der Tür klingelte. Ich persönlich habe geöffnet.“ Die Frau schürzte die Lippen. „Da stand er, draußen im Regen. In einen gelben Regenmantel gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.“

„Was wollte er?“

„Dasselbe wie du. Ohne Umschweife bat er darum, mit meinem Mann zu sprechen. Ich … versuchte ihn abzuwimmeln, aber er blieb hartnäckig.“ Sie seufzte. „Er fiel sogar auf die Knie. Und als er sagte, er wisse wer James wirklich ist, da konnte ich ihn nicht länger fortschicken.“

Der Schwarzhaarige gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Weshalb?“

„Weil mein Mann … so etwas erwartet hatte. Ich weiß nicht, ob es dieser Bursche oder jemand anderes war, aber er sagte, er würde jeden Gast empfangen, der um sein Geheimnis wusste.“

Es war ein verrückter Gedanke, doch Matt sprach ihn aus. „Vielleicht wusste er, dass es unvermeidbar war.“

Die Frau nickte. „Das denke ich auch. James war kein Kämpfer, aber auch kein Feigling.“

„Gab es denn einen Kampf?“

„Nein. Nicht dass ich wüsste.“

Matt lehnte sich zurück. „Was ist dann geschehen?“

„Ich weiß es nicht. Sie haben die ganze Nacht durch geredet, schätze ich. Der junge Mann ist kurz nach Tagesanbruch gegangen. Er schien … zufrieden.“

Die Lider schließend, fragte Matt: „Hat sich Ihr Mann danach verändert? In irgendeiner Form?“

„Nein. Obwohl … auch er schien danach erleichtert. Als ich ihn jedoch danach fragte, hat er abgeblockt. Und ich habe seitdem nie wieder den Versuch unternommen, mehr über dieses Treffen herauszufinden.“

„Können Sie sich noch an seinen Namen erinnern?“

Mrs. Carrington lachte spitz auf. „Hast du mir deinen genannt als du hier eingebrochen bist?“

„N-nein.“ Matt verneigte sich vor ihr. „Es tut mir leid!“

Amüsiert kicherte sie plötzlich. „Du bist ziemlich höflich für einen Dämonenjäger. Wie gesagt, einen Namen hat er nicht fallen gelassen.“

Als Matt sich aufrichtete, fragte er: „Wissen Sie wenigstens noch wie er aussah?“

„Nein … ich kann mir Gesichter nicht sehr gut merken. Er wirkte recht erwachsen, aber ich glaube, er war etwas jünger als du. Ich erinnere mich nur an ein paar rote Haarsträhnen, die ihm im Gesicht hingen, nass vom Regen.“

 

Alarmiert schreckte Matt auf. „Rotes Haar?“

„Ja.“

Könnte das der Sammler gewesen sein!? Die Idee war nicht abwegig. Der Sammler war hinter den Hütern her, wieso sie also nicht persönlich aufsuchen? Vielleicht hat er während des Gesprächs erkannt, dass er selbst nicht dazu in der Lage war, die Artefakte zu versammeln?

„Sonst noch irgendetwas, das außergewöhnlich an ihm war?“

„Er wirkte wie ein normaler Mensch. Nicht übernatürlich. Aber ich bin die Falsche um das zu beurteilen“, antwortete Mrs. Carrington. „Ich weiß nur, dass mein Mann nach seinem Auftauchen umziehen wollte.“

Matt, der ihr ansah, dass sie selber nicht zufrieden mit James' Entscheidung gewesen war, fragte: „Anders als Sie.“

„All meine Freunde, Bekannten und Familienmitglieder im Vereinten Königreich zurücklassen? Was glaubst du wohl?“

 

Wollte Mr. Carrington vor etwas fliehen? Auch das passte, wenn es der Collector war, der James damals besucht hatte. Andererseits: Wie sehr war Mr. Carrington mit dem Übersinnlichen vertraut gewesen? Jemand wie dem Sammler entkam man nicht durch bloßes Wechseln des Wohnorts. Das hätte er wissen müssen. Und vielleicht hat er dies auch. Was wiederum gegen seine Vermutung sprach, generell gegen einen feindlich gesinnten Besucher. Und nicht zuletzt hatte jener auch um Hilfe gebeten, sie nicht eingefordert – und Mr. Carrington schien in irgendeiner Form geholfen zu haben, machte er doch nach dem Treffen einen erleichterten Eindruck.

 

Plötzlich hatte Matt eine seltsame Eingebung. „Haben Sie einen Sohn?“

Mrs. Carrington sah ihn fragend an.

„Heißt er Strife Carrington?“, hakte Matt nach, ohne zu wissen, wie er auf diesen Namen kam oder warum er überhaupt fragte.

„Nein. James und ich führten eine kinderlose Ehe.“

Doch Matt gab nicht nach. „Haben Sie unter Um-“

Ihr Ton wurde merkbar schärfer. „Ich bin unfruchtbar, Mr. Summers.“

Matt verschlug es zum wiederholten Male an diesem Tag die Sprache. „Es tut mir leid …“
 

Er stampfte munter von einem Fettnäpfchen ins nächste. Was war eben überhaupt in ihn gefahren!? Verdammt, nie hätte er sich vorgestellt, dass es so laufen würde.

Aber doch war es seltsam, diese ganze Geschichte. Matt wusste nur eins: Es war jetzt ein anderer an James Carringtons Stelle als Hüter getreten. Womöglich dieser ominöse Besucher. Vielleicht aber auch nicht. Dies ließ den jungen Mann erkennen, dass sie unbedingt herausfinden mussten wie man zu einem Hüter wurde.

 

„Deswegen bin ich ihr einziger Sohn, Hexe!“

Matt fiel fast vom Stuhl als Lees angeschlagene Fratze unter dem Tisch, direkt zwischen seinem Schritt hervorlugte und ihn feindselig anstarrte. Derart erschrocken von seinem unerwarteten Auftauchen kippte der Schwarzhaarige samt Stuhl schreiend hintenüber.

Über den Dämonenjäger krabbelnd, funkelte Lee jenen böse an. „Am besten du gehst jetzt!“

Matt drängte ihn mit dem Arm beiseite und erhob sich. Da der Klügere jedoch nachgab, sah er Mrs. Carrington tief in die Augen und nickte. „Ich denke, das wäre wohl das Beste. Aber erlauben Sie mir noch eine Frage.“

„Frag“, erwiderte diese mit einer ausschweifenden Bewegung ihrer Hand.

„Erinnern Sie sich, ob Ihr Mann jemals davon gesprochen hat, wer nach ihm den Platz des Hüters einnimmt?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Auch das ist etwas, das ich nicht beantworten kann. Wie so vieles was -das- angeht, haben wir nie darüber gesprochen.“

Resignierend rieb sich Matt über die Stirn. „Schade …“
 

Den Stuhl aufstellend, neben dem Lee noch auf dem Rücken lag und ihn voller feindseliger Inbrunst anstarrte, streckte Matt Mrs. Carrington die Hand entgegen. „Ich bedanke mich für das Gespräch und möchte mich noch einmal für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die ich verursacht habe.“

Statt ihn zu verabschieden, erwiderte sie unterkühlt: „Ich fürchte, eine Entschuldigung reicht mir nicht.“

Verdutzt zog Matt die Hand zurück. Hinter seinem Rücken schnellte Lee hervor und flüsterte in sein Ohr: „Du wirst den Schaden bezahlen, den du angerichtet hast, Hexe!“

Entgeistert drehte sich Matt zu ihm um, wurde sogleich von Lees überlegener Körpergröße gegen den Tisch gedrängt. „W-warte mal, das-!“

Mrs. Carrington fügte hinzu: „Ich denke, wir sind uns einig, dass das das Mindeste ist.“

Matt drehte sich panisch zu ihr um. „Aber das kann ich mir gar nicht leisten!“

„Dann hoffe ich für dich, dass dein handwerkliches Geschick deinem 'magischen' in Nichts nachsteht.“ Dass sie sich bei diesen Worten keinen Millimeter rührte war Beweis genug, dass sie es ernst meinte.
 

Schicksalsergeben ließ Matt den Kopf hängen. Alastair wäre so etwas gewiss nicht passiert. Was hatte er sich da nur eingebrockt!?

 

~-~-~

 

Mit zunehmender Stunde lockerte sich die Stimmung unter Anyas 'Partygästen'. Inzwischen hatte sich die schwach beleuchtete Bar gefüllt und auch, wenn die Blonde sich nicht an alkoholischen Getränken erfreuen durfte, machten das die von Logan empfohlenen Mixgetränke wett.

„Und, wie findest du es nun?“, fragte er, der neben ihr am Rand der Eckcouch saß und sich eben noch ausgelassen mit Marc am anderen Ende der Couch über Football unterhalten hatte.

Das Mädchen musste grinsen. Hier wurde Metal aufgelegt. „Ich liebe es!“

„Ich nicht“, schmollte Valerie neben ihr mit verschränkten Armen.

Marc neben ihr tätschelte seiner Verlobten die Schulter. „Komm schon, seit wann bist du die Spaßbremse?“

„Schon immer“, stand für Anya sofort fest. „Hör' auf dich zu beklagen, Redfield.“

„Noch eine Runde Billard ertrag ich nicht!“

Mit vorgehaltener Hand flüsterte Logan ins Ohr der Blonden: „Ich auch nicht …“
 

Was wollte die eigentlich, fragte sich Anya grimmig!? Bisher hatte sie jedes Spiel mit Ausnahme des ersten gewonnen! Anfangs hatte es der Ziege auch ansatzweise Spaß gemacht, aber scheinbar war es ziemlich schwierig, Redfield dauerhaft bei Laune zu halten.

Blöde Kuh!

 

Anya schlürfte bewusst laut an ihrem grünen, alkoholfreien Cocktail, weil sie genau wusste, wie sehr dies ihrer Erzrivalin auf die Nerven ging. Die verkrampfte augenblicklich und warf Anya einen Noch-einmal-und-ich-gehe!-Blick zu, den Anya grinsend mit einem Na-endlich!-Blick konterte.

Inzwischen war sie etwas munterer geworden, auch wenn der typische, verrauchte Kneipengeruch sie etwas benommen machte. Als Logan und Marc jedoch zum wiederholten Male mit Football anfingen und die beiden Mädchen komplett ausblendeten, dämmerte es Anya, warum Valerie so schlecht gelaunt war.

Warum unterhielt sich der Zwerg nicht mit ihr!? Also, in Redfields Fall nicht der Zwerg und auch nicht mit ihr, also Anya! Langsam ging ihr das auch auf den Zeiger!

 

Gerade wollte Anya das Gespräch unterbrechen, da bemerkte sie aus den Augenwinkeln Zanthe, der einsam vor der Jukebox in der Ecke des Ladens stand. Der hatte sich den ganzen Abend schon abgekapselt und kaum ein Wort mit den anderen gewechselt.

„Geh mal zu ihm“, sagte Valerie, die Anyas Blick bemerkte und nickte in seine Richtung.

Jene rollte mit den Augen. „Wieso sollte ich?“

„Meinst du nicht, ihn bedrückt irgendetwas? Ich würde ja selbst gehen, aber ich kenne Zanthe nicht besonders gut“, erwiderte die Schwarzhaarige mit klagendem Unterton, fügte noch grimmig und ganz leise hinzu: „Dann hätte ich wenigstens was zu tun …“

Den beiden lautstark lachenden Kerlen an den jeweiligen Enden der Sitzecke sich einen genervten Blick zuwerfend, kam Anya zu der traurigen Erkenntnis, dass die auch für einen Moment ohne sie auskommen würden. So stöhnte sie leidig: „Also schön, ich schau mal nach dem Flohpelz.“

 

Sprachs und schob sich am Tisch vorbei, auf dem kaum mehr Platz war, so wild wie Marc und Logan das Getränke-Angebot der Bar durchprobierten. Schlendernden Ganges näherte sich Anya dem Kopftuchträger, der immer noch mit der Jukebox beschäftigt war.

„Hey“, rief sie ihm dabei zu.

„Hey“, kam es träge zurück, „weißt du, ich versuche die ganze Zeit herauszufinden, wer diese bekloppte Musik aufgelegt hat. Bis ich festgestellt hab, dass dieses Ding nur zur Deko rumsteht.“

Ein kurzes Lachen konnte Anya sich nicht verkneifen. „Diese Teile sind schon seit Jahren out.“

Zanthe beugte sich vor und stützte seine Hände dabei an den Kanten der Jukebox ab. „Schade.“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte das Mädchen schließlich ernst.

„Was hat sie gemacht, dass du dich tatsächlich danach erkundigst?“ Er gluckste. „Ich hab alles gehört, Anya …“

Grimmig warf sich jene an die Wand neben der Jukebox, um ihren Freund ins Gesicht sehen zu können. Er wirkte müde, lächelte aber. Sie schnalzte genervt mit der Zunge. „Gar nichts, mir ist auch aufgefallen, dass dir irgendwas quer sitzt.“

„Gestern war ein langer, anstrengender Tag. Nicht nur für dich.“

„Hab ich gemerkt. Irgendwann warst du nicht mehr im Publikum“, erwiderte Anya plötzlich ungewöhnlich streng für ihre Person, „wo warst du? Und wenn du jetzt sagst, du hast dich mit irgendeinem Kerl getroffen, muss ich dich leider eines qualvollen Todes sterben lassen.“

„Das schaffst du ni-“

 

Weiter kam Zanthe nicht, denn in diesem Moment drangen Schimpfworte und Geschrei zu ihnen. Er drehte sich um und zusammen mit Anya sah er, wie der Türsteher von zwei Männern ins Innere der Bar zurückgedrängt wurde. Der glatzköpfige Schrank hatte seine lieben Mühen, die anderen beiden im Zaun zu halten. Beide hatten Kameras um ihren Hals hängen. Und noch mehr Fotografen verschafften sich Einlass, wie sie schnell feststellen mussten.

Eine weibliche Journalistin mit Hornbrille auf der Nase erspähte Anya. Und zeigte konsequent mit dem Finger auf sie: „Da ist sie!“

 

Es passierte so schnell, dass das Mädchen kaum Zeit zum Reagieren hatte. Binnen weniger Sekunden hatte sich eine ganze Wand an Fotografen, kniend, hockend, stehend aufgebaut, die sie ablichteten und wild durcheinander mit Fragen bombardierten.

„Was ist das denn!?“, beklagte sich Zanthe, der sich die Hand vor das Gesicht hielt.

Anya tat dasselbe. „Was wollen die hier!?“

„Miss Bauer, stimmt es, dass Ihr Vater wegen … vor Gericht stand und …“

„Uns ist zu Ohren gekommen, dass Ihnen Ihr Deck während der …“

„... Sie uns kurz schildern, was Sie dazu bewogen hat …“

Das Mädchen traute ihren Ohren kaum, wie sie nur Wortfetzen und unvollständige Sätze verstand, die aber allesamt nicht gerade zu Dingen gehörten, über die sie gerne redete. Manche davon auch noch komplett unwahr! Wo kamen diese Spinner plötzlich her!?

„Haut ab!“, fauchte das Mädchen wütend, aber als sie in die Masse an Fotografen sah, vom Blitzlichtgewitter geblendet, fühlte sie sich plötzlich hilflos. Denen durfte sie kein Haar krümmen, sonst stand das morgen überall in den Zeitungen!

„Wurden Sie als Kind vernachlässigt?“

„Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrem Bruder beschreiben?“

Panisch wich das Mädchen zurück und stieß gegen die Wand, hektisch von einem Journalisten zum anderen blickend. Was sollte sie jetzt tun!? Sie saß in der Falle! Die würden sie nicht eher gehen lassen, bis-!

 

„Schluss mit der Autogrammstunde!“, donnerte Logan, der unvermittelt neben ihr auftauchte und Anya unsanft am Arm packte. „Sie hat euch nichts zu sagen.“

Auch Marc und Valerie gelangten neben sie, schirmten die Blonde ab, als Logan sie kurzerhand durch die Gruppe der Reporter Richtung Ausgang schleifte, mit Zanthe als Nachhut. Ihre Freunde verstanden es, und Anya wusste in der Hektik beim besten Willen nicht wie, diese Typen in Schach zu halten.

 

Kaum waren sie an der frischen Luft, eilte Valerie zum Straßenrand und hob auffällig die Hand.

„W-was war das!?“, stammelte Anya panisch, als sich ein Taxi nährte, gerufen von der Schwarzhaarigen.

„Die Schattenseiten des Ruhms, wie man so schön sagt“, meinte Marc, der sich dann aber von der Gruppe löste, um zusammen mit Zanthe zwei Fotografen aufzuhalten, die gerade den Laden verlassen wollten.

Logan legte seinen Arm um Anyas Schulter. „Komm.“

Zusammen mit Valerie stiegen sie in das Taxi, Letztere gab dem Fahrer konkrete Anweisungen, sie zu Anyas Hotel zu bringen. Zanthe und Marc wehrten derweil konsequent die Reporter ab. Erst jetzt merkte das blonde Mädchen, wie schnell ihr Herz klopfte.

Und sie begriff es nicht. Vorhin hatten die Typen ihr auch schon aufgelauert, aber da war sie spielend leicht mit ihnen fertig geworden, es waren nur drei oder vier gewesen. Aber das eben …

„Die sind jetzt natürlich scharf drauf, alles Mögliche aus dir herauszukitzeln, nach deinem Duell gegen deinen Bruder“, erklärte Logan der in der Mitte sitzenden Anya.

Die stand völlig neben sich. Murmelte: „Woher wissen die das mit Dad …“

„Du glaubst gar nicht, was die alles so ausgraben können“, sagte Valerie ärgerlich.

„Was ist, wenn die wegen dem Tu-“, schoss Anya da ein erschreckender Gedanke durch den Kopf, den sie aber unterbrach, als sie Logan ansah. Nein, das Thema war in seinem Beisein tabu! Hoffentlich kapierte Redfield auch so, worauf sie hinaus wollte.

„Ich glaube, die Einzige, die jemals auf diesen Zug aufspringen wird, ist Nina Placatelli.“

„Hör zu, Kleine, in Zukunft musst du wohl vorsichtiger sein“, redete Logan gleich darauf auf sie ein. „Wenn du was reißen willst als Duellantin, musst du dich darauf gefasst machen, dass so etwas zu deinem Alltag dazugehören wird.“

Anya versank tiefer und tiefer im Sitz, als sie das hörte. Denn so sehr er auch Recht hatte, war dies nichts, worüber sie sich je Gedanken gemacht hatte. Was es bedeutete, Duel Queen zu sein, eine Person des öffentlichen Interesses. Solche Verhöre sollten nicht Teil ihres Traums sein!

 

 

Turn 65 – Xiphos

Völlig unerwartet tappt die Diebin von Anyas Deck in Nicks Falle, sodass es ihm endlich gelingt, ihren Standort ausfindig zu machen. Jedoch wird er unvermittelt von einer anderen Entdeckung abgelenkt, die sich ihm im Zuge seiner Recherchen bezüglich der Undying eröffnet. Zusammen mit einer alten Feindin nimmt er einen nicht ganz risikofreien Umweg in Kauf, um …

Turn 65 - Xiphos

Turn 65 – Xiphos

 

 

Jedes Mal, wenn Nicks Blick bei der Wand neben der Tür seines Büros landete, breitete sich ein zutiefst von Wonne erfülltes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Eingerahmt, hing dort ein Zeitungsartikel. Mit dem Bild Anyas, wie sie [Gem-Knight Pearl] den finalen Angriff auf die Lebenspunkte ihres Bruders befahl. Zugegeben, der Inhalt besagten Artikels war Mist, aber darum ging es nicht. Das Bild würde ihn für die nächsten Wochen immer wieder an den Triumph erinnern, den sie beide vor zwei Tagen über Aiden genossen hatten. Allein deshalb war es ihm wichtig, ihn genau dort hängen zu haben.
 

Fröhlich vor sich hin pfeifend, widmete sich Nick wieder seinem PC. Dabei tippte er nachdenklich mit einem Kugelschreiber auf einem linierten Papierblock, der neben der Tastatur auf dem gläsernen Tisch lag.

Auf dem Bildschirm war eine Blaupause von Henrys Projekt abgebildet. Genau jenes, das eines Tages eine ganze Halle füllen sollte. Zumindest diese Version, die 'kompaktere' dagegen stand auf einem anderen Blatt Papier. Die grobe Zeichnung, die angab, wo welche Maschine positioniert war, bereitete Nick einiges an Kopfzerbrechen. Es galt noch so vieles zu optimieren.

Zwar plante der zerzauste, junge Mann nicht im Entferntesten, sein Versprechen an Henry einzuhalten, welches besagte, einen Prototyp möglichst bald fertig zu stellen. Aber da er inzwischen eine gewisse Hassliebe für dieses Mammutprojekt entwickelt hatte, ließ es ihn auch in seiner spärlichen Freizeit nicht los.

 

Nick lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dabei ließ er in seinem Hawaiihemd den Blick aus der vor ihm liegenden Fensterfront schweifen, sah vor sich andere Bürogebäude.

Wenn er ehrlich zu sich selbst war, gefiel ihm dieser Job sogar ein wenig. Gut, Henry war ein überambitionierter Idiot, aber der Gedanke an ein völlig neues TCG mit einzigartiger Technologie machte selbst ihn von Zeit zu Zeit ein wenig hibbelig. Es schmerzte regelrecht, dass er dieses Projekt eines Tages eigenhändig zerstören musste.

Und das nur wegen Aiden. Und Monochrome.

Der Blick des jungen Mannes verfinsterte sich. Er hatte es versucht. Versucht, Aiden diesen Quatsch auszureden, aber der hielt an seinem Plan fest. Sobald sich Monochrome über das neue TCG verbreitet hatte, würde alles besser werden, betete der ihm immer wieder vor. Aber Nick wusste es besser. Kein Computerprogramm dieser Welt konnte die Herzen der Menschen kontrollieren …

 

Seufzend widmete sich Nick wieder dem Bildschirm, als ihm etwas auffiel. Eines seiner Programme blinkte in der Taskleiste auf. Als er es öffnete, bot sich ihm nur ein schwarzer Bildschirm mit dutzenden Textzeilen mit scheinbar willkürlichem Inhalt. Aber Nick wusste diese zu lesen und öffnete ungläubig den Mund.

Sie hatte sich verraten! Diese kleine, dreckige Diebin hatte vor wenigen Minuten ihre Kreditkarte benutzt.

Sofort machte Nick sich ans Werk. In wahnsinnigem Tempo tippte er auf der Tastatur herum, gab Befehle ein. Jetzt wusste er, wo sie sich gerade befand! Also musste er sich nur noch ihr Smartphone hacken, um dafür zu sorgen, dass dies auch so blieb. Aber dafür musste er erst einen Zugang finden und viel Zeit blieb ihm hierfür nicht.

Sein Herz schlug schneller und schneller. War dieses Miststück noch im Besitz von Anyas Karten? Er hoffte es für sie, denn er wollte nicht in ihrer Haut stecken, wenn dem nicht so war. Nicht zuletzt, weil nicht Anya die Erste sein würde, die sie dafür entsprechend bestrafte …

Da er die Meldung rechtzeitig bemerkt hatte, überraschte es Nick nicht im Geringsten, dass sein Vorhaben mit Erfolg gekrönt wurde. Kaum hatte er die letzte Taste gedrückt, öffnete sich ein neues Fenster mit einer Landkarte, auf der die diebische Elster mit einem Fadenkreuz markiert war.

„Jetzt gehörst du mir“, murmelte er bitterböse.

Nebenbei öffnete er seinen Webbrowser und googlete ihren derzeitigen Aufenthaltsort, Garland.

 

Eine texanische Stadt, von der er noch nie gehört hatte. Livington befand sich im Südosten der USA, genauer gesagt Mississippi. Ephemeria City dagegen weit im Westen, Oregon. Demnach war sein Weg dorthin kürzer, als wenn jemand aus Anyas Gruppe die Verfolgung aufnahm.

Sofort ratterte es in Nicks Kopf. Wie lange würde er brauchen, um dorthin zu gelangen? Mindestens einen Tag. Dann musste er noch einrechnen, dass Miss Langfinger die Stadt verlassen könnte …

 

Weiter kam Nick in seinen Gedanken nicht, als es an der Tür klopfte und Aiden hereintrat.

„Jetzt nicht“, lautete die Begrüßung seines Mitarbeiters.

„Ich wollte mich nur erkundigen, ob du mich heute zum Essen begleiten möchtest?“, fragte sein brünetter Boss höflich. Der Mann im grauen Anzug wartete auf eine Antwort.

Aber Nick weitete die Augen, als ihm einfiel, dass er bereits verabredet und darüber hinaus auch noch zu spät war. Schnell schloss er alle Programme und sprang auf, dem seitwärts von ihm wartenden Aiden regelrecht entgegen.

„Ist das ein Ja?“, fragte der mit einem Schimmer Hoffnung in der Stimme überrascht.

Als Nick direkt vor ihm stand, blinzelte er Aiden verständnislos an. „Wie lange arbeite ich jetzt hier?“

„Die Frage war auch eher rhetorischer Natur“, entgegnete ihm jener, ohne Platz zu machen. „Ich wollte nur mal schauen wie es so läuft.“

„Wie gesagt, keine Zeit. Ich habe einen Termin.“

„Mit wem? Du hast nichts in deinen Kalender eingetragen.“

Nick schnalzte mit der Zunge. „Trägst du denn ein, wann du deine PA bumst?“

Ein verschmitztes Lächeln kam daraufhin als Reaktion, doch entgegen Nicks unausgesprochener Forderung, verharrte Aiden auf der Stelle.

„Was?“, raunte der Größere verärgert. „Immer noch beleidigt, weil mein Bauer deinen geschlagen hat? Ich hab's eilig, also geh aus dem Weg, sonst schlägt gleich noch ein Bauer um sich!“

Als Aiden von seinem ehemaligen Verlobten regelrecht zur Seite gedrängt wurde, hob er noch den Zeigefinger und lobte diesen: „Gutes Wortspiel. Und nein, ganz und gar nicht. Es freut mich für Anya, wirklich.“

„Keine Zeit für deine Lügen“, lautete Nicks knappe Verabschiedung, wie er durch den Korridor hastete und den CEO von Micron Electronics hinter sich zurückließ.

 

~-~-~

 

Wenig später betrat ein schweißnasser, keuchender Nick den Italiener zwei Straßen weiter. Obwohl es noch nicht einmal 13 Uhr war, wirkte es hier durch die schweren, roten Vorhänge an den Fenstern und der schwächlichen Beleuchtung so, als wäre der Abend längst angebrochen.

Dem herannahenden Kellner sagte Nick: „Ich habe auf den Namen Harper reserviert.“

„Bitte der Herr, dort drüben“, erwiderte dieser freundlich und zeigte mit der ausgestreckten Hand zu einem Platz am Fenster.

Nick zog am Tresen aus dunklem Eichenholz vorbei. Die Tische waren im selben Stil gehalten. Eine Reihe aus fünf Stück zog sich an den Fenstern vorbei, Nicks Ziel war der vorletzte. Und wie er es befürchtet hatte, saßen seine zwei Gäste bereits dort, ihm den Rücken zugewandt.

Als er den Tisch erreicht hatte und den Stuhl zurückzog, entschuldigte er sich zunächst. „Tut mir leid, ich wurde im Büro aufgehalten.“

„Kindchen, hat deine Mutter dir nie beigebracht, dass man eine Dame nicht warten lässt?“

„Ich sehe keine, also wo ist das Problem?“, ließ Nick provokativ eine Gegenfrage und sich selbst auf den Stuhl fallen.

Er blickte geradewegs in die grünen Augen Nina Placatellis, Livingtons Klatschkolumnistin #1, die immer wieder durch ihre verrückten Artikel zum Übernatürlichen auffiel und ihm letztes Jahr die Begegnung mit Drazen ermöglicht hatte.

Die gereifte Frau hatte sich kein bisschen verändert. Ihr Haar war immer noch lang, gelockt und vor allem feuerrot, genauso wie ihr Lippenstift und die dicke Hornbrille auf ihrer Nase. Sie trug ein schwarzes Kostüm, passend zu ihrer Seele, zumindest wenn es nach Nick ging. Selbst ihre riesige, giftgrüne Riesenhandtasche hatte sie dabei.

Nina schürzte die Lippen. „Ich sehe, du bist noch genauso frech wie letztes Mal.“

„Ich mag den Kerl“, gluckste der Mann neben Nina.

„Hallo. Sie sind dann wohl Brody?“, wurde der sogleich freundlich gefragt.

Jener bestätigte dies mit einem Nicken. Brody Jenkins war ungefähr im selben Alter wie Nina, trug einen bereits leicht grau werdenden Schnäuzer und Kinnbart sowie ein braunes Barett auf dem rothaarigen Kopf. Seines Zeichens war er Ninas Cousin. Und Autor von 'Thirty Legends – The Whole Truth', dem Buch, das Nick erst auf Drazens Spur – und nun auch die der Undying – gebracht hatte.

 

„Damit eins klar ist“, schnarrte Nina, vor der bereits ein halb geleertes Rotweinglas stand, „wenn du unsere Hilfe willst, dann nur, wenn ich daraus eine Story machen darf.“

Zu ihrer sichtbaren Überraschung nickte Nick. „Geht klar. Sie können schreiben, was immer Ihr pechschwarzes Herz begehrt. Solange keine Namen fallen.“

Wer Nina kannte, wusste, dass sie sich nur selten an den Tatsachen und vielmehr an ihrer eigenen Fantasie orientierte, wenn es um ihre Artikel ging.

„Sehr schön“, schnurrte das Reptil, wie Nick sie insgeheim titulierte, versöhnlich und beugte sich vor. „Dann schieß' mal los. Was bringt dich dazu, meinen lieben Cousin Brody den ganzen Weg hierher zu beordern? Geht es um das Schicksal der Welt? Ich will alle Details.“

In diesem Moment trat jedoch ein Kellner an den Tisch heran, sodass die Drei zunächst ihre Bestellungen aufgaben, ehe sie sich wieder dem geschäftlichen Teil zuwendeten.

 

Nick war innerlich unruhig wie selten zuvor. Jetzt war ihm die diebische Elster endlich ins Netz gegangen. Nur ein wenig mehr und er würde sie zwischen seinen Fingern zerquetschen wie eine reife Tomate und Gott, nach allem, was Nick wegen dieser Hexe durchgemacht hatte, sehnte er sich geradezu danach, auch mal Anyas Form der 'Stressbewältigung' auszuprobieren!

Aber dieses Treffen war wichtig, er hätte es unmöglich absagen können. Er musste mehr herausfinden über das, was die Undying so verzweifelt versuchten zu wahren. Und der einzige Mensch, der etwas darüber wissen könnte, war dieser Brody, der einst Drazen interviewt und seine Geschichte in besagtes Buch aufgenommen hatte.

 

„Also?“, horchte Nina gespannt auf, kaum war der Kellner verschwunden. „Erzähl endlich! Mit was nehmen wir es diesmal auf?“

„Wir nehmen es mit gar nichts auf“, wies Nick sie sogleich unterkühlt zurecht. „Es geht nur darum, Informationen zu sammeln.“

Brody warf ein: „Und ich kann dabei helfen?“

„Ja. Lassen sie mich Ihnen eine Frage stellen. Wie viele Geschichten aus 'Thirty Legends' sind wahr?“, fragte Nick frei heraus. Dabei nahm er den Mann, der ihm schräg gegenüber saß, scharf ins Visier.

Trocken entgegnete der: „Eine.“

„Und wie viel davon haben Sie nicht niedergeschrieben?“

„Ein paar kleinere Details, aber nichts Wichtiges.“

Nick kniff die Augen fest zusammen. „Für mich kann jedes kleine Detail entscheidend sein. Fangen wir bei Eden an. Was genau ist das?“

Auch Nina drehte sich gespannt zu ihrem Cousin um. Dabei griff sie nebenbei nach der Tasche, die an ihrer Stuhllehne hing und wühlte kurz darin herum, bis sie einen kleinen Notizblock samt Stift fand. Dabei murmelte sie: „Jetzt geht’s los.“

Brody aber zögerte und sah aus dem Fenster auf die Straße. Nicks Augen folgten dem ausweichenden Blick. „Ich zahle Ihnen eine Menge Geld dafür, dass Sie heute hier sind. Lassen Sie mich das nicht bereuen.“

„Drazen hat sie als eine künstlich erschaffene Welt beschrieben, die niemand ohne Weiteres betreten kann.“ Brody sah Nick dabei nicht an. „Eine Zuflucht für Menschen, aber auch für andere Wesen. Verfolgte. Ich glaube, er nannte sie Immaterielle.“

„Wer hat sie erschaffen?“ Natürlich wusste Nick das längst, schließlich stand das alles in dem Buch geschrieben. Aber er wollte es aus Brodys Mund hören.

Jener haderte wieder einen Moment, bevor er sagte: „Die Undying. Aber fragen Sie mich nicht, was es mit denen auf sich hat. Darüber wollte Drazen nicht reden. Oder eher … er konnte nicht, durfte nicht.“

 

Inzwischen wurde Nick sein bestelltes Wasser gebracht, was er aber nicht weiter beachtete, nachdem es neben ihm abgestellt wurde.

„War das Ihr Eindruck oder hat er das wortwörtlich so gesagt?“, lautete seine nächste Frage.

Nina indes notierte sich Einzelheiten des Gesprächs aufgeregt und legte eifrig ihre Zunge an die Oberlippe.

„Mein Eindruck.“ Brody starrte geradezu fest entschlossen aus dem Fenster, als wolle er Nick nie wieder ansehen. „Noch etwas, das Sie wissen wollen?“

Nick, der schon damit gerechnet hatte, nicht viel aus dem Mann herauszubekommen, lachte plötzlich leise. „Sicherlich, aber ich denke, das würde, bezogen auf Ihr Buch, zu nichts führen. Stattdessen beantworten Sie mir doch Folgendes: Wie kommt jemand wie Sie dazu, einen Mann wie Drazen zu interviewen?“

„Zufall. Er wollte sich jemandem mitteilen und ist dabei zufällig auf meine Annonce gestoßen.“

„Wohl kaum.“ Nick lehnte sich zurück, verschränkte genau wie in seinem Büro die Hände hinter dem Kopf. „Zu der Zeit hatten Sie die Arbeiten an dem Buch bereits aufgenommen, ergo waren Sie auf der Suche nach Quellen.“

Brody gluckste. „Habe ich das abgestritten?“

„Nein. Aber Sie reden auch nicht gerne darüber, habe ich Recht?“ Nick war nicht danach, erst um den heißen Brei herumzutanzen. Demnach schoss er bewusst ins Blaue, als er sagte: „Fast so, als hätten Sie Angst. Vor was?“

„Sie sehen Gespenster“, tat Brody die Frage gelangweilt ab.

Nick ließ die Arme sinken. „Ich habe schon wesentlich Schlimmeres als Gespenster gesehen.“

Dabei wanderte sein Augenmerk unwillkürlich auf Nina, die aber zu abgelenkt mit ihren Kritzeleien war, um den versteckten Seitenhieb zu bemerken.

„Glauben Sie mir“, hauchte Nick anschließend leise und beugte sich vor. „Wenn es um dieses 'Gewerbe' geht, ist immer Angst im Spiel. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Brody. Ihren Lebenslauf überprüft. Ich habe sogar Zugriff auf Ihre alten Manuskripte.“

In diesem Moment wirbelte der Rothaarige erschrocken herum, brachte aber keinen Ton heraus.

„Ich weiß im Grunde genau, wovor Sie Angst haben“, log Nick, denn hundertprozentig sicher war er sich dessen nicht, „davor, ihr Schweigen zu brechen. Ein erzwungenes Schweigen.“

Der Mann schluckte schwer.

„Sie sind kein Dämonenjäger, Brody“, redete Nick weiter auf ihn ein, „niemand, der sich wehren kann. Aber Sie kennen Wahrheiten, die nicht an die Öffentlichkeit dringen dürfen, weil sie die Welt ins Chaos stürzen könnten. Sie hatten Beweise.“

Je mehr er sprach, desto eindringlicher wurde er dabei. „Wen haben Ihre Nachforschungen auf den Plan gerufen? Wer hat Ihnen den Maulkorb verpasst, der dazu geführt hat, dass nie eines dieser Manuskripte veröffentlicht wurde?“

 

Aber Brody Jenkins starrte ihn nur ausdruckslos an. Und dann geschah etwas Unerwartetes. Er schnappte sich Ninas Stift und Zettel aus deren Hand, riss ihre beschriebene Seite ab, nur um die nächste mit einem einzigen Wort zu füllen.

„H-hey!“

Als er den Block zu Nick schob, war dieser im Begriff, von diesem vorzulesen. Doch ein Tritt gegen sein Schienbein hinderte ihn daran und als er aufsah, hielt Brody den Zeigefinger auf den Lippen und schüttelte den Kopf.

„Sprechen Sie nie diesen Namen aus, oder er wird sie für immer verfolgen.“

Also las Nick ihn still ab: 'Xiphos'. Er blickte auf und fragte: „Wer ist das?“

„Einer der fünf mächtigsten Dämonen auf diesem Planeten. Er sorgt dafür, dass das Übernatürliche im Dunkeln bleibt.“ Brody atmete schwer. „Und er war damals sehr überzeugend.“

Nick schloss die Augen. „Wo finde ich ihn?“

„W-was?“ Sein Gegenüber wartete einen Moment, als ob er sich verhört haben könnte.

So stieß ihm Nina kichernd mit dem Ellbogen in die Seite. „Schätzchen, jetzt mach dir nicht gleich in die Hose. So schlimm kann dieser Xiphos doch nicht sein. Wir sind Schlimmeres gewöhnt, nicht wahr, Nick-Darling?“

 

Mit Sicherheit, erwiderte der im Gedanken spöttisch. Ob sie sich noch daran erinnerte, wie sie als Harpyie Livington letzten November unsicher gemacht hat? Wohl kaum. Andererseits war Nina die Art Mensch, die wohl noch während ihres letzten Herzschlags den Ernst der Lage nicht begriff.
 

Gerade seufzte er, da sprang Brody leichenblass auf. Mit geweiteten Augen sah er seine Cousine an, die immer breiter grinste. „Jetzt wird’s melodramatisch!“

„Was hast du getan!?“

„Beruhigen Sie sich“, gebot ihm Nick.

„Sie hat seinen Namen genannt! Wissen Sie, was das bedeutet!?“, geschah jedoch genau das Gegenteil. Mit ausgestrecktem Finger zeigte Brody auf die rothaarige Frau.

Der zerzauste junge Mann ließ die Schultern zucken. „Nein, aber wenn es Sie tröstet: Es ist kein Verlust für die Welt, wenn Nina diesen Namen nennt. Und jetzt sagen Sie mir, wo ich dieses Wesen finden kann.“

 

Xiphos hatte Nicks Interesse geweckt. Ein Dämon, der in etwa auf einer Stufe mit dem Sammler stand? Nach so etwas hatte er schon seit einer Weile nebenbei gesucht, aber selbst für jemanden wie ihn war es bisher ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, tatsächlich ein Wesen dieser Art ausfindig zu machen. Es gab eben Dinge, die fand man selbst in den Tiefen des Netzes nicht.

Und seine einzigen anderen Quellen waren Abby, die in solchen Dingen auch wenig Ahnung hatte und die Dämonenjäger, die er ganz bestimmt nicht in alles einweihen wollte. Selbst Zanthe kam nicht infrage, denn auch ihm traute Nick nicht.

Daher war es ein Geschenk Gottes, dass Brody ihn in diesem Augenblick auf so eine aussichtsreiche Spur gebracht hatte. Er musste ihr folgen, unbedingt. Wenn er den 'wahren Feind', den Collector, besiegen wollte, brauchte er einen Verbündeten! Selbst wenn das hieß, die Diebin erstmal ziehen zu lassen!

 

„Sie sind doch völlig durchgedreht!“, schrie Brody, sodass sich die Leute spätestens jetzt nach ihm umdrehten. Er ließ seine Hand um die Schläfe kreisen. „Völlig plemplem! Nie im Leben sag ich Ihnen, wo er sich versteckt! Es ist zu Ihrem eigenen Besten, glauben Sie mir!“

„Also wissen Sie es.“

„N-nein!“

Nick öffnete seine Augen und funkelte den Mann gefährlich drohend an. „Brody. Ich weiß um Ihre finanzielle Lage Bescheid. Als Autor haben Sie versagt und daran ist Ihr 'Freund' sicher nicht unschuldig. Wie lange haben Sie Ihre Miete schon nicht mehr bezahlt?“

Brody öffnete mit entrüstetem Blick den Mund, aber Nick fuhr ihm scharf über diesen. „Ich biete Ihnen einen Ausweg, Brody. Und alles, was ich dafür will, ist eine Adresse.“

„Oh-oh!“, hyperventilierte derweil Nina förmlich beim Bekritzeln ihres zurückerlangten Notizblocks. „Der große Moment! Wie wird er sich entscheiden? Geld für eine unmoralische Antwort oder seinen ziemlich wertlosen Stolz!?“

Wie ihr Cousin so auf Nick herab sah, schluckte er. Dann ließ er sich wieder in seinen Stuhl fallen und atmete tief durch. „Er lebt in einer ganz normalen Wohnung. Warten Sie, ich schreib Ihnen die Adresse auf.“

Prompt war Nina ihren Block wieder los. Nick staunte. Selbst den Wohnort nannte Brody nicht beim Namen? Hatte er solche Angst vor Xiphos?

„Sie sollten da dennoch nicht hinfah