Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 3: Willkommen im Team (Ein Digda ist nicht genug) --------------------------------------------------------- Mama ist regelrecht begeistert, dass ich einen Freund mitbringe. Ich glaube, sie hat es satt, dass ich immer nur mit Sku rumlungere. Ich habe hier in der Stadt kaum Freunde. Da sind nur meine Geschwister und meine ehemaligen Spielkameraden, aber mit denen habe ich nicht mehr viel zu tun. Manchmal gehen wir zusammen ans Meer oder ein Eis essen, aber wir haben uns auseinander gelebt. Nur Michi hat auch ein Pokémon, und er muss seinem Vater helfen. Der ist Baumeister und renoviert derzeit den Untergrundtunnel, der unter Saffronia durchführt. Katharina und Angie verstehen nicht, was es heißt, ein Pokémon zu haben. Sie denken, Sku ist irgendeine Art Haustier und ich sollte mich mehr um unsere Freundschaft kümmern als mit Sku rumzuhängen. Sie haben keine Ahnung. Jedenfalls mag Mama Sku immer noch nicht so richtig. Sicher, sie ist freundlich zu ihr, aber ich glaube, die Stinkattacke hat sie ihr nie verziehen. Obwohl der Pokédex gesagt hat, der Geruch würde nur vierundzwanzig Stunden anhalten, war es in Wirklichkeit mehr als eine Woche, weil der Gestank in das Sofa und den Teppich eingezogen ist. Das Meeting, das sie mit ihrem Pokéfanclub bei sich geplant hatte, musste sie deshalb kurzfristig verlegen und es war generell ein ziemliches Chaos. Ich hatte eine Woche Hausarrest, aber um ehrlich zu sein, war es mir das wert. Ich würde es jederzeit wieder so machen. Natürlich kann ich Sku nicht jeden anstinken lassen, der uns komisch ansieht, aber meistens reicht es, wenn ich diejenigen warnend ansehe und Sku ihren Schweif hochhebt und sich in ihre Richtung dreht. Dann rennen sie immer wie die Champions. Ich helfe Mama gerade dabei, die Möhren zu schneiden, als es an der Tür klingelt. Ich wische mir die Hände an meiner Schürze ab und gehe am Esstisch vorbei zur Tür. Sku liegt verschlafen auf dem Sofa und öffnet die Augen zu Schlitzen, um zu sehen, wer da ist. Als ich aufmache, steht Raphael vor der Tür und grinst mich an. Er hat dieselbe Hose wie gestern an, seine Pokébälle sind alle fein säuberlich in seiner Gürteltasche verstaut und Kapilz ist nirgends zu sehen. „Hi“, sage ich und trete zur Seite. „Komm rein.“ „Hallo, Frau Hampton.“ Er muss das Schild neben der Klingel gelesen haben. „Danke für die Einladung.“ Mama kommt zu uns und schüttelt seine dargebotene Hand. Er benimmt sich wie ein richtiger Gentleman. „Schön, dass du gekommen bist“, sagt sie lächelnd. „Ich freue mich immer, wenn Abby Freunde mitbringt.“ „Setz dich, wir sind bald fertig mit Kochen“, sage ich und gehe zurück zum Herd, wo ich mich wieder ans Möhren schneiden mache. „Ich hoffe, dir macht ein vegetarisches Gericht nichts aus?“, fragt Mama. Wir essen kein Fleisch. Mama sagt, man kann keine Pokémon im Haushalt halten und als Freunde bezeichnen und gleichzeitig andere essen. Und der Meinung sind nicht nur wir. In allen öffentlichen Einrichtungen wird vegetarisch gekocht, sowie in den meisten Haushalten. Dass sie ihn fragt, ist mehr Formsache als alles andere. „Nein, überhaupt nicht.“ Raphael macht es sich neben Sku auf dem Sofa bequem. Mama wirft ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Sie ist nicht die Süßeste, aber immerhin stinkt sie nur, wenn meine Tochter es ihr befiehlt. Schieb sie einfach weg, wenn du nicht neben ihr sitzen willst.“ In dem Moment kommt Nancy die Treppe runter geschlichen und geht zu Mama, die ihr abwesend den Kopf krault. Dann legt sie sich auf ihr Bett neben dem Sofa. Nancy ist fast einen Meter hoch, schneeweiß und mit runden Ohren. Ihr Fell ist mit dem Alter spröde geworden und ihre Augen sind ein wenig tränenunterlaufen, aber sonst sieht sie noch aus wie früher. „Ehm.“ Raphael sieht verwirrt zu mir rüber. „Sku ist ein tolles Pokémon, Frau Hampton. Wirklich. Und ich finde sie ziemlich süß.“ Als hätte Sku ihn gehört, rollt sie sich lasziv auf den Rücken und reckt Raphael ihren weichen Bauch entgegen, während sie wohlige Brummgeräusche von sich gibt. „Sie mag dich“, lache ich, während Raphael anfängt, ihren Bauch zu kraulen. „Sku hat mir und Penny gestern den A- das Leben gerettet“, verbessert er sich schnell. Mama schaut neugierig von ihrer Arbeit auf. „Wirklich? Wie das?“ „Ich habe gegen eine Bikergang gekämpft, aber sie hatten zwei Pokémon, ich nur eins und sie haben mich ziemlich fertig gemacht.“ Die Tür geht auf. „Aber dann ist Abby aufgetaucht und Sku hat sich zwischen Penny und die Sleima gestellt. Dank ihr haben wir den Kampf gewonnen.“ „Was?“, fragt Tarik, der gerade rein gekommen ist und sich schon an den Tisch gesetzt hat, obwohl noch nicht mal gedeckt ist. Altaria schwebt neben ihm herein und lässt sich auf der Tischplatte nieder. „Meine Schwester hat tatsächlich gekämpft und nicht faul in der Sonne gelegen? Abs, ich bin beeindruckt.“ Er zieht einen imaginären Hut und ich strecke ihm die Zunge raus. „Davon hast du mir gar nichts erzählt“, sagt Mama vorwurfsvoll und sieht mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an. „Vergessen“, murmele ich und steche ebenfalls in die Kartoffeln, obwohl ich weiß, dass sie noch nicht durch sind. In dem Moment kommt Maya die Treppe runter, Ursula fest in ihren Armen. Armes Ding. „Um Himmels willen“, ruft Mama, als sie sich umdreht. „Man kann ja kaum noch laufen! Kinder, Pokémon in die Bälle, sofort.“ „Wieso?“, frage ich wütend. Tarik nickt. „Was ist mit Nancy, Mama?“, fragt er. „Wo ist ihr Pokéball?“ „Nancy ist ein Mitglied dieser Familie und-“ „Altaria ist auch ein Mitglied dieser Familie“, erwidert Tarik wütend. „Falls du es noch nicht bemerkt hast, sie lebt hier seit fünf Jahren.“ „Nicht in diesem Ton, Tarik!“ Ich räuspere mich und Mama kommt wieder zur Besinnung. „Tarik, wir haben einen Gast, bitte benimm dich wie ein normaler Mensch und bitte sag Altaria, sie soll vom Tisch runterkommen. Ich will nicht immer ihre Flaumfedern in meinem Essen haben.“ „Sag´s ihr selber…“, murrt Tarik, aber er gibt Altaria einen kleinen Klaps und sie hüpft vom Tisch, gleitet zwei Meter durch die Luft und landet federleicht neben Nancy auf dem Boden. „Hab ich was verpasst?“, fragt Maya und guckt Raphael verstohlen aus den Augenwinkeln an. „Maya, Raphael, Raphael, meine nervige Schwester Maya“, stelle ich die beiden brüsk vor. „Hey, Tarik, Raphael ist Protrainer, er hat schon zwei Orden. Wie viele hast du noch gleich?“ „Halt die Klappe.“ „Tarik!“ Mama schlägt mit dem Holzlöffel auf den Pfannenrand und Soße spritzt mir ins Gesicht. „Na wunderbar“, murmele ich. „Maya, deck mal den Tisch.“ „Wie wär’s mit bitte?“, fragt sie gereizt, aber als Mama ihr einen ihrer mahnenden Blicke zuwirft, huscht sie an dem Sofa vorbei und holt Teller, Besteck und Gläser aus dem Geschirrschrank.   Papa kommt ein paar Minuten später heim. Sein Supermarkt ist gleich gegenüber und wenn er Mittagspause macht, kommt er meistens her, um mit uns zusammen zu essen. Wir sitzen zu sechst an dem Tisch und reichen dampfende Schüsseln herum, während unsere Pokémon sich im Wohnzimmer tummeln. Ursula spielt mit Nancys Schwanz, die ihn genervt hin und her peitschen lässt, während sie zu schlafen versucht. Altaria hat sich auf dem Fernseher niedergelassen und beobachtet uns beim Essen, während Marcel Kniebeugen macht. Sku schläft, immer noch grotesk verdreht, mit dem Bauch nach außen und den kurzen Beinchen über ihrem Gesicht gefaltet. Der Großteil des Gesprächs kursiert um Raphael und seine Reisen. Am Anfang war er aufgeregt und stotterte ein bisschen, aber mittlerweile hat er sich gefangen und redet mit glühenden Wangen von Kämpfen, Menschen, die er getroffen und hat und, auf Mayas Wunsch hin, von allem, was mit Marmoria City zu tun hat. „Rocko ist großartig“, sagt er gerade. „Sein Onix ist unglaublich stark und sein Kleinstein hatte es echt in sich. Obwohl ich den Typvorteil hatte, hätte ich ihn fast nicht besiegt.“ „Und das Museum?“, fragt Maya aufgeregt „Warst du da?“ „Man war nicht wirklich in Marmoria, wenn man nicht da war“, erwidert Raphael grinsend. „Es ist unglaublich. Die Leute dort kennen sich sehr gut aus. Ich habe eine Frage nach der anderen gestellt und sie haben alles beantwortet. Und das Aerodactylskelett…“ Seine Augen bekommen einen träumerischen Ausdruck, der sich auch in Mayas Gesicht widerspiegelt. Man sollte es ja nicht meinen, aber Maya hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Sie ist immer noch zickig und weigert sich weiterhin, Ursula zu trainieren, damit sie sich nicht in ein unsüßes Ursaring entwickelt, aber ich glaube, inzwischen ist es mehr aus Trotz. Ich wette, sie würde Ursula trainieren, wenn sie keine Kommentare unsererseits zu befürchten hätte. Tatsächlich ist sie überhaupt nicht mehr auf süß und girly getrimmt. Gut, sie hat immer noch pinke Spangen in ihrem braunen Haar und trägt auch sonst sehr viel rosa, aber der Schein trügt. Seit zwei Jahren hat sie eine Faszination für Stein- und Fossilpokémon entwickelt, weshalb sie unbedingt nach Marmoria City will. Dort gibt es alle möglichen Steintypen und Fossile. Ein wahrgewordener Traum für meine Schwester. Tarik schaut immer wieder zu Maya rüber. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich in zwei Jahren auch abhaue? „Hast du manchmal Heimweh?“, frage ich Raphael, um das Gesprächsthema etwas aufzufrischen und Tarik eine Möglichkeit zu geben, etwas aus der Konversation mitzunehmen. Raphael überlegt kurz. „Nicht wirklich“, sagt er schließlich. „Ich bin jetzt seit zwei Monaten unterwegs und, naja, wenn man nicht über seine Eltern nachdenkt, dann hat man auch kein Heimweh, schätze ich. Ich würde sie zwar gerne Mal wieder sehen, aber ich weiß auch, dass ich jederzeit heim kommen könnte. Außerdem telefonieren wir alle paar Wochen ausgiebig. Ich glaube, für meine Eltern ist es schwieriger als für mich.“ Papa nickt wissend und wirft Mama einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann. Sie stockt in ihrer Bewegung und schaut gedankenverloren zu Raphael, dann spießt sie ein Stück Kartoffel auf und isst weiter. „Und deine Eltern waren damit einverstanden dass du mit… wie viel Jahren alleine los ziehst?“, fragt sie. „Mit fünfzehn.“ Ich verschlucke mich an meinem Salat. „Nie im Leben bist du fünfzehn!“ röchle ich und muss husten. Der Salat hat sich in meiner Kehle verkeilt. Er grinst. „Doch, bin ich. Das hättest du nicht gedacht, oder?“ „Ich hätte dich auf maximal dreizehn geschätzt“, sage ich und trinke einen großen Schluck Wasser. Er schaut mich gekränkt an. „Und ich dich auf zehn“, kontert er und ich werfe eine Möhre nach ihm. Mama schaut mich entsetzt an. „Schatz, fünfzehn ist das normale Alter“, sagt Papa, um Mama zu besänftigen. „Irgendwann werden sie erwachsen. Früher sind sie teilweise schon mit zehn Jahren losgezogen.“ „Ich kann immer noch nicht begreifen, wie man ein zehnjähriges Kind alleine losziehen lassen kann. Unverantwortlich“, sagt sie steif und ich werfe Raphael einen schmunzelnden Blick zu. Er zieht eine Grimasse. Ich lege mein Besteck auf meinen leeren Teller und gucke zu Mama. „Können wir aufstehen? Ich muss Raphael noch etwas zeigen.“ Sie schaut mich unglücklich an, dann seufzt sie ergeben. „Macht doch, was ihr wollt. Aber du bist zum Abendessen wieder hier, verstanden?“ „Ja, Mama.“ „Du bist auch herzlich eingeladen, Raphael. Ich weiß, das Schwester Joy sehr liebenswürdig ist, aber jeden Tag Pokécenter-Essen wird auf die Dauer langweilig, oder nicht?“ Sie zwinkert ihm zu und Raphael nickt dankbar. „Vielen Dank“, sagt er und wir stehen auf. Wir räumen noch schnell unsere Teller ab, dann rufe ich Sku kurzerhand in ihren Pokéball zurück, weil ich zu faul bin, sie zu wecken und wir verlassen das Haus. „Puh“, sage ich grinsend und wische mir demonstrativ den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. „Nochmal davon gekommen.“ „Davon gekommen?“, fragt Raphael und wir gehen langsam los. „Ach, Mama kann manchmal etwas anstrengend sein. Und ich bin nicht zehn, ich bin dreizehn.“ „Aber noch nicht lange“, meint er und weicht meinem gespielten Schlag aus. Ich lache und zupfe an meinem T-Shirt herum. Es ist schon wieder so warm. Warum muss der Sommer nur so lange anhalten? „Also, was ist diese Überraschung, von der du erzählt hast?“, fragt er. „Komm einfach mit.“ Er zuckt die Achseln und gemeinsam folgen wir der Straße Richtung Osten und begeben uns auf Route 11. Nachdem wir ein kleines Stück durch den schattigen Wald gegangen sind, tauchen vor uns die weiten, üppig grünen Wiesen auf, die mit Trainern und Pokémon bevölkert sind. „Schick“, sagt Raphael, aber er wirkt nicht sehr beeindruckt. „Ist das ein Trainingsplatz oder so?“ „Nicht die Wiese, Idiot.“ Ich ziehe ihn einen kleinen Abhang hinunter und biege scharf links ab, sodass wir direkt vor einer Steinwand stehen. „Hier.“ Ich grinse einen verständnislosen Raphael an. „Was ist das?“ „Das ist das wahre Herz von Orania City, die allseits kühle und in Vergessenheit geratene…“ Ich hebe die Stimme, um die Spannung zu heben und wische etwas Dreck von einer kleinen Metallplakette, die vor Ewigkeiten an der Steinwand befestigt wurde. „Digda-Höhle!“ „Was ist das?“, wiederholt Raphael und ich tippe auf das Metall. Er beugt sich nach vorne. „DIGDAs Höhle“, liest er vor. „Ein Tunnel von Orania City nach Marmoria City, gegraben von DIGDA.“ Er schaut mich verblüfft an. „Echt? Ein Tunnel?“ „Jep. Ich war schon mal drinne. Er ist ewig lang.“ „Okay, cool. Warum bin ich hier?“ „Weil, lieber Raphael, du meine Hilfe brauchst.“ Ich grinse ihn selbstgefällig an. „Ach wirklich? Dann klär mich mal auf.“ „Dein Knilz war ein Pflanzentyp, damit hattest du den Typvorteil gegenüber sowohl Rockos als auch Mistys Pokémon, aber Major Bob ist ein Elektrotrainer“, erkläre ich ihm. „Pflanze hat da keinen besonderen Effekt. Mit Tempohieb kann Kapilz vielleicht etwas gegen die Elektrostahltypen ausrichten, aber was du wirklich brauchst, ist ein Bodentyp. Und rate, wo es die größte Auswahl in ganz Kanto gibt.“ „Hier?“, fragt er unsicher. „Hundert Punkte.“ Ich grinse ihn an. „Früher gab es hier nur Digda, deshalb der Name Digdahöhle, aber seit es den großen Pokémonaustausch der Regionen gab, tummeln sich hier alle möglichen Bodenpokémon. Wenn du ein passendes findest, dann genau hier.“ „Und warum weiß eine Dreizehnjährige so gut über all das Bescheid?“, fragt er lachend. „Vielleicht liegt es an meinem genialen Verstand.“ Er prustet los. „Vielleicht auch an meiner Tante, die an der Pokémon Akademie unterrichtet.“ Sein Blick wandelt sich von erheitert zu entsetzt. „Echt? Kommen da nicht die ganzen Ass-Trainer her?“ „Kann sein.“ „Und warum bist du dann nicht da?“, fragt er fassungslos. „Nicht jeder will bester Trainer aller Zeiten werden, schon vergessen?“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Komm, wir haben noch ein paar Stunden, bis wir zurück müssen. Wenn du heute schon mit dem Training anfangen könntest, wäre das ideal.“ Raphael und ich zwängen uns durch den kleinen Spalt, den man nur auf den zweiten Blick erkennt, weil dahinter alles so dunkel ist. Ich taste mich mit den Füßen voran, bis ich die Leiter finde und rufe Raphael zu mir. Dann steigen wir beide in die Dunkelheit hinab. Als sich unsere Augen an das fehlende Licht gewöhnt haben, kann ich langsam die Umrisse des Tunnels erkennen. Er windet sich in langen Kurven und hier und da kann man an den Wänden hochklettern, um auf einer Art zweiten Ebene zu laufen, aber Raphael und ich bleiben lieber unten. Ich habe ihn sichtlich beeindruckt, was mich gut gelaunt stimmt und ich fange an zu summen. Wir laufen ein paar Minuten lang ziellos herum, dann entdeckt Raphael das erste Pokémon. Ein Digda, das sich langsam aus dem Boden gräbt und uns mit großen Augen ansieht. „Hast du überhaupt Pokébälle dabei?“, frage ich, plötzlich panisch. Ich will nicht den ganzen Weg zu Papas Laden zurücklaufen müssen. „Wofür hältst du mich?“, fragt er. „Ein Pokémontrainer hat immer Pokébälle dabei, sowie Gegengifte, Supertränke, Fluchtseile, Schutz…“ Er zählt die Items an seinen Fingern auf. Ich winke ab. „Willst du ein Digda?“, frage ich und deute auf das Pokémon. „Mal sehen.“ Er zieht einen Pokéball aus seiner Tasche. „Los, Penny!“ Kapilz materialisiert sich in einem roten Licht und nimmt eine Art Boxerhaltung ein. Nach ihrer Entwicklung hat sie auch den Typ Kampf angenommen, das merkt man sofort. „Megasauger, los!“ Aber das Digda ist schneller. Es verschwindet unter der Erde und eine Welle aus Steinbrocken rollt unter Kapilz hindurch, das seinen Halt verliert und zu Boden fällt. Es rappelt sich aber sofort wieder auf, kaum verwundet. Im selben Moment, da Digda wieder auftaucht, speit Penny einen grünen Strahl auf das Digda, das sich windet und dann bewusstlos zu Boden sinkt. Grüne Funken sprühen zu Kapilz zurück, das sie in sich aufnimmt und wieder wie frisch aus dem Pokécenter aussieht. Es schaut sich zu Raphael um, der die Schultern zuckt. „Das dann wohl nicht“, sagt er und wir gehen an dem besiegten Digda vorbei weiter in die Höhle hinein. Auch wenn ich gesagt habe, dass die Digdahöhle mittlerweile von zahlreichen Bodenpokémonarten bewohnt wird, so habe ich doch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ursprünglich war diese Höhle ausschließlich von Digda bewohnt, was bedeutet, dass sie auch heute noch die absolute Mehrheit bilden. Mit anderen Worten: Auf jedes andersartige Bodenpokémon kommen zehn Digda. Dementsprechend frustriert werden wir. Nach dem fünfzehnten Digda und nur einem einzigen Phanpy, das wegrennt, sobald es uns sieht, haben wir die Nase voll. „Ich will kein Pokémonmeister mehr werden“, stöhnt Raphael und setzt sich, wo er steht, auf den Boden. Kapilz kommt zu ihm und lässt sich neben ihm fallen. Ich stemme die Hände in die Hüften. „Als Pokémontrainer solltest du etwas mehr Ausdauer mitbringen“, weise ich ihn zurecht. „Bestimmt wirst du hier das Pokémon finden, wenn du nur nicht aufgibst.“ „Du hast gesagt, hier gäbe es eine riesengroße Auswahl, aber ich sehe weit und breit nur Digda.“ „Dann fang dir halt ein Digda, entwickle es zu Digdri und los geht’s“, kontere ich. „Die scheinen aber alle keinerlei Durchhaltevermögen zu haben. Ich besiege sie nämlich alle mit einer einzigen Attacke, falls es dir entgangen ist.“ „Wie du willst.“ Ich ziehe meinen eigenen Pokéball hervor und lasse Sku raus. Sie schaut sich skeptisch um. Sku spürt, wann es Nacht ist. Und draußen ist es schließlich noch ziemlich hell, trotz der Dunkelheit hier drinnen. Sie hebt den Kopf und schaut mich empört an. „Jetzt maul du nicht auch noch rum“, erwidere ich gereizt und sie drückt sich schuldbewusst zu Boden. Dann, als wolle sie sich entschuldigen, rennt sie voran, als wäre sie das aktivste Pokémon der ganzen Welt. Ich muss unwillkürlich lächeln. „Sku und ich kundschaften mal voraus“, sage ich, wieder an Raphael gewandt. „Wenn wir ein cooles Pokémon sehen, sagen wir dir Bescheid.“ Er lässt sich, genau wie Kapilz, nach hinten kippen und bleibt liegen. Dann hält er seinen Daumen hoch. „Ich nehme das mal als ja“, erwidere ich in Singstimme und folge Sku tiefer in den Tunnel. Als wir Raphael nicht mehr sehen können, wird mir ein bisschen mulmig, weil ich noch nie so weit alleine in der Höhle war. Sonst ist immer Tarik mitgekommen. Als würde sie meine Unruhe spüren, bleibt Sku stehen und setzt sich auf ihre Hinterbeine. Ich streiche ihr über den Kopf, der mir in dieser nach oben gereckten Position fast bis zur Hüfte reicht und sie lässt ein wohliges Schnurren hören. Ich tätschele sie, dann gehe ich weiter, Sku dicht auf meinen Fersen. Plötzlich bewegt sich die Erde unter meinen Füßen. Ich bleibe stehen, sicher, dass ich mir das Rumoren im Boden eingebildet habe, aber es wird immer stärker. Und es bewegt sich auf uns zu. Ich will wegrennen, aber ich kann mich keinen Zentimeter rühren. Sku fiept aufgeregt, beißt in mein Hosenbein und zerrt daran, aber ich bleibe wie erstarrt stehen. Dann spüre ich einen stechenden Schmerz in meiner Wade und reiße meinen Blick von dem Etwas weg, dass unter der Erde auf mich zu gegraben kommt. Sku hat mich ins Bein gebissen. Sie wirkt verängstigt, aber ob es an dem Pokémon liegt, das auf uns zukommt oder an meiner Reaktion kann ich nicht sagen. „Raphael!“, schreie ich so laut ich kann. Das Beben unter meinen Füßen wird immer stärker und gewinnt jetzt auch an Lautstärke. Erde rieselt von der Decke, Steinchen lösen sich von den Wänden und rollen in kleinen Kaskaden zu Boden, wo sie hin und her hüpfen, als würden sie tanzen. Dann passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Weil ich mich nicht vom Fleck bewegt habe, springt Sku todesmutig vor mich, reckt ihren Schwanz aufrecht in die Höhe und faucht lauter, als ich es ihr zugetraut hätte. Raphael kommt hinter mir angerannt, während Kapilz Stellung neben Sku bezieht. Und ein Pokémon bricht aus dem Boden hervor, während seine Schaufelarme Erde in alle Richtungen verspritzen. Das Pokémon ist klein. Kleiner als Marcel. Kleiner sogar als Sku. Stände es neben mir, würde es mir gerade einmal bis zu den Knien reichen. Seine lange Schnauze schnuppert die Luft und die blauen Muster auf seinem glänzenden, braunen Pelz erinnern an einen Gurt. Das Rotomurf schaut sich verstohlen um, seine Augen zu Schlitzen verengt. Dann bemerkt es uns. Es bückt sich, um wieder im Erdreich zu verschwinden, aber Raphael ist vorbereitet. Ich bewundere ihn dafür, denn aus irgendeinem Grund sitzt mir der Schreck noch so sehr in den Knochen, dass ich alles wie in Zeitlupe wahrnehme. „Egelsamen, sofort!“, schreit er und aus Pennys roten Knospen an ihrem hutähnlichen Kopf sprießen in Rekordtempo zwei Lianen, die sich um den Körper des Rotomurfs schlingen und es festhalten. Die Lianen wachsen und verzweigen sich immer weiter, bis sie das Bodenpokémon in ein Geflecht aus Pflanzen und Blättern gehüllt haben. Dann saugen sich kleine Noppen an dem Rotomurf fest und entziehen ihm seine Energie, die wie durch einen Schlauch über die Lianen geradewegs zu Kapilz zurückgeführt wird. Rotomurf windet sich, aber als es merkt, dass es nicht zurück ins Erdreich gelangen kann, rennt es stattdessen mit seinen kurzen Beinchen auf Kapilz zu. Wegen des Egelsamens kann Penny nicht ausweichen und die Kratzfurie des Rotomurf erwischt es fünfmal kurz hintereinander. Es zischt und kreischt, aber lässt seinen Gegner nicht los. „Du weißt, was zu tun ist, Penny! Stachelspore!“, ruft Raphael ihr zu und aus ihrem knospenartigen Schwanz schießen Pollen, die das Rotomurf in einer orangefarbenen Wolke einhüllen. Es atmet zwei-, dreimal ein, dann fängt es an, unkontrolliert zu zittern. Währenddessen saugen die Egelsamen ununterbrochen an seiner Energie. „Dann wollen wir mal.“ Raphael schiebt seine runde Brille hoch, dann wirft er seinen Pokéball hoch in die Luft, fängt ihn wieder und schleudert ihn geradewegs auf das Rotomurf. Ein rotes Licht umhüllt das Pokémon bei dem Kontakt und im nächsten Moment liegt neben Kapilz nur noch ein Pokéball, der blinkend hin und her rollt. Einmal. Ich halte den Atem an. Zweimal. Sku winselt. Dreimal. „Komm schon“, flüstert Raphael. Viermal. Der Pokéball leuchtet ein letztes Mal, dann bleibt er ruhig liegen. Wir starren ihn einen Moment lang regungslos an, dann fallen Raphael und ich uns gleichzeitig um den Hals und drehen uns wie zwei Deppen im Kreis. „Das, “ sage ich, „war das coolste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.“ Er läuft rot an. „Ach was…“, sagt er, aber seine Wangen glühen. „Nein, wirklich. Du sahst aus wie einer dieser Profis im Fernsehen. Du hattest eine Wahnsinnsausstrahlung!“ Meine Stimme steigt in ungeahnte Gefilde und ich muss loslachen, weil die ganze Anspannung von mir abfällt. Wir halten uns noch einen Moment, dann lässt Raphael mich los und geht zu Kapilz hinüber. Sie hat ein paar rote Striemen von der Kratzfurienattacke abbekommen, aber sonst sieht sie fit aus. Er umarmt sie. „Du warst der Hammer“, flüstert er und Kapilz erwidert seine Umarmung innig. Plötzlich landen zwanzig Kilo auf meiner Schulter und ich sacke ein, bevor ich mich wieder fangen kann und hoch schiele, wo mich Skus schwarze Knopfaugen anblinzeln. „Du warst auch toll, auch wenn du nichts gemacht hast“, beruhige ich sie. Sie schnappt halbherzig nach meiner Nase. „Du hast ja Recht, du hast ja Recht. Du warst eine weit größere Hilfe als ich.“ Ich kraule ihr den Kopf und sie gibt sich ganz meiner Berührung hin. „Danke für die Hilfe“, flüstere ich, so leise, dass nur sie mich hört. Raphael ist ohnehin noch mit Kapilz beschäftigt. „Egal, was für ein Pokémon es gewesen wäre, du hättest mich verteidigt, das weiß ich.“ Sie stupst mich mit ihrem breiten Kopf an. „Okay, wir lieben uns, Friede Freude Eierkuchen, aber geh bitte von mir runter.“ Ich schaue sie ernst an. „Du bist fett.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)